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Krieg, Frieden, Kunst: Geschichte erkennen

Marxistische Blätter 5_2022

von Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)
©2022 136 Seiten
Reihe: Marxistische Blätter, Band 5_2022

Zusammenfassung

Mit Beiträgen von: Ernst Engelberg, Raimund Ernst, Domenico Losurdo, Ulrich Schneider, Hans-Peter Brenner, Werner Ruf, Florian Grams
Weitere Themen: Aufklärung statt Propaganda, Bernhard Trautvetter; Die Linksfraktion, der Frieden und die Kommunalpolitik, Artur Pech; BlackRock’s Aktienrente, Werner Rügemer; China, die Systemfrage und die Linke in der politischen Falle, Beat Schneider; Marxistisches Menschenbild, Wolfgang Trunk; Lob des Realismus – Über Strugalla, Peter Michel; Rezensionen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tarifvertrag Entlastung nach 77 Tagen Streik

Nora Hachenburg

Beim Lesen der Presse nach Abschluss des Tarifvertrags Entlastung an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen hat sich bei den Streikenden sicherlich Brechreiz eingestellt. 100 Tage Ultimatum und elf Wochen Erzwingungsstreik waren notwendig, um zu einer Tarifeinigung zu kommen. Es gab Verständnis für den Kampf, aber ihnen wurde auch Patientengefährdung und Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Chefärzte, die die allgegenwärtige Personalnot täglich ignorieren, stellten sich gegen sie und forderten öffentlich die Einstellung des Arbeitskampfes.

Zweimal wurde die Rechtmäßigkeit der Streiks vor Gericht geprüft. Zweimal wurde sie bestätigt. Die Vorwürfe: a) die Streiks seien rechtswidrig, denn um mehr Personal müsse sich die Politik kümmern; b) wenn schon Streik, dann bitte ohne Auswirkungen auf die Patientenversorgung. Arbeitgeber und Presse blieben aber in ihrer Spur. Dass die Streikenden den Kampf durchgestanden haben, war vor allem möglich, weil der Großteil der Bevölkerung ihnen Respekt gezollt hat, weil klar war, dass sich die Arbeitsniederlegungen gegen ein völlig desaströses Gesundheitssystem richteten und nicht gegen sie.

Jetzt, nach dem Abschluss, sind auf einmal alle dafür?

Der NRW-Gesundheitsminister beglückwünschte »die Pflege« zu ihrem »Lokführermoment«. Der Klinikvorstand in Essen startete am Tag nach der Einigung eine Social-media-Kampagne: »Ja, ich will … die Entlastung für Pflegekräfte«.

»rtl-news« schrieb, dass es jetzt zahlreiche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen geben werde, die allen zugutekämen. Um das Ganze noch zu toppen, meldeten sich prompt andere Krankenhausarbeitgeber. Der Präsident der Krankenhausgesellschaft NRW, Ingo Morell, befürchtet eine Ungleichbehandlung, wenn das Land den Unikliniken zusätzliches Geld gibt. Der Vorsitzende des kirchlichen Krankenhauskonzerns Contilia will auch für seine sieben Kliniken etwas vom Kuchen abhaben. Natürlich nicht ohne zu betonen, dass aus seiner Sicht bei Contilia Streiks keine Option sind.

Was für ein Hohn!

Gut, dass die Streikenden in elf Wochen Arbeitskampf gelernt haben, sich auf sich selbst zu verlassen, egal, was alle anderen sagen. Dieser längste Erzwingungsstreik für Entlastung in Krankenhäusern war ja nicht vom Himmel gefallen. Arbeitgeber und Politik waren lange vorgewarnt worden:

Schon am 19. Januar 2022 stellten über 700 Beschäftigte der sechs Unikliniken in NRW den Klinikvorständen und der Landesregierung NRW ihr 100-Tage-Ultimatum für einen Tarifvertrag Entlastung. Die Botschaft war klar: die Arbeitsbedingungen verbessern! Es gab schon in dieser frühen Phase ein hohes Bewusstsein, dass die Forderungen ein Frontalangriff gegen das fallpauschalengesteuerte Krankenhaussystem und die grundsätzliche Logik der Profiterwirtschaftung im Gesundheitssystem waren. Insofern bereiteten sie sich früh auf eine harte Streikauseinandersetzung vor. Trotzdem ahnten zu diesem Zeitpunkt wohl wenige, dass der Kampf sich bis in den Juli hineinziehen würde.

77 Tage Erzwingungsstreik an sechs Unikliniken waren nach Ablauf des Ultimatums notwendig, um den Arbeitgebern einen Tarifvertrag abzutrotzen. ver.di bewertet den Abschluss als Etappensieg. Dieser zeigt gut auf, welche Erfolge mit hart geführten Arbeitskämpfen erzielt werden können, aber auch an welche Grenzen man stößt.

Am 20. Juli beschloss die ver.di-Tarifkommission die Annahme des erzielten Ergebnisses, nach Beratungen der Eckpunkte mit den Streikenden an den sechs Klinikstandorten. Ihre Bewertung: mehrheitlich positiv. Nicht euphorisch, aber mit klarem Blick auf die Erfolge, die gegen harten Widerstand durchgesetzt wurden. Aber auch hochkritisch, was die spaltenden Bestandteile des Ergebnisses angeht.

Klar auf der Habenseite steht die Festlegung von Personalverhältniszahlen, die festlegen, wie viele Pflegekräfte für wie viele Patientinnen und Patienten in jeder Schicht sein müssen. Auf normalen Pflegestationen wurden diese sogenannten »Ratios« je nach Pflegeaufwand der Patienten mit 1:7 bis 1:10 festgelegt, auf Kinderstationen mit 1:4 bis 1:6 und auf Intensivstationen mit 1:2 oder besser. Aber auch für Pflegearbeitsbereiche, die durch die Krankenkassen nicht automatisch refinanziert werden, wurden solche Verhältniszahlen durchgesetzt, unter anderem für die Kreißsäle, Notaufnahmen, Operationssäle und Herzkatheterlabore.

Diese Verhältniszahlen entfalten ihre Wirkung dadurch, dass bei Unterschreitung Belastungssituationen für die Beschäftigten festgestellt werden, die dann mit freien Tagen ausgeglichen werden. Damit, so der Plan, sollen die Arbeitgeber zum Personalaufbau gezwungen werden. Geschwächt wird diese gute Tarifregelung dadurch, dass die EDV-Erfassung für die Ratios erst zum Juli 2024 eingeführt sein muss. Und wenn das System dann scharf geschaltet ist, sind die abbuchbaren Tage pro Beschäftigte gedeckelt. Eine Auszahlung der freien Tage ist möglich.

War der Widerstand der Klinikvorstände gegen noch bessere Regelungen für die Pflegekräfte schon sehr hoch, wurde er bei den Forderungen für die anderen Berufsgruppen extrem. Trotz einer relativ weitgehenden Finanzierungszusage der Landesregierung wurde bis aufs Messer versucht, wirksame Entlastungsregelungen zu verhindern. Ein großer Erfolg ist deshalb die Festlegung von verbindlichen Stellenplänen und Personalaufbau von 10 bis 15 Prozent für therapeutische Berufe, Servicekräfte, in den Röntgenabteilungen und Betriebskindertagestätten der Unikliniken.

Das Ziel, für alle weiteren Beschäftigten, die ebenfalls und häufig nur an ein oder zwei Kliniken Forderungen aufgestellt hatten (zum Beispiel in der IT, in Küchenbereichen und Laboren), wirksame Entlastungsregelungen durchzusetzen, wurde verfehlt. Die Streikenden haben zwar den Widerstand der Klinikvorstände gebrochen, die bis zum Schluss jede Regelung für diese Bereiche verhindern wollten. Aber der erkämpfte Vollkräfteaufbau von 30 Stellen pro Klinik ist nicht zufriedenstellend.

Große Freude gab es demgegenüber wieder bei den Auszubildenden, die bundesweit erstmals in einem Tarifvertrag freie Tage als Belastungsausgleich durchsetzen konnten (bis zu fünf pro Jahr) und für viele Berufe deutlich bessere Ausbildungsbedingungen vereinbaren konnten.

Die Diskussion zur Tarifeinigung in den Streikzelten, im Delegiertenrat und in der Tarifkommission war trotz der Spaltlinien geprägt von einem solidarischen und sehr politisierten Umgang nach elf Wochen gemeinsamen Kampfes. Eines harten Kampfes, der grundlegend das Gesundheitssystem und seine Finanzierungslogik im Visier hatte und deshalb genau die Härte und den Widerstand ausgelöst hat, die man erwarten musste. Umso größer ist der Erfolg einzuschätzen, auch, was seine Vorbildwirkung für weitere Kämpfe in Dresden, Frankfurt und vielen anderen Kliniken angeht, die aus NRW das Signal mitnehmen, dass Streiks das wirksamste Mittel der Beschäftigten sind und dass mit entschlossenem Streik das Kapital in Zeiten wie diesen zu Zugeständnissen gezwungen werden kann.

Aufklärung statt Kriegspropaganda

Bernhard Trautvetter

Mit dem Schwarzweiß-Bild vom Westen als Verteidiger der Demokratie, von Frieden und Freiheit gegen die Bedrohung aus dem Osten erzielt das Nachrichtenmanagement der Nato und ihrer Lobby große Erfolge1. Wer auf Differenzierung unter Berücksichtigung der gegensätzlichen Faktenlage Wert legt und wer sich dabei gegen ungleiche Maßstäbe bei der Einordnung der Fakten wendet, der wird leicht als Kreml-Propagandist angeprangert und ausgegrenzt. Die MONITOR-Sendung am 28.7.2022 transportierte genau dieses Gut-Böse-Bild mit der Warnung, dass Russland auf die westlichen Werte ziele2.

Die Kräfte, die dieses Narrativ infrage stellen, etwa die Friedensbewegung und mit ihr der Pazifismus, erhalten wie schon in der Zeit des Nato-Atomraketenbeschlusses der 1980er Jahre das Etikett, ›fünfte Kolonne Moskaus‹ oder gleich ›…Putins‹ zu sein.3 Der Bundesausschuss Friedensratschlag (BaF) hat sich von der Kriegspropaganda nicht beirren lassen und ein Positionspapier zur Aufklärung in den Diskurs eingebracht4. Der BaF widerlegt die Behauptung, dass nur Militär zum Frieden führen kann und dass Forderungen nach Diplomatie aus der Zeit gefallen seien5. Der Politikprofessor Herfried Münkler wirft – wie auch der Bündnisgrüne Politiker Ralf Fücks – Gegnern von Waffenlieferungen an die Ukraine ›Unterwerfungspazifismus‹ vor6. Wer differenzierend analysiert, kommt ins Visier der Propaganda, die die Vorgeschichte des Krieges ausblendet und sich einzig auf die Theorie festlegt, dass Russland eine imperiale Politik verfolge, die man stoppen muss, um die Gefahr zu bannen7. Mit dieser Erklärung rechtfertigen die Militaristen und ihre Lobby die Hochrüstung und die Spannungseskalation mittels eines Wirtschaftskrieges, der Sanktionen und die Konfiszierung von Eigentum sowie Kooperationsverbote umfasst.

Auch die Atomrüstung wird der Öffentlichkeit als »Solidarität mit der Ukraine« verkauft; im sogenannten Sondervermögen, mit dem Kanzler Scholz drei Tage nach dem Kriegsausbruch Solidarität mit der Ukraine ausdrückte, zählen 35 Atombomber F-35 für den Angriff mit den in Büchel liegenden nuklearen Arsenalen der US-Armee im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe8. Die Gefahr eines Atomkrieges ist auch unabhängig vom Ukrainekrieg konkreter, als es in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird: Hier der Deutschlandfunk vom 20.10.2021: Frage: »Die Agentur Reuters berichtet heute Früh, dass die NATO über regionale Abschreckungsszenarien für die baltische und auch die Schwarzmeer-Region nachdenke, auch möglicherweise im Luftraum mit Nuklearwaffen. Ist das der Weg der NATO? Kramp-Karrenbauer: Das ist der Weg der Abschreckung. Wir müssen Russland gegenüber sehr deutlich machen, dass wir am Ende – und das ist ja auch die Abschreckungsdoktrin – bereit sind, auch solche Mittel einzusetzen, … Das ist der Kerngedanke der NATO, dieses Bündnisses …«9

Nach dem Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine nahm auch die Linkspartei Abstand von Positionen der Friedensbewegung, indem sie das Narrativ der NATO-affinen Kräfte von imperialen Motiven Russlands für seinen Überfall in ihrem Beschluss auf dem Erfurter Parteitag übernimmt10. Diese etwas verklausulierte Übernahme ergibt sich daraus, dass der Beschluss die Vorgeschichte der Nato-Osterweiterung ausblendet. Er blendet die Frage aus, warum renommierte westliche Experten und auch Michail Gorbatschow die Nato-Osterweiterung als Folge einer arroganten und gefährlichen Strategie charakterisieren, die der »folgenschwerste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges« sei11.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag bleibt demgegenüber bei einer analytisch klaren Darstellung der Entwicklung des Verhältnisses der NATO gegenüber Russland im Vorfeld des Ukraine-Kriegs.

Sein Papier geht kurz auf die vielen Kriege, die weltweit in den Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges stattgefunden haben und stattfinden, ein. Dann befasst sich es sich konzentriert mit den Narrativen der NATO und ihrer Unterstützer und stellt der Meinungsmache eine Darstellung der Konfliktgenese gegenüber.

Zum Narrativ vom machthungrigen Imperium, das zuschlägt, wenn es die Gelegenheit durch westliches Zaudern hat, findet sich diese Richtigstellung im Papier:

»Tatsächlich ist der Krieg Russlands eine Antwort auf die von der Friedensbewegung seit langem kritisierte NATO-Osterweiterung und westliche Aufrüstungs- und Konfrontationspolitik, von der sich Russland zunehmend existenziell bedroht fühlt. Sie begann bereits in den 1990er Jahren mit der Ausweitung der NATO entgegen rechtlich bindender Vereinbarungen wie dem Vertrag zur Deutschen Einheit, in der zukünftigen Friedensordnung die Sicherheitsinteressen eines jeden beidseitig zu berücksichtigen.

Die Ostexpansion ging einher mit der Missachtung und Kündigung von Abkommen zur Rüstungs- und Stationierungskontrolle durch die USA und NATO, und wurde von einer Reihe Farb-Revolutionen in ehemaligen Sowjetrepubliken begleitet, in denen …Regierungen mit westlicher Unterstützung gestürzt wurden.«

Ein solcher Staatsstreich ging zum Beispiel der Krim-Krise 2014 in Kiew voraus, als die damalige Janukowitsch-Regierung unter Bruch der Verfassung gestürzt und nach diesem Rechtsbruch durch eine pro-westliche sogenannte Übergangsregierung abgelöst wurde. Das Papier des Friedensratschlages erwähnt, dass die pro-westliche Regierung nach dem illegalen Staatsstreich in Kiew das von ihr mit ausgehandelte Minsker Abkommen zum Abbau der Spannungen im Land wiederholt verletzte.

Die Gefährlichkeit der Politik der Ukraine seither verdeutlicht das Papier mit seiner Kritik daran, dass die Kiewer Regierung das von ihr mit unterzeichnete Abkommen Minsk II zur Befriedung des Konfliktes in der Ost-Ukraine nicht umgesetzt, sondern unterlaufen hat:

»Obwohl die ukrainische Regierung das völkerrechtlich bindende Abkommen Minsk II unterschrieben hatte, das einen besonderen Autonomiestatus für die abtrünnigen Provinzen innerhalb der Ukraine vorsah, boykottierte sie die Umsetzung – mit westlicher Duldung und Unterstützung. Die ukrainische Armee wurde fortan von den USA und Großbritannien massiv aufgerüstet und nach NATO-Standard ausgebildet.«

Die NATO-Strategie als Faktor, der die Spannungen gegenüber Russland eskalierte, kritisiert der Bundesausschuss Friedensratschlag faktenreich:

»Bedrohlich sind bereits die NATO-Truppen im Baltikum, von wo aus St. Petersburg schon mit Kurzstreckenraketen erreicht werden kann. Mit der Ukraine würde die NATO an eine weitere, 2000 km lange direkte Grenze zu Russland vorrücken. Die Vorwarnzeit für Enthauptungsschläge auf russische Zentren würde durch dort stationierte Mittelstreckenraketen auf wenige Minuten sinken, während der potentielle Angreifer USA aus 10.000 Kilometer Entfernung vom Kriegsgeschehen agieren kann.

Am 10. November 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine eine neue, offensiv gegen Russland gerichtete Charta der strategischen Partnerschaft, die u. a. den NATO-Beitritt der Ukraine und die Rückeroberung der Krim als Ziel formuliert. Diese Charta überzeugte Russland davon, so Henri Guaino, führender Berater von Nicolas Sarkozy in dessen Zeit als französischer Präsident, dass es angreifen muss oder angegriffen wird.«

Das NATO-Nachrichtenmanagement geht in der Ukraine-Berichterstattung vom Kriegsausbruch aus, ohne eine Idee darauf zu verschwenden, was im Vorfeld geschehen war:

»Moskau unternahm im Dezember 2021 einen letzten Versuch, die Bedrohungslage durch vertragliche Vereinbarungen zu entspannen.«

Es ging um Sicherheitsgarantien im Sinne einer Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit für jeden Staat. Diese russischen Forderungen, so der Friedensratschlag, »wurden aber von den USA und der NATO Anfang Februar brüsk und ohne jegliche Diskussion darüber abgelehnt.« Zudem verweist das Papier auf die Ankündigung von Wolodymyr Selenskyj, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auf der Agenda des nächsten NATO-Gipfels in Madrid stehe. Experten, »wie der Politologe Robert Wade von der London School of Economics, vermuten, dass diese Rede der letzte Anlass für das Umschwenken der russischen Führung auf einen Kriegskurs gewesen sei«. Wer auf eine nachhaltige Lösung des Krieges drängt, muss die Analyse auf der Vorgeschichte der Genesis des Konflikts aufbauen, um eine nachhaltige Befriedung und damit Frieden zu ermöglichen. Der Friedensratschlag formuliert dazu:

»Bei der Erläuterung der Gründe geht es nicht um eine Rechtfertigung des Krieges, sondern darum, seine Hintergründe und seine Entstehung möglichst genau aufzuzeigen.«

Genau das blendet die NATO-affine Meinungsmache aus. Sie ist offensichtlich an einer Eskalation statt an Diplomatie interessiert. Der Bundesausschuss beharrt auf Diplomatie statt Krieg oder »Siegfrieden« für eine nachhaltige Lösung:

»Krieg als Mittel der Politik lehnen wir grundsätzlich ab. …Der russische Einmarsch in die Ukraine ist daher ein Rückschlag für alle, die sich für Frieden engagiert haben – und gleichzeitig eine Herausforderung für die Friedensbewegung, ihre Bemühungen für zivile Lösungen zu intensivieren. Nicht zu viel Entspannungspolitik ist das Problem gewesen, sondern zu wenig.«

Der Friedensratschlag verweist zur Begründung auf die nukleare Gefahr, die nicht nur in einem drohenden Atomkrieg zwischen NATO-Staaten und Russland besteht, sondern die Zivilisation Europas auch ohne Nuklearschläge der Militärs bedroht:

»Unkalkulierbare, existenzielle Risiken für ganz Europa bergen zudem auch die 15 Atomreaktoren, die in der Ukraine am Netz sind.«

Eine globale Kooperation ist zum Erfordernis für die Zukunft der Menschheit geworden. Mit Abschreckung, Hochrüstung und Spannungseskalation, mit Wirtschaftskrieg, Rivalität und Sanktionen finden die Staaten der Welt keinen Ausweg aus dem bedrohlichen Mix aus ökologischen, sozialen und militärischen Zukunftsgefährdungen:

»Selbst wenn sich ein neuer Kalter Krieg anbahnt, wird der Dialog noch wichtiger sein als während des Kalten Krieges 1.0. In einer stärker voneinander abhängigen und globalisierten Welt wird der Westen zumindest ein gewisses Maß an pragmatischer Zusammenarbeit mit Moskau benötigen, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen, z. B. Verhandlungen über die Rüstungskontrolle, die Eindämmung des Klimawandels, die Verwaltung der Cybersphäre und die Förderung der globalen Gesundheit. Zu diesem Zweck ist eine rasche Beendigung des Krieges durch einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung bei weitem besser als ein Krieg, der sich in die Länge zieht, oder ein neuer eingefrorener Konflikt, der in einer feindlichen Pattsituation endet.«

Ein erster Schritt für die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und Deutschland als Unterzeichnerstaaten des Vertrages zur Deutschen Einheit von 1990 muss es sein, sich, wie die Präambel des Vertrages es festschreibt, für eine Friedensordnung einzusetzen, die die Sicherheitsinteressen eines Jeden berücksichtigt12. Dieses unmittelbare Erfordernis öffnet der Menschheit über die 20er Jahre unseres Jahrhunderts hinaus, den Weg zu einer Weltordnung zu finden, die statt auf Konkurrenz auf Kooperation setzt und dadurch Zukunftsfähigkeit erlangt. Eine nachkapitalistische Ordnung in den Staaten und dann auch auf der internationalen Ebene kann nur dann entstehen, wenn kurzfristig Abrüstung und Friedenspolitik die fälschlicherweise »Sicherheitspolitik« genannte Politik der Militärs ablösen. Der Friedensratschlag beendet sein Papier mit den Worten: »Aufrüstung und Kriegspolitik stehen im Gegensatz zur solidarischen Kultivierung der Gesellschaft. Gegen 100 Milliarden mehr für die Bundeswehr und die weitere Erhöhung der Rüstungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung (pro Jahr durchschnittlich ca. 80 Milliarden Euro), engagieren wir uns verstärkt für eine neue Entspannungspolitik und massive öffentliche Investitionen in eine humane Zukunft – jetzt erst recht.«

Zitate ohne Quellenangabe entstammen dem Papier des Friedensratschlags (s. Anmerk. 4!)

1 https://nato.diplo.de/nato-de/service/-/2539668.

2 https://www1.wdr.de/daserste/monitor/index.html am 28.7.2022 – und: https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-ostermaersche-deutschland-putin-demonstration-waffen-pazifismus-fdp-91478144.html.

3 https://www.heise.de/tp/features/Wie-aus-der-Friedensbewegung-die-fuenfte-Kolonne-Putins-wurde-6741175.html.

4 https://friedensratschlag.de/2022/06/baf-positionspapier-ukrainekrieg/.

5 https://www.tagesschau.de/inland/ostermaersche-krisenzeiten-101.html.

6 https://www1.wdr.de/nachrichten/interview-deutsche-waffenlieferungen-ukraine-100.html.

7 https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/putin-russland-sowjetunion-geopolitik-krieg-hintergruende-100.html.

8 https://www.imi-online.de/2022/06/06/kriegskredite-und-ruestungslisten/.

9 https://www.deutschlandfunk.de/nato-strategie-kramp-karrenbauer-cdu-russland-ist-eine-100.html Und: FAZ, 25.12.2021, blick.ch, 25.2.2022.

10 https://www.die-linke.de/fileadmin/download/parteitage/erfurter_parteitag_2022/antr%C3%A4ge1_einzeln/L03_Parteivorstand.pdf.

11 https://monde-diplomatique.de/artikel/!5826518.

12 http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Aussenpolitik/2+4-vertrag.html.

Aufklärung statt Kriegspropaganda – Bernhard Trautvetter

Die Linksfraktion, der Frieden und die Kommunalpolitik

Dr. Artur Pech

1982 beendete ich meine Dissertation über die Frage, wie sich die Bundesrepublik Deutschland den Krieg vorstellt1, mit einem Zitat aus den Lenin-Werken. Da ist nachzulesen: »Kriege liegen … im Wesen des Kapitalismus; sie werden erst aufhören, wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch die militärtechnische Entwicklung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt.«2

Nun war das Lenin und von dem wollen viele heute nichts mehr hören. Aber wer deshalb meint, er habe zu aktuellen Ereignissen nichts mehr zu sagen, bekundet bestenfalls Unkenntnis. Denn dieser Text wurde vom internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 beschlossen.3 Und da hatte ihn August Bebel eingebracht. Dieser Text war dann auch gemeint, als Karl Liebknecht 1914 zur Begründung seiner Ablehnung der Kriegskredite anführte: »Die Ablehnung der Vorlage war nach meiner Überzeugung geboten durch das Parteiprogramm und die Beschlüsse der internationalen Kongresse. Ich bin verpflichtet, im Sinne des Parteiprogramms und dieser Beschlüsse zu wirken.«4

Er war der einzige Abgeordnete, der sich nach dem Verrat der Mehrheit der Führung der deutschen Sozialdemokratie im Reichstag dazu bekannte. Das ist auch all jenen ins Stammbuch zu schreiben, die heute meinen, die aktuellen Probleme der Linken seien dadurch zu lösen, dass sie mit einer Stimme spricht.

Mit welcher Stimme? Mit der Stimme der Vaterlandsverteidiger, der Verteidiger der »westlichen Werte« – wie es heute heißt – oder mit der Stimme von Karl Liebknecht? Mit der Stimme derer, die im Bundestag die Ablehnung von Rüstungsexporten forderten5 oder mit der Stimme, die dem 100-Milliarden-Rüstungsprogramm als Bekundung der Solidarität mit der Ukraine Beifall klatschte?6

Und noch einmal Karl Liebknecht 1914: »Die deutsche Parole ›Gegen den Zarismus‹ diente – ähnlich der jetzigen englischen und französischen Parole ›Gegen den Militarismus‹ – dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhaß zu mobilisieren.«7

Aus »gegen den Zarismus« ist »gegen Putin« geworden. Die heutige LINKE befindet sich in großer Gefahr, den Weg der Führung der deutschen Sozialdemokratie von 1914 zu gehen. DIE LINKE muss auf allen Politikfeldern – darunter auch auf dem Feld der Kommunalpolitik – gegen den Krieg kämpfen. Da gilt noch immer das Wort von Karl Liebknecht: »Deutschland … hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen wie des deutschen Volkes muss deren eigenes Werk sein.«8

Friedens-/Kriegsdebatten

Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine wird sehr vielschichtig diskutiert und argumentiert. Da geht es um

  1. moralische,
  2. (geo)politische,
  3. (völker)rechtliche
  4. militärische/militärtechnische und schließlich auch um
  5. ökonomische Beurteilungen.

Alle diese Aspekte sind zu beachten. Wer sein Urteil aber isoliert aus einem dieser Faktoren ableitet, wird dem Problem nicht gerecht.

Dies ist vorwegzuschicken, bevor auf einige ausgewählte Probleme einzugehen ist, die uns in der Kommunalpolitik schon eingeholt haben oder in nächster Zeit noch einholen werden.

Schon der preußische General Carl von Clausewitz kam vor rund 200 Jahren zu dem Schluss, »der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit Einmischung anderer Mittel, um damit zugleich zu behaupten, daß dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas ganz anderes verwandelt wird, sondern daß er in seinem Wesen fortbesteht, wie auch seine Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich bedient«.9

Wir haben es danach auch seit dem 24. Februar 2022 nicht mit etwas völlig neuem, sondern mit der Fortsetzung der bis dato betriebenen Politik zu tun. Das gilt für Russland, das gilt für die Ukraine, aber ebenso auch für die USA, die NATO, die EU und die Bundesrepublik Deutschland. Sie alle betreiben keine völlig neue, völlig andere Politik, sondern sie setzten ihre seit vielen Jahren eingeschlagene Politik fort.

Bisher ist der Schießkrieg weitgehend auf das Territorium der Ukraine begrenzt und USA/NATO/EU/Bundesrepublik Deutschland beschränken sich in ihrer Mitwirkung am Schießkrieg auf militärtechnische Dienstleistungen für die Ukrainischen Streitkräfte sowie auf Waffenlieferungen und die Finanzierung der ukrainischen Kriegführung. Damit verbunden werden »Sanktionen« gegen Russland, die durchaus die Bezeichnung Wirtschaftskrieg verdienen. Aus diesem Vorgehen resultieren mehr und mehr Wirkungen, die auch die Menschen in unserer Region immer mehr betreffen.

Im Februar kündigte die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock vollmundig an, Deutschland sei bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen. Der hohe Preis ist schon jetzt allgegenwärtig in Form von Inflation, Lieferengpässen, Geldnöten bei ärmeren Menschen.

In Milliardenhöhe lasten die Folgen des Krieges und des Wirtschaftskrieges auf unserem Land. Durch Gasmangel und explodierende Preise für Energie droht ein Kollaps unserer Wirtschaft, eine dauerhafte Inflation, das Zusammenbrechen der sozialen Sicherungssysteme, steigende Krankenkassenbeiträge etc. Darunter leidet insbesondere der ärmere Teil der Bevölkerung.

Unsere Fraktion hat sich deshalb besonders für die Unterstützung der vom Krieg betroffenen Menschen engagiert. Dafür steht unsere Initiative zur Unterstützung der Tafeln im Landkreis. Alle Solidarität gilt den Menschen, die vor dem Krieg fliehen mussten.

Zugleich lassen wir uns nicht für die hinterhältige Ungleichbehandlung geflüchteter Menschen vereinnahmen, wie sie im Wechsel der Zuständigkeiten für die aus der Ukraine Geflüchteten aus dem Rechtskreis des Asylbewerberleistungsgesetzes in den der Grundsicherung (Hartz IV) zum Ausdruck kommt. Die Verbesserung der Bedingungen für diese Menschen ist damit verbunden, die Hartz-IV-Keule noch wirksamer zu schwingen, wenn die aus der Ukraine geflüchteten hierzulande arbeiten dürfen, die aus Kurdistan, Syrien, Afghanistan … aber nicht.

Auch das ist Teil der hierzulande gängigen Politik des »Teile und Herrsche«.

Da war, ist und bleibt Widerstand angesagt.

Und schließlich haben die Menschen in der Region in wachsendem Maße die Folgen des Wirtschaftskrieges zu tragen – an der Zapfsäule, mit den Heizkosten, mit dem drohenden Verlust des Arbeitsplatzes, wenn Gas und Öl wegbleiben. Da geht es dann nicht um einen warmen Pullover für das Wohnzimmer im kalten Winter, da geht es um die Existenz. Wer annimmt, das würde an den Kommunen vorbeigehen, der ist mindestens naiv.

Selbst dem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, seiner Finanzministerin und seinem Wirtschaftsminister ist im Juni 2022 aufgefallen, dass die Menschen in Brandenburg in wachsendem Maße die Kosten des Wirtschaftskrieges bezahlen müssen – und die Hilfszusagen des Bundes sind bisher ein Muster ohne Wert. So ist selbst dem brandenburgischen Wirtschaftsminister aufgefallen, dass der Stopp der Verarbeitung von russischem Öl in Schwedt nicht durch Sanktionsbeschlüsse der EU gedeckt ist. Das hat die Bundesregierung ganz alleine zu vertreten. Die Folgen werden dann nicht nur in Schwedt eintreten – sie werden auch die Menschen in Oder-Spree treffen.

Egal ob Schieß- oder Wirtschaftskrieg: Es zahlen immer die kleinen Leute. Wenn sie das nicht wollen, müssen sie sich wehren …

Hilfe für die Tafeln im Landkreis Oder-Spree

Es gibt für die Tafeln im Lande derzeit eine außerordentlich bedenkliche Dynamik. Die jüngst exorbitant steigenden Lebensmittelpreise, spürbare Einkommensverluste als Folge der Corona-Pandemie und die Fluchtbewegung vor dem Krieg in der Ukraine haben zu einer deutlich wachsenden Nachfrage an den Tafeln geführt und gleichzeitig die Beschaffung zu verteilender Produkte schwieriger und aufwändiger gemacht.

Bei Kostensteigerungen für den Tafelbetrieb waren die Kraftstoffpreise ein wesentlicher Posten. Dies gilt insbesondere für die GefAS mit Hauptsitz in Erkner und darüber hinaus Tafeln in Beeskow, Storkow und Fürstenwalde. Da sind ständig Entfernungen zu überbrücken und diese Kilometer kosten mehr Geld.

Die steigenden Lebensmittelpreise haben eine mehrfache Wirkung:

Einmal wird es schwieriger/aufwändiger, die erforderlichen Lebensmittel einzuwerben.

Die höheren Preise bewirken, dass immer mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen sind.

Und schließlich bewirken auch die aus der Ukraine geflohenen Menschen einen größeren Zulauf zu den Tafeln.

Im Ergebnis kam es zur Schließung von Tafeln, an einzelnen Tafeln zu Aufnahmestopps oder zur Auslosung der Teilnahme.

Das hatte die Fraktion »DIE LINKE« im Kreistag Oder-Spree bereits Ende März zu einem Dringlichkeitsantrag für die Unterstützung der Tafeln im Landkreis veranlasst.

Eine Mehrheit des Kreistages betrachtete dieses Problem jedoch sowohl am 6. April als auch am 13. April noch als nicht dringlich. Deshalb konnten wir den Antrag erst zum Kreistag am 8. Juni auf die Tagesordnung bringen. Da war die Behandlung des nunmehr ordentlichen Antrages der Fraktion nicht mehr zu verhindern …

Nachtrag

Am 19.5.2022 schrieb Katharina Schmidt in der MOZ, dass die Kreisverwaltung offenbar Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Antrag der Linksfraktion hatte und deshalb zum gleichen Gegenstand eine eigene Vorlage einbrachte. Dieses Vorgehen sei ihr »in fast einem Vierteljahrhundert im Kreistag erstmalig begegnet.« Das Ergebnis:

»Nunmehr hat der Kreistag beschlossen, die von der GefAS in Erkner, Beeskow, Storkow und Fürstenwalde betriebenen Tafeln mit insgesamt 20.900 €, den CARIsatt-Laden Fürstenwalde (Caritas) mit 1.900 € und die Tafel Eisenhüttenstadt (GEM) mit 2.400 € zu unterstützen. Das ist in Summe etwa die Hälfte der von uns ursprünglich beantragten Summe und deckt etwa die Hälfte der von der Kreisverwaltung ermittelten Mehrkosten ab.

Aber immerhin: Anders als die Landesregierung sind die Kreisverwaltung und der Kreistag bereit, den Tafeln dringend notwendige Hilfe zu erweisen … Ohne den bereits im März eingebrachten Antrag der Linksfraktion hätte es diesen Kreistagsbeschluss nicht gegeben.«

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus dem »Kreistagsinfo«

Workshop Tätigkeitstheorie und kulturhistorische Schule

14. bis 16.10.2022

Mit Beiträgen zu Vygotskijs »Denken und Sprechen« Haus Ohrbeck, Am Boberg 10, 49124 Georgsmarienhütte

Anmeldungen an Falk Seeger,

falk.seeger@uni-bielefeld.de

Tagung der Marx-Engels-Stiftung

Menschenbild und Klassenkampf

28./29. Oktober 2022

Bildungsstätte »Hoffmanns Höfe«, Frankfurt am Main

Mehr unter www.marx-engels-stiftung.de/veranstaltungen.

1 Das Kriegsbild in der BRD. Militärverlag Berlin 1983.

2 W. I. Lenin, Der streitbare Militarismus und die antimilitaristische Taktik der Sozialdemokratie. in: Werke, Bd. 15, Berlin 1963, S. 188.

3 Internationaler Sozialisten-Kongreß, Stuttgart 1907 vom 18. bis 24. August, Verlag: Buchhandlung Vorwärts Berlin 1907, S. 85.

4 Karl Liebknecht, An den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, Berlin, den 3. Dezember 1914. In: Karl Liebknecht, gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, August 1914 bis April 1916, Dietz Verlag Berlin 1972, S. 65.

5 Kein Eintritt Deutschlands in den Ukraine-Krieg – Ausbildung an schweren Waffen in Deutschland beenden und künftig ausschließen, Antrag der Abgeordneten Zaklin Nastic, Ali Al-Dailami, Sevim Dagdelen, Susanne Ferschl, Dr. Gregor Gysi, Andrej Hunko und der Fraktion DIE LINKE. Deutscher Bundestag, Drucksache 20/1753, 11.6.2022.

6 Bodo Ramelow, junge Welt 07.6.2022 S. 4.

7 Karl Liebknecht, Zu Liebknechts Sonderabstimmung, Abstimmungsbegründung, a. a. O. S. 63.

8 Ebenda.

9 Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1957, S. 728.

Rollenwechsel beim SACP-Parteitag

Fritz Pasemann-Senkel

Solly Mapaila wurde auf dem jüngsten 15. Nationalen Kongress der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP) in Johannesburg zum neuen Generalsekretär gewählt. Er tritt die Nachfolge von Blade Nzimande an, der zum nationalen Vorsitzenden der Partei gewählt wurde. Nzimande hatte das Amt des Generalsekretärs seit 1998 inne.

»Wir haben jetzt mehr als 330.000 Mitglieder, was einen enormen Zuwachs für die Kommunistische Partei bedeutet. Ich bin froh, zurückzutreten und eine SACP zu hinterlassen, die eine beachtliche Mitgliederzahl hat«, sagte Nzimande vor dem Kongress. Mapaila, der bisher als stellvertretender Generalsekretär fungierte, wurde ohne Gegenkandidaten gewählt.

Die SACP ist Teil der südafrikanischen Regierungskoalition zusammen mit dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC) und der Central Union of South African Workers (Cosatu). Präsident Cyril Ramaphosa wandte sich an die Delegierten und erklärte, er stehe weiterhin zu dem Bündnis, auch wenn er einräumte, dass die Beziehungen zur SACP in letzter Zeit schwierig gewesen seien. Er war jedoch nicht anwesend, als Nzimande in seinem politischen Bericht die Rolle des ANC kritisierte, den die SACP für die neoliberale Sparpolitik und die Enttäuschung der Bevölkerung über die Wahlpolitik verantwortlich macht. Nzimande rief »unser gesamtes Bündnis und seine Mitglieder sowie die breitere demokratische Bewegung« auf, »sich zusammenzuschließen und die Interessen unseres Volkes, insbesondere der Arbeiter und Armen, über alle parteipolitischen und engstirnigen Interessen zu stellen … Wir müssen auf diesem Kongress mit uns selbst als SACP beginnen, indem wir versuchen, unser Volk vor die Profite und die Arbeiter und Armen an die erste Stelle zu setzen«, so Nzimande.

Die Partei kritisierte die »militärische Intervention Russlands in der Ukraine« und erklärte, Präsident Wladimir Putin sei weder ein Sozialist noch ein Freund der Arbeiterklasse. Moskau habe jedoch legitime Sicherheitsbedenken und der gegenwärtige Konflikt sei »direkt von den USA und ihren Nato- und EU-Verbündeten angeheizt worden«. Die SACP rief die russische Arbeiterklasse dazu auf, sich mit fortschrittlichen Kräften in der ganzen Welt zu solidarisieren, und warnte davor, sich von der »Politik des autoritären Nationalismus«, den Putin verkörpert, vereinnahmen zu lassen. Der Sprecher der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, Slawa Tetekin, erhielt trotzdem Beifall von den Delegierten, als er erklärte: »Es ist nicht Putins Krieg, es ist ein antiimperialistischer Krieg, der von der Mehrheit des russischen Volkes unterstützt wird«.

Der Kongress bekräftigte seine Unterstützung für das palästinensische Volk und diejenigen, die gegen den US-Imperialismus in Lateinamerika kämpfen, darunter Kuba, Nicaragua und Venezuela, die von Washington als »Troika der Tyrannei« bezeichnet werden. Nzimande schloss seine Rede mit einem Aufruf zur Einheit: »Lasst uns gemeinsam eine starke, sozialistische Bewegung der Arbeiter und Armen aufbauen.«1

»Nach ihrem Kongress müssen die südafrikanischen Kommunisten nun einige Fragen über die künftige Ausrichtung ihrer Partei beantworten,« findet die südafrikanische Online-Zeitung Daily Maverick2. »Welche Rolle spielt sie wirklich in der heutigen südafrikanischen Politik und sollte sie spielen? Will sie immer noch die Richtung unseres Landes ändern? Oder will sie einen Sitz in dem Raum haben, in dem die Dinge entschieden werden? Oder sollte sie lediglich als ideologische Stimme existieren?«

Eine grundlegende Frage, die die Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP) in den letzten 30 Jahren bestimmt habe, drehe sich um ihre weitere Rolle im Bündnis mit dem ANC (und Cosatu). Auf ihrem Kongress habe sie »wieder einmal dieselbe Antwort gegeben: dass sie versuchen wird, in derselben Organisation zu bleiben, auch wenn es Anzeichen dafür gibt, dass sich unsere Politik grundlegend ändern könnte, was möglicherweise auch die SACP verändern würde.« Den SACP-Kongress »als das Ende der Ära Blade Nzimande« und den »Beginn einer neuen Ära unter Solly Mapaila« zu sehen, sei »ganz so einfach natürlich nicht.« Mapaila stand in den letzten 10 Jahren an der Spitze der Partei, und Nzimande übernimmt nun die Rolle des nationalen Vorsitzenden der Partei. Eine »weitere bemerkenswerte Veränderung« sei, »dass der stellvertretende Finanzminister David Masondo ohne Gegenkandidaten zum zweiten stellvertretenden Sekretär gewählt« wurde. »Masondo hatte den Zorn vieler in der Partei auf sich gezogen, weil er die praktisch bedingungslose Unterstützung von Jacob Zuma bei seiner Kampagne zur Wiederwahl als ANC-Vorsitzender im Vorfeld der Konferenz in Mangaung 2012 kritisiert hatte. Jetzt ist er an der Spitze des ANC.«

»Eine der vielleicht wichtigsten internen Dynamiken auf diesem Kongress« sieht Daily Maverick darin, »dass es tatsächlich einen Wettbewerb um das Amt des Vorsitzenden gab. Dabei trat der ehemalige Generaldirektor des Ministeriums für Hochschulbildung, Gwebs Qonde, gegen seinen ehemaligen Minister Nzimande an. Auch wenn Nzimande sich immer durchsetzen würde, so wirft dies doch die Möglichkeit auf, dass sich die Tradition der SACP, Führungswechsel auf dem Verhandlungswege zu vollziehen, ändert.«

Diese Frage könne sich aufgrund der schieren Anzahl der Mitglieder, die die Partei jetzt hat, noch verschärfen. »Für eine Partei, die eine so große Zahl von Mitgliedern hat und die es dann schafft, die Führung durch verschiedene Wählergruppen auszuhandeln, ist das in absehbarer Zukunft vielleicht zu viel verlangt. In Anbetracht der Probleme, die der ANC mit der Verwaltung einer großen Zahl von Mitgliedern hatte, sowie der Probleme im Zusammenhang mit Fraktionsbildung und Spaltungen, ist es unwahrscheinlich, dass die SACP vor denselben Problemen gefeit sein wird.«

Das »grundlegende Dilemma der Partei auf den Punkt gebracht«, sei »die Frage, wie sie ihre Macht am besten ausüben kann«. Es gebe »durchaus Anzeichen dafür, dass sie in der Allianz Einfluss genommen« habe. Die Art und Weise, »wie sich die Kommunisten zwischen 2015 und 2017 gegen die staatliche Vereinnahmung gewehrt« haben, zeuge von diesem Einfluss. Andererseits war sie nicht in der Lage, State Capture von vornherein zu verhindern.«

Wie viele andere Organisationen scheine auch die SACP sehr gut in der Lage zu sein, ihre Probleme zu diagnostizieren, tue sich aber sehr viel schwerer, praktikable Lösungen zu entwickeln. Viele werden dafür Verständnis haben, einfach weil die Entscheidungen, die getroffen werden müssten, sehr schwierig seien.

So heiße es beispielsweise in der Abschlusserklärung des Parteitags:

»Es ist von entscheidender Bedeutung, die öffentlichen Finanzinstitutionen – die DBSA [Development Bank of Southern Africa], die IDC [Industrial Development Corporation], die Land Bank, die PIC [Public Investment Corporation], die Postbank und die Finanzinstitutionen der Provinzen – zu stärken, damit sie eine entwicklungspolitische Rolle spielen können. Dies sollte durch ein klareres Mandat der südafrikanischen Zentralbank zur Unterstützung der öffentlichen Entwicklungsfinanzierungsinstitutionen geleitet werden.« Masondo, der neue zweite stellvertretende Generalsekretär, sei auch stellvertretender Finanzminister. Und vermutlich sei er in der Lage, Einfluss auf die Politik der Regierung zu nehmen, um die Forderungen der SACP umzusetzen. Aber: »Es ist nicht klar, ob dieser Einfluss spürbar ist.«

»Kern des Problems« sei, den Einfluss der SACP zu bewerten. Es sei schwer zu sagen, was hinter verschlossenen Türen geschehe und ob die SACP wirklich Einfluss habe. »Wenn man bedenkt, dass sich die tatsächlich umgesetzte Wirtschaftspolitik nicht merklich nach links bewegt hat, könnte dies darauf hindeuten, dass die SACP sich schwertut, die Politik des ANC zu beeinflussen.« Natürlich könne man argumentieren, dass er die Umsetzung einer »neoliberaleren« Politik verhindert habe. »Aber das dürfte schwer zu beweisen sein.«

Der Daily Maverick sieht das Dilemma der SACP vor dem Hintergrund politischer Veränderungen in der südafrikanischen Politik und Parteienlandschaft: »Wenn es stimmt, dass der ANC weiterhin an politischer Macht verliert, ist die Zersplitterung unserer Politik fast unvermeidlich.« Das könne bedeuten, »dass eine bestimmte politische Partei mit nur 10 % der Stimmen – in einigen Fällen sogar noch weniger – großen Einfluss haben könnte.« Dabei müsse es sich nicht nur um einen prozentualen Anteil an der nationalen Wählerschaft handeln, sondern es werde wahrscheinlich auch Koalitionen in mehreren Provinzen geben, die den politischen Parteien eine übergroße Bedeutung verleihen könnten. Das bedeute, dass eine Partei mit relativ geringen Wähleranteilen einen entscheidenden Einfluss auf die Politik haben könne. In einem derartig gespaltenen politischen Raum könne die SACP tatsächlich mehr Einfluss haben, wenn sie allein Wahlkampf betreibe und dann im Parlament mit dem ANC auf der Grundlage einzelner Themen abstimme.

»Natürlich könnte dies ein Test für die tatsächliche Wahlstärke der Partei sein. Und es gibt zahlreiche Belege dafür, dass eine große Zahl von Mitgliedern nicht automatisch zu einer großen Zahl von Stimmen führt.« Die jüngste Geschichte des ANC zeige, dass eine steigende Mitgliederzahl nicht zu einem Anstieg der Wählerstimmen führe, vielmehr habe sich gezeigt, dass das Gegenteil der Fall sein könne.

Es sei auch nicht klar, ob die SACP-Politik so populär sei. »Während beispielsweise die Erklärung der SACP zur Unterstützung des palästinensischen Volkes bei den meisten Südafrikanern auf Resonanz stößt, ist es nicht sicher, dass ihre Position zur russischen Invasion in der Ukraine dies tut.« Die SACP sage: »Wir verurteilen die imperialistische Aggression der blutdürstigen und schießwütigen, von den USA dominierten NATO. Die Erweiterung der NATO, die ein Instrument des Krieges ist, stellt die größte Bedrohung für den Weltfrieden und die Gleichheit in unserer Zeit dar. Gegenwärtig manifestiert sich dies durch den von der NATO provozierten Krieg in der Ukraine. Zu den Auswirkungen des Krieges, einschließlich der Bewaffnung der NATO und der Anwendung extraterritorialer Sanktionen, gehört auch die weltweite Krise der Lebenshaltungskosten«. Dass die SACP trotzdem Kritik an der militärischen Intervention Russlands in der Ukraine übt, wie im Morning Star berichtet, verschweigt der Daily Maverick bezeichnenderweise. Passt wohl nicht ins Bild. Stattdessen spekuliert Daily Maverick, dass »einige der eng gefassten Überzeugungen der SACP (Anmerkung: z. B. das klare Verhältnis zur NATO) sie daran hindern werden, jemals eine Partei mit großer nationaler Unterstützung zu sein.« (Anmerkung: Kommt einem aus bundesdeutschen Debatten irgendwie bekannt vor.) Abschließend spekuliert Daily Maverick: »Die Zukunft der Partei könnte mehr Streit und Spaltungen enthalten als ihre jüngste Vergangenheit. Im Jahr 2012 vermittelte die ANC-Konferenz in Mangaung den Eindruck, die Partei sei weitgehend geeint. Fünf Jahre später stand sie in Nasrec kurz vor dem Zusammenbruch. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die SACP ein ähnliches Schicksal erleiden wird, könnte es sein, dass die nächsten fünf Jahre der Partei viel lebhafter sein werden als die vergangenen zehn Jahre.«

BlackRock’s Aktienrente – kein Ausweg aus der Rentenarmut

Werner Rügemer

Die erste Bundesregierung aus SPD und Bündnisgrünen – Bundeskanzler Gerhard Schröder/SPD und Vizekanzler Joseph Fischer/Grüne –hatte 2002 im Rahmen der »Agenda 2010« als tolles »Modernisierungs«projekt die private Riester-Rente eingeführt. Diese Rente ist gescheitert, die privaten Versicherungen kassieren dabei zu viel selbst und zahlen allermeist zu wenig aus. Und der Staat hat sich durch die steuerliche Subventionierung zusätzlich verschuldet.

Nun beschloss die aktuelle Bundesregierung 2021, wieder zusammengesetzt aus SPD und Grünen plus FDP: Wir vergessen die Riester-Rente und machen einen neuen Anlauf. Sie will »in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen.« Dazu zahlt der Staat zunächst 10 Milliarden Euro in einen »unabhängigen« öffentlich-rechtlichen Fonds ein, das Geld soll auf dem Kapitalmarkt angelegt werden, global. Die Deutsche Rentenversicherung Bund darf die bisherigen und zukünftigen Beiträge der Beitragszahler ebenfalls auf dem Finanzmarkt anlegen, und zwar »reguliert« und ebenfalls global. Damit, so das Ziel, soll die gesetzliche Rente »gestärkt« und auf dem Mindestniveau von gegenwärtig 48 Prozent stabilisiert werden.1

Das klingt vorsichtig. Und es soll ja nur ein Einstieg sein. Und 10 Milliarden sind im Verhältnis zu den 303,6 Milliarden Euro, die gegenwärtig pro Jahr an gesetzlichen Renten ausgezahlt werden (Stand 2020)2, nur ein Klacks. Aber schon die Frage, wie »unabhängig« der Fonds verwaltet wird und wie »reguliert« die globalen Anlagen getätigt werden – lässt einiges offen. Zumal das Mindestniveau von 48 Prozent schon jetzt mehrheitlich eine Armutsrente ist, vor allem für Frauen.

Im Koalitionsvertrag heißt es zur »Rentenstärkung« weiter, dass die »stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen« und die »erwerbsbezogene und qualifizierte Einwanderung« gefördert werden. Noch mehr Minijobs sowie die verstärkte Anwerbung von noch billigeren und willigeren »Fachkräften« aus Drittstaaten bis nach Indien und Vietnam durch die EU wie durch die Bundesagentur für Arbeit3 – das erhöht den Konkurrenzdruck auf dem deutschen Arbeitsmarkt und ist kein Rezept gegen Arbeitslosigkeit. Arbeitseinkommen werden gesenkt und damit auch die Renten. Dazu kommen noch die Folgen der Pandemiepolitik und der Russland-Sanktionen: Dauer-Inflation, Wirtschaftseinbruch … Und was kommt noch nach diesem »Einstieg«?

Arbeits- und Rentenarmut im US-geführten Kapitalismus

In allen westlichen kapitalistischen Staaten werden die Arbeitseinkommen und gesetzlichen Renten gesenkt und zudem deren Kaufkraft. Vorreiter sind die USA: working poor, Arm trotz Arbeit, das breitet sich seit den 1980er Jahren aus und verfestigt sich. In den durch die EU verarmten Staaten Osteuropas kam das so, und inzwischen ist das in den »reichen« EU-Staaten ein Massenphänomen, auch in Deutschland, Frankreich, in den Benelux- und skandinavischen Staaten, in Großbritannien sowieso. Betroffen sind vor allem prekär beschäftigte Niedrig- und Teilzeitlöhner, Leiharbeiter und die vielen neuen Solo-Selbständigen, aber auch zunehmend »Normal«beschäftigte bis in die Mittelschichten, und hier besonders Frauen und Migranten. Schon zur »Riester-Rente« in Deutschland gehörte ja im Rahmen der Agenda 2010 die systematische Niedriglöhnerei der vier Hartz-Gesetze: Vermehrte Leiharbeit, Minijobs, Teilzeitarbeit, und ein erst ab 2015, also viel zu spät erhöhter und immer noch viel zu niedriger Mindestlohn.

Deutschland: Wachsende Arbeits- und Rentenarmut seit 1990

Die gesetzliche Rente wurde in Deutschland seit der Übernahme der DDR 1990 schrittweise abgesenkt. 1990 betrug sie 55 Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkommens, im Jahr 2020 nur noch 47,9 Prozent. Auch durch Frühverrentungen und frühe Erwerbsminderungsrenten werden Renten zusätzlich gekürzt.

Das Ergebnis: 69 Prozent der Rentnerinnen erhalten eine Netto-Rente von 300 bis 900 Euro pro Monat, 20 Prozent zwischen 900 und 1.200 Euro – mehrheitlich also Armutsrenten: In Deutschland liegt die Armutsgrenze für den Ein-Personen-Haushalt bei 1074 Euro. Nur 8 Prozent der Frauen haben eine Rente zwischen 1.200 und 1.500 Euro, 3 Prozent zwischen 1.500 und 1.800 Euro, das letzte 1 Prozent erreicht dann Renten zwischen 1.800 und 2.100 Euro. Bei den Männern liegen 49 Prozent, also etwa die Hälfte, unter 1.200 Euro, nur 23 Prozent erreichen zwischen 1.200 – 1.500 Euro. (Stand 2018: Demografieportal Bund-Länder, abgerufen 27.9.2021)

ArbeitsUnrechts-Staat: Pensionen der Beamten nicht in Gefahr

Egal, ob SPD- oder CDU-geführte Regierungen: Die abhängig Beschäftigten, die mal Arbeiterklasse hießen und heute nach Arbeitsbedingungen, Einkommen, Status, Herkunft höchst verschieden und zerrissen sind – sie wurden und werden von Unternehmen mithilfe der Regierungen besonders einseitig rechtlich herabgesetzt, benachteiligt, ausgebeutet. Dagegen geht es mehreren Millionen privat versicherten Rentnern meist sehr gut, den Managern, Geschäftsführern, Architekten, Anwälten, Ärzten, auch Bundes- und Landesabgeordneten – und den Staats-Beamten. Die Beamten-Pensionen sind 1. doppelt so hoch wie die Renten der abhängig Beschäftigten, 2. die Höhe der Pensionen ist auch in Zukunft ungefährdet, und 3. Pensionen werden teilweise erheblich länger bezahlt, weil die Beamt:innen aufgrund ihrer gesicherten Lebenssituation gesünder und länger leben.

Für diese 1,7 Millionen Pensionäre inklusive Witwen und Waisen geben Bund, Länder, Kommunen jährlich 57 Milliarden Euro aus. Das sind pro Pensionär monatlich 2.794 Euro. Dazu kommen noch staatliche Beihilfen für Gesundheitsleistungen. Dagegen erhalten die 21 Millionen gesetzlichen Rentner:innen, Witwen und Waisen jährlich 290 Milliarden Euro an Renten. Das sind im Durchschnitt 1.150 Euro im Monat, ohne Beihilfe. Stattdessen muss für manche Gesundheitsleistungen zugezahlt werden. Selbst im Idealfall mit 45 Beitragsjahren beläuft sich die Bruttorente für Durchschnittsverdiener auf 1.539 Euro, mit Riester-Vorsorge nur 1.650 Euro.4

Die Riester-Rente ist – wie gesagt – gescheitert. Auch die private betriebliche Zusatzrente ist gescheitert – jedenfalls für die Mehrheit der abhängig Beschäftigten. Diese Rente bringt nur den besser bezahlten und unbefristet Beschäftigten etwas, vor allem den Managern bis hinauf zu den Vorständen und Geschäftsführern – für eine wachsende Zahl der abhängig Beschäftigten, die es gerade am nötigsten hätten, bringt diese Zusatzrente wenig oder ist eben gar nicht existent.5

BlackRock & Co.: Die neue private »Volksaktie«

Deshalb haben neue Kapitalorganisatoren eine neue private Rente erfunden. Mithilfe der »Volksaktie« namens Exchanged Traded Funds (ETF) sollen Risiken vermieden werden: die Beitragshöhe ist nicht festgelegt, der Arbeitgeber braucht sich nicht zu beteiligen, und auszahlen lassen kann man sie sich nach Bedarf – und die Gebühren betragen fast Null. Klingt zauberhaft, nicht wahr? Aber wer sind die neuen Zauberer? Der größte Zauberer ist BlackRock. Dieser Kapitalorganisator ist gegenwärtig Aktionär in 18.000 Banken und Unternehmen, in den USA und in den westlichen Mitgliedsstaaten der EU wie Deutschland, aber auch in Großbritannien, Kanada, Australien, Mexiko, Singapur. Eine solche Präsenz eines einzigen Eigentümers gab es in der Geschichte des Kapitalismus noch nie.

Dabei ist BlackRock nur die Spitze des gegenwärtigen, neu formierten kapitalistischen Eisbergs. Die nächstgrößeren Kapitalorganisatoren dieser neuen Art heißen Vanguard, State Street, Capital Group, Norges. Die meisten und größten haben ihre Zentrale in den USA und sind die bestimmenden Aktionäre der größten westlichen Banken und Konzerne, der größten Öl-, Auto-, Pharma-, Agrobusiness- und Rüstungskonzerne, nicht zuletzt auch der größten Digitalkonzerne Amazon, Google, Facebook, Apple und Microsoft. In Deutschland sind BlackRock & Co. in allen 40 DAX-Konzernen vertreten, auch in den größten Wohnungskonzernen Vonovia, Deutsche Wohnen, LEG und TAG.

Die beiden größten dieser neuen Geschäftsführer der Superreichen, BlackRock und Vanguard, beherrschen mit etwa drei Viertel den Handel mit der »Volksaktie« ETF.6 BlackRock vertreibt die ETFs über die Tochterfirma iShares. iShares vekauft die ETFs in Paketen an die normalen, traditionellen Banken, Sparkassen und Vermögensverwalter: Die verkaufen dann die ETFs in kleinen Teilen an die Endkunden.

ETF als Instrument des »nachhaltigen Kapitalismus«

Nach dem Aufstieg mithilfe des Kapitals der Superreichen seit den 1990er Jahren sind BlackRock & Co dazu übergegangen, auch für etwas kaufkräftige abhängig Beschäftigten eine Kapitalanlage zu entwickeln: Alle Menschen sollen Aktionäre werden. So propagierte es etwa auch der langjährige BlackRock-Lobbyist in Deutschland, Friedrich Merz, der gegenwärtige CDU-Vorsitzende.

ETF ist ein sogenannter Indexfonds: Man kauft damit nicht die Aktie eines bestimmten Unternehmens, sondern einen gleichzeitigen Anteil an allen Unternehmen eines Index, also z. B. an allen 40 Unternehmen des deutschen Aktienindex DAX oder an allen 500 Unternehmen des US-Börsenindex S&P500.Dabei verspricht BlackRock folgende Vorteile:

  1. Die Käufer profitieren automatisch vom Anstieg des DAX. Es kann zwar mal Werteinbrüche geben, aber auf die Dauer stiegen DAX, S&P usw. immer weiter, wird versprochen. Das war bisher so und wird auch in Zukunft so sein, auch nach Finanzkrisen, heißt es. Und man kann ETFs in beliebiger Zahl schnell verkaufen, wenn man Geld braucht, etwa wenn man die gesetzliche Rente aufbessern will.
  2. Weil ETF gleichzeitig an allen Unternehmen beteiligt ist, wird das Risiko gestreut: Wenn etwa die Aktie der Deutschen Bank oder von Siemens im Wert fallen sollte, wirkt sich das im Gesamtwert aller Aktien kaum aus und der Verlust ist nur gering.
  3. Weil für ETF kein Verwaltungsaufwand nötig ist und BlackRock die ETFs über seine roboterisierte Datenanlage Aladdin verwaltet, fallen für die Käufer nur minimale Gebühren an: z. B. nur 0,3 Prozent im Unterschied zur traditionellen Vermögensverwaltung, die etwa 2 Prozent kostet.

BlackRock & Co bilden und verkaufen neben den genannten nationalen Indexfonds auch viele weitere Indexfonds, z. B. mit den Aktien mehrerer Immobilien-, Rohstoff- und Energiekonzerne, neuerdings auch mit Unternehmen für erneuerbare Energien (Umwelt-Indexfonds). Damit die grünen Besser-Verdiener:innen ihr Vermögen in den nachhaltigen Kapitalismus einbringen können.

Die neue Volksaktie – gleichzeitig sinken die Arbeitseinkommen

BlackRock & Co sind die Eigentümer der »richtigen«, normalen Aktien, erweitern aber mithilfe der ETF ihren Einfluss in den Unternehmen. BlackRock & Co bleiben aktienrechtlich die Vertreter der ETF, die Käufer haben keine Stimme. Superreiche Multimillionäre und Multimilliardäre bleiben die Hauptgeldgeber und Hauptkunden von BlackRock. Für sie holt BlackRock die überdurchschnittlichen Gewinne zwischen 5 und 12 Prozent jährlich heraus. Davon haben die ETF-Käufer gar nichts, sie profitieren nur vom Anstieg der Aktienwerte.

BlackRock fördert die Steuerflucht der Konzerne, an denen BlackRock beteiligt ist – am bekanntesten sind dafür die großen US-Digitalkonzerne Amazon, Apple, Microsoft, Facebook und Google, die in der EU große Geschäfte machen, aber praktisch keine Steuern zahlen. Ein anderes Gewinn-Instrument ist bekanntlich die Lohnsenkung, der Abbau von Arbeitsplätzen, die Auslagerung in billige Subunternehmerketten: Das trifft dann aber wieder die abhängig Beschäftigten, deren Arbeitseinkommen wird abgesenkt. Plattform-Konzerne wie Amazon, Facebook, Deliveroo, Uber, WeWork erzwingen die Solo-Selbständigkeit der Beschäftigten und fördern weitere Arbeitsarmut, so die Internationale Arbeitsorganisation ILO: The World Employment and Social Outlook. The role of digital labor platforms in transforming the world of work (Genf 23.2.2021).

So werden die Käufer der Volksaktie gleichzeitig verarmt, vor allem als abhängig Beschäftigte, aber auch als Käufer von Energie, Gesundheitsleistungen, Medikamenten, Nahrungsmitteln – und Gebühren für Schulen, Kindergärten steigen ebenfalls. Und diejenigen, die am wenigsten verdienen und deshalb eine Armutsrente zu erwarten haben – gerade sie haben aber am wenigsten Geld übrig, um ETFs zu kaufen. ETF ist etwas für den gehobenen Mittelstand.

BlackRock: Erfolgreiche Renten-Lobby in der EU

In Europa setzte BlackRock sein Rentenkonzept zuerst in Frankreich durch, mithilfe des Präsidenten und Ex-Bankers Emmanuel Macron. Es ist Teil einer umfassenden Wirtschafts»reform« (Loi PACTE).7 Dagegen wurde in Frankreich heftig protestiert. Am 7. Januar 2020 drangen Eisenbahner der Gewerkschaft CGT in Paris in die französische Filiale von BlackRock ein und hielten eine Kundgebung ab. Der Senat, die zweite Kammer neben der Nationalversammlung, zögerte, schließlich kam noch die Corona-Pandemie: Loi PACTE liegt auf Eis.

In der EU klappte der BlackRock-Lobbyismus. Schon 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission den Vorschlag für eine Verordnung über ein »europaweites persönliches Altersvorsorgeprodukt«, englisch Pan European Personal Pension Product. Mit der Abkürzung PEPP wird es öffentlich angepriesen. Damit könne man die bisherigen staatlichen und betrieblichen Renten »aufstocken« und auch unabhängig von gesetzlichen, privaten und betrieblichen Renten für das Alter vorsorgen. Das treffe auch für Selbstständige, Landwirte, Arbeitslose und auch schon für Studierende zu: Alle sollten selbst vorsorgen, von Jugend an. Die EU-Staaten sollen PEPP steuerlich fördern. Der endgültigen Regelung stimmte das Europäische Parlaments am 20. Juni 2019 zu.8 Die Mitgliedsstaaten sollen das Konzept umsetzen, die deutsche Ampel-Regierung will das nun tun.

Als Alternative ist ein ganz neuer, demokratischer, gerechter Ansatz nötig, in der Gestaltung der Renten und des Ruhestands insgesamt. Die bisherigen Renten»reformen« einschließlich der zusätzlichen betrieblichen und Privatrenten haben die Renten-Ungleichheit, das Renten-Unrecht und die Verschlechterung für die Mehrheit der abhängig Beschäftigten vermehrt. Nötig also erstens: die Abschaffung exzessiver Renten- und Gehaltsprivilegien sowie eine allgemeine Bürgerversicherung!

Dazu müssen die technisch und nun verstärkt digital gesteigerte Produktivität, deren Möglichkeiten und Ergebnisse gerecht verteilt werden, etwa durch allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Das geht auch nur durch die erweiterte politische Kollektivität der Beschäftigten. Nötig also zweitens: Arbeitszeitverkürzung für alle!

Des Weiteren kann und muss die Rentenzeit, der sogenannte Ruhestand, nicht als Endpunkt, sondern als Beginn einer freieren, kreativen Lebensphase gestaltet werden. Konzepte dazu wurden in Frankreich in den breiten Protesten gegen die Renten- und Wirtschaftsform Macrons entwickelt.9

1 Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvereinbarung 2021-2025, S. 57 ff.

2 Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland, de.statista.com, abgerufen 8.7.2022.

3 Zum ArbeitsUnrecht und zur Förderung der Arbeitsmigration durch die EU siehe Werner Rügemer: Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr, Köln 2020.

4 Zur Übersicht über alle gesetzlichen, privaten und betrieblichen Rentensysteme siehe Werner Rügemer: »Kämpfen, statt auf Aktienkurse glotzen!«, ÖkologiePolitik Nr. 157 / 2021.

5 Tobias Neufeld: Pensionskassen in der Krise. Die Renten sind (nicht) sicher. LTO Legal Tribune Online 2.10.2019.

6 Zu BlackRock, Vanguard & Co siehe Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. 3. erweiterte Auflage Köln 2021.

7 BlackRock: Loi Pacte – Le bon plan Retraite, Viewpoint juin 2019.

8 Europäische Kommission: Richtlinie PEPP, 25.7.2019.

9 Catherine Mills (Coord.): Les Retraites – Un Bras de Fer avec le Capital. Paris 2020.

Aktuelles

Friedrich Wolff – ein Jahrhundertzeuge

Ralph Dobrawa

Geburtstagsjubiläen finden immer besondere Beachtung, wenn es sich um sogenannte runde Geburtstage handelt. Oft sind das 60, 70 oder 80 vollendete Lebensjahre. Unser Jubilar wurde am 30. Juli 2022 aber 100 Jahre. Friedrich Wolff, der bekannte Rechtsanwalt und Strafverteidiger, ist Zeitzeuge eines ganzen Jahrhunderts. Großer Respekt gilt seiner Lebensleistung. Er studierte nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und war fest entschlossen, sich als Jurist in den Dienst einer neuen antifaschistisch-demokratischen Ordnung zu stellen. Als er das Studium erfolgreich abschloss, wurde gerade die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Es stand für ihn außer Zweifel, dass dieser junge Staat für ihn Zukunft, Aufgabe und Herausforderung sein würde. Bereits 1945 war Friedrich Wolff in die KPD eingetreten, die sich ein Jahr später mit der SPD zur SED vereinigte. Er hatte die Nazis und ihr schreckliches Wirken in Deutschland und die furchtbaren Auswirkungen des von Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieges erlebt. Deshalb gab es für ihn keine andere Alternative als am Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung mitzuwirken. Nach kurzer Tätigkeit in anderen juristischen Berufen wurde er 1953 Rechtsanwalt und war maßgeblich an der Gründung des Kollegiums der Rechtsanwälte in Berlin beteiligt. Über viele Jahre wirkte Wolff als Vorsitzender dieses Gremiums und genoss das Vertrauen vieler seiner Kolleginnen und Kollegen. Als Anwalt war er vorwiegend auf dem Gebiet des Strafrechts tätig und verteidigte über mehr als ein halbes Jahrhundert Menschen, die auf unterschiedliche Weise sich vor einem Gericht verantworten mussten. Unter ihnen waren bereits in den 1950er und 1960er Jahren manch bekannte Namen. So nahm seine Popularität immer mehr zu. Dabei blieb er stets bescheiden und bodenständig. Für ihn war es wichtig, Menschen beizustehen, die in Not waren, aber auch der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.

Für einen Verteidiger ist dieser Spagat nicht immer einfach. Oft geht es darum, besonders die Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Lebensweg näher zu beleuchten, um das eine oder andere Fehlverhalten besser verstehen zu können. Das hat nicht selten auch Auswirkungen auf das zu findende Strafmaß. Ungünstige äußere Umstände beeinflussen oft täterschaftliches Handeln. Natürlich hat jeder Strafverteidiger während seiner beruflichen Tätigkeit auch immer wieder Freisprüche, aber sie sind doch deutlich seltener als Verurteilungen. Umso mehr gilt es zuzuhören und Einflüsse herauszuarbeiten, die für den Angeklagten günstig sind. Friedrich Wolff ist stets ein guter Zuhörer, egal ob man ihn als Verteidiger gewählt hat oder ihm freundschaftlich verbunden ist. Sein waches Interesse an Problemen der Gesellschaft und des Alltags hat er sich bis ins hohe Alter bewahrt. Sein Rat und seine Meinung sind vielen seiner engeren Freunde sehr wichtig. Wolff belehrt nicht, sondern berät und ist auch immer bereit, die eigenen Vorschläge bei Gegenargumenten neu zu durchdenken. Er beharrt nicht auf seiner Meinung und ist auch immer in der Lage, dem anderen stets das Gefühl zu geben, dass er auf Augenhöhe mit ihm spricht und seine Argumente ernst nimmt. Das unterscheidet ihn wohltuend von manchen seiner Berufskollegen. Für andere wurde er zum Vorbild, und das mit Recht. Die moralischen Maximen, die den Anwaltsberuf ausmachen sollten, beherrscht kaum jemand so gut wie er. Auch nach 1990 ist Friedrich Wolff immer seinen politischen Überzeugungen treu geblieben. Seiner Partei wurde er im Ältestenrat eine wichtige Stütze. Als er bereits das 70. Lebensjahr erreicht hatte, begann für ihn eine wichtige und arbeitsintensive Zeit. Neben Erich Honecker verteidigte er mehrere ehemalige Mitglieder des Politbüros des ZK der SED und setzte sich mit den Gerichten auseinander, die eine andere Rechtsauffassung vertraten und der Meinung waren, sie müssten über DDR-Hoheitsträger urteilen. Er hat gestritten für seine Überzeugung und seine Mandanten, wenn es sein musste bis zum Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

In mehreren Büchern, die in den zurückliegenden Jahren erschienen sind, kann man einiges von diesem Kampf nachlesen und erhält ein Bild, wie intensiv Friedrich Wolff gerade in jenen Jahren sich eingebracht hat. Da hatten sich andere schon aufs Altenteil zurückgezogen. Das Ende seiner anwaltlichen Tätigkeit liegt noch gar nicht so lange zurück. Wolff wollte da sein für jene, die ihn brauchten und besonders für diejenigen, deren Überzeugung er teilte. Auch heute verfolgt er mit wachem Interesse die Geschehnisse in der Welt und man kann sich wunderbar mit ihm austauschen. Das wünschen wir uns noch sehr lange Zeit.

(Mit freundlicher Genehmigung aus "Mitteilungen der Kommunistischen Plattform".)

Editorial

Diese Ausgabe widmen wir zwei großen (Geschichts-)Lehrern der kommunistischen Bewegung: Jupp Schleifstein und Eric Hobsbawm. Der eine ist im Juli vor 30 Jahren gestorben, der andere im Oktober 2012. Für beide gilt: Ihr Lebenswerk lebt weiter, hilft uns Vergangenes besser zu verstehen, um die Kämpfe für eine bessere Zukunft besser zu meistern. Auch in unübersichtlichen, hochdynamischen »Zeitenwenden«.

Inhaltlich steht im Zentrum dieser Ausgabe dabei weniger die Geschichte, sondern unser marxistisches Grundverständnis von ihr sowie der funktionalisierte Umgang mit ihr in Wissenschaft und Politik. Schon in der Beilage der letzten Ausgabe war Joachim Hösler am Beispiel Russlands der konkreten Frage nachgegangen, wie das Verbot der zivilgesellschaftlichen Organisation »Memorial« mit dem Kriegseinsatz der Russländischen Föderation in der Ukraine zusammenhängt.

Als Einstieg in den Schwerpunkt erinnern wir an einen Beitrag des bekannten DDR-Historikers und Schleifstein-Freundes Ernst Engelberg zur Frage »Was ist historisches Erkennen?« Darin behandelt er – auch für Laien verständlich – Grundfragen marxistischer Geschichtswissenschaft an lebensnahen Beispielen. Raimund Ernst schreibt über »Geschichtsschreibung als Fortsetzung der Klassenkämpfe mit anderen Mitteln«. Domenico Losurdo geht in seinem posthum veröffentlichten neuen PapyRossa-Buch der »Idee einer Welt ohne Krieg an fünf Wendepunkten der zeitgenössischen Geschichte« auf den Grund. Wir bringen eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Ulrich Schneider belegt in seinem Beitrag über Geschichtspolitik in der »Zeitenwende« an aktuellen Beispielen, wie reale Geschichte heute in Wissenschaft und Publizistik uminterpretiert wird und zur Legitimations»wissenschaft« verkommt. Hans-Peter Brenner steuert mit »Umstrittene Normative in der Geschichtsschreibung« einen Text bei, der wegen einiger zentraler Thesen – insbesondere der Wertung des russischen Kriegseinsatzes in der Ukraine – schon im Vorfeld rege Diskussionen im Kreis der Herausgeber:innen ausgelöst hat. Er ist damit als persönlicher Diskussionsbeitrag im eigentlichen Sinne des Wortes zu verstehen. Werner Ruf argumentiert in seinem Beitrag über die diesjährige Documenta in Kassel, warum hinter der Skandalisierung eines »antisemitischen« Wimmelbildes aus Indonesien mehr steckt als kritische Kunst-Betrachtung. Den Abschluss des Schwerpunktes macht Florian Grams mit seinem Beitrag zum 10. Todestag von Eric Hobsbawm, der – wie Jupp Schleifstein – die »Reale Geschichte als Lehrmeister« sah und der – wie wenige andere marxistische Historiker – in seinen Werken auch an einer Sprache arbeitete, »die Begrifflichkeit und Anschaulichkeit, Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit miteinander verbindet«, ganz so wie Ernst Engelberg in seinem Eingangsbeitrag fordert.

Auch diesmal veröffentlichen wir wieder Rezensionen, die mit dem Schwerpunkt korrespondieren und in der Rubrik »Dokumentation« eine auch dazu gehörende Erklärung der internationalen Föderation der Widerstandskämpfer F.I.R. gegen jüngste Angriffe in verschiedenen europäischen Ländern auf Denkmäler der sowjetischen Befreier von Krieg und Faschismus./LoG.

Was ist historisches Erkennen?*

Ernst Engelberg

Der Historiker hat es zunächst, so scheint es, nur mit Ereignissen zu tun. Darum spielte in der Geschichte der Geschichtswissenschaft die »Ereignis-geschichte« lange Zeit eine so überragende Rolle. Die vornehmliche Beschäf-tigung mit singulären Tatsachen, wie diesen und jenen interessant oder wichtig erscheinenden Ereignissen, erlaubte – wie es schien – ziemlich leicht die Deskription dessen, »wie es einmal gewesen ist«. Auch von der Quellenlage her fühlte man sich zu dieser Art von Deskription gedrängt.

Werfen wir beispielsweise vom theoretisch-methodologischen Standpunkt aus einen Blick auf das Ereignis des Streiks. Wir setzen voraus: Einen Streik können wir aufgrund von einwandfreien Quellen als eine zweifelsfrei festgestellte Tatsache betrachten. Im Vergleich mit den selbst wieder aus unzähligen Ereignissen zusammengesetzten Ereignis-Komplexen wie Krieg und Revolution sind Streiks relativ einfach zu erfassen. Aber auch sie haben methodisch ihre Tücken; wer sich mit Streikstatistik beschäftigt und dabei ökonomische und politische Streiks unterscheiden soll, weiß davon ein Lied zu singen. Wir haben es innerhalb des Ereignisses »Streik« mit einer mehr oder weniger großen Zahl von solchen Begebenheiten zu tun wie Streikversammlung, Aufruf, Streikpostenaktion und Polizeiintervention, Demons-trationen und vielleicht sogar Schießereien, Maßnahmen und Erklärungen der Unternehmer, Pressepolemiken usw. Man kann die Vielfalt dieser Art von Ereignissen innerhalb des Gesamtereignisses Streik nur dann einigermaßen adäquat wiedergeben, wenn man spezifizierende Termini wie Anlass, Begebenheiten, Taten, Vorfälle etc. gebraucht.

Ein Blick auf das »Ereignis« Streik

Selbst wenn wir die Tatsache des Streiks im Sinne eines Ereignisses noch auf der Ebene der deskriptiven Empirie analysieren, stoßen wir auf Erscheinungen, die nach Ort und Zeit vor und nach dem Ereignis existieren und wirken. Von Betrieben, Polizei und anderen Institutionen gar nicht zu sprechen. Vor allem sind da die Arbeiter und die Unternehmer. Sie bilden, noch rein empirisch betrachtet, deutlich unterschiedene soziale Gruppen, die sich in einer nicht zu übersehenden sozialen Konfliktsituation, nämlich Streik, befinden. Arbeiter und Unternehmer haben als Träger eines Klassenverhältnisses keinen singulären Charakter, sind sogar – jedenfalls im Vergleich zu dem einmaligen Ereignis Streik – als invariant anzusehen. Aber Arbeiter und Unternehmer, die schon auf der Ebene der empirischen Betrachtungsweise auf gesellschaftliche Strukturen hinweisen und deshalb als Strukturelemente bezeichnet werden können, existieren und wirken. Und was existiert und wirkt ist eine Tatsache. Aus dem Ereignis »Streik« können wir mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, dass in jedem geschichtlichen Ereignis der Doppelaspekt von sowohl spezifischen, individuellen wie auch allgemeinen, sich wiederholenden Elementen zu beachten ist.

Nun können wir wagen, die historischen Tatsachen zunächst in zwei Grundtypen einzuteilen; demnach unterscheiden wir zunächst zwischen Strukturelementen und Ereignissen im Denken und Handeln der Menschen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (ePUB)
9783961703555
ISBN (PDF)
9783961706556
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (September)
Schlagworte
krieg frieden kunst geschichte marxistische blätter

Autor

  • Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)

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Titel: Krieg, Frieden, Kunst: Geschichte erkennen
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