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Freiheit die wir meinen

Marxistische Blätter 4_2022

von Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)
©2022 140 Seiten
Reihe: Marxistische Blätter, Band 4_2022

Zusammenfassung

Mit Basics von: Hannes und Helmuth Fellner (Österreich), Claudius Vellay (Frankreich), Roland Boer (VR China) sowie Arnold Schölzel: Freiheit & Demokratie im ideologischen Kampf, Achim Bigus: Demokratie hinterm Werkstor?, Volkmar Schöneburg: Hans Litten – Anwalt gegen Hitler; Hermann Klenner: Naturrecht und: Hatte Marx eine Menschenrechtstheorie?


Weitere Themen: Wirtschaftskrieg (Manfred Sohn); DGB-Bundeskongress (Rainer Perschewski); Indien nach der Wahl (Peter Schreiber); Documenta fi fteen (Ulrich Schneider); Shelley 200 (Jenny Farrell); China aus sozialökologischer Sicht (Josef Baum); Rezensionen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Weckruf bei einer DGB-Demo zum 1. Mai 20221

Willi Parlmeyer vom Göttinger Friedensforum

Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuhörende, guten Morgen!1

Ich spreche gegen den Krieg und seine Propheten und Apologeten – Hofreiter, Merz, Strack-Zimmermann und Konsorten und ihr Geschrei nach Waffen und Flugverbotszonen.

Es heißt, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das wiederum heißt, vor dem Krieg hatten wir die Wahl der Mittel. Der Krieg läßt uns diese Wahl nicht mehr. Er will leben, er will dauern. Man kann hinein-, aber nicht hinausstolpern. Sein Elixier sind Waffen. Wie ein Feuer ohne Sauerstoff erstickt, so erstickt der Krieg, wenn keine Waffen nachgeschoben werden.

Hofreiter, Merz und Strack-Zimmermann wollen ihn nicht ersticken, sondern ihn entfachen. Er soll lodern durch die Zufuhr von Waffen, als gäbe es kein Morgen.

Niemand kann sich seine Nachbarn aussuchen. Auch Mexiko kann sich keinem russisch oder chinesisch geführten Militärbündnis anschließen. Russland und 140 Millionen Russen werden auch nach diesem Krieg und nach Putin noch da sein und bleiben, wo sie heute sind.

Polen, Russen, Balten und Ukrainer werden Wege des Zusammenlebens finden müssen. Krieg ist eine Sackgasse. Deutsche und Franzosen haben sie in ihrem Wahn, Erz- und Erbfeinde zu sein, beschritten, durchlitten – und schließlich hinausgefunden. Nicht weniger ist verlangt von Polen, Russen, Balten und Ukrainern.

Außenstehende wie Hofreiter, Merz und Strack-Zimmermann sollten aufhören, Öl ins Feuer zu gießen, diese Völker anzustiften und aufeinander zu hetzen. Aus ihrer Rede spricht nicht das Gewissen, dem sie angeblich allein verpflichtet sind.

Da spricht keine Ethik oder Moral

Da sprechen Rheinmetall und Krauss-Maffei!

Da sprechen die Märkte!

Da spricht das fiktive Kapital, das in Form von Derivaten, Optionen, Swaps- und Finanzwetten auf die Performance der Aktien der Rüs-tungsindustrie zirkuliert und in richtiges Geld zurückverwandelt sein will.

Wir fordern: Erstickt den Krieg! Entzieht ihm die Waffen!

Keine Waffenlieferungen! Keine Flugverbotszone! Die Waffen nieder!

Derweil gibt sich der Bundeskanzler staatsmännisch. Zugegeben, anders als bei Hofreiter, Merz und Strack-Zimmermann finden sich im Kanzleramt Reste des verlorenen Verstandes. Aber niemand soll erwarten, dass die Gesetzgebung zur Schaffung eines Sondervermögens mit Verfassungsrang von 100 Milliarden € zugunsten der Bundeswehr und dem 2-%-Ziel für den Rüstungshaushalt deshalb scheitern wird. Wenn er auch im konkreten Fall das Risiko des Atomkriegs erkennt, glaubt der Kanzler natürlich, künftigen Risiken mit Waffen begegnen zu können. Er irrt. Die Risiken, die er mit Waffen glaubt bannen zu können, werden mit ihnen erst erzeugt.

Mit dem 2-%-Ziel wird Deutschland nicht mehr nur wirtschaftlicher Champion und fiskalpolitischer Zuchtmeister Europas sein, sondern auch die größte Militärmacht des Kontinents, mit einem Rüstungsetat größer als der Russlands. Schon jetzt belaufen sich die Rüstungsausgaben der NATO-Mitglieder auf das 18-fache Russlands. Sicherheit vor Krieg hat das offenbar nicht geschaffen. Welches Vielfache des russischen Rüstungshaushalts schafft also Sicherheit? Keines!

Im Gegenteil, diese Rüstungsausgaben, für die keine schwarze Null, keine Schuldenbremse und keine Maastricht-Kriterien gelten, werden nicht zur Verfügung stehen, um die Probleme zu lösen, die die Menschheit als Ganze bedrohen. Die Ozeane ersticken in Plastikmüll, die Vegetation dringt in der Antarktis vor, während sie in der Sahelzone von der Wüste verdrängt wird. Zig-Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht und Hunderte von Millionen hungern, während wir erleben, wie zwei große Lebensmittelproduzenten, Russland und die Ukraine, sich in einem Krieg verzetteln. Statt Getreide produzieren sie Helden. Das Gezeter der Bellizisten ist der Aufruf zum Marsch der Lemminge über die Klippe.

Wir leben aber nicht nur alle unter denselben natürlichen Bedingungen. Wir leben auch alle unter denselben gesellschaftlichen Verhältnissen, den Bedingungen der kapitalistischen Weltgesellschaft nämlich. Wenn deren verhängnisvolle Gesetzmäßigkeiten uns demnächst in die nächste Finanzkrise stürzen, werden wir erleben, wie sie alle, USA, China, Russland, die EU, die Köpfe zusammenstecken und Maßnahmen verabreden, die dem zerstörerischen System noch einmal die Frist um ein paar Jahre verlängern sollen.

Vor diesem Hintergrund ist es archaisch, sich als Nationen gegeneinander aufhetzen zu lassen. Italienische und griechische Transportarbeiter haben eine Antwort gefunden, die ganz auf der Höhe der Zeit ist. Sie bestreiken die Waffentransporte.

  1. Verweigert euch dem Kriegsgeschrei!
  2. Kein Sondervermögen für die Bw, kein 2-%- Rüstungsetat!
  3. Soldaten Russlands und der Ukraine: Desertiert!
  4. Rekruten der Ukraine und Russlands: Verweigert den Kriegsdienst!
  5. Besser neutral als neutralisiert!

1 »Liebe Redaktion, beigefügt schicke ich Euch eine Rede, die während der offiziellen 1.Mai-Demo des hiesigen DGB auf einer Zwischenkundgebung auf dem Göttinger Marktplatz gehalten wurde. Wie auch woanders gab es im Vorfeld etwas Gerangel, die Rede wurde aber letztlich durchgesetzt und hat bei den rund 500 Zuhörern nicht nur keine hörbare Ablehnung, sondern viel Zwischen- und Schlussapplaus erhalten. Vielleicht eignet sie sich für eine Nachbetrachtung der ›Marxistischen Blätter‹ zum 1. Mai«, schrieb uns Manfred S. aus G. Anmerkung: Danke für den Hinweis. Wenn solche Inhalte als »Textbausteine« auch in offiziellen Musterreden »von oben« kommen, z. B. auch zum Antikriegstag am 1. September, ist die Gewerkschaftsbewegung ein Stück weiter auf dem Weg zu einer kraftvollen Friedensbewegung. LoG

Gastkommentar

Der Neue Impulse Verlag, Redaktion und Herausgeberkreis der Marxistischen Blätter trauern um

Stefan Kühner

Stefan hat mit seiner Erfahrung und Kompetenz aus vielfältigen Kampffeldern unsere Arbeit in Redaktion und Verlag nachhaltig qualifiziert, ob als Informatiker, Gewerkschafter und Betriebsrat in einem IT-Unternehmen, ob als aktiver Streiter für den Frieden oder als Internationalist in der Vietnam-Solidarität. Wir waren froh und stolz zugleich, ihn mit seinen vielen Talenten, seiner freundlich-sachlichen, unaufgeregten und uneitlen Art für die redaktionelle Mitarbeit an den Marxistischen Blätter gewonnen zu haben. Diese Zusammenarbeit war – auch während seiner kurzen Amtszeit als Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung – politisch und persönlich weit über seine thematischen »Spezialstrecken« hinaus bereichernd.

Stefan hat Spuren und ein Lebenswerk hinterlassen, an dem anzuknüpfen und das uns Verpflichtung ist. Er hat viele Schlachten geschlagen, die gegen den Krebs hat er verloren. Er wird uns fehlen.

Lothar Geisler, Geschäftsführer und verantwortlicher Redakteur

Sanktionen sind Wirtschaftskrieg und Zerstörung des Weltmarktes

Manfred Sohn

Die Überschrift »Bumerang Sanktionen« traf den Nagel auf den Kopf1. Von Woche zu Woche wird deutlicher, wie sehr die Sanktions»pakete«, der USA und der EU gegen Russland auch die eigene Bevölkerung treffen.

Nun wissen an Friedrich Engels geschulte Menschen, dass an einem bestimmten Punkt quantitative Zuwächse in eine neue Qualität umschlagen. Das ist auch hier der Fall. Noch von »Sanktionen« zu sprechen, ist so gesehen das westliche Pendant zum Begriff der »speziellen Militäroperation«, mit dem Russland seinen Krieg gegen die Ukraine vernebelt. Angesichts der Summe der einzelnen Maßnahmen und ihrer beabsichtigten Wirkung ist es treffender, von einem Wirtschaftskrieg der USA und der EU gegen Russland zu sprechen.

»Wir wollen«, sagte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Anfang Mai bei der Vorstellung des sechsten Brüsseler Sanktionspakets, »dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt.« Dazu dienen zum einen die Mittel, mit denen der Staat gestützt wird, auf dessen Seite sich die EU geschlagen hat. Sie wurden von der Kommission Mitte Mai auf 4,1 Milliarden beziffert, davon allein 1,5 Milliarden als Refinanzierung für Waffenlieferungen. Um den ausgemachten Feind Russland zu schwächen, benannte von der Leyen am 3. Mai drei Ziele:

  1. Der russischen Wirtschaft schaden
  2. Die Inflation in die Höhe treiben
  3. Die industrielle Basis erodieren

Auffallend ist dabei, dass das Ziel, »to rubble the ruble«, den Rubel also auf den Wert von Schotter herunterzudrücken, wie das US-Präsident Joseph Biden am 26. März in Warschau vollmundig als schon erreicht verkündet hatte, in dieser Auflistung fehlt. Die normative Kraft des Faktischen: der Rubel ist erstaunlich stabil.

Wirtschaft schaden

Hinsichtlich der russischen Wirtschaft deuten die bis Mitte Mai vorliegenden Zahlen nicht auf den erhofften Zusammenbruch hin. Die Arbeitslosenrate lag danach im März bei 4,1 Prozent2, damit deutlich unter der Arbeitslosenrate der EU, die im selben Monat mit 6,8 Prozent beziffert wurde und ungefähr auf dem Niveau der USA (3,6 Prozent), das hierzulande als Ausweis für den dortigen angespannten Arbeitsmarkt gilt. Am 2. April bereits resümierte der in London erscheinende »Economist« nüchtern bei der Bewertung der Sanktionswirkungen, »dass es wenig Evidenz dafür gibt, dass die ökonomische Aktivität (Russlands) sonderlich beeinträchtigt wäre« und stellte fest: »Wenn überhaupt irgendeine Volkswirtschaft damit klarkommen könnte, vom Rest der Welt abgeschnitten zu werden, dann wäre es die Russlands.«

Charakteristisch für die Überheblichkeit, die hierzulande alle Schlagzeilen beherrscht, ist die Darstellung des Auftritts des russischen Präsidenten Wladimir Putin am »Tag der Raumfahrt« in der FAZ mit der Überschrift »Gagarin verzweifelt gesucht«3. Im Text wird – ohne jede Konsequenz – der genauso richtige wie wichtige Hinweis Putins versteckt: Sowohl beim Start des »Sputniks« 1957 als auch bei Jurij Gagarins Weltraumflug 1961 hätten die USA und Westeuropa die damalige Sowjetunion vollständig von ihren Märkten abgeschottet und es hätte »eine komplette technologische Isolation geherrscht«. In der Tat ist es Ausdruck geschichts- und wirklichkeitsfremder westlicher Überheblichkeit, zu glauben, Länder wie Russland oder China könnten ohne westliche Technologien nur Vorschlaghämmer und Holzpantoffeln produzieren.

Ob ein neuer eiserner Vorhang zwischen Russland und der EU, durch den künftig keine Kanne Öl, kein Weizenkorn, kein Kubikmeter Gas und kein Geldschein mehr seinen Besitzer wechseln soll, der russischen Wirtschaft, die weiter Handel mit fast allen asiatischen, südamerikanischen und afrikanischen Ländern treibt, wirklich schadet, wird sich noch zeigen. Sicher ist aber schon jetzt: Der als »Sanktionen« verharmlosend titulierte Wirtschaftskrieg schadet – neben Drittländern – vor allem der EU. Fast alle ihre ökonomischen Kennziffern befinden sich seit Februar auf Kurs nach unten: Die Autoindustrie verzeichnet zweistellige Produktionsrückgänge, die Chemieindustrie warnt fast wöchentlich vor gravierenden Folgen eines Öl- oder gar Gasembargos und nicht nur im Umfeld der Erdölraffinerie Schwedt grassiert die Angst vor Massenarbeitslosigkeit. Unter der Überschrift »Kalter Herbst« kommentiert das Zentralorgan der Herrschenden in Deutschland am 16. Mai kurz und bündig: »Die Loslösung vom russischen Gas geht nicht ohne Wohlstandsverluste – so ist das im Krieg.« Es bleibt anzumerken: Ein europäisches Land wird mit Sicherheit keine Angst davor haben müssen, dass im Winter die Gas-, Öl- oder Kohleheizung kalt bleibt oder der Strom nicht mehr fließt, weil der Stromerzeuger eines dieser Energieträger nicht mehr auf Vorrat hat: Russland.

Inflation in die Höhe treiben

Noch deutlicher wird der Bumerang-Effektbeim zweiten Ziel der EU-Maßnahmen. Die Preise in Russland sind zwar angezogen, lagen aber im März mit 16,7 Prozent nicht allzu weit entfernt beispielsweise von der Tschechischen Republik, die im April 14,2 Prozent verzeichnete. Hierzulande sehen derweil 40 Prozent der Deutschen »Teuerung als größte Sorge«4.

Auch hier gilt offenbar die biblische Erkenntnis, die christliche Wirtschaftskrieger kennen müssten, dass in der Regel drei Finger auf denjenigen zurückweisen, der mit einem Finger anderen droht. Nicht in erster Linie als Folge des Schießkrieges, sondern als Folge des danach von den USA und der EU inszenierten Wirtschaftskrieges explodieren weltweit und auch in den kapitalistischen Zentren die Lebenshaltungskosten. Kartoffeln, meldete das statistische Bundesamt am 12. Mai, seien gegenüber dem Vorjahr um 92 Prozent teurer geworden, pflanzliche Produkte um 42 Prozent, tierische um 30 Prozent und das Amt fügt hinzu: »Das ist der höchste Preisanstieg gegenüber einem Vorjahresmonat seit Beginn der Erhebung im Jahr 1961.«

Industrielle Basis erodieren

Damit wären wir beim dritten Finger, der auf die EU zurückweist. Das dritte Ziel, das die EU-Kommissionspräsidentin ausgegeben hat, ist gegenüber dem ersten etwas wenig trennscharf. Gemeint sind offensichtlich nicht nur kurz- oder mittelfristige, sondern langfristige Schädigungen der industriellen Basis Russlands. Der Glaube, ein solches Ziel durch die bisher verhängten Sanktionen zu erreichen, verweist auf ein tiefes Missverständnis, das hätte vermieden werden können, wenn nicht im Wertewesten die Arbeitswertlehre, die von Aristoteles über Ricardo bis Marx ein Schlüssel zum Verständnis der Welt der Wirtschaft war und ist, aus dem Bewusstseins verdrängt worden wäre.

Als die Wirtschaftskriegsmaßnahmen noch geplant wurden, gab es Ermunterung beispielsweise von Hermann Simon, dem wahrscheinlich gut verdienenden Gründer der »Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partner«, der am 22. Februar in der FAZ beteuerte, die Wirtschaftskraft Russlands werde völlig überschätzt. Sie betrage nur »7,2 Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung« oder »10,9 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung« – mit jeweils abnehmender Tendenz. Das gelte auch für den Export. Er sei »weniger als ein Drittel der deutschen Exporte«, seine Struktur »extrem einseitig« und bestünde zu »drei Vierteln« auf Öl und Gas. Das sollte heißen: Ein Wirtschaftskrieg gegen einen solchen Zwerg würden die Riesen USA und EU leicht gewinnen.

Gäbe es noch marxistisch gebildete Menschen im deutschen akademischen Betrieb, die im Westen seit der Ära der Berufsverbote und im Osten seit der dortigen Konterrevolution vertrieben wurden, hätten sie darauf hingewiesen, dass dieser Analyse eine Verwechslung von Tausch- und Gebrauchswerten zugrunde liegt. Denn die erwähnte Rechnung erfasst nur Tauschwerte. Die Bedeutung von Warengruppen für das Leben der Menschen hat aber mit ihrem Tauschwert wenig zu tun. Das wird jedem klar, der gedanklich in einem ersten Schritt die 1,5 Prozent Erwerbstätige, die in der Landwirtschaft Deutschlands tätig sind, für ein Jahr die Arbeit einstellen lässt und in einem zweiten Schritt beliebige 1,5 Prozent der viel größeren Gruppe im politischen Überbau – also Ministerien, Parteien, Parlamenten. Letztere 1,5 Prozent erwirtschaften – tauschwertbezogen – weit mehr als erstere, aber das Fehlen der erstgenannten 1,5 Prozent würde uns allen deutlich schneller auf den Magen schlagen als das Fehlen der letztgenannten 1,5 Prozent.

Das, was die blinde Ökonomie hierzulande nicht sieht, lernen 82 Millionen Bundesbürger:innen nun durch leere Mehlregale bei Aldi, teure Nudeln, unerschwinglichen Sprit und kalte Wohnungen: Nicht die industrielle Basis Russlands erodiert, sondern die industrielle Basis Deutschlands gerät in Gefahr. Das Geschäftsmodell des Wertewestens beruht in seinem Kern darin, aufgrund seiner historisch durch Ökonomie, Politik und Militär erkämpften Dominanz den Tausch- über den Gebrauchtwert zu stellen und dies auch weltweit durchsetzen zu können: Rohstoffe mit hohem Gebrauchswert werden zu niedrigem Tauschwert eingekauft, unter Führung der westlich beherrschten Konzerne bei Hinzufügung hochqualifizierter Arbeitskraft angereichert und der in ihnen enthaltene Mehrwert wird zum Schluß zu hohem Tauschwert auf den Weltmärkten realisiert. Jörg Goldberg brachte es in einem Webinar der Friedensbewegung zum Thema »Wirtschaftskrieg als Teil des Krieges« auf die Formel: »Ein Weizenkorn wird einmal produziert und 99mal gehandelt.«

In Krisen zählt aber nicht der Tausch-, sondern der Gebrauchswert einer Ware. Wer glaubt, Russlands Durchhaltevermögen hinge davon ab, dass US-amerikanische Unternehmen Rindfleischscheiben zwischen zwei Brötchenhälften packen dürfen oder dass US-amerikanische Programme auf chinesischen Smartphones laufen, lernt nun, dass in Krisen die Belieferung mit Weizen, Nickel, Pottasche, Öl und Gas – also Dingen, die vor der Krise eher geringe Tauschwerte hatten – das ist, was zählt.

Verzweiflungswaffe Enteignungen

Woche für Woche wird klarer, dass die EU ihre Kräfte in diesem von ihr gemeinsam mit den USA ausgerufenen Wirtschaftskrieg völlig überschätzt. Das wurde spätestens deutlich, als die EU-Kommission Mitte Mai ein gewaltiges Schuldenprogramm vorschlug, mit dem die auf mehrere »Hunderte Milliarden« Euro bezifferten Wiederaufbaukosten für die Ukraine finanziert werden sollten, wovon die EU »einen Hauptteil« tragen solle.5 Dagegen sträuben sich die in der allgemeinen Kriegsbesoffenheit halbwegs nüchtern bleibenden Kräfte der hiesigen herrschenden Klasse. Denn ein solches Schuldenprogramm würde einen Trend beschleunigen, der seit Anfang dieses Jahres erheblich an Tempo gewonnen hat. Anders als großspurig verkündet schwächelt auf den internationalen Devisenmärkten zurzeit nicht etwa der Rubel. Der wird (Stand Mai) zu ungefähr denselben Wechselkursen gegenüber dem Dollar gehandelt wie vor Mitte Februar. Es ist der Euro, der zunehmend weniger nachgefragt wird. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Russland in der EU nichts mehr gegen Euro kaufen kann, Russland also als Käufer dieser Währung ausscheidet. Zweitens hat das Einfrieren der russischen Devisen rund um den Globus zu Vorsicht geführt, allzu große Bestände in Staaten zu halten, von denen niemand mehr sicher sein kann, ob die dort liegenden Devisen nicht als Waffe gegen unbotmäßige Länder verwendet werden könnte. Auf einen dritten Faktor wies kürzlich die chinesische Botschaft in Deutschland im Zusammehang mit dem Ersatz von russischem Erdgas durch US-amerikanisches Fracking-Gas hin: »Die EU wird das amerikanische Flüssiggas voraussichtlich in US-Dollar und nicht in Euro bezahlen, was seine Dominanz im internationalen Zahlungssystem festigen wird. Das russische Erdgas wurde in Euro bezahlt, was ihn gegenüber dem Dollar gestärkt … hat.«6

Die ökonomische Lage der EU gerät in immer größeren Widerspruch zu den eigenen Möglichkeiten. Das führt zu zunehmend verzweifelten Gedankenspielen in politischen Führungszirkeln. Dazu gehören Überlegungen, die von den USA und der EU eingefrorenen russischen Devisen im Wert von 300 Milliarden Dollar genauso zu enteignen wie die russischen Tochterunternehmen, die bislang Deutschland im Auftrag von Gazprom und anderen Unternehmen mit Energie versorgt haben. Die Herrschenden legen damit die Axt an ihre eigenen ideologischen Wurzeln – und an eine weitere Wurzel ihrer eigenen Entwicklung.

Geschichtliche Aufgabe versemmelt

Zu Hochzeiten der Globalisierung gab es – oft in Verbindung mit der Erinnerung an den 200. Geburtstag von Karl Marx 2018 – weltweit eine Verneigung vor dem »Kommunistischen Manifest«, in dem er und Friedrich Engels auf den systemimmanenten Drang zur Herstellung eines einheitlichen Weltmarktes hingewiesen hatten: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet.«7

Zehn Jahre nach diesem 1848 veröffentlichten Manifest formuliert Marx in einem Brief an Engels diesen Gedanken noch schärfer: »Wir können es nicht leugnen, daß die bürgerliche Gesellschaft zum 2tenmal ihr 16tes Jahrhundert erlebt hat, ein 16tes Jahrhundert, von dem ich hoffe, daß es sie ebenso zu Grabe läutet, wie das erste sie ins Leben poussierte. Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluß von China und Japan zum Abschluß gebracht.«8

Im folgenden Verlauf dieses Briefes wird übrigens auch die Frage aufgeworfen, ob nicht eine mögliche Revolution auf dem europäischen Kontinent (»diesem kleinen Winkel«) nicht »notwendig gecrusht«, also zerdrückt wird, »da auf viel größerm Terrain das movement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendant (aufsteigend – M.S.) ist?«9

Aber die Tendenz schien beiden damals schon eindeutig: Herstellung eines einheitlichen Weltmarktes. Unterbrochen von den imperialistischen Weltkriegen, die von 1914 bis 1945 diesen Prozess zerrissen hatten, und vor allem gestört vom Aufstieg der ersten sozialistischen Weltmacht, der mit der Oktoberrevolution 1917 begann und 1990 mit der Auflösung der Sowjetunion endete, schien die Bourgeoisie zu Beginn unseres Jahrhunderts am Ziel: Sie war drauf und dran, ihre »eigentliche Aufgabe«, die »Herstellung des Weltmarkts«, zu erfüllen. Russland lag am Boden und sollte die Funktion eines Lieferanten für Rohstoffe und Halbfertigprodukte zugewiesen bekommen. China sollte in den kapitalistischen Weltmarkt so integriert werden, dass über kurz oder lang auch seine sozialistische Orientierung im Sande verlaufe. So war der Plan, um die »eigentliche Aufgabe« zu erfüllen.

Nun liegt das alles in Scherben. Etwas zerknirscht musste die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« anlässlich des Besuchs von Ministerpräsident Narendra Modi am 3. Mai 2022 einräumen: »Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat Indien seine Ölimporte aus Russland deutlich erhöht.« Wenige Tage vorher war der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in Japan – neben Südkorea und Singapur das einzige Land des größten Kontinents, das sich dem Sanktionsregime der NATO-Staaten angeschlossen hat.

Das Hauptergebnis des Wirtschaftskrieges ist dies: Die »Bourgeoisie«, um im Sprachbild des 19. Jahrhunderts zu bleiben, vermasselt ihre »eigentliche Aufgabe« der Herstellung eines Weltmarkts »wenigstens seinen Umrissen nach«. Stattdessen deutet sich eine Zweiteilung des Weltmarktes an. Auf der einen Seite steht der fast geschlossene asiatische Kontinent, in dem Indien, China, Russland, Iran und bis auf drei Außenseiter alle anderen Länder miteinander Handel treiben. Dieser Gruppe haben sich die meisten afrikanischen und sogar die meisten südamerikanischen Länder angeschlossen, die ebenfalls weiter Handelsschiffe nach Russland schicken und von dort empfangen. Westeuropa und die USA aber haben sich mit ihren wenigen Getreuen von den russischen Rohstoffen und Produkten abgeschnitten. Den Preis zahlen vor allem völlig unbeteiligte Länder, denen jetzt der Weizen knapp und das Brot unerschwinglich teuer wird. Wobei das – so Jörg Goldberg – wenig mit der Blockade ukrainischer Häfen zu tun habe und generell »kein Mengen-, sondern ein Preisproblem« sei. Russland erwarte eine »Rekordgetreideernte«, plane Exportsteigerungen, die den Exportrückgang der Ukraine ausgleichen könne.

Marx’ Hoffnung, dass schon das 19. Jahrhundert den Kapitalismus »zu Grabe läutet«, hat sich nicht erfüllt. Auch das 21. Jahrhundert wird die Herstellung einer einheitlichen Weltwirtschaft, diese »eigentliche Aufgabe« der kapitalistisch geprägten Welt, wohl kaum erleben. Dazu bedarf es einer Gesellschaft, die nicht auf dem Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln mit dem Ziel beruht, aus beidem möglichst viel Profit herauszuschlagen. Die Welt als einer wirtschaftlichen Einheit zum Wohle aller Menschen dieses Planeten wird es nur auf sozialistischem Wege geben.

1 Anne Rieger, Bumerang Sanktionen, in: Marxistische Blätter 3_2022, S. 20. Zum »Sanktions-Amoklauf der USA« siehe auch Jörg Kronauer in MBl 6_2019.

2 Daten auch im folgenden, soweit nicht anders angegeben nach: The Economist, Economic & financial indicators, Economist 14th May 2022, page 84.

3 FAZ 13. April 2022.

4 Göttinger Tageblatt, 18. Mai 2022.

5 FAZ, 18. Mai 2022.

6 Newsletter der chinesischen Botschaft in Deutschland, 4. Ausgabe 2022, S. 10.

7 Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx Engels Werke (MEW) Band 4, Berlin 1974, S. 465 f.

8 Brief von Marx an Engels vom 8. Oktober 1858, in: MEW 29, Berlin 1963, S. 360.

9 ebenda.

Sanktionen sind Wirtschaftskrieg und Zerstörung des Weltmarktes – Manfred Sohn

22. DGB-Bundeskongress: »Die Zukunft gestalten wir!«

Rainer Perschewski

Vom 9. bis 12. Mai tagte in Berlin das »Parlament der Arbeit«, wie der Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) seit dem Ende des II. Weltkrieges genannt wird. Die 400 Delegierten aus den acht Mitgliedsgewerkschaften beschäftigten sich mit den in über 70 Anträgen formulierten gemeinsamen strategischen Grundlinien und Schwerpunkten der gewerkschaftlichen Arbeit der nächsten vier Jahre.1

Das Augenmerk der Öffentlichkeit lag aber zunächst auf dem personellen Wechsel an der Spitze des DGB. Erstmalig seit der Gründung eines Dachverbandes der Deutschen Gewerkschaften vor gut 130 Jahren ist mit Yasmin Fahimi eine Frau als Vorsitzende gewählt worden. Dieser Wechsel an der Spitze steht aber für mehr. Im DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften steht ein Generationenwechsel bevor. In den nächsten 10 Jahren scheiden viele eben immer noch hauptsächlich männliche Funktionsträger aus. Mit Yasmin Fahimi betritt eine Gewerkschafterin die Bühne, die in der Gewerkschaftsarbeit gewachsen ist. Auch ihr Engagement in der SPD weist sie als Frau vom Fach aus, die in den Bereichen Betrieb und Arbeit zu Hause ist.

In ihrer ersten Grundsatzrede als Vorsitzende machte Yasmin Fahimi deutlich, dass in Zeiten fundamentaler Veränderung, Krisen und Fehlentwicklungen in der Politik Gewerkschaften gebraucht werden2: »Wir sind Schutzmacht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und fordern das Sicherheitsversprechen des Sozialstaates ein! Dieser Auftrag hat nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil! In unserer Zeit fundamentaler Veränderung ist gewerkschaftliche Gestaltungskraft dringend notwendig, genauso wie gewerkschaftlicher Schutz. (…) ›Zukunft gestalten wir!‹ Nichts weniger ist unser Maßstab! Das ist die Botschaft, die von diesem Parlament der Arbeit ausgehen soll. ›Zukunft gestalten wir!‹ – Hartnäckig, kämpferisch und erfolgreich.« Inhaltlich umriss die neue Vorsitzende die anstehenden Themen. Es brauche einen Aufbruch, der die Wirtschaft demokratischer, die Gesellschaft widerstandsfähiger und das Leben nachhaltiger, freier, sicherer und menschlicher mache. Einen solchen Aufbruch könne es nur mit einer starken Gewerkschaftsbewegung geben. Viele der angesprochenen Themen stehen im Widerspruch zur Praxis der SPD-geführten Regierung. So betonte sie, dass die Gewerkschaften das Ziel einer klimaneutralen Wirtschaft und Gesellschaft unterstützen. Aber: »Schaffen wir einen Wandel, der für alle – auch die Schwächsten im Land – Vorteile bringt? Ein Wandel, der nur ökologischen oder nur ökonomischen Maximen folgt und den lästigen sozialen Reparaturbetrieb uns oder den Sozialkassen überstülpt, ist keine verantwortliche Gestaltung der Zukunft. Diese Rollenverteilung machen wir nicht mit.« Es brauche ein Gesamtentwurf für eine Transformation. In dem Zuge sprach sie sich gegen einen Stopp russischer Gaslieferungen aus. Zur Gestaltung der Transformation fand sie ebenso klare Worte: »Dazu brauchen wir mehr Gemeinwohlorientierung und eine funktionierende Daseinsvorsorge für die grundlegenden Versorgungsansprüche des täglichen Lebens. Und das gilt erst recht, wenn Leistungen aus unseren Beiträgen zur Sozialversicherung finanziert werden. Der Transformationsalltag sieht leider viel zu oft anders aus.« Als negatives Beispiel nannte sie das Gesundheitswesen. Dazu forderte sie eine Sondervermögensabgabe, die die Länder überhaupt erst in die Lage versetzen würden, die anstehenden Aufgaben zu leisten. »Wieviel mehr historische Momente als die Pandemie und den Ukraine-Krieg brauchen wir, um endlich eine solche Maßnahme zu begründen?! Und die Vermögenden würden eine neue Steuer kaum spüren.« Klare Ansage auch zur Haushaltspolitik: »Die Schuldenbremse bremst, ja richtig. Und zurzeit nur unsere Zukunftsperspektiven! Also weg damit!«

Begleitet wurde der ganze Kongress von Auftritten politischer Mandatsträger, angefangen vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung, dem Bundeskanzler Olaf Scholz, über die Regierende Bürgermeisterin in Berlin Franziska Giffey nach der Grundsatzrede, bis hin zum Arbeitsminister Hubertus Heil kurz vor der Antragsdebatte. Die Delegierten des Kongresses betrachteten das als politische Wertschätzung, nicht mehr und nicht weniger, denn in der späteren Antragsdebatte gab es sehr viel Kritik an der Regierungsarbeit. Inhaltlich war es aber einzig der Bundesarbeitsminister, der auf dem Kongress mit seinen Aussagen die Inhalte der Gewerkschaften bediente. Er scheint in der Regierung einer der wenigen zu sein, der Inhalte wie Mindestlohn, Rente, soziale Sicherung unter der Überschrift »Gute Arbeit« im Blick hat und wusste, wo er auftrat. Heil betonte in seiner Rede, dass er soziale Maßnahmen des Staates nicht für »nice-to-have« in wirtschaftlich guten Zeiten hält. Dafür stehe er auch in der aktuellen Krise. Unterbrochen wurde sein Vortrag kurz durch eine Aktion der DGB-Jugend für eine umlagefinanzierte Ausbildungsverpflichtung der Unternehmen. Die gesetzliche Verankerung von Ausbildungsgarantie und ein bundesweiter Zukunftsfonds für Ausbildung gehören zu den Forderungen. Die DGB-Jugend kündigte an, den Erfolg der Ausbildungsgarantie daran zu messen, wie viele neue betrieblichen Ausbildungsplätze von der Bundesregierung geschaffen werden.

Die Reden von Steinmeier und Scholz waren geprägt von der aktuellen Situation durch den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine. Dieses Ereignis war nicht nur Schwerpunkt der Reden zum Kongressbeginn. Es war an allen Kongresstagen keine Debatte, in der die Betroffenheit nicht deutlich wurde. Der DGB-Bundesvorstand hatte sich auf einen Initiativantrag gegen den Krieg in der Ukraine geeinigt. Dieser umfasst vier wesentliche Hauptaussagen:

  1. Die russische Regierung muss den Krieg gegen die Ukraine sofort beenden!
  2. Umfassende humanitäre Hilfe und Schutz für Geflüchtete aus der Ukraine gewährleisten.
  3. Transformationskurs halten, wirtschaftliche und soziale Kriegsfolgen abfedern.
  4. Die Rahmenbedingungen für Frieden und Sicherheit in Europa neu bewerten.

Im Antrag heißt es: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern die russische Regierung auf, alle Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen, ihre Truppen zurückzuziehen und die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine wiederherzustellen.« Die internationale Staatengemeinschaft solle neben der Unterstützung der Ukraine »auch nach diplomatischen Lösungen […] suchen, um einen sofortigen Waffenstillstand und ein Ende des Krieges zu ermöglichen«. (…) »Wir treten für eine Bundeswehr ein, die ihrem grundgesetzlichen Auftrag als Verteidigungsarmee gerecht werden kann. Allerdings fordern der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften die Bundesregierung zugleich auf, nicht an der von ihr angekündigten Absicht festzuhalten, den deutschen Rüstungshaushalt dauerhaft auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO oder darüber hinaus aufzustocken. Diese Festlegung sowie eine Verankerung des Zwei-Prozent-Ziels im Grundgesetz lehnt der DGB ab.« Der Antrag formuliert den Respekt der Gewerkschaften vor den Entscheidungen, die die Bundesregierung zu treffen habe, die neue Vorsitzende macht auch deutlich: »(…) aber wir teilen nicht alles, was derzeit auf den Weg gebracht wird« und mit Blick auf die Rüstungsausgaben: »In unserem leistungsstarken Land für alle kommenden Generationen ein Zwei-Prozent-Ziel für Verteidigung festzulegen, halte ich für willkürlich und grundfalsch.« Außerdem dürfe die Notwendigkeit einer angemessenen Ausstattung der Bundeswehr »nicht zum Freifahrtsschein für Militärausgaben werden«.

Das geplante Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Mrd. Euro wird als »nicht sinnvoll« gesehen und »vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften kritisch beurteilt.« Alternativ sollten die Mittel für die »Entwicklungszusammenarbeit und für die Konfliktprävention künftig mindestens der Dynamik der Ausgaben für Verteidigung folgen«. Ziel muss es sein, »zu (…) einer allgemeinen und weltweit kontrollierten Abrüstung zurückzukehren. Es muss alles getan werden, um die neue Politik militärischer Konfrontation zurückzudrängen und einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf zu verhindern.« Auf Antrag der ver.di-Delegierten wurde noch ergänzt: »Wir treten für eine weltweite Ächtung von Atomwaffen ein. Wir lehnen die nukleare Teilhabe Deutschlands ab. Wir treten dafür ein, dass die Lagerung von Atomwaffen in Deutschland endlich beendet wird.«

Der Antrag wurde breit und auch kontrovers diskutiert. Allerdings spielte die Vorgeschichte des Krieges, so auch die Politik der NATO, ihre Osterweitung und die ökonomischen wie geopolitischen Interessen der USA keine Rolle in der Diskussion. In der Beurteilung als völkerrechtswidriger Krieg und in seinen Auswirkungen waren sich die Delegierten einig. Unterschiede wurden in der Haltung zur Politik der »Zeitenwende« der Bundesregierung deutlich. Hauptdiskussionspunkt war eine klare Ablehnung statt einer nur kritischen Beurteilung des Sondervermögens für die Bundeswehr. Für eine klare Ablehnung konnte nur ein Drittel der Delegierten gewonnen werden. Yasmin Fahimi machte deutlich, dass mit diesem Antrag die Diskussion um die Friedenspolitik in den Gewerkschaften erst begonnen habe. Sie forderte dazu auf diese Diskussionen in den nächsten Monaten zu führen. Der Gesamtantrag wurde in der Schlussabstimmung mit nur einer Gegenstimme verabschiedet. Erwähnenswert ist noch der vom Kölner DGB-Vorsitzenden Wittich Roßman eingebrachte und beschlossene Initiativantrag, der sich mit einer neuen Friedens- und Sicherheitsarchitektur beschäftigt. Darin fordert der DGB nun eine »Wiederbelebung der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie für einen strategischen Dialog mit allen Staaten ein, die über Atomwaffen verfügen, mit dem Ziel, Kernwaffen zu reduzieren, deren Weiterverbreitung auszuschließen«.

Die weitere Antragsdebatte beschäftigte sich mit den Leitanträgen. Ein »Dachantrag« beschäftigte sich mit strategischen Grundlinien unter der Überschrift »Zeit für einen demokratischen und wirtschaftlichen Aufbruch«. Darunter wurden einzelne Schwerpunkte gesondert herausgearbeitet: »Arbeit der Zukunft gestalten«, »Transformation gerecht gestalten, in die Zukunft investieren« und »Solidarisch zusammenstehen: Für ein soziales Europa als Motor für eine faire Globalisierung«. Dazu gab es weitere untergliederte Anträge, die sich mit Detailfragen beschäftigten. Hier spielten Themen wie Tarifpolitik, Mitbestimmung, Arbeitsrecht, Handlungsfähiger Staat, Kommunales, Verkehr und Ökologie eine Rolle. Im Gegensatz zu früheren Kongressen sind die Anträge vorher in Arbeitsstäben unter den Mitgliedsgewerkschaften genau abgestimmt worden. Diese Vorbereitung führte zwar dazu, dass der Kongress relativ harmonisch ablief, dafür entzündeten sich an einigen Detailfragen Diskussionen. Neben der Rüstungsdebatte war dies bspw. in den Anträgen zur sozial-ökologischen Transformation die Rolle des öffentlichen Schienenverkehrs. Einig war sich der Kongress, dass die Kapazitäten im öffentlichen Schienenverkehr ausgeweitet werden müssen, dass der Schienenverkehr ein wichtiges Mittel ist, um Klimaschutz umzusetzen und das Vergabeverfahren der falsche Weg ist. Ein Änderungsantrag aus der ver.di-Delegation für eine Umorientierung der Verkehrspolitik von motorisiertem Individualverkehr auf den öffentlichen Personennah- und -fernverkehr scheiterte nach Diskussion jedoch am Widerstand aus der IG Metall – ver.di vertritt die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst und die IG Metall die Beschäftigten der Autoindustrie.

Das Fazit des Bundeskongresses muss differenziert ausfallen. Der Kongress hat mit seinen Themen den Anspruch der Gewerkschaften unterstrichen, Gestaltungsmacht zu sein. Die thematische Auseinandersetzung umfasste das gesellschaftliche Leben der abhängig Beschäftigten und darüber hinaus von der Bildung bis in die Rente, genau das, was von einem »Parlament der Arbeit« zu erwarten ist. Er spiegelte in den Meinungen zwar auch eine gewisse Spannbreite wider, zeigte aber gleichzeitig eine demonstrative Geschlossenheit, was sich auch in den Stimmenergebnissen für die Wahl in den Bundesvorstand ausdrückte. Gestaltungsmacht zu sein bedeutet aber auch, die nötige Organisationsmacht einzusetzen. Den Willen dazu unterstrichen Debattenbeiträge, aber auch die Rede der neuen Vorsitzenden Yasmin Fahimi. Verschiedenen Anträge tragen eine Rückbesinnung auf gewerkschaftliche Inhalte, die zeitweise in den Hintergrund gerieten: Wenn ein »update« für die Daseinsvorsorge gefordert wird, ein handlungsfähiger Staat, der eine flächendeckende Daseinsvorsorge gewährleisten soll, so heißt es Abschied nehmen von den Privatisierungen oder marktliberalen Ansätzen. Die Forderung nach einem demokratischen und wirtschaftlichen Aufbruch heißt auch wieder konkretere Visionen zu entwickeln, wie ein Staat gestaltet sein muss, der wirklich ein Staat im Sinne der Beschäftigten ist. Dazu gehört auch, sich stärker in die gesellschaftlichen Debatten einzumischen. Der Aufruf von Yasmin Fahimi, auch über den Standort in Sachen Friedenspolitik zu diskutieren, sollte daher aufgegriffen werden.

1 Hinweis: Alle Zitate aus den Anträgen beziehen sich auf die im Internet hinterlegte Dokumentation des DGB-Bundeskongresses, www.bundeskongress.dgb.de.

2 Hinweis: Die Grundsatzrede der neuen DGB-Vorsitzenden ist vollständig hier nachzulesen: https://www.dgb.de/presse/++co++20b468e0-cee3-11ec-866c-001a4a160123, alle Zitate beziehen sich auf die hier hinterlegte Rede.

Jugend gegen Krieg und Aufrüstung

Sophia Bernatek

Seit der weiteren Eskalation des Konflikts in der Ukraine steigert sich die ideologische und militärische Aufrüstung in Deutschland. Während sich antirussischer Rassismus breit macht und bei Markus Lanz im öffentlichen Fernsehen gesagt werden darf, dass »die Russen« zwar europäisch aussehen, sich kulturell aber umfassend von »den Europäern« unterscheiden und der Einmarsch Russlands eine Zeitenwende markiere, nimmt die Aufrüstung massive materielle Formen an: Ein 100 Milliarden schweres Sondervermögen zur Ausstattung der Bundeswehr wurde verabschiedet, für die langfristige Aufrüstung wird sogar eine Grundgesetzänderung forciert. Das ans Bruttoinlandprodukt gekoppelte 2-Prozent-Ziel der NATO soll sogar übererfüllt werden.

Mittlerweile wurde durch den Bundestag beschlossen, dass schwere Waffen an die ukrainische Kriegspartei geliefert werden, die Ausbildung ukrainischer Soldaten findet in Deutschland statt. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags beurteilt dies als »Verlassen des Bereichs der Nichtkriegsführung«. Laut Umfragen sind sich die Bundesbürger uneinig darüber, was sie vom Ankurbeln der Eskalationsspirale durch die deutsche Regierung halten sollen: die Akzeptanz von schweren Waffenlieferungen sank zuletzt von 55 auf 46 %.

Breites Jugendbündnis gegen den Krieg

Einigkeit fanden dagegen 300 Jugendliche bei der Antikriegs-Jugendkonferenz am 23. April 2022 im DGB-Haus in Frankfurt. Organisiert wurde das Treffen von einem breiten Jugendbündnis mit dem Namen »Jugend gegen Krieg!«. Dazu gehörten unter anderem die SDAJ, die GEW Jugend NRW, die Naturfreundejugend NRW, die DIDF Jugend, der SDS, Jugend gegen NATO Bonn, die Sozialrevolutionäre Aktion, der Internationale Jugendverein Deutschland und Linksjugend [’solid] Nord-Berlin. Zusätzlich hatten drei Bezirksvorstände der Ver.di-Jugend beschlossen, die Konferenz unterstützen zu wollen. Durch das Drängen des Ver.di-Bundesvorstands wurde dieser Beschluss aus nicht nachvollziehbaren inhaltlichen Gründen annuliert. Daraufhin initiierten anwesende Ver.di-Jugendmitglieder einen offenen Brief, um gegen dieses Vorgehen, das mit den demokratischen Grundsätzen der Gewerkschaften in Konflikt steht, zu protestieren.

Dass diese Anti-Kriegs-Jugendkonferenz auch bei Kräften, die langjähriger Teil der Friedensbewegung waren und sind, Kritik hervorruft, zeigt, wie schwer es aktuell ist, Einigkeit in der aktuellen Kriegssituation herzustellen. Bei vielen Friedensfreundinnen und -freunden werfen die aktuellen Ereignisse Fragen auf. Grundsätze wie ein klares »Nein!« zu Waffenlieferungen oder das Benennen der NATO als Kriegsbündnis, die jahrelang als unumstößlich galten, geraten ins Wackeln oder werden gar ganz verworfen. Umso wichtiger, dass die Organisatorinnen und Organisatoren der Jugendkonferenz sich auf eine gemeinsame Losung und Ausrichtung der Konferenz einigen konnten: Gegen die Kriegstreiber im eignen Land, gegen Rüstungsindustrie und Bundesregierung! Stoppt die Aufrüstung! Geld für Bildung statt für Bomben! Stoppt die Waffenlieferungen und alle Kriegseinsätze der Bundeswehr! Raus aus der NATO!

Das Märchen vom fehlenden Geld

Gerade Jugendliche trifft dieser Krieg besonders: Sie erleben tagtäglich anhand der maroden Schulgebäude, zu großer Klassen, unterfinanzierten Ausbildungen, dem Entlanghangeln von einem befristeten Job zum nächsten und einer umfassenden Privatisierung von Bildung, dass Geld für ihre Interessen an jeder Ecke fehlt. Wenn nun gleichzeitig 100 Milliarden für die Bundeswehr ausgegeben werden, steht das immer wieder aufgetischte Märchen, »es sei kein Geld da«, mehr als Infrage: Denn Geld ist genug da, allerdings nur zur Sicherung deutscher geopolitischer und Profitinteressen, wozu eben auch eine gut ausgerüstete Armee zählt. Für diese Interessen wollen sich die Unterstützer des »Jugend gegen Krieg!«-Bündnisses jedoch nicht hergeben.

Ein breites Angebot an Vorträgen und Workshops

In diesem Sinne gelang es dem Bündnis ein vielfältiges und praxisnahes Programm auf die Beine zu stellen. Eröffnet wurde die Konferenz durch Andrea Hornung (Bundesvorsitzende SDAJ) und Yusuf Karaaslan (Sprecher:innenrat der Linksjugend [’solid] Hessen). Anschließend sprach Sevim Dağdelen (MdB von DIE LINKE): Sie skizzierte in ihrer Rede die Aufgabe der deutschen Friedensbewegung angesichts der Aufrüstungs- und Kriegshetze, und sparte dabei auch nicht aus, dass ihre Partei sich mit einem klaren Antikriegskurs schwertue. Ihre Rede beendete sie mit Aufgaben der Friedensbewegung und nannte unter anderem: Den Kampf gegen Aufrüstung hier in Deutschland führen, den Einsatz gegen antirussischen Rassismus und eine klare Haltung gegen Waffenlieferungen. Im Anschluss begannen die vier Expertengespräche:

Jörg Kronauer, Journalist und Autor, vor allem zur deutschen internationalen Politik, referierte die politökonomischen Ziele der deutschen »Auslandseinsätze« der letzten 30 Jahre. Demzufolge umfassten Deutschlands geostrategischen Ziele in den letzten Jahren vor allem die »Absicherung« der die EU umgrenzenden Räume auf dem Balkan, Nordafrika und Vorderasien und mit ihnen entsprechende Rohstoffquellen und Handelswege – alles im Sinne der eigenen geopolitischen und ökonomischen Interessen.

Jürgen Wagner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der »Informationsstelle Militarisierung«, referierte zur deutschen Aufrüstungspolitik. Er umriss drei Phasen der deutschen Aufrüstung seit den 1990ern: In der ersten Phase von den 1990ern zu den 2000ern hätte sich die deutsche Aufrüstung nach dem Kalten Krieg wieder »normalisiert«. In der zweiten, seit 2014, attestierte sich der deutsche Imperialismus selbst neue »Weltmachtsansprüche« (u. a. beschrieben in den Weißbüchern der Bundeswehr). In der dritten, aktuellen, seit der Scholz’schen »Zeitenwende«, böte sich die Gelegenheit eines nie dagewesenen Aufrüstungsprogramms. Davon profitiere vor allem die eigene Rüstungsindustrie, denn vorrangiges Ziel sei es immer (trotz Einkäufen bei »Partnern« wie den USA) einen großen Teil der Rüstung im eigenen Land zu produzieren, um sich möglichst wenig abhängig von anderen Nationen zu machen. Klar sei zudem, dass die Aufrüstung zulasten der Sozialpolitik nach innen »gegenfinanziert« werden müsse, besonders wenn an der Schwarzen Null festgehalten werde.

An diesen Komplex schloss thematisch Renate Dillmann, Politikwissenschaftlerin, mit ihrem Referat an. Sie diskutierte mit den Teilnehmern kontrovers die Möglichkeiten und Grenzen des Kampfes gegen Aufrüstung und Sozialabbau.

Horst Schmitthenner, bis 2003 im Vorstand der IG Metall, widmete seine Gesprächsrunde dem Thema Rüstungskonversion. Er macht zunächst deutlich, dass das Thema innerhalb der Gewerkschaft stärker gesetzt sei, als es die öffentliche Aufmerksamkeit vermuten lasse: An den Vorstand angeschlossen existiere in der IG Metall ein ständig arbeitender Arbeitskreis zur Konversion, der auch Betriebsräte aus der Rüstungsindustrie umfasse. Zudem existieren weitreichende Beschlüsse diverser IG Metall-Kongresse zu dem Thema. Woran es fehle, sei politisches Bewusstsein und Arbeit dazu an der Basis der Gewerkschaft. Nur über deren Druck könne man die tatsächliche Umsetzung genannter Beschlüsse im Schulterschluss mit der Friedensbewegung erzwingen.

Im Anschluss an die Expertengespräche bot die Konferenz eine breite Palette an Workshops, die sich vor allem mit konkreter antimilitaristischer Praxis befassten: Unter anderem mit der Frage, was der Militarismus nach außen nach innen für ein Land bedeutet – nämlich sozialen Kahlschlag, Demokratieabbau und Formierung. Die Problematik, dass immer mehr Jugendoffiziere Schülerinnen und Schülern eine Berufskarriere bei der Bundeswehr sowie deutsche »Auslandseinsätze« schmackhaft machen sollen, wurde ebenso diskutiert wie die jahrelange Auseinandersetzung um Zivilklauseln an deutschen Unis. Ganz praktisch wurden auch Aktionsbeispiele beraten, wie man gegen die Bundeswehr und den anstehenden G7-Gipfel aktiv werden könne. Nach Abschluss des inhaltlichen Programms wurde eine Resolution verabschiedet, die Ausgangspunkt von politischen Aktionen in den kommenden Monaten, u. a. zum Antikriegstag am 1. September sein soll.

Der Kampf gegen Aufrüstung muss organisiert werden!

»Unsere Aufgabe als lernende und arbeitende Jugend in Deutschland muss sich weiterhin an der Losung Karl Liebknechts ›Der Hauptfeind steht im eigenen Land!‹ orientieren«, erklärte SDAJ-Vorsitzende Andrea Hornung gegenüber den Marxistischen Blättern. »Wir dürfen nicht einstimmen in das Kriegsgeschrei und die von der westlichen Medienlandschaft einheitlich forcierte Hetze gegen Russischstämmige. Was wir brauchen, sind konsequente Stimmen und Kämpfe gegen eine weitere Eskalation vonseiten der NATO, gegen die Logik der Rüstungsspirale und gegen Burgfriedenspolitik, und zwar gemeinsam mit allen Menschen, auch denen, die nicht unsere Analyse des Krieges und des Imperialismus teilen, aber tagtäglich die Kriegslasten zu spüren bekommen, z. B. steigende Energiepreise gemeinsam mit denen, die sich nicht vom Märchen der Lohn-Preis-Spirale einschüchtern lassen, sondern für Lohnerhöhungen kämpfen wollen, die über einen Inflationsausgleich hinausgehen und die Profite der Konzerne antasten. Und gemeinsam mit denen, die an einer diplomatischen Lösung des Krieges interessiert sind. Um diese breite antimilitaristische Jugendbewegung müssen wir ringen. Die Anti-Kriegs-Jugendkonferenz war dafür ein deutlicher und hoffnungsvoller Auftakt. Daran anknüpfend müssen wir in Alltagsdiskussionen in unserem Umfeld über die wahren Hintergründe des Krieges aufklären und u. a.deutlich machen, wie die Milliarden fürs Militär stattdessen in unser aller Interesse ausgegeben werden könnten, wenn der deutsche Staat nicht der Staat der Monopole wäre.

Um mehr Widerstand gegen Kriegspolitik zu organisieren, braucht es weitere solcher Konferenzen. Gerade jetzt sind Austausch und gemeinsame Aktivitäten notwendig und müssen sich auf eine breite Basis stützen – unter Beteiligung von Jugendgruppen, autonomen Strukturen, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und Gewerkschaften. Gerade letztere sind von großer Bedeutung, da sie die Kampfkraft der Beschäftigten in den Betrieben organisieren. Entsprechend hoffen wir auch, dass der Offene Brief der Ver.di-Jugendmitglieder, die an der Konferenz teilgenommen haben, im Ver.di-Bundesvorstand Gehör findet. Denn nur gemeinsam mit den Gewerkschaften können wir eine breite Mobilisierung gegen Aufrüstung und Sozialabbau und für den Frieden erreichen.«

»Vier Männer steuern Indien«: zur Konsolidierung eines rechts-autoritären Regimes

Peter Schreiber

Im November 2021 trat der indische Premierminister Modi vor die Öffentlichkeit und verkündete, dass drei im Vorjahr vom indischen Parlament beschlossene Agrargesetze außer Kraft gesetzt würden und der hierfür erforderliche legislative Prozess bereits eingeleitet sei. Fünfzehn Monate lang hatten Bauern und Bäuerinnen, vor allem aus dem Punjab und benachbarten Regionen Nordwestindiens, gegen diese »farm laws« protestiert. Vorgeblich ging es der Regierung darum, den Handel agrarischer Produkte zu »liberalisieren«, was durch eine Abschaffung des staatlichen Großhandelssystems mit eigener Lager- und Vertriebsinfrastruktur erzielt werden sollte. Protestierende und andere kritische Teile der indischen Öffentlichkeit argumentierten dagegen, dass die »Privatisierung« real eine Öffnung des Agrargroßhandels für wenige Großkonzerne sei, die eng mit dem autoritär-rechtsextremen Modi-Regime verbunden sind und seit dessen Machtübernahme im Jahre 2014 einen spektakulären Aufstieg erlebt haben. Das Reliance-Konglomerat unter Mukesh Ambani und dessen von Gautam Adani geführter Konkurrenzkonzern haben ihre Nähe zur hindu-chauvinistischen Rechtsregierung erfolgreich dazu nutzen können, um bisher weitgehend staatlich kontrollierte Infrastruktursektoren unter ihre Kontrolle zu bringen: zuvor schon Häfen, Flughäfen, Telekommunikation und Energiewirtschaft; mit den Agrargesetzen hatte sich ihnen nun ein weiteres Feld eröffnet. »Vier Männer steuern Indien«, war Anfang 2022 ein protestierender Bauer zitiert worden: »Zwei verkaufen es, zwei kaufen es. Alle stammen aus [dem Bundesstaat] Gujarat.« Gemeint waren die beiden Konzernoligarchen Ambani und Adani sowie Premierminister Narendra Modi und dessen Innenminister und faktischer Stellvertreter Amit Shah. »Privatisierung« bedeutete also die Ersetzung staatlicher durch private Monopole und im Kern Kapitalakkumulation auf dem Wege der Enteignung öffentlichen Eigentums durch regierungsnahe Konzerne.

Die Rücknahme der Agrargesetze im November 2021 – der erste politische Rückzieher, zu dem Premierminister Modi in sieben Regierungsjahren gezwungen war – signalisierte also eine Niederlage der Indien dominierenden Allianz der extremen Rechten mit einflussreichen Segmenten des Großkapitals. Als solche wurde sie auch von liberalen und linken Stimmen der indischen Öffentlichkeit gefeiert. So prognostizierte etwa die Autorin und Aktivistin Arundhati Roy noch im Februar 2022, der Stern des indischen Premierministers Modi sei nun im Sinken begriffen. Die Niederlage erwies sich jedoch bald darauf sowohl für die hindu-nationalistische Rechte wie auch für das mit ihr eng verflochtene Kapitaloligarchentum als zeitweilig und partiell. Als Anfang März 2022 die Wahlergebnisse für fünf Landesparlamente ausgezählt wurden, wurde deutlich, dass Narendra Modis rechtsextreme Bharatiya Janata Party (BJP, »Indische Volkspartei«) den politischen Rückzieher bei den Agrargesetzen gut verkraftet hatte. Sie konnte ihre politisch dominante Position behaupten, während die Kongresspartei – die einzige national operierende Oppositionspartei – vollkommen marginalisiert wurde und sich lediglich im Punjab eine relativ neue, politisch vielleicht mit der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung vergleichbare und nur regional bedeutsame Partei durchsetzen konnte. Besonders schwer wog, dass im bevölkerungsreichsten nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh mit seinen über 200 Millionen Einwohner:innen ein besonders rabiater Repräsentant der Hindu-Rechten, Yogi Adityanath, trotz zahlreicher unpopulärer politischer Praktiken und entgegen vieler Prognosen seine Position als Ministerpräsident deutlich behaupten konnte.

Auf der politischen Ebene zeigt sich so ein recht düsteres Bild, demzufolge es der hindu-nationalistischen Rechten durchaus gelingen kann, ihre parlamentarische Macht bei den 2024 bevorstehenden Wahlen zum Zentralparlament weiter auszubauen und die seit 2014 systematisch betriebene Gleichschaltung bzw. Untergrabung staatlicher Strukturen – die Entmachtung der Parlamente, die politische Instrumentalisierung der Repressionsorgane, die Subordination der Gerichte unter die Exekutive und die Zerschlagung kritischer Wissenschaft – mit Macht voranzutreiben. Grundlage der bislang unerschütterten politischen Dominanz der extremen Hindu-Rechten ist dabei keine Mehrheit unter den Wähler:innen: Selbst bei ihrer spektakulären Wiederwahl im Jahre 2019 erlangte die BJP aufgrund des Mehrheitswahlrechtes mit lediglich 37 Prozent der Stimmen 56 Prozent der Parlamentssitze. Auf der parlamentarischen Ebene ist vielmehr entscheidend, dass die Opposition bislang weitgehend neutralisiert werden konnte. Die »große alte Partei« Indiens, der Nationalkongress, erscheint als kraftlos, bislang nicht regenerationsfähig und hat einen großen Teil seines Kaders inzwischen an die Hindu-Rechte verloren. Die noch in den frühen 2000ern einflussreiche kommunistische Linke hat ihre Hauptbastionen im Osten Indiens zumindest auf mittlere Sicht eingebüßt und ist als regionale Kraft nur im südindischen Bundesstaat Kerala von zentraler Bedeutung. Diverse liberale bzw. konservative Regionalparteien haben besonders im Süden, in Westbengalen und im Punjab einen politischen Durchmarsch der Hindu-Rechten bislang abwenden können, sind aber nicht in der Lage nationale Ausstrahlung zu entfalten. Ein Wahlbündnis, das sich überzeugend als politische Alternative zur extremen Rechten präsentieren kann, konnte bislang ebenfalls nicht geformt werden.

Indien bleibt zugleich ein Land mit starken und unerschrockenen außerparlamentarischen sozialen Bewegungen, die der willkürlichen Inhaftierung von Aktivist:innen und juristisch ungeahndeten Gewaltakten und Attentaten seitens rechtsextremer Formationen mutig trotzen. Sie verdienen mehr internationale Solidarität als ihnen gewöhnlich zuteil wird. Das gilt trotz der Tatsache, dass gerade die traditionsreichen Organisationen der indischen Arbeiterbewegung und insbesondere die Gewerkschaften während der reaktionären, vermeintlich »neoliberalen« Jahrzehnte seit den frühen 1980ern erheblich an Durchsetzungskraft eingebüßt haben und der von der Modi-Regierung per Handstreich erlassenen Entwertung des Arbeits- und Sozialrechts im Jahre 2020 weitgehend machtlos gegenüberstanden. Dennoch hält eine Vielzahl sozialer Bewegungen in einem kleinteiligen Stellungskrieg ihre Positionen, und auch auf dem Höhepunkt rechtsextremer Dominanz ist es in den vergangenen Jahren immer wieder zu öffentlich sehr sichtbaren Mobilisierungen gekommen. Im Jahre 2016 waren es mutige politische Studierendenproteste gegen die Inhaftierung linker Studierender und die Unterbindung kritischer Wissenschaft, die weit ausstrahlten und Forderungen nach »Azadi« (Freiheit) in Wissenschaft, Lehre und Studium mit der Forderung nach sozialen und politischen Freiheitsrechten für weitere Teile der Bevölkerung verbanden. Um die Jahreswende 2019-2020 entwickelte sich eine breite Bewegung gegen die durch ein neues Staatsbürgerschaftsrecht reglementierte Prekarisierung der Bürgerrechte indischer Muslim:innen – eine Bewegung, die gerade auch viele bislang politisch weitgehend unsichtbare muslimische Frauen mobilisierte, aber auch breitere nicht-muslimische Teile der Bevölkerung und insbesondere der Jugend mit einbezogen.

Im Jahre 2021 waren es dann Bauern, die in Bewegung gerieten, was für die Regierenden eines nach wie vor stark agrarisch geprägten Landes mit besonderen Gefahren verbunden war. Für weite Teile Indiens ist seit vielen Jahren eine chronische Agrarkrise diagnostiziert worden: Während die Produktionskosten aufgrund monopolistischer Preispraktiken bei Saatgut, Kunstdünger und Insektiziden steigen, sinken die Preise für Agrarprodukte, ohne dass die urbane Ökonomie ausreichend wirtschaftliche Alternativen für eine zunehmend unterbeschäftigte und marginalisierte Landbevölkerung böte. Die Agrargesetze der indischen Rechtsregierung ließen vor diesem Hintergrund die Bauern mit erhöhtem Druck auf die Großhandelspreise rechnen, und das führte gerade auch unter der politisch einflussreichen Bauernschaft im landwirtschaftlich besonders produktiven Punjab zu erheblicher Unruhe. Eine stärker links orientierte Tradition der Bauernbewegungen in dieser Region sowie enge Verbindungen zu einer einflussreichen Sikh-Diaspora in Kanada und den USA halfen bei der Mobilisierung der Bauernschaft, bei einer unter großen Opfern durchgeführten symbolischen Belagerung der benachbarten Bundeshauptstadt Neu-Delhi und dabei, eine recht erhebliche internationale Öffentlichkeit zu entfalten. Der Bauernbewegung gelang es zudem, sich auf umliegende Bundesstaaten und insbesondere auf das westliche Uttar Pradesh auszudehnen – auf eine der wichtigsten politischen Bastionen der hindu-nationalistischen Rechten. Die Modi-Regierung reagierte mit ihrem gesamten, wohl erprobten Repertoire: mit der Verleumdung der protestierenden Bauern als Separatisten und Maoisten, mit extremer Repression durch die Polizeikräfte, die in mehreren Hundert Toten resultierte, mit der Verhaftung von Aktivist:innen unter fingierten Anklagen, mit der diplomatischen Zurückweisung internationaler Kritik als »innere Einmischung«.

Das Instrumentarium, das bei der Unterdrückung von Protesten seit 2014 gute Dienste geleistet hatte, erwies sich in diesem Fall jedoch als stumpf, und so blieb am Ende nur ein geordneter, zumindest zeitweiliger Rückzug. Wenn sich dieser Rückzieher in den folgenden Monaten, wie ich bereits argumentiert habe, als erfolgreiche taktische Maßnahme erwies, so erklärt sich dies dadurch, dass es der Rechtsregierung auch in diesem Fall gelang, die Entstehung einer breiten, auf nationaler Ebene Kraft entfaltenden Oppositionsbewegung zu verhindern bzw. ihr zuvorzukommen. Wie auf der Ebene der parlamentarischen Politik muss auch bei den außerparlamentarischen Bewegungen trotz all des beeindruckenden Mutes der Aktivist:innen nüchtern festgestellt werden, dass es bislang nicht gelungen ist, die Hegemonie des dominanten politischen Blocks zu brechen. Eine überzeugende politische und soziale Alternative zu islamophobem, antiliberal wie antikommunistischem und z. T. offen faschistischem Hindu-Chauvinismus, autoritärem Führerkult und Staatsumbau sowie zu einer reaktionären, sich als »neoliberal« gerierenden staatsmonopolistischen Wirtschaftspolitik ist noch nicht sichtbar.

Begrenzte Rückzüge wie im Fall der Agrargesetze, eine gewisse Unberechenbarkeit und Beliebigkeit der politischen Maßnahmen, die sogar punktuelle sozialpolitische Zugeständnisse einschließen können, sollten nicht vorschnell mit einem Stabilitätsverlust autoritärer Rechtsregierungen in Indien (oder anderswo) gleichgesetzt werden. Seit den Wahlen von 2014 hat die hindu-chauvinistische BJP fast alle Großspenden auf sich konzentrieren können. Das indische Großkapital verzichtete also auf eine »politische Landschaftspflege« nach dem Gießkannenprinzip und konzentrierte alle Einsätze auf die Hindu-Rechte. Aber wenn die Regierung Narendra Modis ihre oligarchischen Unterstützer zufriedenstellen will, muss sie zwischen verschiedenen sozialen Interessen jonglieren, mal hierhin und mal dorthin ausweichen, um das Entstehen einer wirkungsvollen Opposition zu verhindern. Man ist erinnert an den »18. Brumaire des Louis Bonaparte«, in dem Marx einem anderen reaktionären Autokraten folgendes bescheinigte: »Diese widerspruchsvolle Aufgabe des Mannes erklärt die Widersprüche seiner Regierung, das unklare Hinundhertappen, das bald diese, bald jene Klasse zu gewinnen, bald zu demütigen sucht und alle gleichmäßig gegen sich aufbringt, dessen praktische Unsicherheit einen hochkomischen Kontrast bildet zu dem gebieterischen, kategorischen Stile der Regierungsakte, der dem Onkel folgsam nachkopiert wird.« (MEW Bd. 8, S. 205). Die gelegentliche Komik, die auch in Narendra Modis Gebaren immer wieder hervortritt, gewährt freilich wenig Trost: Immerhin blieb Louis Bonaparte auf diese Weise zwei Jahrzehnte an der Macht.

Die neuen Industrie- und Infrastrukturbarone Indiens leben zudem mit dem gelegentlich erratischen Operieren ihrer Regierung keineswegs schlecht. Wenn sich Mukesh Ambani und Gautam Adani zunächst vergeblich Hoffnung auf eine Kontrolle erheblicher Teile des Agrargroßhandels gemacht haben sollten, so sind ihre Konglomerate doch so breit aufgestellt, dass Kompensationen leicht administriert werden können. Im letzten Jahr haben beide Konzerne ehrgeizige Ziele formuliert, denen zufolge sie einen erheblichen Teil der globalen Wasserstoffproduktion kontrollieren wollen. Die »blauen« Verfahren, die sie unter Verwendung petrochemischer Abfallprodukte verwenden, zeichnen sich dabei durch besonders hohe Umweltbelastungen aus, sollen aber konkurrenzlos niedrige Produktionskosten gewährleisten. Dafür braucht es freilich politische Unterstützung. Und so kommt es, dass bei den deutsch-indischen Regierungskonsultationen Anfang Mai 2022 die beiden Energieoligarchen Indiens faktisch mit am Tisch saßen. Während die Regierungserklärung des Kanzler Scholz verrät, dass sich die Bundesregierung durchaus darüber im Klaren ist, mit einem repressiven Regime zu verhandeln, wurden kritische Themen umschifft und der Schwerpunkt auf den Abschluss von vierzehn Absichtserklärungen für zukünftige bilaterale Kooperationen gelegt. In den deutschen Medien wurde dabei die Zusammenarbeit bei der »Zukunftstechnologie Wasserstoff« besonders hervorgehoben. »Greenwashing« – auch das, aber zudem wird deutlich, dass sich rechtsautoritäre Regime wie das Narendra Modis unter den Bedingungen des neuen Kalten Krieges über internationalen Druck keine Sorgen machen müssen.

Konfliktreiche Documenta fifteen eröffnet

Ulrich Schneider

Die documenta fifteen, die alle fünf Jahre stattfindende Weltausstellung zeitgenössischer Kunst in Kassel ist nun eröffnet. Dabei war bis vor einem Jahr noch spekuliert worden, ob sie überhaupt in der gewohnten Form möglich wäre, da mehrere hunderttausend Besucher aus der ganzen Welt erwartet werden – angesichts der Corona-Pandemie ein großes Problem. Als dann verkündet wurde, dass die Ausstellung wie geplant von Mitte Juni bis Mitte September 2022 stattfinden solle, begründeten die Geschäftsführerin der documenta gGmbH, Sabine Schormann, der Vorsitzende des Aufsichtsrates, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle, und ein Vertreter des indonesischen Kuratoren-Teams ruangrupa dies vor allem wirtschaftlich. Höhere Kosten durch Verlängerung von Mietverträgen für Ausstellungshallen, Personalkosten für das Vorbereitungsteam der documenta und die Sorge, wenn man aus dem geplanten Termin aussteige, dass internationale Gäste insbesondere aus den USA und Japan, die im Sommer 2022 verschiedene Kunstausstellungen in Europa besuchen wollten, nicht zweimal anreisen würden. Die Ankündigung zeigte unfreiwillig inhaltliche Konfliktlinien in der Vorbereitung dieser Kunstausstellung.

Denn ökonomische Rationalität steht eigentlich konträr zum formulierten Anspruch des ruangrupa-Künstlerkollektivs, das weniger auf die Vermarktbarkeit von zeitgenössischer Kunst blicken will, sondern mit einem »lumbung«-Konzept ein gänzlich anderes Kunstverständnis in die documenta fifteen eingebracht hat. »Lumbung«, der Begriff für die traditionelle Reisschale in Indonesien, meint, dass alle Beteiligten – ausgehend von ihren Fähigkeiten und Interessen – etwas einbringen in diese Schale, und gleichzeitig alle das, was sie für sich als sinnvoll und notwendig erachten, aus dieser Schale herausnehmen können. Somit geht es um ein gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen. Kunst wird in diesem Sinne als interaktiver Prozess zwischen den Künstler:innen der unterschiedlichen Richtungen und den jeweiligen Rezipienten verstanden. Diese Interaktion kennzeichnet auch das neunköpfige ruangrupa-Kollektiv, in dem bildende Künstler, Architekten, Musiker, Aktionskünstler und andere Kunstrichtungen vertreten sind. Ruangrupas Arbeit beruht dabei auf einem ganzheitlichen und sozialen Ansatz, der sich stark mit der indonesischen Kultur verbindet, in der Solidarität und Gemeinschaft Leitmotive sind.

Ohne zu umfangreich in die Geschichte der documenta einzusteigen, sei jedoch betont, dass diese Kunstausstellung eigentlich immer auf politische Entwicklungen der Zeit reagiert hat und Ansatzpunkte zur kritischen Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit lieferte. In ihren Konzepten und Kunstwerken wurde oft ein politischer Anspruch formuliert. Künstler:innen setzten sich in der ihnen eigenen Ausdrucksform mit gesellschaftlichen Problemen auseinander, reagierten auf soziale Ungerechtigkeiten, alltäglichen Rassismus, Hierarchieverhältnisse und Ausgrenzungen. Themen wie Bedrohung der Umwelt, Krieg und Frieden, Flucht und Migration sowie Nachhaltigkeit wurden in Kunstwerken der documenta bearbeitet und sind z. T. heute noch in Kassel präsent. Zu sehen ist die Figurengruppe »Die Fremden« von Thomas Schütte der documenta IX von 1992. Sie steht auf dem Portikus des Roten Palais am Friedrichsplatz und zeigt Personen in folkloristischer Kleidung mit improvisierten Gepäckstücken. In der Treppenstraße steht seit der documenta 14 der Obelisk, ein Denkmal des nigerianisch-amerikanischen Künstlers Olu Oguibe, das im Juni 2017 auf dem Kasseler Königsplatz aufgestellt war. Das gut 16 m hohe Monument trägt in vier Sprachen (Arabisch, Deutsch, Englisch und Türkisch) die Inschrift: »Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt«, ein Zitat aus dem Matthäus-Evangelium. Der politische Streit bis zur Wiederrichtung des Werkes 2019 in der Treppenstraße war ein Musterbeispiel dafür, wie sich die Stadt Kassel zwar gerne mit der documenta schmückt, deren Themen und Projekte jedoch oftmals mit Distanz aufnimmt. Ähnliches musste Joseph Beuys erleben, als er seine so genannte soziale Plastik »7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung« als ein Landschaftskunstwerk 1982 auf der documenta 7 begann. Er legte 7000 Basaltsteine auf dem Friedrichsplatz ab, die jeweils mit einem neu an unterschiedlichen Standorten gepflanzten Baum im öffentlichen Raum in Kassel abgeräumt werden konnten. Seine künstlerische und ökologische Intervention zur nachhaltigen Veränderung des urbanen Lebensraums wurde erst mit einem Kraftakt im Frühjahr 1987 zu Ende gebracht, da der Friedrichsplatz für die nächste documenta geräumt sein musste.

Ausgehend vom Anspruch der jeweiligen Kuratoren (tatsächlich waren es dreizehn Männer) reagierte die documenta auf politische Bewegungen und neue Themen. So machte Sanja Iveković während der documenta 13 mit dem Kunstwerk »Disobedient«, einer an zentralen Plätzen der Stadt gezeigten Plakatserie, die Profiteure der faschistischen Zwangsarbeit mithilfe von Aussagen Überlebender und Firmenlogos sichtbar. Kunstwerke wurden in der KZ Gedenkstätte Breitenau präsentiert. Auf der documenta 14 wurde in Athen, dem damals zweiten Standort der Ausstellung, die Frage der Kriegsverbrechen in der NS-Okkupationszeit thematisiert. Argyris Sfountouris, der das Massaker von Distomo 1944 als knapp Vierjähriger überlebt hatte, bekam die Gelegenheit, am Eröffnungsabend im so genannten »Parliament of Bodies«, seine politischen Forderungen einem internationalen Publikum zu präsentieren. Marta Minujin (Argentinien) erinnerte mit ihrem »Parthenon der Bücher« am Platz der Bücherverbrennung in Kassel an verbotene und verbrannte Werke. Selbst der Mord an Halit Yozgat durch den NSU und die Verbindung des hessischen Verfassungsschutzes waren mit der Video-Dokumentation einer »Gegenuntersuchung« des Londoner Institut Forensic Architecture Teil der Ausstellung.

In diesem Sinne kooperierte das Kuratoren-Team Ruangrupa in Vorbereitung zur documenta fifteen mit Künstler-Kollektiven in verschiedenen Teilen der Welt. »Wir wollen eine global ausgerichtete, kooperative und interdisziplinäre Kunst- und Kulturplattform schaffen, die über die 100 Tage der documenta fifteen hinaus wirksam bleibt«, heißt es in einer Selbstdarstellung. Entgegen früherer Gewohnheiten veröffentlichte man im Herbst 2021 die Liste der Künstler:innen nicht in Fachzeitschriften oder Kunstjournalen, sondern im Straßenmagazin »Asphalt«. Medien haben diesen Schritt als PR-Gag bezeichnet. Aus der Sicht von Ruangrupa war es ein Beitrag zur praktischen Solidarität mit diesem Magazin, das von Obdachlosen, Hartz IV-Beziehern und anderen Bedürftigen vertrieben wird. Auffällig ist, dass zahlreiche Kollektive vertreten sein sollen. Wie im Netzwerk der »Lumbung-Mitglieder« sind die Künstler:innen und Kollektive in »Majelis« (Indonesisch für Versammlung) zusammengefasst. Geplant waren Treffen zur Vorbereitung, Corona-bedingt wurden daraus Video-Konferenzen. In diesen »Majelis« sollten die Beteiligten gemeinsam über Projekte, Ressourcen und die Verwendung von Fördergeldern entscheiden. Ressourcen würden in einen gemeinsamen Pool eingebracht: »Arbeitskraft, Zeit, Raum, Essen, Geld, Wissen, Fähigkeiten, Fürsorge und Kunst.«

In der Künstler:innen-Liste finden sich nur wenige bekannte Namen, wie Jimmie Durham, der bereits an einer früheren documenta teilgenommen hat und mit dem Goldenen Löwen der Venedig-Biennale ausgezeichnet wurde. Auffällig ist die Zahl von Künstlerkollektiven wie dem »Archives de luttes des femmes en Algérie« oder »Siwa platforme – L’Economat at Redyes«, die zusammen mit »Komina Film a Rojava«, »Another Roadmap Africa Cluster«, »Asia Art Archive« und anderen, die ein gemeinsames »Majelis« bilden. Bei den Gruppen und Namen wurde übrigens konsequent auf die Nennung von Nationalitäten verzichtet. Stattdessen wurden die Namen unterschiedlichen Zeitzonen zugeordnet. Erkennbar ist ein deutlich größeres Gewicht von Künstler:innen aus Lateinamerika, Afrika und Asien.

Diese Künstler:innen wollen und sollen mit Akteuren der regionalen sozialen, antirassistischen, emanzipatorischen, ökologischen und künstlerischen Netzwerke in Kontakt treten. So soll die documenta fifteen nicht nur in Kassel stattfinden, sondern mit aktiven Teilen der Zivilgesellschaft zu einem gesellschaftlichen Ereignis werden, das auch über den Zeitraum der 100 Tage hinaus für die Netzwerke von lokalen Akteuren Bestand haben soll.

Ein Signal für die inhaltliche Ausrichtung der documenta fifteen sind auch die Ausstellungsorte, die sich über das ganze Stadtgebiet verteilen. Dabei fällt auf, dass nicht nur bereits »erprobte« Veranstaltungsorte (Museen und Ausstellungshallen) genutzt werden, sondern auch Clubs und Hallen einer nicht mehr genutzten Industrieanlage im Osten der Stadt, eine Gegend, in die bislang noch keine documenta vorgestoßen ist.

Das Ruangrupa-Konzept ließ den Kunstmarkt und seine Repräsentanten schon im Vorfeld in Unruhe verfallen. In früheren Jahren war es klar, Künstler:innen erhöhten ihren Marktwert mit dem Moment ihrer Benennung für die documenta. Bei späteren Ausstellungen fehlte mit Sicherheit niemals der Hinweis auf die Präsentation von Werken oder Installationen auf der documenta. Damit ist diese Ausstellung ein Gradmesser für Kunstbusiness und den Marktwert von Künstler:innen. In erfrischender Offenheit beklagte die »Welt«: »Bislang galt die Publikation der Liste immer als Freudentag für die Galeristen, die nun gute Geschäfte witterten. Selbst der gut informierte Kunstjournalist wird nur sehr wenige Namen auf der Liste kennen.« Auch die Verwendung der indonesischen Begriffe »lumbung«, »majelis« oder »ruru« konnte man noch nicht einmal als interessante künstlerische Inszenierung akzeptieren. Was sich nicht vermarkten lässt, hat keine Relevanz. Dass der Kunstmarkt in dieser Hinsicht jedoch sehr flexibel ist, zeigt die Vermarktung des Banksy-Werkes, dessen Marktwert durch die teilweise Zerstörung um ein Vielfaches gesteigert wurde.

Einen ideologischen Frontalangriff gegen die documenta fifteen startete ein selbst ernanntes »Bündnis gegen Antisemitismus« (BgA) im Januar 2022. In einem denunziatorischen Pamphlet wurde Kuratoren, Beirat und Künstler:innen »Antisemitismus« vorgeworfen, z. B. den Mitgliedern des documenta-Beirats Amar Kanwar und Charles Esche, sowie Ada Darmawan vom ruangrupa-Team »A letter against apartheid« unterzeichnet zu haben. »Skandalös« sei das Mitglied des »Artistic Teams« Lara Khaldi, die die Initiative »Wir können nur ändern, was wir konfrontieren« unterstützt habe und als Sprecherin des palästinensischen Künstler-Kollektivs »The Question of Funding« – angeblich der »Deckname« für ein Israel-feindliches Kulturzentrum – geoutet wurde.

Akribisch inspizierte das BgA alle documenta-Künstler:innen, um weitere »Israelfeinde« auszumachen. Tatsächlich fand man mit Marwa Arsanios, dem 2021 verstorbenen Jimmie Durham und Jumana Emil Abboud weitere Unterzeichner von Erklärungen sowie Yasmine Eid-Sabbagh, die zum Boykott einer historischen Konferenz an der Hebrew University of Jerusalem aufgerufen haben.

Dieses Pamphlet schlug breiteste Wogen im bürgerlichen Feuilleton, wobei reflektierte Stimmen im ersten Hype überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurden. Worum es politisch ging, formulierte Thomas E. Schmidt in der »Zeit« vom 12. Januar 2022: »Die künstlerische Strahlkraft des Ereignisses hat in den letzten Jahren gelitten. Wenn sich die Documenta nicht überzeugend aus dem Gestrüpp der Israelfeindschaft und des Antisemitismus befreit, könnte die 15. die letzte dieser Art sein.«

Die documenta kündigte an, in einer Gesprächsreihe »We need to talk! Art – Freedom – Solidarity«« sich vor Beginn der Ausstellung mit dem Antisemitismus-Vorwurf inhaltlich auseinanderzusetzen. Dagegen starteten die Akteure des BgA eine neuerliche Medienkampagne, die selbst den Zentralrat der Juden in Deutschland zu einem »Brandbrief« an Staatsministerin Claudia Roth veranlasste mit der Beschwerde, bei der Auswahl der Gesprächspartner nicht gefragt worden zu sein.

In einem offenen Brief antwortete die documenta fifteen ihren Kritikern und wies diese Antisemitismus-Kampagne in aller Klarheit zurück. Da aber klar wurde, dass diese Debatte den öffentlichen und medialen Blick weg von der Ausstellung in eine völlig andere Perspektive lenken würde, sagte die documenta Anfang Mai die geplanten Gespräche ab. Begründung: »Die documenta wird zunächst die Ausstellung beginnen und für sich sprechen lassen, um die Diskussion dann auf dieser Basis sachgerecht fortzusetzen. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das Ziel, das die documenta mit der Gesprächsreihe erreichen wollte, nämlich im Vorfeld der documenta fifteen einen multiperspektivischen Dialog jenseits institutioneller Rahmen zu eröffnen, nur schwer umsetzbar.«

Kritischer Kunstjournalismus wird genau diese Frage nach den Inhalten von Werken in Relation zu ihrer künstlerischen Form stellen müssen. Wie vermag das gezeigte Objekt, das Kunstwerk oder die Installation in Hinsicht auf künstlerische Ausdrucksform und intendierter Aussage zu überzeugen? Weder ist ein antirassistischer und antikolonialistischer Anspruch per se eine Garantie für »gute« Kunst, noch schließen sich inhaltlicher Anspruch, ästhetische Qualität und Kunstmarkt aus. Auch muss sich beweisen, ob die Integration von Akteuren der Stadtgesellschaft, z. B. die Kooperation mit einer Behindertenwerkstatt, die aus recycelten Jeansstoffen Taschen produziert, die im documenta-Shop verkauft werden sollen, und die Einbindung eines Begegnungszentrums im sozialen Brennpunkt der Stadt, wo gemeinschaftlich Objekte gestaltet werden, die als documenta-Kunstwerke in der Ausstellung gezeigt werden sollen, kunstfähig ist. Vor diesem Hintergrund wird die documenta fifteen spannend.

Zum Tod von Erasmus Schöfer

Rüdiger Bernhardt

I.

Am 7. Juni 2022 ist Erasmus Schöfer drei Tage nach seinem 91. Geburtstag nach schwerer Krankheit in Köln gestorben. Mit Blick auf das Werk des Philosophen und Schriftstellers und mit Kenntnis seines Anspruchs, des Mythenkenners und Lustmenschen, klingt diese Mitteilung fremd. Sie ist es auch, wendet man den Blick von der Vergänglichkeit zum Bleibenden: seinem umfangreichen und vielseitigen Werk. Schöfers künstlerisches Gewissen drängte nach dem überragenden literarischen Werk, mit der gleichen Nachdrücklichkeit verlangten darin politische Arbeit – Zielstellung, Arbeitsweise, Wirksamkeit, Aufsehen, Gemeinsamkeit – und menschlich lebbare Wirklichkeit ihren Platz. Letztlich setzte er auf Erfahrung, seine »Erfahrungen mit der geschichtlichen sozialen Realität lehrten (ihn) doch die immer wieder aufbauenden und mitleidenden Fähigkeiten der Menschen kennen und darstellen« (Brief vom 3. Januar 2016). Das reicht in mythische Bereiche der Menschheit zurück und in die Weiten der sozialen Utopie voraus. Nun ist er gegangen, uns bleibt sein Werk, zwingend und lustvoll fordernd und fördernd.

II.

Geboren wurde Erasmus Schöfer am 4. Juni 1931 in Altlandsberg als Sohn einer Lehrerin; nur einmal im Leben traf er den Vater, das genügte ihm. Stationen seiner Bildung waren Realgymnasium, Freie Universität Berlin, danach die Universitäten Köln und Bonn, schließlich Freiburg und dazwischen drei Jahre Fabrikarbeiter, Dolmetscherschule am Abend. Er schrieb bei Leo Weisgerber 1960 eine Dissertation über Die Sprache Heideggers, lebte einige Jahre auf Patmos, an Hölderlin denkend, und Ithaka – diese Lebensstationen hinterließen Themen in seinem Denken und Schaffen.

1969 wurde er einer der Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, dessen Sprecher er 1970 bis 1973 im Kollektiv war. Er selbst war aktiv in der Düsseldorfer Werkstatt und war an vier der bekanntesten Bücher des Werkkreises beteiligt. 1978 zog sich Schöfer aus dem Werkkreis zurück … Als ein Journalist von Schöfer mehr über seine Arbeit im Werkkreis erfahren wollte, sah er in dem Schriftsteller einen, »der sich auf dieses Abenteuer eingelassen hat und von ihm eingefangen wurde«. Auch das war ein Merkmal von Schöfers Leben und Schreiben: Beides war ein Abenteuer, Menschheitsabenteuer von mythischer Größe. Die Entwicklung und ihre Ergebnisse fanden ihren Niederschlag in der Tetralogie Die Kinder des Sisyfos. – Schöfers Sicht auf den Werkkreis war immer eine zweiseitige, wie überhaupt sich für ihn Literatur immer mit einer aktiven Entäußerung des Menschen verband. So orientierte er den Werkkreis nicht allein auf Veröffentlichungen, sondern brachte den Lern- und Bildungsprozess ins Spiel, den Literatur auslöst und Formen wie den Werkkreis zur »Volkshochschule der schreibenden Arbeiter« machte… Lernen, Denken, Schreiben und Handeln waren für Schöfer ein zusammengehöriger Prozess, in dem unterschiedliche Denkmöglichkeiten ihren Platz fanden. Sie mussten, das wurde zu seinem Vermächtnis, einem menschlichen Leben dienen. 1990 meinte er, seine Hauptaufgabe spät entdeckt zu haben: »Chronist zu sein der Rebellen dieses Landes als Zeitgenossen des eigenen Lebens.«

III.

Eine erste Phase seines umfangreichen, vielfältigen literarischen Schaffens – Flugschriften, Dramatisches in verschiedensten Formen – ging in Prosa auf; die Themen blieben sich ähnlich, die Formen wurden zuerst vom agitatorischen Wirken geprägt. Seine Fernsehspiele fanden in dem anderen Deutschland, der DDR, eine Heimat und wurden 1978 als »Texte für Theater, Film, Funk« unter dem Titel Bittere Pillen, Verfolgung, Die Hütte gehört uns gedruckt. In der DDR hatte sich eine Fernsehkultur entwickelt, in der soziale Fragen, sozialökonomische Widersprüche und Arbeitsprozesse das Programm bestimmten und zu einer künstlerisch hochstehenden Kunst führten – Namen wie Helmut Sakowski, Benito Wogatzki und andere standen dafür. Erasmus Schöfer gesellte sich dazu.

Nach langen Bemühen erschien 1986 der Roman Tod in Athen, der die Keimzelle zu seiner überragenden Tetralogie Die Kinder des Sisyfos wurde. – Der studierte, promovierte Philosoph unterwarf sich nie einer Meinung, die ihre Bewährungsprobe im gesellschaftlichen Prozess nicht bestanden hatte. Die agitatorischen Zuspitzungen lösten sich in intensive Beschreibungen auf, um sie endlich mit leidenschaftlicher Lyrik, die aus der Prosa hervorging, zu krönen. Aus der agitatorischen Momentaufnahme wurde die bis ins Mythische getriebene Menschheitsschau. Schöfer schuf eine Einheit aus dokumentarisch-journalistischem Herangehen – dem Dokumentarischen – und dem Literarischen. Das wurde auch in der formalen Experimentierfreudigkeit des Autors in seinem umfangreichen Werk deutlich. – So bildete sich langsam, konsequent und zielgerichtet das umfassende Thema seines Sisyfos heraus, gespeist aus einem engagierten und nie beiläufig verstandenen Leben. Bei der Rückschau schrieb er, er habe 1986 seinem Roman Tod in Athen, ein Vorläufer des 3. Bandes der Tetralogie, »ein inzwischen offenbar wieder stärker utopisches Mottogedicht vorangestellt, das meine Weltsicht in Kürze zusammenfasst« (Brief vom 3. Januar 2016). Das Gedicht sei eingefügt:

Nachricht von Sisyphos

Gewisse Erleichterung deutlich.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (ePUB)
9783961703548
ISBN (PDF)
9783961706549
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (September)
Schlagworte
freiheit marxistische blätter

Autor

  • Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)

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Titel: Freiheit die wir meinen
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