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Bundestagsparteien im Umbruch

Marxistische Blätter 3_2022

von Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)
©2022 132 Seiten
Reihe: Marxistische Blätter, Band 3_2022

Zusammenfassung

Mit Beiträgen von: Beate Landefeld, Ekkehard Lieberam, Peter Feininger, Ulrich Schneider, Manfred Sohn, Rainer Perschewski, Georg Fülberth, Bernt Engelmann (1972) und LobbyControl (2022) zum Wirtschaftsrat der CDU.

Weitere Themen: Atomkrieg aus Versehen (Karl Hans Bläsius u. a.), Baerbock vor der UNO (Renate Dillmann), Friedenspolitischer Kurswechsel beim DGB (Otto König), Sanktionen-Bumerang (Anne Rieger), 8. Mai und Ukraine-Krieg (Heinz Bilan), Naturdialektik als Kategorienlehre (Volker Schürmann), Identität und Klasse (Pablo Graubner), Kapitalzusammensetzung und Profitrate (Klaus Müller), Diskussion, Rezensionen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der 8. Mai muss Feiertag werden!

Ulrich Schneider

In Zeiten von Kriegen ist es für die Erinnerung und die Analyse bedeutend, sich vergangener Kriege zu erinnern. Wer den russisch-ukrainischen Krieg heute angemessen beschreiben will, der kann nicht an den Erfahrungen des faschistischen Krieges – insbesondere des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion – vorbeigehen. Diese Erfahrung, aber auch die erfolgreiche militärische Niederschlagung der faschistischen Barbarei im Rahmen des Großen Vaterländischen Krieges, wie er in der sowjetischen Diktion hieß, durch die Rote Armee als Teil der Anti-Hitler-Koalition ist bis heute im kollektiven Gedächtnis beider Kriegsparteien vorhanden.

Wenn die russische Regierung meint als Begründung für den Überfall auf die Ukraine eine »Denazifizierung« des Landes nennen zu können, dann ist sie sich sicher, dass die Menschen in Russland mit diesem Bild etwas anfangen können. Das ist unabhängig von der Frage, ob die in der Ukraine vorhandenen neofaschistischen Kräfte und Strukturen, das Asow-Bataillon oder die unsägliche Verehrung des Nazi-Kollaborateurs Bandera tatsächlich eine solche Gefahr darstellten, dass diese einen völkerrechtswidrigen Militäreinsatz rechtfertigten.

Wer die öffentliche Propaganda in unsrem Land im Zusammenhang mit diesem Krieg verfolgt, der erfährt nichts davon – außer von der ukrainischen Propagandabehauptung, russische Raketen seien in der Gedenkstätte Babyn Jar eingeschlagen, womit sich angeblich der Vorwurf der »Denazifizierung« entlarven würde. Gleichzeitig kündigen deutsche Gedenkstätten für die sowjetischen Opfer des faschistischen Krieges an, man werde wegen des Krieges in diesem Jahr keine Vertreter der russischen und belorussischen Seite einladen, während andere betonen, Deutschland habe eine besondere Verpflichtung gegenüber der Ukraine aufgrund der verheerenden Kriegsverbrechen in der Zeit der faschistischen Okkupation.

Ja, Deutschland hat – und daran erinnern wir an jedem 8. Mai – eine besondere Verpflichtung, aber diese besteht gegenüber allen Völkern der ehemaligen Sowjetunion, und diese Verpflichtung besteht seit 77 Jahren. Sie wurde – außer von der DDR – bislang erfolgreich verdrängt. Erst jetzt, wo sie sich als Parteinahme für die Ukraine instrumentalisieren lässt, wird sie benannt. Das ist in hohem Maße zynisch gegenüber allen Leidtragenden des »antibolschewistischen Vernichtungskrieges«, der etwa 27 Mio. Opfer unter der sowjetischen Bevölkerung gefordert hat.

Der 8. Mai 1945 erinnert daher auch heute noch an die Verantwortung, an das politische Vermächtnis aus der Befreiung von Faschismus und Krieg mit Blick auf die faschistischen Massenverbrechen für uns heute. Wer heute von einer »Zeitenwende« spricht, der will sich aus dieser Verantwortung stehlen. Der behauptet, dass nun nicht mehr das politische Vermächtnis »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« gelte, sondern eine »deutsche Verantwortung« für Europa, die mit 100 Mrd. Aufrüstungsetat umgesetzt werden soll. Damit versucht man gleichzeitig, die historische Erinnerung wegzuwischen.

Umso wichtiger ist es, dass alle Kräfte der Friedensbewegung sich auch in diesem Jahr dafür einsetzen, dass der 8. Mai 1945 in seiner geschichtspolitischen Bedeutung anerkannt wird. Die VVN-BdA führt deshalb die noch von Esther Bejarano initiierte Petition: »Der 8. Mai muss Feiertag werden« fort und unternimmt in dieser Frage weitere Vorstöße gegenüber dem Bundestag und den Länderparlamenten. Wer sich heute für Frieden in Europa und gegen deutsche Großmachtambitionen einsetzen will, der sollte sich für die Forderung einsetzen:
Der 8. Mai muss Feiertag werden.

Gebrauchswert I

»Die beiden Artikel in den Blättern 1/2022 über den Wahlerfolg der KPÖ in Graz hatten mich dazu veranlasst, im ›kommunalpolitischen Forum‹ Land Brandenburg den Vorschlag zu unterbreiten, ein ›Video-Meeting‹ mit Elke Kahr durchzuführen. Das hat stattgefunden und bei den Teilnehmern einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ich bin auch persönlich sehr beeindruckt. Ohne die Marxistischen Blätter hätte das nicht stattgefunden. Vielen Dank also. In einer Zeit krachender Niederlagen macht es schon Mut zu sehen, wie kommunistische Politik funktionieren kann. Hier der Link zur Aufzeichnung: https://youtu.be/xLGM0E_Ct6I

Beste Grüße«, schrieb uns Dr. Artur Pech
Fraktion DIE LINKE im Kreistag Oder-Spree.

Gebrauchswert II

Eine der ersten Reaktionen auf das Editorial unserer Beilage »Die Waffen nieder!« in der Facebook-Welt: »Äquidistanz light! Das war’s dann wohl mit meinem MBl-Abo!« Der Clou: der »Abbesteller« hat gar kein Abo der Marxistischen Blätter! Das Feed-Back im wirklichen Leben: Lob und Anerkennung. Nicht nur in Worten, sondern in Taten: 197 Beilagen bestellt, 59 Hefte verkauft, 13 Testabos und 11 Bezahl-abos. Und, was unserer kleinen Redaktion sehr hilft: wir bekamen zahllose Hinweise auf wichtige – aber rar gesäte – vernunft-und friedensorientierte Medienbeiträge, die nicht »mit den Wölfen heulen«, sondern sachlich aufklären über Zusammenhänge und Vorgeschichte dieses Krieges. In der Beilage dieses Heftes haben wir diese unterschiedlichen Hinweise aufgelistet, da wir zur Zeit weder die Kraft noch die Mittel haben, daraus einen »Friedensreader« zu machen.

Bitte beachtet den beigelegten Überweisungsträger für eine »Friedensspende«.

Hannes Stütz ist tot

Unser Freund und Genosse Hannes Stütz ist gestorben. Die Zahl derer, die – selber in die Jahre gekommen – die abgrundtief menschliche Traueranzeige (S. 18) unterzeichnet haben, ist klein geworden. Hannes Stütz, Liedermacher, Kabarettist, Poet und die Kulturpolitik der DKP – vor 1989/90 – eine Einheit. Beileibe keine harmonische. Sein »verspäteter Kulturbrief«, um den wir ihn für unser Buch »25 Jahre DKP« (1993) gebeten hatten, ist auch heute noch ein zeitgemäß-denkanstößiger Lesegenuss, der viel über Hannes sagt. Und unseren »Verein«, wie Brecht die Partei nannte. Pflichtlektüre für Nachgeborene. Hannes beginnt mit dem Satz »Es freut mich ja, dass Du Dich plötzlich für die Kulturpolitik der DKP interessierst. Das hättest Du mal vor 20 Jahren tun sollen. Vielleicht wäre dann mehr dabei rausgekommen …«, um dann »nach verhaltenem Selbstlob zum angekündigten Essig zu kommen, zu unseren kulturpolitischen Fehlern und Schwächen auch noch zu Zeiten, wo scheinbar vieles seinen mühsamen aber seinen Gang nach vorne nahm.« Und dieser »Essig« ist hochprozentig, aber alles andere als ätzend-verletzend. Auch Diskussionskultur ist eben Kultur. »Lernt Hannes!« möchte man – in Anlehnung an seinen Golfkriegs-Kommentar von 1991 – in die Runde rufen, den wir in unserem MBl-Archiv ausgegraben haben (S. 17). Lernwilligen sei seine Webseite empfohlen: www.hannes-stuetz.de.

Ein ganz persönlicher Kulturtipp zum Schluss:

Wer sich kulturvoll gegen aktuelle Kriegspandemie und Medienmanipulation immunisieren möchte, dem empfehle ich eine Dosis »Wag the dog«, der guten alten, immer noch großartigen, sehr freien Verfilmung des Romans »American Hero« von Larry Beinhart. »Eine sehr vergnügliche schwarze Komödie, die sich mit der Macht der Medien und der Manipulierbarkeit der Öffentlichkeit auseinandersetzt, deren fiktionaler Gehalt von der Realität eingeholt wurde.« (Lexikon des internationalen Films) LoG

In gemeinsamer Sache

Atomkriegsrisiko und Russland-Ukraine-Krieg

Michael Staack, Karl Hans Bläsius1 und Reiner Schwalb

Die Spannungen zwischen Russland und der Nato in Zusammenhang mit der Ukraine … führten am 24.2.2022 zum Beginn militärischer Angriffe auf die Ukraine durch Russland. Völkerrechtlich handelt es sich zweifelsfrei um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Inzwischen herrscht Krieg in der gesamten Ukraine. In einer solchen Situation stellt sich auch die Frage, inwieweit das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen besteht, eventuell auch aus Versehen.

1. Nukleare Abschreckung

Aufgrund der verheerenden Auswirkungen eines Einsatzes von Atomwaffen schreckt der Besitz solcher Waffen potenzielle Gegner ab. Zwischen den großen Atommächten besteht eine Zweitschlagfähigkeit: Wer angegriffen wird, kann den Einschlag von Atomwaffen abwarten und hat danach immer noch genug Zeit und Potenzial, einen vernichtenden Gegenschlag auszuführen. »Wer als erster schießt, stirbt als zweiter«. Dieses Prinzip der nuklearen Abschreckung kann auch Kriege verhindern. Da die Ukraine keine Atomwaffen besitzt, hat dieser Aspekt in der aktuellen Situation keine Rolle gespielt.

2. Bewusster Angriff mit Atomwaffen

Die Auswirkungen eines Atomkriegs sind für alle Seiten so gravierend, dass auch in Krisen- und Kriegszeiten eine große Hemmschwelle für den Einsatz von Atomwaffen bestehen wird.

Mit der Entwicklung weiterer kleiner Atomwaffen könnte sich diese Situation ändern, die Hemmschwelle sinken. Es kann auch andere Szenarien geben, die zu einem bewussten Einsatz von Atomwaffen führen könnten. Beispielsweise besteht die Gefahr, dass eine Atommacht, die in existenzielle Not gerät, den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung zieht. Die Strategiepapiere Russlands sehen den Einsatz von Nuklearwaffen dann vor, wenn die Existenz der Russischen Föderation auf dem Spiel steht. Dabei ist es irrelevant, ob dieser Zustand militärisch oder wirtschaftlich herbeigeführt wird. Wenn Sanktionen gegen eine Atommacht so schwerwiegend sind, dass eine existenzielle Notlage entsteht, könnte dies das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen erhöhen. Ähnliches gilt für schwerwiegende Cyberangriffe auf ein Land. Die Frage ist, wann ist eine solche Grenze erreicht? Das Spektrum eines möglichen Schadenspotenzials erstreckt sich kontinuierlich von »gering« bis »riesig« bzw. »total«. Für das Setzen einer Schwelle für einen nuklearen Angriff gibt es großen Ermessensspielraum innerhalb dieses kontinuierlichen Spektrums. Zu Beginn der Angriffe auf die Ukraine am 24.2.2022 hat der russische Präsident erklärt: »Jetzt ein paar wichtige, sehr wichtige Worte für diejenigen, bei denen die Versuchung aufkommen könnte, sich von der Seite in das Geschehen einzumischen. Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben. Wir sind auf jede Entwicklung der Ereignisse vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen wurden in dieser Hinsicht getroffen. Ich hoffe, dass ich gehört werde.«2 Diese Drohung wird als Drohung mit Atomwaffen interpretiert.3 Auch eine drohende Niederlage einer Atommacht in einer konventionellen Auseinandersetzung könnte zum Einsatz von Nuklearwaffen führen.

Am 27.2.2022 hat Russland seine »Abschreckungskräfte« in Alarmbereitschaft versetzt, dazu gehören auch Atomwaffen.4 Zwar war dies auch 2014 bei der Annexion der Krim geschehen, aber dieses Mal ist die Situation deutlich gefährlicher … Wenn eine solche Maßnahme wie die Alarmbereitschaft einmal gutging, muss das nicht immer so sein. … Im Gegenteil: die Risikobereitschaft kann sich erhöhen, bis es zu einem schwerwiegenden Unfall kommt.

3. Risiko Atomkrieg aus Versehen in Krisen- oder Kriegszeiten

Frühwarnsysteme für nukleare Bedrohungen basieren auf Sensoren und sehr komplexen Computer-Netzwerken und dienen dazu, Angriffe mit Atomwaffen so früh zu erkennen, dass ein Gegenschlag ausgelöst werden kann (bezeichnet als »Launch on Warning«), bevor die angreifenden Atomraketen einschlagen und eine Gegenreaktion erschweren oder verhindern.

In Frühwarnsystemen kann es aber zu Fehl-alarmen kommen, d. h. es wird ein Angriff mit Atomwaffen gemeldet, obwohl keine Bedrohung vorliegt. Solche Alarmmeldungen sind dann besonders gefährlich, wenn politische Krisensituationen vorliegen, eventuell mit gegenseitigen Drohungen oder wenn in zeitlichem Zusammenhang mit einem Fehlalarm weitere Ereignisse eintreten, die zur Alarmmeldung in Zusammenhang gesetzt werden könnten. In der Vergangenheit gab es einige Situationen, in denen es nur durch großes Glück nicht zu einem Atomkrieg aus Versehen kam.

Auch in der aktuellen Situation in der Ukraine besteht noch die Hoffnung, dass ein Fehl-alarm in einem Frühwarnsystem als solcher interpretiert wird, ohne dass eine nukleare Gegenreaktion erfolgt. Sehr kritisch sind solche Fehlalarme, wenn aufgrund entsprechender Drohungen oder sonstiger Erkenntnisse mit einem nuklearen Angriff des Gegners gerechnet wird bzw. ein solcher Angriff als plausibel gilt. Dann besteht die Gefahr, dass die Bewertungsmannschaft von einem tatsächlichen Angriff ausgeht und eine Entscheidung für eine Gegenreaktion treffen muss…

Bei bestehender Zweitschlagfähigkeit könnte sicherheitshalber zunächst von einer unmittelbaren Gegenreaktion … abgesehen werden, was derzeit anerkannten Grundsätzen und der Erwartung entsprechen würde. Eine solche Entscheidung hängt aber von dem jeweiligen Staatschef ab. In Kriegszeiten und sehr angespannten Situationen wie derzeit kann nicht gewährleistet werden, dass solche Grundsätze immer eingehalten werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Staatschef sich zu einem »Launch on warning« entschließt. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, wobei mehrere dieser Aspekte zutreffen können:

  1. Ein direkter Gegenschlag ist sehr viel leichter realisierbar und wirksamer als ein Zweitschlag, nachdem man getroffen wurde.
  2. Wenn ohnehin ein solcher Angriff erwartet wird, überwiegt die Annahme, dass die Meldung echt ist.
  3. Die eigene Nation ist so sehr in Bedrängnis und existentieller Not, dass ein atomarer Angriff ohnehin in Erwägung gezogen wurde.

Der Staatschef möchte eine Gegenreaktion noch selbst auslösen und sich nicht darauf verlassen, dass andere nach einem Erstschlag für einen Zweitschlag sorgen. Er selbst wird ja nach einem Einschlag möglicherweise dazu nicht mehr in der Lage sein.

4. Cyberkrieg

Auf die Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland könnten als Gegenreaktion schwerwiegende Cyberangriffe folgen. Zuletzt wurden Konflikte zwischen Staaten immer häufiger von Cyberangriffen begleitet. Deshalb ist auch jetzt mit schweren Cyberangriffen zu rechnen, die zu einem Cyberkrieg zwischen Nato-Staaten und Russland eskalieren könnten. Schwerwiegende Cyberangriffe müssen nicht von Staaten ausgehen, auch Hackergruppen oder Einzelne könnten hierfür verantwortlich sein. Dies ist in der Regel aber nicht feststellbar, deshalb werden Verantwortlichkeiten vermutlich auf die am jetzigen Konflikt beteiligten Staaten zurückfallen. Damit besteht die große Gefahr, dass der aktuelle Krieg in der Ukraine sich zumindest im Cyberraum auf die Nato und Russland ausweitet. Als Folge werden Fehler in Frühwarnsystemen für nuklearen Bedrohungen gefährlicher und können sehr leicht zu einem Atomkrieg aus Versehen führen.

5. Risiko Atomkrieg aus Versehen bei kriegerischem Konflikt zwischen Atommächten

Besonders gefährlich kann es werden, wenn die aktuelle Situation in der Ukraine weiter eskaliert und auch die Nato in kriegerische Aktionen einbezogen wird. Dann kann es auch leicht zu nuklearen Auseinandersetzungen kommen. Vor diesem Risiko warnen auch militärische Experten.5

Bei einer drohenden Niederlage in einem konventionellen Krieg zwischen Atommächten könnte die unterlegene Seite den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung ziehen. Des Weiteren wird jeder Fehlalarm in einem Frühwarnsystem für nukleare Bedrohungen in solchen Situationen extrem gefährlich. Wenn ohnehin schon kriegerische Auseinandersetzungen laufen, dann könnte eine Alarmmeldung in Bezug auf Atomwaffen auch sehr leicht als plausibel eingeschätzt werden und den aktuellen Erwartungen entsprechen. Dann wäre es auch wirkungsvoller, eine Gegenreaktion einzuleiten, bevor die gegnerischen Atomwaffen einschlagen und eine Gegenreaktion erschweren. Kriegerische Konflikte zwischen Atommächten werden von Cyberangriffen6 begleitet sein, auch diese erhöhen das Risiko von Fehlinterpretationen bei Fehlalarmen in Frühwarnsystemen.

Was ist zu tun?

Das Gebot der Stunde ist Deeskalation. Weitere Eskalationen und militärische Konflikte zwischen Atommächten müssen mit allen Mitteln verhindert werden. Dazu ist eine Verstärkung der Krisenkommunikation insbesondere zwischen den militärischen Führungen Russlands und der USA erforderlich. Das setzt die Zustimmung der Staatschefs voraus. In der kritischen Phase des Übergangs von der Trump- zur Biden-Administration hat der US-amerikanische Generalstabschef Mark Milley die Optionen der Krisenkommunikation mit seinem Kollegen in China voll genutzt und dadurch die Gefahr eines Nuklearkonflikts aus Versehen gebannt. Ein solches verantwortungsbewusstes Verhalten ist auch heute zwingend erforderlich. Atomkriege sind nicht gewinnbar, eine Vernichtung des europäischen Kriegsschauplatzes mit globalen Wirkungen wäre aber unausweichlich. /4. März 2022

Quelle: Ukraine-Krieg – Atomkriegsrisiko? – Atomkrieg aus Versehen (atomkrieg-aus-versehen.de)

1 Prof. Karl Hans Bläsius referierte am 4. März zu diesem Thema bei einer mit 60 Teilnehmenden gut besuchten Veranstaltung der »Friedensfreunde Dülmen e. V.« und stellte uns diesen Beitrag zur Verfügung, den wir nur leicht gekürzt haben.

6 Anmerkung der Redaktion. Ein Bericht der FAZ vom 7.3.2022 über Cyber-Aktivitäten der ukrainischen Regierung unterstreicht die Warnung der Autoren

Annalena Baerbock spricht vor den Vereinten Nationen

Renate Dillmann

»Vor ein paar Tagen kam in einer U-Bahn-Station in Kiew ein kleines Mädchen zur Welt. Ich habe gehört, es heißt Mia. Ihre Familie musste Schutz suchen – wie Millionen anderer Menschen überall in der Ukraine. Schutz vor Bomben und Raketen, vor Panzern und Granaten. Sie leben in Angst, sie leben in Schmerz. Sie sind gezwungen, sich von ihren Liebsten zu trennen. Weil Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat.«

So beginnt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ihre von der deutschen Presse als »emotional« bewertete Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Sie hätte natürlich auch damit beginnen können, dass eine kleine Mariam in Sanaa unter dem Hagel saudi-arabischer Bomben zur Welt kommt – Bomben, die Deutschland geliefert hat. Oder dass eine kleine Mira in Nordsyrien vom Nato-Land Türkei (ebenfalls mit deutschen Waffen) bedroht wird. Leid und Elend gibt es nämlich wirklich mehr als genug auf diesem Globus; vieles davon unmittelbar verursacht durch Kriege, bei denen Staaten der Nato und ihre guten Bündnispartner mitschießen und bei denen deutsche Waffen im Spiel sind.

Wenn es denn, wie mit dem Schicksal von »Mia« suggeriert, um die miese Lage kleiner Menschenkinder (Mädchen natürlich!) ginge, könnte unsere vom Kriegselend so aufgewühlte deutsche Außenministerin sicherlich an der einen oder anderen Stelle mäßigend einwirken – auch ganz ohne UNO. Darum geht es also nicht. Annalena Baerbocks Aufregung über das vom Krieg verursachte Elend transportiert tatsächlich ganz gezielt eine Anklage gegen einen bestimmten Staat, Russland. Dessen Krieg ist unerträglich und das von ihm verursachte Elend prangert sie an.

Selektives Geschichtsverständnis

»Ich stehe hier vor Ihnen als Außenministerin meines Landes, aber auch als Deutsche, die das unglaubliche Privileg hatte, in Europa in Frieden und Sicherheit aufzuwachsen.«

Annalena Baerbock spricht nicht nur als Außenministerin (wer sonst darf eigentlich in diesem Gremium reden?), sondern als »Deutsche, die das unglaubliche Privileg hatte, in Europa in Frieden und Sicherheit aufzuwachsen«. Als Deutsche, die sich genügend für »Nazi-Deutschland« entschuldigt hat, hat sie offenbar ebenso das Privileg zur selektiven Geschichtswahrnehmung. Baerbock ist 1980 geboren, war also mündige 19, als die rot-grüne (!) Regierung Schröder/Fischer Serbien mitbombardiert hat – ein Krieg mitten in Europa, völkerrechtswidrig, weil ohne Plazet der Vereinten Nationen; ein Krieg, der die Grenzen in Europa neu gezogen und die »Nachkriegsordnung« in Schutt und Asche gelegt hat. Aber hier geht es um die Konstruktion einer Anklage gegen Russland – und dafür muss man das eine oder andere vergessen bzw. ordentlich schwarz-weiß-malen:

»Die Grundsätze der Vereinten Nationen bilden den Rahmen für unseren Frieden: für eine Ordnung auf der Grundlage von gemeinsamen Regeln, dem Völkerrecht, Zusammenarbeit und friedlicher Konfliktbeilegung. Russland hat diese Ordnung brutal angegriffen. Und deshalb geht es in diesem Krieg nicht nur um die Ukraine, nicht nur um Europa, sondern um uns alle.«

Richterin über das Wohlverhalten von Staaten

Die studierte Völkerrechtlerin Baerbock (ein Witz über etwaige Unregelmäßigkeiten beim Abschluss wäre an dieser Stelle unpassend) erinnert daran, dass die Grundsätze der Vereinten Nationen den »Rahmen« »für unseren Frieden« bilden. Natürlich kann man von examinierten und zertifizierten Akademikern nicht verlangen, dass sie einen logischen Schluss ziehen könnten: Wenn so viel von »Völkerrecht«, »Zusammenarbeit« und »friedlicher Konfliktbeilegung« die Rede ist, dann wird es sich wohl um eine Welt harter Interessensgegensätze handeln; nicht um den immer beschworenen »allseitigen Nutzen« und das »win-win«, sondern um eine Welt, in der es – auf der Basis der »gemeinsamen Regeln« – zu ökonomischen Gewinnern und Verlierern kommt, und in der es eine geostrategische Konkurrenz um Nutzen und Schaden aus dieser Welt gibt. Vor der »Geißel des Kriegs« muss offenbar deshalb so viel geschützt werden, weil Krieg in dieser Welt für alle Staaten durchaus eine Option darstellt und sie sich deshalb auch bereits für den Krieg rüsten, wenn sie noch ganz »friedlich« miteinander handeln. Mit anderen Worten: die Vereinten Nationen gibt es gerade deshalb, weil die Nationen dieser Welt sich überhaupt nicht friedlich und kooperativ gegenüberstehen – und sich deshalb always and everywhere in die Quere kommen und ständig etwas auszuhandeln haben.

Aber das will Frau Baerbock als engagierte Kämpferin für »den Frieden« natürlich alles gar nicht wissen. Man könnte geradezu Kaiser Wilhelm in modernisierter Form zitieren: Wir kennen keine Interessen (und ihre Gegensätze) mehr! Wir kennen nur noch einen, der gegen diese »regelbasierte Ordnung« verstößt: »Russland hat diese Ordnung brutal angegriffen.«

Die deutsche Außenministerin schwingt sich hier aus der Rolle einer Vertreterin der deutschen Nation auf in die einer über allen stehenden Richterin. Sie argumentiert nicht mit den ökonomischen, politischen und militärischen Interessen, die Deutschland an einer Westorientierung der Ukraine hat und die sich mit den russischen Interessen an einer neutralen und entmilitarisierten Ukraine nicht vertragen – nein, in diese materiellen Niederungen begibt sie sich erst gar nicht. Sie ruft Russland vom Standpunkt der »Ordnung« zur Raison, deren Hüterin sie – Annalena Baerbock – offenbar höchstpersönlich ist. Für »uns alle« natürlich.

Angriff auf das Weltgewaltmonopol

»Russlands Krieg bedeutet ein neues Zeitalter. Wir stehen an einem Scheideweg. Die Gewissheiten von gestern gelten nicht mehr. Heute sind wir mit einer neuen Realität konfrontiert, die sich niemand von uns ausgesucht hat. Es ist eine Realität, die uns Präsident Putin aufgezwungen hat.«

Die Behauptung von der »neuen Realität«, die mit diesem Krieg im Jahr 2022 in die Welt kommen soll, ist natürlich eine geistige Zumutung angesichts der Kriege, die allein seit 1990 stattgefunden haben und stattfinden: zwei US-Kriege gegen den Irak, die jeweils mit einer inzwischen nachgewiesen falschen Begründung legitimiert wurden und mehr als eine Million Tote zur Folge hatten; die wochenlange Bombardierung Serbiens durch die Nato zugunsten der Kosovo-Separatisten (begründet damit, dass ein angeblich drohender Genozid, der sich dann als Vorwand herausstellte, das Völkerrecht außer Kraft setzte); der jahrzehntelange »Krieg gegen den Terror« mit mehr als einer Million Toten; der Krieg gegen Gaddafis Libyen, die Kriegsdrohung gegen den Iran, der Krieg Saudi-Arabiens gegen den Jemen, die Kriege der Türkei in Nordsyrien und dem Nordirak usw. usf.

Sinn macht diese Behauptung nur in einer Hinsicht: Es ist in der Tat eine neue Realität, dass Russland einen Krieg führt. Russland verstößt damit gegen die US-definierte »Realität«, dass sich der Westen das Recht auf Krieg führen ganz exklusiv angemaßt hatte. Was »Präsident Putin uns aufgezwungen hat«, ist der Sache nach eine Infragestellung des »Welt-Gewaltmonopols«, das die USA seit Auflösung der Sowjetunion in Form ihrer damals ausgerufenen »Neuen Weltordnung« praktiziert haben und das nun dadurch in Frage gestellt ist, dass man Putin nicht dazu zwingen konnte, sich eine weitere Etappe der Nato-Osterweiterung gefallen zu lassen.

Alles Weitere an dieser »neuen Realität« ist allerdings nicht Putin zuzuschreiben. Was die Nato aus diesem neuen Störfall ihrer Weltordnung macht, was insbesondere Deutschland an Schlüssen zieht und in Sachen Aufrüstung und Energie-Politik (Stichwort: »Zeitenwende«) praktisch auf den Weg bringt – das ist keineswegs die Leistung des russischen Präsidenten, sondern geht auf das Konto seiner Kontrahenten.

Es ist sicher keine geringe Funktion dieser Rede, genau das vergessen zu machen und allen Gehirnen einzutrichtern, wer Verantwortung für »die neue Realität« trägt – sprich: all das, was jetzt noch kommen wird (nach westlicher Vorstellung lieber ein Weltkrieg als eine neutrale Ukraine!).

Russlands Krieg ist nicht gerechtfertigt

»Russlands Krieg ist ein Angriffskrieg. Und seine Grundlage sind infame Lügen, die Außenminister Lawrow heute im UN-Menschenrechtsrat erneut wiederholt hat. Sie sagen, Sie handeln aus Selbstverteidigung. Aber die ganze Welt hat gesehen, wie Sie über Monate zur Vorbereitung dieses Angriffs Ihre Truppen zusammengezogen haben.«

Die deutsche Außenministerin stuft Russlands Krieg als »Angriffskrieg« ein. Sie weiß sehr genau, dass nur so eine Verurteilung eines Kriegs nach der UN-Charta möglich ist. Die vom russischen Außenminister vorgetragene Begründung, der Krieg diene der russischen »Selbstverteidigung« (was ihn als Krieg rechtfertigen würde) weist sie ohne großes Federlesen oder weitere Beweisanstrengungen als »infame Lüge« zurück. Damit macht sie diplomatisch unmissverständlich klar, dass Deutschland nicht bereit ist, die Einwände Russlands gegen die Expansion der Nato seit 1990 auch nur zu würdigen, geschweige denn, den mehrfach vorgetragenen russischen Sicherheitsinteressen entgegenzukommen – und sei es nur, um eine weitere Eskalation in der Ukraine oder Europa zu vermeiden …

Russische Panzer schaffen keinen Frieden

»Sie sagen, Russland schickt Friedenstruppen. Aber Ihre Panzer bringen kein Wasser, Ihre Panzer bringen keine Babynahrung, Ihre Panzer bringen keinen Frieden. Ihre Panzer bringen Tod und Zerstörung. Und in Wahrheit missbrauchen Sie Ihre Macht als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats. Herr Lawrow, Sie können sich selbst täuschen. Aber uns täuschen Sie nicht. Unsere Völker werden Sie nicht täuschen – und auch Ihr eigenes Volk werden Sie nicht täuschen.«

Hut ab. Russische Panzer bringen also kein Wasser. Keine Babynahrung. Keinen Frieden. Das ist übel, wirklich übel. Und sehr im Unterschied zu deutschen Panzern vermutlich. Dass deutsche Panzer Frieden bringen, ist ja quasi per Definition so. (Und in der Tat: Ebenso wie der Krieg im Frieden vorbereitet wird, so wird auch der Frieden durch die Ergebnisse des Kriegsverlaufes herbeigeführt. In diesem, ganz und gar tödlichen Sinne, stiften deutsche Panzer tatsächlich weltweit Frieden.) Aber dass sie Wasser und Babynahrung bringen, ist selbst für gestandene Analytiker und Dialektiker wirklich neu. Und natürlich hoch erfreulich – weiter so! Und: Herr Lawrow, Ihre Legitimationen werden nicht geglaubt – im Unterschied zu unseren!

Tote Flüchtlinge und gute Flüchtlinge

»Uns kommen Gerüchte zu Ohren – auch hier in diesem Raum –, dass Menschen afrikanischer Herkunft, die aus der Ukraine fliehen, an den EU-Grenzen diskriminiert werden. Ich war heute Vormittag in Polen. Und mein polnischer und mein französischer Kollege und ich haben sehr deutlich gemacht: Jedem Geflüchteten muss unabhängig von seiner Nationalität, Herkunft oder Hautfarbe Schutz gewährt werden.«

Ja, so kann man das auch sagen. Dass die EU seit Jahren Tausende von Flüchtenden an ihren Grenzen sterben lässt; dass noch vor kurzem die Polen ihre Grenze mit Stacheldraht und Sondertruppen gegen die »Flüchtlingswaffe aus Belarus« »verteidigt« haben und dabei »Frauen und Kinder« an Hunger und Kälte umkommen ließen und zurzeit an die tausend Flüchtende vor allem arabischer Herkunft in Gefängnissen festhalten – all das vergisst unsere gute Annalena mal ganz fix. Angesichts dessen, dass die neuen Flüchtenden die Opfer des (Haupt-)Feindes sind, ist ohne weiteres klar, dass sie aufgenommen werden. Polen, das bis gestern angeblich noch »voll« war und heute angibt, jeden Tag 50.000 Ukrainer aufnehmen zu können, wird nicht einer »infamen Lüge« bezichtigt, sondern gelobt – und gleichzeitig dazu ermahnt, der Glaubwürdigkeit halber jetzt aber auch mal einen Afrikaner oder Araber heil über die Grenze zu lassen.

Sich bekennen ist Pflicht

»Jede und jeder einzelne von uns muss jetzt eine dezidierte und verantwortungsvolle Entscheidung treffen und Partei ergreifen.« Dass jeder einzelne von uns »eine dezidierte und verantwortungsvolle Entscheidung treffen und Partei ergreifen« muss, heißt natürlich: Da gibt es gar nichts zu entscheiden, sondern alles ist längst klar! Nachfragen, Güterabwägungen treffen, gar abweichende Meinungen vertreten im Land der Meinungsfreiheit – das war gestern. Das war nämlich, bevor »Putin« uns diese »neue Realität« beschert hat – siehe oben!

Man sollte festhalten: Wenn deutsche Medienmacher diese Rede der deutschen Außenministerin mehrheitlich gut finden, wenn Annalena Baerbock als die »positive Überraschung dieser Regierung« gefeiert wird (»Die Welt«), dann ist das eine Auskunft über den Geisteszustand der deutschen Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist sich – mit Baerbock – einfach sicher, über die besten Werte dieser Welt zu verfügen. Demnach sieht es zurzeit so aus, dass auf dem Globus Demokratien gegen autoritäre Regime kämpfen, Freiheit gegen Unterdrückung. Das macht nicht nur jede Frage danach überflüssig, was Herr Müller in Essen in seinem Niedriglohn-Job von der »lupenreinen« deutschen Demokratie eigentlich hat oder was Frau Orlowa im autoritären Putin-Russland eigentlich fehlt (außer »lupenreiner Demokratie« natürlich). Das ersetzt nicht nur alles Nachdenken über Interessen und Gegensätze zwischen den Nationen. Das versetzt vor allem in den Zustand einer moralischen Selbstgerechtigkeit, die es dem Rest der Welt wieder einmal zeigen muss – was die »Grünen« in ihrem Wahlkampf ja unmissverständlich klar gemacht haben (soll also hinterher keiner sagen, man habe nichts wissen können!).

Frieden schaffen mit deutschen Waffen

Vom Standpunkt dieser gefestigten deutschen Kriegsmoral aus kommt es natürlich nicht in Frage, auch nur festzuhalten, dass die NATO in den letzten Jahrzehnten Russland durch die Aufnahme von 14 Staaten und das Vorrücken um 1.000 km nach Osten so sehr in die Enge getrieben hat, dass dessen Führung nun eine letzte »rote Linie« überschritten sieht. Ebenso wenig sind da Kompromisse möglich, z. B. eine »neutrale Ukraine« – was übrigens dem lauthals bedauerten »Leiden der Ukrainer:innen« schnell ein Ende bereiten würde.

Stattdessen lautet der Tagesbefehl der Außenministerin:

»Wir haben uns dafür entschieden, die Ukraine militärisch zu unterstützen – damit sie sich im Einklang mit Artikel 51 unserer Charta gegen den Aggressor verteidigen kann. Deutschland ist sich seiner historischen Verantwortung in vollem Umfang bewusst. Deshalb bekennen wir uns heute und für alle Zukunft zur Diplomatie und werden immer nach friedlichen Lösungen suchen. Aber wenn unsere friedliche Ordnung angegriffen wird, müssen wir dieser neuen Realität ins Gesicht sehen. Wir müssen verantwortungsvoll handeln. Und deshalb müssen wir heute vereint in den Krieg eintreten!«

Nein, der letzte Satz ist jetzt böswillig falsch zitiert! Tatsächlich lautet Baerbocks letzter Satz »Und deshalb müssen wir heute vereint für den Frieden eintreten!« Interessanter Weise bedeutet das aber dasselbe: »Waffenlieferungen in Kriegsgebiete« (bisher untersagt in Deutschland) müssen ab jetzt und in diesem Fall unbedingt sein. Die Außenministerin erinnert an unsere »historische Verantwortung«, die ja bekanntermaßen darin besteht, dass Nazi-Deutschland die Ukrainer:innen fast ausgerottet hatte.

Der Schluss daraus: Weil Putin »unsere (!) friedliche Ordnung« angegriffen hat, müssen eben diese Ukrainer:innen dringend in einen Guerilla-Krieg gegen die russischen Invasoren gehetzt werden – für den Frieden natürlich! Kein böses Wort übrigens gegen einen ukrainischen Präsidenten, der alle Männer zwischen 18 und 60, die vor dieser Hölle weglaufen wollen, festhält und zwingt, ihr Leben zu opfern für seine Machterhaltung. Kein böses Wort gegen polnische und rumänische Grenzer, die ukrainische Männer gewaltsam in »ihr Vaterland« zurücktreiben.

Nebenbei bemerkt: Praktisch schicken die westlichen Friedensbewahrer inzwischen freiwillige Fremdenlegionäre und US-Veteranen an die Front und unter dem Stichwort »keine Flugverbotszone durch die Nato« ist auch schon von Kampfflugzeugen die Rede – es kommt also voran mit dem Kampf der Demokratien.

Kampf auf Leben und Tod

»Aber jetzt geht es um die Gegenwart. Es geht um Familien, die in U-Bahn-Stationen Schutz suchen, weil ihre Häuser bombardiert werden. Es geht um Leben und Tod der ukrainischen Bevölkerung. Die Sicherheit Europas steht auf dem Spiel. Die Charta der Vereinten Nationen steht auf dem Spiel. Fast jedes Land, das hier vertreten ist, hat einen größeren, einen mächtigeren Nachbarn. Es geht hier um uns alle, meine Damen und Herren.«

Das Leben der ukrainischen Bevölkerung wäre ganz schnell gerettet, wenn die Nato auf eine mögliche Mitgliedschaft des Landes verzichten würde. Gehört zur »Sicherheit Europas« eigentlich nicht auch die Russlands? »Die Charta der Vereinten Nationen steht auf dem Spiel« – wegen eines Kriegs? Dann dürfte es sie schon lange nicht mehr geben. Und wer schützt uns eigentlich vor dem »mächtigsten« Militärbündnis der Welt?

Logik und Wahrheit? Hier geht es um Höheres. Und hier spricht die Außenministerin des Landes, das gerade beschlossen hat, den drittgrößten Militäretat der Welt auf den Weg zu bringen …

Quelle: https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/annalena-baerbock-rede-vor-den-vereinten-nationen-uno-6909.html

Friedenspolitischer Kurswechsel

DGB rückt von friedenspolitischen Positionen ab und stützt Rüstungskurs der Berliner Ampel-Koalition

Otto König

Mit der Annahme des Antrags »#NO2PERCENT – Frieden geht anders«1 setzten die Delegierten des 21. Bundeskongresses des DGB 2018 in Berlin ein eindeutiges Zeichen für Frieden und Abrüstung. In dem Antrag heißt es: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf, sich gegen das 2-Prozent-Ziel bei Rüstungsausgaben zu engagieren. (…) Das 2-Prozent-Ziel der NATO, das von der Trump-Regierung vehement eingefordert wird, sichert nicht den Frieden, sondern führt zu einer neuen Rüstungsspirale. (…) Der DGB und seine Gliederungen werden ihre Zusammenarbeit mit Friedensinitiativen ebenso wie ihr Engagement und ihre Öffentlichkeitsarbeit für Frieden, Abrüstung und internationale Konfliktlösungen weiter verstärken, um zu verhindern, dass das 2-Prozent-Ziel bei den Rüstungsausgaben verwirklicht wird.« Auch zum Thema »Waffenlieferung in Konfliktgebiete« bezogen die Delegierten klar Stellung: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften setzen sich für eine stärkere und bessere Kontrolle von Waffenexporten ein. Wir lehnen Waffenexporte in Krisen- und Konfliktgebiete sowie an diktatorische oder autokratische Regime grundsätzlich ab.«

Diese Beschlusslage diente in den folgenden Jahren als Grundlage für den Aufruf des DGB zum Antikriegstag. »Für uns steht fest: Wenn wir künftig friedlich und sicher zusammenleben wollen, brauchen wir eine Politik, die auf Abrüstung und Entspannung setzt, statt auf Aufrüstung und Abschreckung. (…) Es ist höchste Zeit, das Ruder herumzureißen! Wir benötigen die Rüstungs-Milliarden dringend für andere Zwecke«, hieß es im DGB-Aufruf 2021.2 Gemeint war der Rüstungshaushalt der Großen Koalition, der seit Ausbruch der Ukraine-Krise 2014 von 32,5 Mrd. Euro auf 46,9 Mrd. im Jahr 2021 bereits steil angestiegen war.

»Zeitenwende« und »friedenspolitischer Kurswechsel«

Im März 2022 – nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine – vollzog die Ampel-Koalition eine »rüstungspolitische Zeitenwende« und der DGB zeitgleich einen »friedenspolitischen Kurswechsel«. Den Schock über den Angriffskrieg gegen die Ukraine nutzend, wischte Kanzler Olaf Scholz bisherige Grundsätze der deutschen Sicherheitspolitik vom Tisch und verkündete das größte Aufrüstungsprogramm seit Gründung der Bundeswehr 1955. Die Erhöhung der Rüstungsausgaben auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts macht bei einer Wirtschaftsleistung von 3,57 Billionen Euro über 71,4 Milliarden Euro aus – knapp 25 Milliarden mehr als im vergangenen Jahr. Damit wird die immer wieder hartnäckig vorgetragene 2%-Forderung der USA und der NATO, gegen die sich SPD, Grüne und auch der DGB bis vor kurzem gestemmt hatten, übererfüllt. Kommt im aktuellen Bundeshaushalt ein »Sondervermögen« von 100 Milliarden Euro, für das Scholz einige Vorhaben bereits gelistet hat: eine neue Generation von Panzern und Kampfflugzeugen, darunter Ankauf des US-Tarnkappenjets F-35; Stärkung der »nuklearen Teilhabe«; Priorisierung von Projekten wie die »Eurodrohne«.

Und der DGB? Statt dem größten Militarisierungsschub und damit der Umleitung des Steueraufkommens auf Rüstungsgeschäfte ein klares »Nein« entgegenzusetzen, vollzogen die Mitglieder des DGB-Bundesausschusses Anfang März über die Köpfe der Gewerkschaftsmitglieder hinweg eine »180-Grad-Kehrtwende«. »Die Bundesregierung hat zu Recht verteidigungspolitisch schnell auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert«, heißt es lobend in der Resolution. Zur Beruhigung der Mitglieder wird nachgeschoben: »Die dauerhafte Aufstockung des Rüstungshaushalts zur Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO wird vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften weiterhin kritisch beurteilt«.3

Das ist jedoch Augenwischerei. Mit der Resolution wird der #NO2PERCENT – »Frieden geht anders«-Beschluss des DGB-Bundeskongresses beerdigt und das Rüstungsprogramm der Ampel unterstützt. Der Hauptkassierer der IG Metall, Jürgen Kerner, brachte es in einem Interview mit der Amberger Zeitung (7.3.2022) auf den Punkt: »Unsere Wertigkeit hat sich innerhalb einer Woche gewendet.« Der Interviewer fasste das folgendermaßen zusammen: »Natürlich gehört es sich nach Ansicht von Jürgen Kerner, die Ukraine jetzt mit Waffen zu unterstützen und die Wehrfähigkeit der Bundeswehr wiederherzustellen.«

Diese Position stellt die bisherige Beschlusslage der IG Metall auf den Kopf. Bei ehren- und hauptamtlichen Funktionär:innen stößt sie auf Widerspruch. In ersten Resolutionen stellen Delegiertenversammlungen der IG Metall im Bezirk NRW fest: »Diesen Krieg zum Anlass zu nehmen, nach mehr Aufrüstung zu rufen, lehnen wir ab. Mehr Waffen haben noch nie zu einer friedlicheren Welt geführt. Deshalb kritisieren wir auch den Vorschlag, im Grundgesetz eine Art Schattenhaushalt zu verankern, der zusätzliche 100 Milliarden ›Sondervermögen‹ für die Bundeswehr vorsieht. Genauer gesagt: für zusätzliche Rüstungsausgaben.«

Die nächste Worthülse in der Erklärung lautet: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften halten daran fest, dass die militärische Friedenssicherung nicht zulasten des sozialen Friedens erkauft werden darf«. Ist das politische Naivität oder politisches Unvermögen: Natürlich werden mit dem Rüstungsprogramm enorme finanzielle Mittel entzogen, die dringend für die ökologische Transformation, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur des Sozialstaats benötigt werden. Da die Bundesregierung an der Schuldenbremse festhält, bedeutet das Ausgabenkürzungen vermutlich beim größten Haushaltsposten: dem Etat für Arbeit und Soziales. Schon deshalb müssten Gewerkschaften diesen exorbitanten Rüstungsausgaben ihre Zustimmung verweigern.

»Die neue deutsche Aufrüstungsdebatte ist so hilflos wie verlogen. Als hätte eine perfekt ausgerüstete Bundeswehr der Ukraine heute geholfen. Als hätte Wettrüsten je Kriege verhindert. Als hätte der Ausstieg aus internationalen Rüstungskontrollverträgen Frieden gebracht«, twitterte Monitor-Redakteur Georg Restle. Tatsächlich hat die Erhöhung der Militärausgaben nicht ursächlich mit dem Ukraine-Krieg zu tun, entsprechende Pläne werden seit Jahren verfolgt. Sie stießen jedoch bislang auf großen Widerstand in der deutschen Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund des Angriffs Russlands auf die Ukraine bot sich jetzt die einmalige Chance, sie ohne nennenswerte politische Widerstände durchzusetzen.

Mehr konventionelle Waffen tragen so wenig zur Sicherheit bei wie die beabsichtigte Stärkung der »nuklearen Teilhabe«. Gefördert werden hingegen die Profite der deutschen und internationalen Rüstungsindustrie.

Die rüstungspolitische Regierungserklärung des Bundeskanzlers sorgte an den Börsen für ein wahres »Kursfeuerwerk«: Die Rüstungsaktien stiegen zeitweise um bis zu 85 %. Bei Panzerbauern, Munitionsherstellern und Raketenproduzenten füllen sich die Auftragsbücher. Die Branche stellt sich auf die neuen Bedürfnisse ihrer Kunden ein. So preist der Düsseldorfer Rheinmetall-Konzern seinen jüngst präsentierten »Lynx 120«, einen Schützenpanzer mit einer großkalibrigen Glattrohrkanone, als hochtechnologischen Gegner der neuen russischen Panzer T-14 Armata an. »Es ist möglich geworden, was bis vor ein paar Jahren undenkbar war: Mit einem einzigen TwInvis können wir bis zu ٢٠٠ Flugzeuge in einem Umkreis von ٢٥٠ km in ٣D überwachen«, so der CEO der Unternehmensgruppe Hensoldt, Thomas Müller, bei der Vorstellung eines neuen Passiv-Radarsystems. Laut Rheinmetall-Chef Armin Papperger kann die Produktion von Munition für Panzer in kürzester Zeit hochgefahren werden. »In vielen Werken arbeiten wir im Einschichtbetrieb, wir können auch rund um die Uhr arbeiten«, so Papperger. Man könne die Produktion versechsfachen und 3.000 neue Arbeitsplätze schaffen, ließ der Düsseldorfer Rüstungskonzern verlauten. Mit Blick auf den Ukraine-Effekt für die Rüstungsgeschäfte seiner Firma sagt Papperger: »Mittelfristig sehen wir in Deutschland ein jährliches Potenzial von bis zu zwei Milliarden Euro an zusätzlichem Umsatz, wenn die entsprechenden Beauftragungen erfolgen.«

Die »100-Milliarden-Euro-Rüstungsbombe« aus dem Kanzleramt entzieht der gewerkschaftlichen Debatte über Rüstungskonversion den Boden. Das in Aussicht gestellte staatliche Konjunkturprogramm für die Rüstungsbetriebe wird wohl von den Gesamtbetriebsräten als Arbeitsplatzsicherungsprogramm begrüßt werden. Und die zuständigen Gewerkschaften, in deren Organisationsbereichen Rüstungsbetriebe produzieren, werden wohl kaum in die Auseinandersetzung mit betrieblichen Funktionär:innen gehen, um Forderungen nach Entwicklung und Produktion von Drohnen, Produktion von Panzern und Fregatten zum Erhalt von Arbeitsplätzen entgegenzutreten.

Bedenklich ist auch die uneingeschränkte Unterstützung der Sanktionspolitik des Westens gegen Russland: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften (befürworten) die scharfen wirtschaftlichen Sanktionen, die von der Bundesregierung, der Europäischen Union und den westlichen Bündnispartnern gegen Russland verhängt worden sind.« Die in diesem Zusammenhang oft zitierte Aussage, »die bereits beschlossenen Sanktionen gegen die Russische Föderation richten sich gegen die politisch Verantwortlichen und ausdrücklich nicht gegen die russische Bevölkerung«, verschleiert die Realität. Tatsächlich treffen die Sanktionen gegen Russland und in den sanktionierten Ländern wie Iran, Kuba, Syrien und Venezuela am stärksten die Ärmsten der Armen. Wirtschaftssanktionen sind eine Form der Kriegsführung, mit der eine Verhaltensänderung der Herrschenden eines Landes herbeigepresst werden soll, indem man seine Bevölkerung bewusst schädigt.

Diese Form von »Wirtschaftskrieg« verschärft nicht nur die soziale Ungleichheit innerhalb kapitalistischer Gesellschaften, sondern bedroht mittlerweile die Weltwirtschaft insgesamt. Wirtschaftsprognosen sind bereits um die Hälfte zurückgenommen worden. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen) warnte im Falle eines westlichen Embargos russischer Öl- und Gaslieferungen vor schweren Schäden für Deutschland: »Wir reden dann über eine schwere Wirtschaftskrise in Deutschland und damit in Europa.« Dann stünden »Unternehmenszusammenbrüche und Arbeitslosigkeit« bevor – auf längere Zeit. Deshalb hält man sich bei diesen Embargozielen noch zurück. Bedroht ist die Nahrungsmittelversorgung in Teilen Afrikas, weil die US- und EU-Sanktionen den Export russischen Getreides und Düngemittel behindern; Russland ist bei beidem einer der größten Produzenten der Welt.

Während der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften plakativ daran festhalten, »dass die militärische Friedenssicherung nicht zulasten des sozialen Friedens erkauft werden darf« (Resolution), zahlen die abhängig Beschäftigten schon längst die Kosten: Explodierende Sprit- und Energiepreise erhöhen schon längst deren Lebenshaltungskosten. Das bringt wahrscheinlich ein Drittel der deutschen Haushalte, die von eher niedrigen oder mittleren Einkommen leben, in finanzielle Nöte. Schon die bisherigen Preiserhöhungen beim Gas können für Durchschnittshaushalte 70 Euro mehr pro Monat bedeuten.

Weichen für eine sichere und friedliche Zukunft stellen

In der Resolution des DGB-Bundesausschusses heißt es abschließend: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften (treten auch weiterhin) für eine allgemeine und weltweite kontrollierte Abrüstung, für die Verwirklichung und Erhaltung des Friedens und der Freiheit im Geiste der Völkerverständigung ein.« Wer wirklich Weichen für eine sichere und friedliche Zukunft stellen will, muss auch künftig eine Politik forcieren, die auf Abrüstung und
Entspannung sowie Dialog setzt, statt auf Aufrüstung und Abschreckung. Der muss:

  1. das von der Spitze der Ampel-Koalition vorgeschlagene Sondervermögen für Aufrüstung in Höhe von 100 Milliarden Euro und dauerhafte Rüstungsausgaben von über 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ablehnen,
  2. für stärkere und bessere Kontrolle von Rüstungsexporten eintreten und Waffenexporte in Krisen- und Konfliktgebiete zurückweisen,
  3. für Rüstungskonversion mobilisieren, und
  4. an zivilen Strategien der Friedenssicherung und Konfliktverhütung mitarbeiten; die Arbeit an einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa ist vordringlich; dazu gehört ein glaubwürdiger Neutralitätsstatus der Ukraine.

Der DGB muss auch künftig Teil der Friedensbewegung bleiben.

(Zuerst veröffentlicht in »Sozialismus«, April 2022)

1 A002: #NO2PERCENT – Frieden geht anders!, DGB-Bundeskongress vom 13.-17.5.2018 in Berlin.

2 Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zum Antikriegstag 2021.

3 Resolution »Krieg sofort beenden! Waffenstillstand jetzt!«, DGB-Bundesausschuss vom 2.3.2022.

Nach dem »Ende der Ideologien«: Lernt Golf

Hannes Stütz, 21.3.1991

Hussein plündert den Koran und Bush die Bibel. Hitler als Figaro. Heute hier, morgen da. Die Aktion Sühnezeichen soll Fransen ziehen um Bombenteppiche auf Araber. Germanisches Fernsehen lässt sich in 48 Stunden umschalten. In dieser Frist wird aus Moral und Rationalität Antiamerikanismus, Antisemitismus und Feigheit. Scholl-Latour ist öffentlich stolz auf seine Fallschirmjägerjahre in Indochina. Vor der Tür drängeln lebendige Ritterkreuzträger, die ebenfalls das Lied vom Tod gespielt und in das Weiße seines Auges geblickt haben. Ein aus New York eingeflogener Israeli sticht hart wie Gummibär und zäh wie Tropfhahn die deutsche Friedensbewegung ab. Gleich ein halbes Dutzend bisher eher des Pazifismus verdächtigter später Männer (»Soldaten sind sich alle gleich«) behaupten, Rumpelstilz zu sein. Zadek stürzt sich vom Hermannsdenkmal. Es gibt nichts mehr zu inszenieren.

Nun bleibt also Krieg mein honoriger Nachbar. Der verschwundene Widerpart zum Imperialismus macht’s möglich. Endlich begreife ich den scheinbar anachronistischen Falklandkrieg. Er war die Probe aufs Prinzip. Der Golfkrieg das Exempel. Jetzt kann das Stück in Serie gehen. Auch ohne UN. Und nicht nur in der Dritten Welt. Es lohnt sich nachzulesen, wie Bush vor und nach dem Besuch von Mrs. Thatcher 1990 formuliert hat. Die Schwänzin hat sich des Hunds bemächtigt. Und dem gemeinsamen Knusperhäuschen Europa wurde ein Säulenvorbau gezogen in lichtem Empire.

Der Golfkrieg war auch ein Triumph des außenpolitischen Thatcherismus über Konzeptionen Gorbatschows. Die Sowjetunion, oder was davon bleibt, wird das noch zu spüren bekommen. Aus den Medien ist bekannt, dass wir es in dieser Zeit immerhin mit zwei Krisen zu tun hatten: einer Golfkrise und einer Krise im Baltikum. Und man war sich tagelang unschlüssig, welcher man den Vorzug geben sollte. (In Nordirland übrigens gibt es keine.) Das Wort »Krise« gewinnt den Heulton zurück, den man an ihm aus Geschichtsbüchern kennt. Wird man dazu erklärt, rekapitulieren die Eingreif-truppen bereits ihre Programme.

Kann das neue Weltkapital nahtlos weitermachen, wo 1917 und vor allem nach 1945 für seine Alten Herren die Bruchstellen waren? War dieses Golf-Exempel nur die Wiederaufnahme des 1956 gescheiterten Suez-Krieges? Diesmal diplomatisch parademäßig vorbereitet, in der Durchführung digitalisiert und bis heute unter Ausschluss der Öffentlichkeit (ausgenommen die, die getroffen wurde)? Befinden wir uns in der Epoche des kapitalistischen Absolutismus, der sich selbst verzehrt, aber dazu die Welt braucht? Und sich unter der Bezeichnung »Parlament« seine Generalstäbe hält?

Mit Land und Leuten weiß er nichts mehr anzufangen, allenfalls mit dem, was drunter liegt oder in den Geldbeuteln. Die Kolonisierung der DDR zeigt es: Die Hauptstandorte sind verteilt, die Kapazitäten übergroß, gefragt sind Märkte, knapp kalkulierbare Rohstoffe, Sicherung des Systems und neue Technologien. Und um Himmels willen keine Ideologien, außer der absoluten, die keine sein möchte, sondern lediglich Pragmatismus pur. Eben Golfkrieg.

Was vorher war und daneben ist an Welt- und Menschenbild, geht in die Wurstmaschine. Als wär’s ein Stück der Treuhand. Der Rassismus des Golfkriegs wird schon nicht mehr bemerkt. Sein Objekt waren dieses Mal Araber. Die größte Scheußlichkeit dieses Jahrhunderts, der Holocaust, made in Germany, wurde abgewickelt, als schon einmal alle Ideologien beendet waren und die Geschichte neu beginnen sollte.

Über arabische Geschichte mag ich schon nicht mehr reden — es hört keiner zu. Und Konzelscholl war schließlich dort. Die damals die heutigen arabischen Grenzen gezogen haben, sitzen jetzt am Auslöser der Bomben — gewitzte Väter, smarte Enkel. Vielleicht tauscht die US-Regierung ja demnächst Schamir gegen die Scheichs. Die haben jetzt nichts mehr zu verlieren außer ihren Ringen. Und vielleicht ist dann leichter zu reden über Anfang und Ende.

Eine Sicherheit bleibt: Im Krieg zeigt der Kapitalismus, was leistungsmäßig in ihm steckt. Eigentlich müsste immer Krieg sein. Zur Verteidigung der Robben, der Mark Brandenburg und Neu-Guineas. Ob Perez de Cuellar auch dafür einen Blankoscheck auf die Reise gehen lässt?

Zum Schluss der Börsenbrief. Kaufen oder verkaufen? Bei Kopf und Herz zögern. Die Niere tut es auch. Sie steht hoch im Kurs. In Indien gibt es immer die neuesten Notierungen.

(Aus Marxistische Blätter 2_1991, S. 1)

Ach ja, das war unser guter Hannes Stütz,

mühselig alt geworden, denkend und redend, lachend als wäre er unzerbrechlich. Wir kannten ihn als Mentor, Anreger, als charmanten Unterhalter

und Aufreger. In Gesprächen entwickelte er Gedanken, zusammen mit seinem jeweiligen Gegenüber.

Und ganz unauffällig hat er große Wirkungen gehabt. (Das würde er heute bestreiten; aber wir bestehen darauf.)

Auf Vielerlei ließ er sich ein, fragte nach, neugierig, belesen, alles wissen wollend: über Lebenszusammenhänge, Denkzusammenhänge, kurzum Kulturprobleme. Daran muss man arbeiten, sagte er.

Streng bewahrte er, was er als richtig erkannt hatte,

und dafür stritt er, nachdenklich, stets neu überprüfend, und genau deswegen unbeirrbar. Ein veritabler Kommunist. Und ein Poet.

– Ach ja, das war unser Hannes Stütz!

1936 – 2022

Marina Achenbach, Ernst Antoni, Joachim Barloschky, Olaf Cless, Diether Dehm, Vridolin Enxing, Heide Ferber, Hansi Frank, Ekkes Frank, Claire und Dieter Gautier, Lothar Geisler, Margret Gerhards, Peter Heepen, Christof Herzog, Ulli Hetscher, Almut Hielscher, Henning Hintze, Elvira Högemann, Jörg Högemann, Marlies und Sönke Hundt, Waltraud und Manfred Idler, Dieter Klemm, Hermann Kopp, Patrik Köbele, Herbert Lederer, Emmi und Helmut Menzel, Christel Priemer, Roman Ritter, Volker Rohde (Fäustel), Ute van Roosmalen, Erich Schaffner, Fred Schmid, Sonja Schmid und Walter Listl, Hans E. Schmitt-Lermann, Erasmus Schöfer, Jürgen Schuh, Susanne Schunter-Kleemann, Dick Städler, Klaus Stein, Heinz Stehr und Edith Zenker, Ingrid und Dieter Süverkrüp, Ben Süverkrüp, Uwe Timm, Inge Trambowsky, Ingeborg Weber, Christa Weber, Peter Wilke, Klaus Winkes, Guido Zingerl.

An die Veteranen des »Großen Vaterländischen Krieges«

Ein Brief von Vilmos Hanti / Ulrich Schneider (FIR)

Die FIR und ihre Mitgliedsverbände vergessen nie die großartige Leistung aller sowjetischen Veteranen der Roten Armee gegen die faschistische Bedrohung. Gemeinsam mit den anderen Kräften der Anti-Hitler-Koalition haben sie den entscheidenden Anteil an der Befreiung Europas von der nazistischen Barbarei und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges gehabt. Sie haben unter großen Opfern die eigene Heimat gegen eine faschistische Bedrohung verteidigt. Sie haben bei der Befreiung des Lagers Auschwitz am 27. Januar 1945 jenen zentralen Ort der faschistischen Vernichtungspolitik erreicht, deren Spuren sie in allen besetzten Sowjetrepubliken zuvor gefunden hatten. Die Tatsache, dass die Völker der Sowjetunion diesen Befreiungskampf mit 27 Mio. Opfern bezahlen mussten, ist ein Vermächtnis, das niemand, der sich ernsthaft für Frieden in der Welt einsetzt, bestreiten kann und darf. Daher sind die sowjetischen Veteranen des »Großen Vaterländischen Krieges« in jeder Hinsicht berechtigt, als politisch-moralische Instanz ihre Stimme für Frieden und gegen nazistischen Ungeist zu erheben.

In der aktuellen Situation des russisch-ukrainischen Krieges appelliert die FIR als »Botschafterin des Friedens« der Vereinten Nationen an alle ehemaligen Veteranen des »Großen Vaterländischen Krieges« und ihrer Angehörigen:

Nutzt euren gesellschaftlichen und politischen Einfluss, erhebt eure Stimme für die unverzügliche Beendigung der Kampfhandlungen in diesem Krieg. Ob ihr in Weißrussland, in der russischen Föderation, in der Ukraine, in Israel oder einem anderen Land lebt, geht auf die Regierenden eurer Länder zu. Fordert sie auf, im Dialog mit den politisch Verantwortlichen in Russland und der Ukraine, mit Vertretern des Militärs beider Seiten, einen sofortigen Stopp aller Kampfhandlungen zu erreichen, auch dafür zu sorgen, dass keine bewaffneten Milizen diese Kämpfe verlängern. Ein sofortiger Waffenstillstand ist notwendig für den Schutz der Zivilbevölkerung, unter denen sich viele ehemalige sowjetische Veteranen und ihre Angehörigen befinden. Auch für sie müssen die Waffen schweigen. Nicht Waffenlieferungen oder »Durchhalteparolen« schaffen Frieden, sondern nur die Einstellung der Kämpfe und ernsthafte Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien.

Doch wenn die Waffen schweigen, beginnt die nächste große Aufgabe für euch Veteranen. Ihr, die ihr eure Gesundheit und das Leben eingesetzt habt für die Befreiung der Heimat und die Zerschlagung des Nazismus, seid jetzt gefordert, den Versöhnungsprozess zwischen dem russischen und ukrainischen Brudervolk, wie es in euren Veröffentlichungen genannt wird, auf den Weg zu bringen. Dabei möchte die FIR euch unterstützen.

Lasst uns gemeinsam am 8./9. Mai – dem »Tag der Befreiung« und dem »Tag des Sieges« – in den verschiedenen europäischen Ländern an die bedeutsame Leistung der Veteranen der Roten Armee erinnern. Daran erinnern, wie sie gegen den Nazismus und für den Frieden gekämpft haben. Das kann eine Basis der Versöhnung sein – in Russland und in der Ukraine. Gleichzeitig brauchen wir die gemeinsame Unterstützung aller sowjetischen Veteranen, wenn wir in verschiedenen europäischen Ländern darum ringen, die Zeugnisse und Denkmäler für die Befreiung und die Befreier zu bewahren.

Vilmos Hanti (FIR-Präsident ), Dr. Ulrich Schneider (Generalsekretär der FIR) 17. März 2022.

Bumerang Sanktionen

Anne Rieger

Immer noch erreichen uns täglich Schreckens-Bilder aus der Ukraine. Wir wollen etwas tun, etwas beitragen, um den Krieg zu beenden, um die russische Regierung unter Druck zu setzen, damit sie einlenkt. Entsprechend groß ist die Zustimmung zu Wirtschaftssanktionen, die, wie Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock stolz verkündete, »Russland ruinieren« sollen. Oligarchen, Politiker, Unternehmen, Banken sollen von der internationalen Geschäftemacherei ausgeschlossen, ihre Profite gekürzt werden oder gänzlich verschwinden. Dann, so die mediale Erzählung, würden sie Druck auf Putin machen, und dieser den Krieg beenden.

»Die wirtschaftlichen ›Strafmaßnahmen‹ treffen die russische Bevölkerung und export-orientierte Unternehmen hart«, so der Chefökonom Peter Fischer kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Doch ob und wie die Machtelite um Putin leide, sei fraglich. Er bleibe skeptisch, ob die Maßnahmen tatsächlich ein Ende der Kampfhandlungen bewirken. Die Wohlfahrt der Russinnen und Russen sowie der Reichtum von Wirtschaftsmagnaten würden sich zweifelsfrei verringern.

Offensichtlich ist, dass die Sanktionen zuallererst einfache Menschen in Russland, in Deutschland, in der EU und vielen Ländern der Welt ruinieren. In Russland werden nahezu alle Waren teurer – von Babynahrung bis zu Medikamenten. Grundnahrungsmittel wie Zucker und Zwiebeln kosteten über 13 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Ökonomen gehen davon aus, dass die Inflationsrate in Richtung der 20-Prozent-Marke steigen wird. Menschen stehen Schlange vor Läden und Geldautomaten. Bei uns steigen Energiepreise, der Preis für Sprit. Den Weg zur Arbeit können sich bald viele nicht mehr leisten. Die Lebensmittelpreise eskalieren – werden für viele zu Luxusgütern. Die Wohnungen werden kalt. »Frieren für den Frieden«?

Die Reichen und gut Betuchten, die Politiker:innen aber, die uns das vorschlagen, leben in gut gewärmten Wohnungen. Teurere Energie, Benzin und Lebensmittel zahlen sie locker von ihren hohen Einkommen. Oligarchen wie Abramowitsch, der unter anderem Villen und Luxusjachten besitzt, treffen diese unfreundlichen Akte zwar, so musste Abramowitsch seinen Fußballklub verkaufen, auch Melnitschenkos Jacht liegt fest in Triest, aber weder frieren die Oligarchen noch müssen sie im Sozialmarkt einkaufen. Auch die Besetzung von Deripaskas Villa macht diesen nicht obdachlos. Die Oligarchen ziehen nach Dubai, den Krieg in der Ukraine beendet das nicht.

Wohl aber profitieren die Reichen, vor allem aber die in den USA. »Die neuen Sanktionen der USA gegen Russland zielen vor allem auf europäische und deutsche Unternehmen«, schrieb Sahra Wagenknecht schon im August 2017. »Gerade die Gaspipelines und die Leitung Nord Stream 2 will man damit treffen. Statt mit russischem Gas soll Europa künftig vorrangig mit teurem und dem ökologisch katastrophalen Fracking-Gas aus den USA versorgt werden. Die US-Sanktionen sind daher nichts weiter als die Anbahnung eines Riesengeschäfts für die US-Fracking-Konzerne.«

Wirtschaftskrieg

Man könnte auch Wirtschaftskrieg dazu sagen. Flugverbote für russische Maschinen, Stopp von Hightech-Lieferungen, russische Banken werden teilweise aus dem internationalen Finanzsystem Swift ausgeschlossen, Transaktionen mit der Russischen Notenbank werden verboten, Vermögenswerte eingefroren. Finanzielle Umgehungen funktionieren trotzdem. Forderungen nach einem Importstopp für russisches Öl und Gas wurden lauter. Indes geht der Krieg weiter. Die bereits durchgeführten Sanktionen haben zu keinem Stopp des Kriegsgeschehens geführt.

Im Rahmen des G7- und des EU-Gipfels, mit US-Präsident Biden als Gast, ging es um weitere Verschärfungen der Sanktionen. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien gaben jeweils neue Strafmaßnahmen gegen russische Politiker, Wirtschaftsfunktionäre und Unternehmen bekannt. Der Druck auf die EU, sich dem US-Ölembargo gegen Russland anzuschließen und womöglich auch die Erdgaseinfuhr auf null zu reduzieren, stieg, nachdem Moskau angekündigt hatte, es werde für seine Lieferungen nur noch eine Bezahlung in Rubel akzeptieren.

Bei Sanktionen gibt es oft zwei Probleme: Erstens schaden sich die Länder, die die Strafen verhängen, selbst – schließlich bekommt Österreich weniger Gas aus Russland, das brauchen wir aber für die Industrie und zum Heizen. Die stark gestiegenen Energie- und Agrarrohstoffpreise aufgrund des Krieges setzen die heimische Lebensmittelindustrie unter Druck. Österreichs Agrar- und Lebensmittelimporte aus Russland und der Ukraine sind vergleichsweise nicht hoch.

Aber die beiden Länder, als große Agrarexporteure bei Getreide, Obst, Ölsaaten und Soja, bestimmen die Preisbildung in Europa mit, so die WKÖ-Vertreterin Koßdorff. Russland habe auch indirekt große Bedeutung für die heimische Lebensmittelindustrie, weil Österreich von Erdgas aus Russland stark abhängig sei. Wenn Rohstoffe und Transportkapazitäten weltweit knapp sind, »dann steigen auch die Preise für Unternehmen über die gesamte Wertschöpfungskette«.
Und zweitens muss man solche Sanktionen lange aushalten, bis dadurch ein spürbarer Nachteil entsteht. Und bis dahin treffen sie eben die einfachen Menschen. Sanktionen haben in der Vergangenheit noch nirgends auf der Welt etwas bewirkt. Außer dass man dadurch Mauern für Gespräche und Verhandlungen weiter erhöht, so NZZ-Chefökonom Fischer. Wir brauchen Lösungen für die Menschen statt weiterer Eskalation.

Einige Einwände

Zu C. Vellay, Philosophische Grundlagen marxistischer Wissenschaftsauffassung, MBl 1_22

Den meisten Aussagen von Claudius Vellay stimme ich voll und ganz zu. Doch einigen kurzen, eher stichwortartigen Bemerkungen möchte ich dennoch widersprechen.

Die Mathematik als »Hilfswissenschaft« zu charakterisieren, geht nach meiner Auffassung fehl. Sie ist einerseits eine – zumindest für alle Naturwissenschaften – unentbehrliche Einzelwissenschaft und andererseits hat sie ein bemerkenswertes Alleinstellungsmerkmal. Anders als alle anderen Wissenschaften braucht sie keinen Wirklichkeitsbeweis. Eher könnte man sagen: im Gegenteil. Ein kleines Beispiel: so unbestreitbar seit etwa zweieinhalbtausend Jahren der Satz des Pythagoras mathematisch ist, so nützlich ist er bis heute in der Praxis des Geometers. In der Realität wird man trotzdem nie ein mathematisch exaktes rechtwinkeliges Dreieck finden. Also: keine Widerspiegelung – der Begriff hat seine Tücken, zumindest in Bezug auf die Mathematik, denn sie »lebt« gewissermaßen von »interner Kohärenz«, dem internen logischen Beweis – und entsprechend apodiktischen Regeln …

Vielleicht liegt die Beliebtheit der »Beweisführung« durch interne Kohärenz im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb daran, dass man sich von dem Alleinstellungsmerkmal der Mathematik, mit der man gerne operiert, manchmal gar jongliert (Ökonomie, s. K. Müller, MBl. 1_22), die höheren Weihen erhofft. Schon Galileo Galilei hat diesen Umstand treffend glossiert: »Erstaunlich und entzückend ist die Macht zwingender Beweise, und so sind allein die mathematischen geartet.« (getAbstrakt AG-CH).

Zu Vellays Wort von der (selbstgestellten) Lebensaufgabe eines »abgeschieden« lebenden Mathematikers ein Beispiel: der berühmte C. F. Gauß hatte – aufbauend auf Resultate früherer Mathematiker – schon in jungen Jahren eine Eingebung (Intuition), wie ein ziemlich altes mathematisches Rätsel, das es seit Erfindung der Null und der negativen Zahlen gab, lösbar wäre. Das Rätsel: zweite, vierte, usw., also gerade Wurzeln aus negativen Zahlen. Dritte, fünfte etc. Wurzel kein Problem: es entsteht immer wieder eine negative Zahl; denn während minus mal minus immer plus ergibt, so ergibt minus mal plus immer minus – so dogmatisch ist die Mathematik. Gleichwohl forschte Gauß (insofern »abgeschieden«) über Jahrzehnte weiter, bis er das einwandfreie Ergebnis präsentieren konnte, die »imaginären Zahlen«. Mit denen können nach komplizierten mathematischen Operationen … gleichwohl reale Ergebnisse erzielt werden, die für Wissenschaft und Technik nützlich sind (Günter Kröber, Bitte Zahlen, Eulenspiegel-Verlag, 2005). Zudem war Gauß auch Praktiker, der nicht nur die theoretischen Grundlagen für das deutsche Vermessungssystem schuf, sondern auch selbst einige Jahre in der praktischen Vermessung Deutschlands tätig war.

Intuition ist andererseits – wie Vellay treffend anmerkt – durchaus problematisch, wenn sie wissenschaftsfeindlich »verwurstet« wird. Aber ohne Intuition, die freilich, wie Ideelles überhaupt (Vellay) bis heute nicht präzise definiert werden kann, kommen etwa Künstlerinnen und Künstler nicht aus. Hier sehen übrigens etliche Naturwissenschaftler Verwandtschaften zu ihrem eigenen Bereich.

Gestolpert bin ich deshalb über Vellays Feststellung: »Wissenschaftliche Theorien sind prinzipiell auf kumulierende Wissenserweiterung angelegt, während Kunstwerke einmalig und abgeschlossen sind.« Der erste Halbsatz ist freilich (für Marxisten zumal) unbestreitbar. Der Gegensatz, der durch den zweiten Halbsatz hergestellt wird, erscheint mir aber irreführend. Natürlich ist jedes einzelne (Original-)Kunstwerk »einmalig« und in der Regel auch »abgeschlossen«. Doch das erfasst genau genommen nur die »technische Seite«. Doch Kunstwerke sind weit mehr: schon alleine ihre (oft vielfältigen, auch gegensätzlichen) Interpretationen, etwa bei Theaterstücken, zeigen das. Sie können einerseits nicht nur das Erlebnisvermögen erweitern, sondern ebenso zu wichtigen Erkenntnisgewinnen beitragen. So etwa vermitteln sie Einsichten über die Verfasstheit von Gesellschaftsordnungen, in denen sie entstanden sind. Sie wirken auch über lange Zeiträume auf spätere Künstlerinnen und Künstler ein, um nur einige wenige Aspekte zu nennen. Nun der reale Unterschied zur Wissenschaft: während bei ihr der Erkenntnisgewinn mit der Zeit zwangsläufig voranschreitet, »veralten« (wichtige) frühere Kunstwerke nicht, auch wenn das von der bürgerlichen Kunstkritik gerne mal behauptet wird. Gar nicht so selten liefern sie sogar mehr Erkenntnis als neue.

Damit Schluß mit der Nörgelei und Dank an Claudius Vellay für seinen Beitrag!

Peter Wilke, Vermessungsingenieur und Kulturredakteur der UZ i.R., Düsseldorf

Kurze Anmerkungen und Fragen

Zu Monika Münch-Steinbuch »Pandemie, Politik und Profit« in Marxistische Blätter 1_2022 »Wissenschaftsfeindlichkeit«

Habe voller Erwartung und Neugier die Marxistischen Blätter aus dem Briefkasten geholt. Schwerpunkt: Wissenschaftsfeindlichkeit. Zwischen etlichen durchaus interessant erscheinenden Beiträgen (Wissenschaftsfeindlichkeit in der Geschichtswissenschaft) der Beitrag einer Ärztin (Monika Münch-Steinbuch) aus Stuttgart, zu »Pandemie, Politik und Profit«. Der Titel weckt durchaus Erwartungen … Kurze Anmerkungen und Fragen:

Warum erfahren wir nichts über die Finanziers der Think Tanks und strategischen Schaltstellen der herrschenden Pandemiestrategie - inklusive WHO?

Insbesondere an den marxistischen Anspruch der Blätter und die Autorin habe ich eine weitere Frage in diesem Zusammenhang: Wenn das Kapital Great Barrington wollte, warum hat sich dann deren Strategie in der kapitalistischen Welt nicht durchgesetzt, sondern wurde innerhalb von ein paar Stunden, beinahe in Echtzeit als wissenschaftsfeindlich gebrandmarkt und dann aus allen Diskursen ausgegrenzt. Great Barrington steht hier stellvertretend für alle Lockdown-Kritiker.

War und ist nicht die Pro-Lockdown-Kapitalfraktion die wesentlich stärkere?

Ist das nicht die Seite der großen Profiteure? Sind nicht die Namen BlackRock, Microsoft, Amazon, Google, Facebook wesentlich beeindruckender und mit sehr viel mehr politischer und ökonomischer Macht ausgestattet als eine Charles Koch-Foundation (pro Great Barrington)?

Ja, es wäre interessant aus marxistischer Sicht zu untersuchen, ob jene Kräfte des Kapitals, die derzeit verlieren und von den neuen Supermonopolen ausradiert oder geschluckt werden, besonders wenig Interesse an einer Strategie hatten, die diesen Prozess beschleunigt. Es ist zumindest anzunehmen, dass sie daran kein Interesse haben. Welche Rolle spielen die? Sind das Feinde oder partielle Bündnispartner? Interessant wäre auch die Klärung der Frage, welche Interessen wir in diesem Prozess haben. Antimonopolistisch geht in jedem Fall anders …

Stephan Krüger, Nürnberg

Editorial

Dieser Schwerpunkt wurde nach der Bundestagswahl 2021 und der Bildung der »Ampel-Regierung« konzipiert und organisiert. Ziel war und ist, mal etwas hintergründiger auf die »Bundestagsparteien im Umbruch« zu schauen. Die Tragweite der eingeläuteten »Zeitenwende«, die in der »historischen Bundestagssitzung« vom 27. Februar manifest wurde, ist in den Beiträgen erst in Ansätzen sichtbar. Aus »Mehr Fortschritt wagen« wurde über Nacht parteiübergreifender Gleichschritt mit der aggressiven Geopolitik von USA, EU und NATO gegenüber Russland (und China). Was das konkret für unser aller Lebensverhältnisse bedeutet, die Klimapolitik, die Sozialpolitik, die Demokratie, muss weiter im Detail verfolgt und vertieft analysiert werden. Insofern betrachten wir den Schwerpunkt als Startschuss.

Drei Beiträge des Schwerpunktes beleuchten das Parteiensystem der Bundesrepublik. Den Einstieg macht Beate Landefeld mit Basics über »Parteien in der marxistischen Theorie«. Sie skizziert Entstehung, Geschichte und Funktion von politischen Parteien im kapitalistischen System sowie Herausforderungen, vor denen revolutionäre Arbeiterparteien standen und stehen (worauf auch andere Beiträge eingehen). Ekkehard Lieberam analysiert in seinem Beitrag Wahlkampf und -ergebnisse der »Bundestagsparteien im Umbruch« und sieht u. a. den im Koalitionsvertrag versprochenen »Aufbruch zur sozialökologischen Marktwirtschaft« bereits in Luft aufgegangen. Unter den Bedingungen einer »demobilisierten Klassengesellschaft« waren die Bundestagswahlen für ihn »vor allem die Kulisse für die Reorganisation und Neujustierung der Kapitalherrschaft«. Georg Fülberth schreibt über »Die suspendierte Krise« und den »neuerlichen Reformstau im Parteiensystem«. Eine nicht zu kalkulierende »jähe Wendung durch externe Schocks« (z. B. Krieg) sowie die inhaltlichen Schnittmengen bei CDU/CSU/FDP und der AfD, wobei letztere »auf absehbare Zeit als etabliert gelten« könne, mache den »Übergang in eine besonders autoritäre Phase kapitalistischer Entwicklung« auch bei uns möglich.

Vier Beiträge befassen sich mit einzelnen Bundestagsparteien. Ein zugesagter Beitrag zur FDP kam kurzfristig nicht zustande. Auf einen gesonderten Beitrag zur Partei Die Linke haben wir mit Blick auf deren Parteitag im Juni hier verzichtet. Zu beiden Parteien finden sich aber eine Reihe analytisch-kritischer Aussagen im Heft. Die Konzentration auf CDU und AfD als parteipolitische »Hauptfeinde« im eigenen Land scheint uns der Lage angemessen. Peter Feininger skizziert den (unaufhaltsamen) Aufstieg des Wirtschaftslobbyisten Friedrich Merz an die CDU-Spitze und seine Politik zur Zerschlagung des Sozialversicherungssystems. Ergänzt wird sein Beitrag in der Rubrik »Dokumentation« mit zwei Texten zum CDU-Wirtschaftsrat in Geschichte und Gegenwart. Ulrich Schneider schreibt über Politik und Funktion der AfD als extrem rechte Sammlungspartei und parlamentarischer Arm der faschistischen Bewegung. Manfred Sohn zieht in seinem Artikel zu den drei Häutungen der »Bündnisgrünen« das Fazit: »Angesichts des Entwicklungsweges dieser Partei verbietet sich jede Illusion, sie könne durch außerparlamentarischen Druck zurückgedrängt werden auf ihre Positionen aus der Gründerzeit.« Rainer Perschewski geht der Frage nach, was vom Erneuerungsversprechen und Anspruch der SPD als »Partei der Arbeit« im Parteiensystem der BRD übriggeblieben ist. Die Frage nach einer wirkmächtigen parteipolitischen Alternativen müssen wir offenlassen. Sicher sind wir jedoch, dass ohne eine Mobilmachung der Arbeiterbewegung nichts in eine gute Richtung läuft.

Parteien in der marxistischen Theorie

Beate Landefeld

»Die politischen Parteien sind der Reflex und die Nomenklatur der Gesellschaftsklassen. Sie entstehen, entwickeln sich, lösen sich auf, erneuern sich, je nachdem, ob die einzelnen Schichten der kämpfenden Gesellschaftsklassen Verschiebungen von wirklich geschichtlicher Tragweite unterliegen, ihre Existenz- und Entwicklungsbedingungen radikal verändert sehen, eine größere und klarere Bewusstheit ihrer selbst und der eigenen vitalen Interessen erwerben.«1 Gramsci schrieb dies 1920 in einer Phase großer Umbrüche im Parteiensystem Italiens. Bürgerliche Parteien zersetzten sich. Kampfbünde entstanden. Es gab Zeichen für den kommenden Übergang der konstitutionell-parlamentarischen Monarchie zur Diktatur. Die italienische Kommunistische Partei war dabei, sich aus der Sozialistischen Partei heraus zu formieren.

Schon Marx charakterisierte in seinen politischen Schriften die Parteien anhand der sozialen Klassen und Schichten, aus denen sie hervorgingen und die sie vertraten. Seine Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte über die Phasen der 1848er Revolution in Frankreich ist auch eine Studie über die Parteien der Zweiten Französischen Republik. Sie bildeten sich aus den Elementen, »die die Revolution vorbereitet oder bestimmt hatten, dynastische Opposition, republikanische Bourgeoisie, demokratisch-republikanisches Kleinbürgertum, sozial-demokratisches Arbeitertum«. Alle fanden ihren »provisorischen Platz in der Februar-Regierung«.2

Parteien der dynastischen Opposition waren Legitimisten und Orleanisten. Erstere wollten die Bourbonen an der Spitze einer konstitutionellen Monarchie sehen. Die Orleanisten waren Anhänger des Hauses Orleans, aus dem der gestürzte »Bürgerkönig« Louis Philippe kam. Marx sah in ihnen zwei Fraktionen der Bourgeoisie. Die Legitimisten vertraten das vollständig verbürgerlichte große Grundeigentum »mit seinen Pfaffen und Lakaien«, die Orleanisten die hohe Finanz, Großindustrie und Großhandel, laut Marx »das Kapital mit seinem Gefolge von Advokaten, Professoren und Schönrednern«. An der Stelle merkte Marx zur Methode der Analyse an:

»Was also diese Fraktionen auseinanderhielt, es waren keine sogenannten Prinzipien, es waren ihre materiellen Existenzbedingungen, zwei verschiedene Arten des Eigentums […], die Rivalität zwischen Kapital und Grundeigentum. Daß gleichzeitig alte Erinnerungen, persönliche Feindschaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurteile und Illusionen, Sympathien und Antipathien, Überzeugungen, Glaubensartikel und Prinzipien sie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es? Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe […] seines Handelns bilden. […] Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem was er wirklich ist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellungen von ihrer Realität unterscheiden.«3

Einbildungen und Interessen

Die dritte Bourgeois-Fraktion waren die republikanischen Bourgeois. Innerhalb der Bourgeoisie, deren Masse royalistisch eingestellt war, waren sie eine Minderheit. Ihre Zeitschrift National spielte in der Oppositionsbewegung gegen den »Bürgerkönig« vor 1848 eine wichtige Rolle. Laut Marx waren sie aber »keine durch große gemeinsame Interessen zusammengehaltene und durch eigentümliche Produktionsbedingungen abgegrenzte Fraktion der Bourgeoisie«, sondern eine Clique aus »republikanisch gesinnten Bourgeois, Schriftstellern, Advokaten, Offizieren und Beamten«, die die Antipathien gegen Louis-Philippe, positive Erinnerungen an die alte Republik und vor allem nationalistische und imperialistische Stimmungen zu nutzen verstanden.4

Die Arbeiterschaft war in der Provisorischen Regierung durch Louis Blanc und Alexandre-Albert Martin vertreten. Die Arbeiter spielten bei der Durchsetzung der Revolution eine treibende Rolle. Ihre Ziele waren die Republik, allgemeines Wahlrecht und eine neue »Organisation der Arbeit«. Doch das Pariser Proletariat suchte, so Marx, »sein Interesse neben dem bürgerlichen durchzusetzen, statt es als das revolutionäre Interesse der Gesellschaft selbst zur Geltung zu bringen«.5 Im Juni 1848 wurde ein Arbeiteraufstand gegen die Schließung der Nationalwerkstätten im Blut erstickt. Danach wurden die Arbeiterführer verfolgt, in die Illegalität oder Emigration gedrängt.

Die Partei des demokratischen Kleinbürgertums nannte sich Montagnards (Bergpartei) nach dem Vorbild der Jakobiner. Der sozialen Basis nach waren sie »Caféwirte, Restauranten, marchands de vins, kleine Kaufleute, Krämer, Professionisten usw.« Nach der Juni-Niederlage der Arbeiter sah sich die Masse der Kleineigentümer den Drohbriefen der Kreditgeber ausgesetzt: »Verfallener Wechsel! Verfallener Hauszins! Verfallender Schuldbrief! Verfallene Boutique! Verfallener Boutiquier!«6 Prozesse der Prekarisierung im Kleinbürgertum, die »brutale Geltendmachung der Interessen der Großbourgeoisie« bewirkten 1849 die Annäherung und Vereinigung der sozialen und demokratischen Partei, zur »sozialdemokratischen Partei, d. h. zur roten Partei«.7

Charakteristisch für diese Sozialdemokraten war nach Marx, »daß demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln.« Sie wollten »die Umänderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums.« Zum Verhältnis zwischen materiellen Interessen und politisch-ideologischen Vorstellungen schrieb Marx, man solle nicht die bornierte Vorstellung hegen, »als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, daß die besonderen Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann. Man muß sich ebenso wenig vorstellen, dass die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers sind […] Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben […] Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.«8

Die große Masse der französischen Bevölkerung lebte zu der Zeit als Parzellenbauern auf dem Lande. Marx beschrieb sie als »einfache Addition gleichnamiger Größen«. Ihre Produktionsweise isoliere sie voneinander. Sofern ihre gleichen Interessen »keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen« erzeugten, kam es auch zu keiner Klassenbildung und Geltendmachung von Klasseninteressen. Stattdessen wählte die Masse der konservativen Bauern im Dezember 1848 Napoleon Bonaparte, aufgrund sentimentaler Erinnerungen an Napoleons Onkel, aus nationalistischer Schwärmerei sowie aus Verachtung für Finanzkapital, Parlament und Bürokratie.9

Auch Rosa Luxemburg beurteilte die Parteien nach ihrem Klassencharakter. 1912 kritisierte sie Illusionen der SPD-Führung, ein Wahlabkommen mit der Fortschrittspartei könne den »schwarz-blauen Block« aus Konservativen, Nationalliberalen und Zentrum »sprengen« und eine »linke Mehrheit« im Reichstag bewirken. Der schwarz-blaue Block, so Luxemburg, sei nicht nur eine gewisse Zahl von Abgeordneten. Er sei ein »politisches System«, das »in den wirtschaftlichen Verhältnissen, in der bestimmten Entwicklung der deutschen Bourgeoisie, in der Übermacht des Junkertums, in der Zusammenballung des Großkapitals der schweren Industrie«, im »Haß und der Angst vor der wachsenden Macht des Proletariats« und in der internationalen imperialistischen Entwicklung fest verankert sei.10 Nicht mehr Parlamentssitze, nur die »gewaltige Machtentfaltung des Klassenkampfs« könne die Reaktion besiegen.

Linke Mehrheiten?

In den russischen Revolutionen 1905 bis 1921 analysierte Lenin den Klassencharakter der gegnerischen Parteien wie auch potentieller Verbündeter in jeder Phase. In ›Was tun?‹ thematisierte er 1902 Herausforderungen, denen sich die revolutionäre Arbeiterpartei stellen musste. Er bekämpfte den Ökonomismus, die Beschränkung auf vermeintliche »Arbeiterpolitik«, und plädierte für eine Arbeiterpartei, die das Proletariat befähige, in der bevorstehenden demokratischen Revolution die hegemoniale Rolle einzunehmen. Überließe man die Hegemonie der liberalen Bourgeoisie, werde die Revolution scheitern. Die Arbeiterklasse müsse die Führung übernehmen und im Bündnis mit den Bauern, die die Mehrheit stellten, eine neue Ordnung begründen.

Berühmt ist Lenins Charakterisierung der Doppelherrschaft nach der Februarrevolution 1917. Die Provisorische Regierung, gebildet aus den Kadetten, dem Oktobristen Gutschkow und dem Trudowiki Kerenski, war die Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten.11 Ihr stand der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten gegenüber, in dem Menschewiki und Sozialrevolutionäre dominierten. Die Sowjets waren die »Keimform einer echten Volksregierung«. Klassenbasis war »das Proletariat und die (in den Soldatenrock gesteckte) Bauernschaft«. Doch sie hatten ihre Macht freiwillig an die Regierung der Bourgeoisie abgetreten. Lenin sah den Grund im zu geringen Bewusstseins- und Organisationsniveau der Proletarier und Bauern.

Der »Fehler« ihrer Führer war ihr kleinbürgerlicher Standpunkt, ihre Förderung kleinbürgerlicher Illusionen, die die Massen nicht vom Einfluss der Bourgeoisie befreiten. Daher war es nötig, in den Organen der Sowjets um Mehrheiten zu kämpfen und zugleich zu fordern, dass die Sowjets die ganze Macht im Staat übernehmen.12 Bis zum Herbst gelang es, die Arbeiter- und Bauernmassen zu überzeugen, dass die größten Probleme (Beendigung des Krieges, Agrarreform, Überwindung des Hungers) nur auf dem Weg der Bolschewiki zu lösen waren. Das soziale Bündnis der klassenbewussten Arbeiter mit den armen Bauern reflektierte sich auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress in der Mehrheit für Bolschewisten und linke Sozialrevolutionäre.

Die Frage, wie Parteien entstehen und im Staat um die Hegemonie kämpfen, untersuchte auch Antonio Gramsci. In seinen Gefängnisheften unterschied er drei Ebenen oder Momente von Kräfteverhältnissen: (1) Die gesellschaftliche Ebene der Kräfteverhältnisse ist eng an die ökonomische Basis [Struktur] gebunden. Sie betrifft die Klassenverhältnisse auf der Basis des Entwicklungsgrads der Produktivkräfte. Dazu gehört der Stand der Industrialisierung, die Verteilung der Bevölkerung zwischen Stadt und Land, die Größe wichtiger Berufsgruppen und sozialer Schichten, etc.

(2) Das zweite Moment, die politischen Kräfteverhältnisse, reflektiert sich im Grad »an Homogenität, Selbstbewußtsein und Organisation, den die gesellschaftlichen Gruppen erreicht haben.« Das hierbei erreichte Niveau kann sich auf die Vertretung berufsständischer, ökonomischer oder anderer kollektiver Partikularinteressen beschränken, aber auch das Bewusstsein einschließen, »daß die eigenen korporativen Interessen in ihrer gegenwärtigen und künftigen Entwicklung den […] Umkreis einer bloß ökonomischen Gruppe überschreiten und zu Interessen anderer untergeordneter Gruppen werden können und müssen.« Erst dann werden, so Gramsci, keimhafte Ideologien zur »Partei« und entbrennt der Kampf um Hegemonie.

Sich-Bilden und Überwunden-Werden instabiler Gleichgewichte

Eine Partei oder Kombination von Parteien, die im Kampf um Hegemonie das Übergewicht erlangen und halten will, wird den Staat als ihrer eigenen Expansion dienlichen Organismus betrachten, aber sie wird ihr eigenes Interesse als das allgemeine oder nationale Interesse ausgeben und mit den Interessen der untergeordneten Gruppen stets aufs Neue abstimmen, so dass es zu einem ständigen »Sich-Bilden und Überwunden-Werden instabiler Gleichgewichte« zwischen den Interessen der herrschenden und denen der untergeordneten Gruppen kommt, »Gleichgewichte, in denen die Interessen der grundlegenden Gruppe überwiegen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, also nicht bis zum nackten korporativ-ökonomischen Interesse.«13

(3) Als dritte Ebene der Kräfteverhältnisse sah Gramsci das militärische Moment, »das jedes Mal unmittelbar entscheidend ist.« Es enthält eine militärisch-technische und eine militärisch-politische Komponente. Die zweite kann die Effektivität der ersten schwächen oder stärken. Laut Gramsci schwankt die Geschichte stets zwischen dem ersten und dritten Moment der Kräfteverhältnisse, während das zweite zwischen beiden vermittelt. Entwicklungen der gesellschaftlichen Struktur bringen also widersprüchliche Gruppierungen hervor, deren Kämpfe um Hegemonie am Ende durch das militärische Moment für eine relativ dauerhafte Periode entschieden werden.

Die politische Herrschaft einer Klasse funktioniert laut Gramsci mittels »Hegemonie gepanzert mit Zwang«. Bekannt ist die Formel: Staat = Hegemonie + Zwang. Das Verhältnis zwischen beiden Polen variiert. In stabilen Phasen überwiege die Hegemonie den Zwang, in Krisen verhalte es sich umgekehrt. Jedenfalls herrsche eine Klasse nie allein durch Zwang, sondern immer auch mittels eines mehr oder weniger großen Konsenses der Beherrschten. Den Konsens zu organisieren, obliege den Intellektuellen. Unter Intellektuellen ist in diesem Kontext nicht eine soziale Schicht mit akademischen Titeln zu verstehen. Gramsci unterschied zwei große Gruppen von Intellektuellen, die organischen Intellektuellen und die traditionellen Intellektuellen.

Jede gesellschaftliche Klasse, die aufgrund einer wesentlichen Funktion in der Produktion entstehe, schaffe sich »zugleich organisch eine oder mehrere Schichten von Intellektuellen, die ihr Homogenität und Bewußtheit […] nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich geben«. Zentrales Element sind dabei die Parteien. Die Behauptung, alle Mitglieder einer Partei seien Intellektuelle, löse Spott aus. Doch sei nichts richtiger. Es komme auf die Funktion an, und diese sei in Parteien eine der Führung und der Organisation, also eine erzieherische und intellektuelle. »Geschichtlich bedeutet das Selbstbewußtsein die Hervorbringung einer Avantgarde von Intellektuellen: eine ›Masse‹ unterscheidet sich nicht und wird nicht ›unabhängig‹, ohne sich zu organisieren und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, das heißt ohne Organisatoren und Führer.«14

Als traditionelle Intellektuelle bezeichnete Gramsci gebildete Vertreter überlieferter Einrichtungen aus früheren Gesellschaftsstrukturen. Als Beispiel nannte er die »Kirchenmänner«, die ursprünglich die organischen Intellektuellen der grundbesitzenden Aristokratie gewesen und mit der Kontinuität der Kirche in der bürgerlichen Gesellschaft weiterhin wirksam seien. Ebenso zählte er gewisse Formen von Amtsträgern und Spezialisten zu dieser Intellektuellenkategorie. Ein Merkmal historisch aufsteigender sozialer Klassen sei ihr Kampf um die Assimilierung und ideologische Eroberung der traditionellen Intellektuellen, die umso wirksamer sei, »je mehr die gegebene Gruppe gleichzeitig ihre eigenen organischen Intellektuellen heranbildet«.15

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (ePUB)
9783961703531
ISBN (PDF)
9783961706532
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Schlagworte
Marxismus Marxistische Blätter Neue Impulse Verlag

Autor

  • Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)

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Titel: Bundestagsparteien im Umbruch
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