Wissenschaftsfeindlichkeit – Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
Marxistische Blätter 1_2022
Zusammenfassung
Beiträge von: Hans-Peter Brenner, Joachim Hösler, Klaus Müller, Monika Münch-Steinbuch, Claudius Vellay, Werner Zimmer-Winkelmann
Weitere Themen: Koalitionsverträge in Berlin und Graz; EU-Impfstrategie und Big Pharma; AUKUS: Bündnis gegen China; Der Aufstieg der Partei der Arbeit (Belgien), KPÖ-Bashing der »linksliberalen« Medien; 50 Jahre Berufsverbote; 125 Jahre Wilhelm Hammann; Liam O’Flaherty und der irische Freistaat; Ayn Rand und die Philosophie der Gier; Tagungsberichte
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Der Hase und die Energiekonzerne
Lothar Geisler
Oh, wie ich es satthabe! Wann immer ich mit dem Auto unterwegs sein muss, und an einer Tankstelle vorbeikomme, starre ich auf den Dieselpreis. Und wann immer er am Tag unterhalb meiner Schmerzgrenze liegt, spurte ich an die Zapfsäule – egal wie leer der Tank ist. Das Problem: trotz Mischpreis im Tank muss ich meine Schmerzgrenze ständig nach oben anpassen.
Und jetzt dieser Brief meines Gasversorgers, zu dem ich – dem Rat von »Verbraucherschützern« folgend – nach intensiver Internetrecherche gewechselt war. Stolz wie Oskar über das rechnerisch Eingesparte. Bereits im Juli wurde ich über eine Erhöhung von 3,94 Cent auf 6,78 Cent pro Kilowattstunde informiert. Und jetzt: 9,84 Cent. Steigerungsrate: 250 Prozent! Entspricht beim Verbrauch in unserer Altbauwohnung 1180 € Mehrkosten im Jahr. Zusätzlich zu den Preissteigerungen, die jede/r von uns beim Obst- und Gemüsehändler, Fleischer, Bäcker oder bei der Wohnungsmiete, Versicherungsbeiträgen und städtischen Gebühren zu schultern hat. Dagegen können Berufstätige allein in den Tarifrunden nicht ankämpfen. Und wir Rentner:innen schon gar nicht. Das Ampelversprechen »Keine Rentenkürzungen« ist längst vor dem Amtsantritt der neuen Regierung als Lüge entlarvt. 5,2 Prozent vorläufige Inflation sind bereits die reale Kürzung der Renten, Löhne und Gehälter.
Jedem individuellen Versuch, den drohenden Löchern in der eigenen Haushaltskasse durch permanente »Schnäppchenjägerei« oder gar Konsumverzicht gegenzusteuern, sind Grenzen gesetzt. Angesichts der aktuellen (Preis-)Treibjagd läuft man Gefahr – wie in dem bekannten Märchen – als »Hase oeconomicus« von einem eingespielten Igel-Pärchen hin- und hergehetzt zu werden, oder gar zu Tode. Hier der Igel »Energiewirtschaft« als Hauptpreistreiber. (Denn das sind die Energiekonzerne. Egal was sie uns weismachen wollen und unter welchem »Sachzwang«-Gestrüpp sie sich verkriechen.) Dort die Igelin »Regierung« mit ihrer Steuerpolitik, die ihren geliebten Partner (und alle seine Klassenkameraden) verständnisvoll entlastet, wo es nur geht. Und uns armen Hasen weiter das Geld aus der Tasche zieht. Z. B. durch eine CO2-Zusatzsteuer, die sie uns zudem als effektiven Klimaschutz schmackhaft machen will. Den Ärmsten finanziell und rechtlich so unter die Arme zu greifen, dass niemandem das Gas oder der Strom abgedreht und die Wohnung gekündigt wird, ist ein Gebot der Stunde. Grundsätzlich ändern würde es allerdings nichts. Die Preistreiber könnten ungebremst weitermachen wie bisher.
Genug also mit diesem »Hase-und-Igel«-Spiel und der Almosen-Politik. Kein Mensch ist ein »Homo oeconomicus«. Niemand, der kein Ausbeuter ist, muss – Gott und Marx sei Dank – wie Kapitalisten denken. Deren »Philosophie der Gier«1, die dem ganzen »Neoliberalismus« zugrunde liegt, ist unmenschlich und nicht die unsere. Und von einer Regierung, die sich nicht nur vom Volk wählen lässt, sondern auch dessen Interessen wirklich vertreten will, kann man mit gutem Recht verlangen, dass sie die Preistreiber-Konzerne stoppt. Das wäre vernünftig. Die kleine DKP fordert das nun. Ihre Mitglieder wollen mit einer Kampagne »Energiepreisstopp jetzt!« von Januar bis Mai 2022 auf die Straße gehen. Damit sollen Menschen ermutigt werden, sich gegen die Energiekonzerne und die einseitige Abwälzung von Krisenlasten zu wehren, so der Parteivorsitzende Patrik Köbele.
Das wäre dann ja mal echter Verbraucherschutz, wenn … ja, wenn es gelingt, dass diese Idee, auch wirklich »die Massen ergreift«.
1 Siehe den Beitrag von Holger Wendt über Ayn Rand und die Philosophie der Gier in dieser Ausgabe, S. 123 f.
Große Nachfrage
Die Beilagen unserer Zeitschrift entwickeln sich zu einem gefragten (Bildungs-)Material. Besteller:innen sind Einzelpersonen, Parteigliederungen der Linkspartei und der DKP, linke Gewerkschafter:innen-Netzwerke oder verschiedene Lese- und Bildungszirkel. Allein der Beitrag von Cheng Enfu zu »500 Jahre Sozialismus« erreichte eine Vertriebsauflage von 450 Exemplaren. Wir mussten ihn nachdrucken lassen. Bei einer Veranstaltung zu »100 Jahre KP China« wurden zusätzlich rund 100 Exemplare von der DKP Berlin als Werbematerial für die Marxistischen Blätter verteilt. Dafür ein dickes Dankeschön.
Neues Gesicht – neuer Service
Wegen der Corona-Pandemie sind nun schon im zweiten Jahr fast alle großen Präsenzveranstaltungen ausgefallen, bei denen wir durch Buchverkäufe die Marxistischen Blätter finanziell stützen wollten. Bleibt nur der Online-Handel. Silberstreif am Horizont: Unser Web-Shop www.neue-impulse-verlag.de hat im Herbst 2021 ein neues Gesicht bekommen, ist klarer gegliedert und besser lesbar. (An ein paar Stellen muss noch gearbeitet werden.) Neu ist vor allem unser Direktservice: seit 1. Dezember liefert unser Vertragspartner bestellte Bücher mit Lieferschein direkt an unsere Kund:innen. Bestellungen bis 13.00 Uhr gehen am gleichen Tag noch auf den Postweg. Das verkürzt Lieferzeiten und spart in unserem (Ein-Mann-)Verlag Arbeit, Kosten und Verpackungsmaterial. Rechnungstellung und Lieferung aller Eigenproduktionen erfolgt wie bisher durch den Neue Impulse Verlag.
Nicht vergessen: Jede Buchbestellung unterstützt die Marxistischen Blätter.
Ein Prospekt des PapyRossa Verlages …
liegt der Inlands-Abo-Auflage dieser Ausgabe bei. Wir bitten um Beachtung.
Abo-Kampagne: »Marxismus für die A-Klasse«
Weniger öffentliche Veranstaltungen heißt auch: weniger Möglichkeiten, für unsere Zeitschrift zu werben und neue Abonnent:innen
zu gewinnen. Dem müssen wir – Verlag und Leserschaft gemeinsam – in den kommenden zwei Jahren bis zum 60. Geburtstag der Marxistischen Blätter mit mehr Konzentration auf die Gewinnung neuer Abonnent:innen entgegensteuern. Ein erster Schritt: unsere neue Bestell-Postkarte für kostenlose Probe-Exemplare, die dieser Ausgabe beiliegt. Wenn jede/jeder Abonnent:in im persönlichen Arbeitsumfeld nur einen Menschen davon überzeugt, ein Probeexemplar zu bestellen, kommen wir einen kleinen Schritt vorwärts.
Jetzt auch auf Instagram
Dank eines jungen Genossen und Freundes der Marxistischen Blätter werben wir jetzt auch auf Instagram für unsere Zeitschrift und die Bücher unseres Verlages. Während seines Praktikums im Verlag hat er unseren Insta-Auftritt entworfen und umgesetzt. Dafür ein dickes Dankeschön, Cristian. An dieser neuen Baustelle wird kontinuierlich weitergearbeitet. Siehe: https://www.instagram.com/marxistische_blaetter/
Die Rubrik »Rezensionen«
… fehlt in dieser Ausgabe, – nur in dieser. Versprochen. Sie ist der außergewöhnlichen Arbeitsbelastung des dafür verantwortlichen Redakteurs zum Opfer gefallen. Auf »Literatur« muss deshalb niemand verzichten. In zwei Beiträgen setzen sich Jenny Farrell und Holger Wendt ausführlich mit dem Werk des Iren Liam O’Flaherty sowie der US-Amerikanerin Ayn Rand auseinander.
Neoliberale Ladenhüter im Gepäck – »Aufbruch« der Ampel-Koalition
Beate Landefeld
Vor der Nikolauswoche, in der die neue Bundesregierung ins Amt kommen sollte, erwischte die 4. Welle der Corona-Pandemie die »regierungsfähigen« Parteien auf dem falschen Fuß. Gerade noch hatte der geschäftsführende Gesundheitsminister Spahn (CDU) es für möglich erklärt, die »epidemische Notlage von nationaler Tragweite« auslaufen zu lassen. Der Ruf der FDP-Führer nach einem deutschen »Freedom-Day« hallte noch in den Ohren. Da löste ein neues »Infektionsschutzgesetz« der Ampel die »epidemische Notlage« ab. »Generelle Lockdowns« seien nicht mehr nötig, hieß es, während die Infektionszahlen rasch anstiegen. Die CDU/CSU nutzte die Fehleinschätzung, um zur frischgebackenen Oppositionspartei aufzulaufen: Mitten in der 4. Welle den »Instrumentenkasten« zu reduzieren, sei verantwortungslos.
Freilich hatten bis dahin weder Michael Kretschmer (CDU) noch Markus Söder (CSU), deren Länder niedrige Impfquoten und die höchsten Hospitalisierungsraten aufwiesen, den »Instrumentenkasten« der epidemischen Notlage genutzt. Die Drohung, das Infektionsschutzgesetz im Bundesrat zu kippen, ließen CDU/CSU erst fallen, nachdem die Ampel zugesagt hatte, es zeitnah mit den Ministerpräsidenten gemeinsam zu überprüfen. »Aushandlungsprozesse« nach diesem Muster könnten bald zur Regel werden. Der designierte Kanzler Scholz hielt sich bei dem Schlagabtausch zurück. Lindner und die FDP prägten die Covid-19-Strategie der neuen Regierung.
Schon im Herbst hatte das »Sondierungspapier« von SPD, Grünen und FDP herbe Enttäuschung bei Jugendorganisationen, Sozialverbänden, Klimaschützern, Gewerkschaften und zahlreichen Wähler:innen von Grünen und SPD ausgelöst. In ihm waren alle grundlegenderen ökologisch-sozialen Reformversprechen, die über singuläre Zugeständnisse wie den Mindestlohn von 12 Euro hinausgingen, kassiert. Hartz4 hatte man einfach in »Bürgergeld« umbenannt und der »Freiheitspartei« FDP zuliebe selbst das Tempolimit fallengelassen. Die Begründung für das Umschmeicheln der FDP gab Habeck: Diese Partei habe den »weitesten Weg« zur Ampel zurückzulegen.
Narrativ der »Fortschrittskoalition«
Die Ampelparteien erfanden das gemeinsame Narrativ, eine »Fortschrittskoalition« zu sein, nicht nur für die nächste Legislaturperiode, sondern »für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung« (Sondierungspapier). Die im 177 Seiten starken Entwurf des Koalitionsvertrags vereinbarten Hauptvorhaben sind die beiden »großen Transformationen« Digitalisierung und Klimaschutz.1 Die Ministerposten waren bei Redaktionsschluss noch nicht endgültig verteilt. Scholz war als Kanzler gesetzt, vorgesehen waren Lindner für Finanzen, Habeck für Wirtschaft und Klimaschutz, Baerbock für die Außenpolitik.
Die Digitalisierung soll die staatliche Verwaltung modernisieren, Genehmigungsverfahren beschleunigen und private Innovationen »entfesseln«. Nach neoliberaler Ideologie steht der Staat dem bisher im Wege. Die in Aussicht gestellten segensreichen Wirkungen der Digitalisierung reichen von »mehr Bürgernähe« und einer effizienteren Verwaltung bis zur besseren Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen. Doch standen Absichtserklärungen eines schnellen Breitbandausbaus auch schon in den Koalitionsverträgen von 2009, 2013 und 2018. Trotzdem blieben die meisten ländlichen Räume abgehängt und übermittelten während der Coronakrise die Gesundheitsämter ihre täglichen Daten dem Robert-Koch-Institut mit Faxgeräten.
Beim Klimaschutz stehen die Dekarbonisierung und der massive Ausbau erneuerbarer Energien im Vordergrund. Realistischerweise soll der (nicht zuletzt wegen der Elektromobilität) in Zukunft stark ansteigende Strombedarf übergangsweise auch durch den Bau »moderner Gaskraftwerke« gedeckt werden. Den Kohleausstieg strebt die Ampel »idealerweise bis 2030« an, statt wie bisher 2038. Bis 2030 sollen 80 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien kommen, 2045 soll Klimaneutralität erreicht sein. Absichtserklärungen, die in der BRD besonders hohen und derzeit rasant steigenden Strom- und Heizkosten zu senken, fehlen auch nicht. Doch erst 2023 soll die EEG-Umlage wegfallen. Der im Wahlkampf versprochene »soziale Ausgleich« (Klimageld) bleibt im Koalitionsvertrag ein bloßes, abstraktes Bekenntnis.
Staatliche Investitionen und Anreize des Staats für mehr private Investitionen sollen die beiden großen Transformationen befeuern. Das könne den konjunkturellen Aufschwung nach der Coronakrise verstärken und insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit der Exportnation Deutschland erhöhen. Man stelle die Weichen dafür, dass die »soziale Marktwirtschaft« in eine »sozial-ökologische Marktwirtschaft« übergehe. Der Koalitionsvertrag befinde sich auf dem 1,5-Prozent-Pfad des Pariser Abkommens.
Möglich, dass das für die Ziele der Energiewende gilt. Vom Willen zu einer ernsthaften Verkehrswende ist dagegen wenig zu spüren. Zwar bekennt man sich zum Ausbau der Schiene, aber im Zentrum der Dekarbonisierung des Verkehrs steht klar die Förderung des Individualverkehrs. Bis 2030 sollen auf Deutschlands Straßen 15 Millionen vollelektrische Pkw rollen. Die nötige Ladesäuleninfrastruktur will der Staat überall dort schaffen, wo private Investoren es nicht tun. Der Koalitionsvertrag liebt das Wort »Markthochlauf«. Deutschland soll Leitmarkt für Elektromobilität werden, Zentrum für Forschung, Fertigung und Recycling von Batteriezellen, globaler Standort für Halbleiterindustrien und nicht zuletzt Leitmarkt für Wasserstofftechnologien.
Die Koalition will jährlich 400 Tausend Wohnungen bauen, ein Viertel mit Sozialbindung. Mietpreisbremsen sind vorgesehen, ein Mietstopp nicht. Ein einmaliger Bonus von 1 Milliarde geht an Pflegekräfte in Krankenhäusern. Gut so, aber nötig wäre die dauerhaft gute Entlohnung, um genug Personal zu gewinnen. Angekündigt ist eine Kindergrundsicherung. Es soll Lockerungen geben, die nichts kosten: die Streichung des § 129a, mehr Minderheitenschutz, weitere Diskriminierungsverbote. Cannabis wird legalisiert, das Wahlalter soll auf 16 sinken. Bei der Migration werden Familiennachzug, Aufenthaltserlaubnis und Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert.
In »sozialliberaler Tradition«?
Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags prophezeite Lindner, Olaf Scholz werde ein »großer Kanzler« werden. Er versprach Bildungsförderung zur Einlösung des »Aufstiegsversprechens«. Die FDP, die das Bildungsministerium übernehmen will, knüpfe damit an eine gute »sozialliberale Tradition« an.2 Mit dem Vergleich irrt der 1979 geborene Lindner. Das kräftepolitische Umfeld der kurzen, »sozialliberalen Reformära« der Regierung Brandt/Scheel 1969 bis 1974 war ein völlig anderes als das heutige.
Damals ging ein Zwang zur Anpassung und zu Reformen des staatsmonopolistischen Kapitalismus von der Systemkonkurrenz mit dem sozialistischen Lager, vom Zusammenbruch des Kolonialsystems und von einer starken demokratischen außerparlamentarischen Opposition (APO) im Inneren aus. An der Ablösung von 20 Jahren CDU-geführter Regierungen, an der Bildungsreform, an einem Ende des Kalten Krieges und dem Übergang zur Entspannung waren Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre auch relevante Teile der Bourgeoisie interessiert. Die FDP unter Walter Scheel reflektierte die Wechselstimmung dieses Teils der herrschenden Klasse.
Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 und im Zuge des Neoliberalismus erleben wir ein Roll-Back der damals erkämpften Reformen, mit Ausnahme von »Kulturreformen«, die mit der Macht des Monopolkapitals vereinbar sind und die sich der Neoliberalismus einverleibte, um für die neuen akademischen Mittelschichten attraktiver zu werden. In den 40 Jahren Neoliberalismus veränderten sich die Kräfteverhältnisse national und international grundlegend zu Lasten der Lohnabhängigen. Lohnabhängige und Gewerkschaften wurden sozial und politisch in die Defensive gedrängt. Erhebliche Teile leben heute in prekären Verhältnissen. Dagegen war der Neoliberalismus für Vermögensbesitzer, Großaktionäre und Reiche eine einzige Erfolgsgeschichte.
Dass das neoliberale Regime die Widersprüche des Kapitalismus nicht löst, sondern nur auf höherer Stufe reproduziert, weiß man spätestens seit der Krise 2008. Nach der Krise ging der Welthandel zurück. Die Investitionszurückhaltung blieb. Der angehäufte Reichtum floss wieder in Finanzmärkte statt in Realinvestitionen. Die Kaufkraft blieb schwach. All das hängt damit zusammen, dass Konjunkturkrisen die akkumulierten Disproportionen heute nicht mehr bereinigen. Die Notenbanken stützen mit der Null-Zins-Politik die Vermögenspreise. Gehen sie gegen die Inflation vor, riskieren sie einen Crash. In der Coronakrise 2020 ff. setzt sich die Krise von 2008 fort.
Die internationale Lage ist heute geprägt durch den Abstieg der USA als Hegemonialmacht des Westens und den Aufstieg des Südens, vor allem Chinas. Von dem Bestreben des US-Imperialismus, die Regeln der Weltwirtschaft auch in Zukunft allein zu bestimmen, gehen Tendenzen zur Blockbildung und zum Protektionismus aus. Immer neue Sanktionen, das Schüren von Spannungen, Provokationen und Aufrüstung zielen primär auf die Einkreisung und Eindämmung Chinas und Russlands.
Der Koalitionsvertrag 2021 mit der Überschrift »Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit« wird von drei Parteien getragen, die den Neoliberalismus in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich mit vorangetrieben haben. Die FDP leitete mit dem Lambsdorff-Papier 1982 das Ende der sozialliberalen Koalition und den Seitenwechsel zu Helmut Kohl ein. Die Grünen als Partei der wachsenden neuen Mittelschichten engagierten sich in den 1980er Jahren in der Friedensbewegung und tendierten zu Koalitionen mit der SPD. In den Schröder/Fischer-Regierungen 1998-2005 mauserten sie sich zur neoliberalen NATO-Partei.
Neoliberal und NATO-treu
Den Weg zur NATO-Partei hatte die aus der Arbeiterbewegung kommende SPD mit dem Godesberger Programm bereits 1959 vollzogen. Die Agenda 2010 der Regierung Schröder/Fischer besiegelte den Übergang zum Neoliberalismus. Die Agenda kostete die SPD im Laufe der Zeit die Hälfte ihrer Wähler:innen, während die Grünen ihre Mittelschichtenklientel in das Bündnis mit dem Monopolkapital »mitnehmen« konnten und zunehmend als Juniorpartner der CDU fungierten. Es hätte an ein Wunder gegrenzt, wenn diese Parteien 2021 etwas anderes zuwege gebracht hätten als neoliberalen »Fortschritt«. Bemüht, einzelne Auswüchse des Neoliberalismus abzumildern oder umzubenennen, behalten sie die Grundrichtung bei und versuchen sogar, die bereits gescheiterte Politik mit altbekannten neoliberalen Ladenhütern zu »boostern«.
So soll bei der Rente (wieder einmal) eine teilweise »Kapitaldeckung« eingeführt werden. Man will »Pilotprojekte« für die weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit anstoßen. Minijobs und Niedriglohnsektor sollen erhalten bleiben. Pläne, den Bahnkonzern zu zerschlagen, wurden durch die sofortige Mobilisierung der Eisenbahnergewerkschaft gerade noch verhindert. »Dennoch heißt es für uns: Vorsicht an der Bahnsteigkante«, schreibt die EVG. Auch hier drohte Ausgliederung. »Was die Pläne für die Deutsche Bahn konkret bedeuten, werden wir in den kommenden Monaten sehen. Die EVG ist sehr wachsam und wir werden diesen Prozess sehr kritisch begleiten.«3 Immerhin zeigt das Handeln der EVG, dass die Rolle der SPD-Führung als Transmissionsriemen von Monopolinteressen in die Arbeiterklasse sich auch mal ausbremsen lässt.
Alle Vorhaben der neuen Regierung stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Ab 2023 soll die »Schuldenbremse« wieder gelten und will man auch in der EU für die Rückkehr zur sogenannten »Stabilitätspolitik« sorgen. Investitionen will man mit Hilfe der Förderbanken, durch Kreditaufnahme von Staatsbetrieben und Mobilisierung von privatem Kapital finanzieren. Steuererhöhungen für Reiche lehnt die FDP strikt ab. Finanzminister Lindner sorgt für Kontinuität in der Umverteilung von unten nach oben. Unter neoliberalem Vorzeichen bringt der objektiv arbeitssparende technologische Fortschritt der Digitalisierung nicht mehr freie Zeit für die Lohnabhängigen, sondern längere Arbeitszeiten, mehr Prekarisierung, Erwerbslosigkeit und Unsicherheit.
Für mehr Unsicherheit sorgt zugleich die angedrohte Außenpolitik der Ampel. Ziel sei »eine souveräne EU als starker Akteur in einer von Systemkonkurrenz und Unsicherheit geprägten Welt«. Die EU solle zum »europäischen Bundesstaat« entwickelt werden. Im Verein mit dem »transatlantischen Wirtschaftsraum« wolle man »globale Standards setzen«. Das Investitionsabkommen EU-China ist dagegen auf Eis gelegt. Die EU-Militarisierung, die Aufrüstung im Rahmen der NATO oder komplementär zu ihr sollen weitergehen, inklusive »atomarer Teilhabe« und bewaffneter Kampfdrohnen.
Im Vordergrund der verkündeten »wertebasierten Außenpolitik« stehen nicht Frieden und Entwicklung, sondern universelle Menschenrechte. Denen wolle man weltweit Geltung verschaffen, während real der Ausbau der Festung EU das Wohlstandsgefälle sichert. Interessengeleitete selektive Wahrnehmung, Doppelstandards, Feindbildpflege, Hetze, Interventions- und Sanktionspolitik sind vorprogrammiert. Was wir dagegen brauchen sind friedliche Koexistenz und internationale Kooperation zur Bewältigung weltweiter Krisen und globaler Menschheitsprobleme. Die Mittel, die die Aufrüstung verschlingt, werden überall für Investitionen in Gesundheit, Umwelt und Entwicklung gebraucht. Dafür wird der Klassenkampf von unten sorgen müssen.
1 Koalitionsvertrag: »Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit«, Berlin 2021. Aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir beim Zitieren auf Seitenangaben.
2 Anspielung auf Hildegard Hamm-Brücher (FDP), 1969-1972 Staatssekretärin im Bildungsministerium
3 https://www.evg-online.org/meldungen/details/news/deutsche-bahn-wird-nicht-zerschlagen-evg-koalition-muss-mehr-schiene-wagen-9324/
Die Axt im Rentenwald
Manfred Sohn
Wer nach einem alten Wahlversprechen »Mehr Demokratie wagen« in den 1970ern selbiges erwartet hatte, sah sich bald enttäuscht. Es kamen massenhaft Berufsverbote und Gesinnungsschnüffelei. Nun heißt es »Mehr Fortschritt wagen«. Insbesondere zukünftige Rentner:innen haben also allen Grund zu erfahrungsgestützter Skepsis.
Die Koalitionsverhandlungen zeichneten sich zwar durch weitgehende öffentliche Abschottung aus. Hinsichtlich der Zukunft der Altersvorsorge war aber leider auch eine dröhnende Stille seitens der Gewerkschaften zu vernehmen, obwohl bereits im Sondierungspapier Mitte Oktober die Grundzüge der gemeinsamen Vorhaben auf diesem Feld deutlich wurden. Das hatte bei früheren Angriffen auf die Grundpfeiler der seit 1957 in (West-)Deutschland geltenden Alterssicherung noch anders ausgesehen: Sowohl die Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf jetzt 67 Jahre als auch der Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der Rente, d. h. die Teilfinanzierung durch Riester- und Rürup-Verträge, die mit Steuergeldern gepampert allein von den abhängig Beschäftigten zu stemmen war und ist, hatten noch sofortigen und erbitterten Widerspruch der DGB-Gewerkschaften gefunden. Davon war in dem guten Monat zwischen Sondierungspapier und Koalitionsvertrag nichts zu spüren.
Für kommende Rentner:innen ist das kein gutes Zeichen. Es droht eine Grundkonstellation, durch die wesentliche Ziele der FDP, aufgrund der Transmissionsriemen der »Grünen« vor allem in die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der SPD in die traditionellen Industriegewerkschaften hinein, geschluckt werden.
Zu den Kernanliegen der Liberalen, zu ihrer Auffassung von »Fortschritt« gehört die Durchlöcherung der seit 1957 bestehenden Rentenkonstruktion. Deren Hauptpfeiler besteht seit dem in der Presse damals so benannten »Rentenkrieg« in der Umlagefinanzierung, die es übrigens in der DDR von Anbeginn an gab. Das bedeutet: Abzüglich einer sehr geringen Verwaltungsgebühr werden die Rentenbeiträge der aktiv tätigen Arbeiter und Angestellten zusammen mit dem ebenso hohen Beiträgen der Unternehmen, bei denen sie in Lohn und Brot stehen, an die Rentner entsprechend ihren vorherigen Einzahlungen weitergeleitet. Das treibt seit Jahrzehnten allen Börsianern Tränen in die Augen: Milliarden, nein, Billionen Euro fließen so an den Kapitalmärkten vorbei direkt aus den Geldbörsen der aktiv Beschäftigten in die ihrer alt gewordenen Kolleginnen und Kollegen!
Zwar verspricht der Koalitionsvertrag, es werde »keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben«. Aber gleich nach dieser Zusicherung kommt der Satz, der schon im »Sondierungspapier« stand und eigentlich bei den Gewerkschaften dazu hätte führen müssen, die Sturmglocken zu läuten: »Um diese Zusage generationengerecht abzusichern, werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen.« Konkretisiert wird das durch die Sätze: »Diese teilweise Kapitaldeckung soll als dauerhafter Fond von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle professionell verwaltet werden und global anlegen. Dazu werden wir in einem ersten Schritt der Deutschen Rentenversicherung im Jahre 2022 aus Haushaltsmitteln einen Kapitalstock von 10 Milliarden Euro zuführen. … Wir werden der Deutschen Rentenversicherung auch ermöglichen, ihre Reserven am Kapitalmarkt reguliert anzulegen.« Als Trostbonbon nach diesem Axthieb gegen das Umlageverfahren wird nachgereicht: »Die umlagefinanzierte Rente wollen wir durch die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie die erwerbsbezogene und qualifizierte Einwanderung stärken.«
Skandalös ist schon die Lesart, »Generationengerechtigkeit« mit dem Begriff der »Kapiteldeckung« zusammenzubinden. Generationengerecht wäre es, die Umlagefinanzierung – die seit 1957 dynamisiert, also an die Lohnentwicklung angepasst ist – zu stärken, statt sie auf diese Weise weiter substanziell zu schwächen.
Denn es ist ja nicht so, dass hier eine Marginalie beschlossen worden wäre. Die genannten 10 Milliarden sind eben ausdrücklich nur ein »erster Schritt«, dem ab 2023 weitere folgen sollen – in nach oben offenen Größenordnungen. In der Wochenzeitung »unsere zeit« hatte der langjährige Betriebsrat und IG-Metaller Reiner Heyse bereits im am 11. November auf die langfristigen Folgen dieser Weichenstellung hingewiesen. Durch die Tatsache, dass demnächst einige geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand gehen, wird es – da beißt keine Maus den Faden ab – zu Mehrausgaben der Rentenkassen kommen. Heyse macht klar: »Und zusätzlich zu dieser Mehrbelastung sollen noch Unsummen in Kapitalmärkte gepumpt werden. Die an Aktienmärkten angelegten Spargelder sind langfristig gebunden. Nicht ein Cent wird zur Bewältigung der Mehrbelastung in den kommenden 20 Jahren beitragen. Daraus einen Weg zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz zu machen, ist hirnrissig und dreist.« Er verweist auch darauf, dass durch die – übrigens seit langem von der FDP geforderte – neue Möglichkeit der Deutschen Rentenversicherung, ihre Reserven am Kapitalmarkt anzulegen, die Krisenanfälligkeit des gesamten Alterssicherungssystems wachsen wird.
Die Möglichkeiten der Staaten – auch des deutschen –, Geld aus dem Nichts zu schöpfen, sind begrenzt. Die Milliarden an Steuergeldern, die in den »Kapitaldeckungsfonds« gepumpt werden, stehen weder für Infrastrukturprojekte noch für Konsumbelebung zur Verfügung. Sie werden die heraufziehende Rezession also vertiefen. Die Möglichkeit »Reserven am Kapitalmarkt anzulegen« wird weitere Nebenwirkungen haben – zum Beispiel auf den Immobilienmärkten. Denn dort angelegte Rentengelder werden dazu beitragen, Immobilienpreise und damit die Mieten weiter in die Höhe zu treiben. Sie konterkarieren damit die schönen Versprechungen, durch den Bau »von 400.000 Wohnungen im Jahr« Mietpreise effektiv zu senken.
Auf zwei weitere Aspekte soll hier noch kurz eingegangen werden. Gegenüber dem Sondierungspapier neu ist (neben der amüsanten Selbstverständlichkeit, der Kapitaldeckungsfond solle »professionell« verwaltet werden) die Maßgabe, diese Gelder »global« anzulegen. Das folgt einem Kommentar der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) vom 10. November, in dem es unter der Überschrift »Die Chancen der Aktienrente« unter anderem heißt: »Die deutschen Renten aber sind an die Löhne gekoppelt, sie profitieren nicht zwingend von der globalen Dynamik.« An anderer Stelle dieses Kommentars wird geschwärmt vom »wirtschaftlichen Nachholbedarf in vielen Weltregionen«, der dort zum »Wachstum des Produktivkapitals« führe, von der die hiesigen »Altersvorsorgesparer« profitieren »dürften«. Das bedeutet im ökonomischen Kern aber nichts anderes, als dass per Kapitalmärkten versucht werden soll, Mehrwert aus anderen Weltregionen abzuschöpfen, um ihn – nach Abzug ordentlicher Provisionen für diejenigen, die diesen Prozess organisieren – zur sozialpolitischen Absicherung der eigenen imperialen Heimatbasis umzuleiten. Es ist also der Versuch eines alternden und stagnierenden imperialistischen Landes, von höheren Ausbeutungsraten in noch jüngeren und unverbrauchten Ecken des Globus zu profitieren. Ob diese Rechnung eines neuen Rentenimperialismus aufgehen wird, ist fraglich – der Versuch aber ist bemerkenswert und wird globale Spannungen in der weiteren Perspektive wahrscheinlich nicht dämpfen, sondern befeuern.
Neu gegenüber dem Sondierungspapier ist im Koalitionsvertrag schließlich die Ankündigung, »den sogenannten Nachholfaktor in der Rentenberechnung rechtzeitig vor den Rentenanpassungen ab 2022 wieder« zu aktivieren. Das bedeutet verminderte Rentenleistungen ab dem nächsten Jahr, weil so, wie die FAZ am 25. November richtig schreibt, »die Rentner zwar weiterhin vor sinkenden Bezügen geschützt« würden, aber eben »später fällige Erhöhungen entsprechend geringer« ausfallen werden, wenn »in einer Krise Löhne und Gehälter sinken«. Nullrunden werden so zum Standardfall werden und die von der Europäischen Zentralbank angekündigte Linie, gegenüber der sich etablierenden Inflation von fünf Prozent untätig zu bleiben, wird die durch die früheren Maßnahmen von SPD und Grünen eingeleitete Renten-armut auf weitere Kreise ausdehnen.
Diese weiteren Kreise werden nicht nur die heutigen Rentner oder die von morgen, sondern vor allem die von übermorgen sein. Der im Koalitionsvertrag bemühte Begriff der »Generationengerechtigkeit« ist vor allem deshalb so verlogen, weil die Hauptleidtragenden dieser von der neuen »Fortschrittsregierung« vorgenommenen Weichenstellung in der Alterssicherung vor allem die heute zwischen 30 und 50 Jahren alten Berufstätigen sein werden. Ihnen wird jetzt schon der Gürtel ihrer alten Tage enger geschnallt.
Umso wichtiger ist es, durch Aufklärung und Widerstand aller Altersschichten aus der scheinbaren Gesetzmäßigkeit auszubrechen, dass man immer dann, wenn SPD und Grüne zusammen regieren, Axthiebe gegen das Umlageverfahren und die Stabilität der gesetzlichen Rente gibt.
Doppelter Sprengsatz für Friedens- und Umweltpolitik
Bernhard Trautvetter
Die bisherige Ausblendung der Klima- und Umweltschädigung durch das Militär findet im Koalitionsvertrag ihre Fortsetzung. Sie macht die offiziell ausgegebenen Ziele der Klimapolitik unglaubwürdig. Die bisherige Gewichtung der Militärausgaben von deutlich über 50 Milliarden Euro1 beträgt circa das 22-fache des bisherigen Umweltetats des Bundes. Dieses Missverhältnis bedeutet eine immense Vergeudung von Ressourcen, von Kreativität und eine enorme Doppelbelastung, sowohl für den Frieden als auch für die Umwelt. Die neue Koalition will die alte zerstörerische Politik fortsetzen und sogar verschärfen. Der rot-schwarze Vertrag von 2017 besagte noch: »Damit die Bundeswehr die ihr erteilten Aufträge in allen Dimensionen sachgerecht erfüllen kann, werden wir den Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausrüstung, Ausbildung und Betreuung zur Verfügung stellen …« Im Regierungsalltag stieg dann der Militärhaushalt von circa 43 Milliarden US-Dollar auf fast 53 Milliarden US-Dollar, also um mehr als zwanzig Prozent.2 Der aktuelle Ampel-Koalitionsvertrag schreibt fest: » … im Rahmen des Internationalen Krisen- und Konfliktmanagements, die auf dem Völkerrecht insbesondere der Beschlüsse der VN basieren, hat die Landes- und Bündnisverteidigung an Bedeutung gewonnen. Beide Aufgaben sind durch die Bundeswehr gleichermaßen zu erfüllen. Die Bundeswehr muss entsprechend ihres Auftrages und ihrer Aufgaben bestmöglich personell, materiell sowie finanziell verlässlich ausgestattet werden.« Zum einen täuscht der Vertrag vor, die Auslandseinsätze der Bundeswehr bewegten sich im Rahmen des Völkerrechts, obwohl Nato-Kriegshandlungen auch unter Bundeswehrbeteiligung zwischen dem Golf und Nordafrika mit dem Friedensgebot des Völkerrechts brechen.3 Zum anderen eröffnen unkonkrete Formulierungen, die Planung weiter gesteigerter Hochrüstung der Bundeswehr. Die mehr als 50 Milliarden für das Militärministerium entsprechen sehr genau den notwendigen Investitionen für die Klimaschutz-Planungen der Ampel-Koalition.
Während die Regionen, in denen Nato-Streitkräfte zum Einsatz kamen und kommen, sich im Stadium des Zerfalls befinden4, formuliert der Ampel-Koalitionsvertrag: »Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Internationalen Sicherheit. Wir verbessern ihre Ausrüstung wie auch die der Bundeswehr.« Diese Mittel für Aufrüstung werden auch weiterhin für Bildungs-, Gesundheits-, Ökologie-, Infrastruktur- und Sozialpolitik fehlen. Dagegen Druck aufzubauen ist die Aufgabe der Linken, der Friedens-, der Ökologie- sowie der Gewerkschaftsbewegung.
Die doppelte Gefährlichkeit des Koalitionsvertrages für das Klima – das internationale wie das ökologische – ergibt sich auch aus den Aussagen zur Außenpolitik in Europa: Im Rot-Schwarzen Koalitionsvertrag strebten die Parteien noch ›gute Beziehungen zu Russland‹ an. Der Ampel-Koalitionsvertrag verlangt nun eine ›kohärente‹ Politik gegenüber Russland. Damit verlässt die Ampelkoalition den Vertrag zur Deutschen Einheit von 1990, in dessen Präambel Deutschland auf eine Friedenspolitik festgelegt wird, die die Sicherheitsinteressen aller Staaten Europas, also auch Russlands berücksichtigt. Konkret wirft der Vertrag einseitig Russland vor, in der Krim-Krise internationales Recht gebrochen zu haben. Erneut übergeht auch dieser Text die Rolle westlicher Kräfte beim Staatsstreich in der Ukraine, der dieser Krim-Krise vorausging. Dabei wurde eine so genannte ›Übergangsregierung‹ unter Bruch der Verfassung installiert. Diese pro-westliche Administration hat die Spannungen gegenüber dem russischen Bevölkerungsanteil der Ukraine u. a. mit sprachpolitischer Diskriminierung gesteigert. Der Koalitionsvertrag dient in der Übernahme der Nato-Propaganda weder dem Frieden, noch der Nachhaltigkeit in Europa und der Welt.
Fatal ist auch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Bewaffnung von Bundeswehrdrohnen. Diese Waffen senken die Schwelle zur Anwendung von Gewalt und damit zur Eröffnung von Kriegshandlungen. Schon ihr bisheriger Einsatz hat zu mehr zivilen als militärischen Todesopfern geführt. Die Formulierung des Koalitionsvertrages, die Kampfdrohnen sollen »unter Berücksichtigung von ethischen und sicherheitspolitischen Aspekten« eingesetzt werden, sind als Beschwichtigung von Kritikern gedacht. Der Koalitionsvertrag will die Nato-Fähigkeitsziele erfüllen. Konkret heißt das laut Nato-Generalsekretär Stoltenberg: »Wir haben uns darauf geeinigt, mehr schwere Mittel mit mehr High-End-Fähigkeiten bereitzustellen. Die Streitkräfte müssen neue und bahnbrechende Technologien in vollem Umfang nutzen, um sicherzustellen, dass wir unseren technologischen Vorsprung aufrechterhalten. Auch dies ist ein zentraler Aspekt der Zusammenarbeit in der NATO: Wir haben uns auf bestimmte Fähigkeitsziele geeinigt und die Bündnispartner erfüllen diese Ziele. Das ist auch einer der Gründe, warum wir die Verteidigungsausgaben weiter erhöhen müssen.«5
Das Konzept umfasst auch die weitere Nuklear-Rüstung, für die der Vertrag Tür und Tor offen hält – Zitat: »Solange Kernwaffen im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.« Damit ist auch der Plan sanktioniert, rund zehn Milliarden für 45 US-amerikanische F 18- Atombomber auszugeben, die alleine für die Führung eines Atomkrieges, also für das finale Inferno bestellt werden. Sie sollen ›einsatzfreudigere‹ neuartige Nuklearsprengköpfe, die im Lauf der Legislaturperiode auch in Deutschland gelagert werden sollen, in (russische) Angriffsziele transportieren. Der Koalitionsvertrag enthält bezeichnenderweise keine Zustimmung zum Atomwaffenverbotsvertrag und keine Kritik an den Nuklearplanungen der Nato.
Zur Erinnerung: Die Militärminister der Nato beschlossen Mitte Oktober 2021 einen von ihnen so genannten ›Masterplan‹ für ein mögliches Vorgehen gegen Russland, der mit den Vokabeln ›Sicherheit‹ und ›Verteidigung‹ geschmückt ist, obwohl er sogar die Option eines nuklearen Erstschlages beinhaltet, um, wie es heißt, Russland abzuschrecken. Die Nato-Strategie nimmt zunehmend auch die Atommacht China ins Visier. Die vertraulichen Elemente des Masterplans gehen mehreren Berichten und dem Dlf-Interview mit Annegret Kramp Karrenbauer6 vom 21.10.2021 zufolge über die bestehenden regionalen Planungen der Strategen hinaus: Die Nato erklärt, sie bereite sich darauf vor, auf Angriff in der Ostseeregion und im Schwarzmeerraum möglicherweise auch mit Atomwaffen, durch Cyberkriegs-Angriffe im Internet oder durch Weltraum-gestützte »Operationen« zu antworten. »Wenn es zu einem derartigen Großkonflikt kommt, sind Aktivitäten im gesamten Operationsgebiet erforderlich«, sagte ein hochrangiger US-Regierungsvertreter. »Es könnten verschiedene Dinge gleichzeitig passieren, und das erfordert eine ganzheitliche Planung«.7
Der ehemalige hohe Nato-Beamte Shea erläuterte in diesem Zusammenhang: Die »Russen machen einige beunruhigende Dinge, sie üben mit Robotern und Hyperschall-Marschflugkörpern …«8 Die eskalierenden Ausführungen der letzten Militärministerin von Rot-Schwarz zu nuklearen Optionen9 sind mitnichten allein ihre persönlichen Gedankenspiele, wie der SPD-Fraktionsführer Rolf Mützenich mutmaßt.10
Schon 2017 veröffentlichte die Kalkarer Nato-Strategieschmiede JAPCC nach ihrer Essener Spitzenkonferenz zur ›Abschreckung‹: »Mit der Hypothese, … dass es zu viele Grauzonen gibt, etwa wenn die Berufung auf Artikel 5 Nato-Vertrag nicht eindeutig ist (z. B. bei einem gravierenden Cyberangriff auf ein Mitglied durch einen bekannten Gegner), kam die Forderung auf, dass die NATO-Strategie eine Verstärkung der konventionellen Abschreckung durch eine umfangreiche Aufstockung glaubwürdiger, nach vorne verlegter Streitkräfte benötigt. Dies wäre jedoch rein fiskalisch kostspielig. Alternativ könne eine Senkung der Nuklearschwelle und die Wiederherstellung von nuklearen Potentialen mittlerer Reichweite in Betracht gezogen werden.«11 Hier fordern Nato-Strategen klar die Eröffnung eines Atomkrieges ein, d. h. den atomaren Erstschlag. Dies passt zu ähnlichen Dokumenten: Auf der ›Ouvert Defense‹-Website finden wir diese brandgefährliche Position: »Da der Verdacht im Raum steht, dass sich nukleare Sprengköpfe in Kaliningrad befinden, ist eine schnelle Operation zur Zerstörung der russischen Startrampen zwingend. In diesem Fall könnte der Einsatz polnischer Kräfte für spezielle Operationen – SOF – eine Option sein. … Eine zweite Methode wäre ein präventiver Raketenangriff auf Stellungen und Silos, … einschließlich des Kaliningrader Magazins für Atomwaffen.«12
Vor diesem Hintergrund sind die kritischen Worte der verteidigungspolitischen Sprecherin der LINKS-Fraktion im Bundestag, Kathrin Vogler völlig berechtigt: »Was für eine mörderische Logik steckt in dem Satz des NATO-Pressestatements zum Beginn des ›Steadfast Noon‹-Manövers: › … Angesichts des sich verschlechternden Sicherheitsumfelds in Europa [ist] ein glaubwürdiges und geeintes Nuklearbündnis unerlässlich‹. Das heißt nichts anderes, als dass die NATO mit der Vernichtung ganz Europas droht, weil das Verhältnis zu Russland so schlecht ist. Das kommt dabei heraus, wenn man das Militär Außenpolitik machen lässt. … Nur eine Bombe, nur ein Atomschlag reicht aus, um ein nukleares Inferno auf dem europäischen Kontinent zu entfachen und die NATO ist offenbar immer noch bereit, den ersten Schritt zu tun. Um diese Bedrohung ein für allemal aus der Welt zu schaffen, hat die UNO den Atomwaffenverbotsvertrag verabschiedet. Diese mörderischen Waffen gehören abgeschafft! Wir erwarten, dass die neue Bundesregierung die historische Chance ergreift und umgehend diesem Vertrag beitritt …«13
Jüngst führte die Nato das Atomkriegsmanöver ›Steadfast Noon‹ unter anderem unter Beteiligung der Bundeswehr durch.14 Hierbei flogen Kampfbomber nicht nur der Nato-Atomstaaten, sondern auch z. B. der Bundesluftwaffe, Italiens und Polens laut Szenario Angriffe mit den in Europa stationierten US-Nukleararsenalen, die kurz vor dem Ersatz durch ›einsatzfreudigere‹ Systeme stehen.15
Dieses ›Sicherheitspolitik‹ genannte atomare Himmelfahrtskommando ist nicht nur wegen seiner Lebensbedrohung intolerabel, sondern auch wegen der Finanzlöcher, die es schon ohne Atomkrieg in den Staatsetat reißt und wegen der ökologisch nicht hinnehmbaren Ressourcenvernichtung: »Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind lebt unter einem nuklearen Damoklesschwert, das an einem seidenen Faden hängt, der jederzeit zerschnitten werden kann durch Zufall, Fehlkalkulation oder Wahnsinn.«16
Echte Friedens- und ökologische Politik vertragen sich nicht mit den Planungen und Strategien der Militärs.
Jetzt kommt es darauf an, dass die Friedens- und die Ökologiebewegung sowie alle wirklichen Fortschrittskräfte die Opposition gegen den Ampel-Regierungskurs von der Straße her organisieren. Für die LINKE bedeutet das, die Spektren, die in der LINKEN zusammengekommen sind, auf eine breite Bündnisarbeit in diesem Sinn auszurichten.
Alle Kräfte sind hier auf das Gemeinsame zu richten, eine Koalitions-Orientierung weicht nur die eigene Programmatik auf und führt so zum letztlichen Abtritt der LINKEN von der Bühne. Forderungen wie die nach einem Mindestlohn, der Altersarmut verhindert, nach ökologischer Infrastruktur, nach Bildung allseitig entwickelter junger Menschen und nach einem Gesundheitssystem ohne Profitorientierung, nach Abrüstung und Friedenspolitik statt Nato-Interventionen und Eskalation, diese Forderungen sind nur mit einer Stärkung der außerparlamentarischen Opposition durchsetzbar. Darauf hat die linke Opposition ihre Politik auszurichten, nicht auf Auseinandersetzungen über linke Identitäten.
2 ebd.
3 http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Voelkerrecht/gutachten.html
4 https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6550/
5 Behörden Spiegel 25.10.21, https://www.behoerden-spiegel.de/2021/10/25/die-nato-der-zukunft/
6 https://www.nachdenkseiten.de/?p=77227
7 https://www.straitstimes.com/world/europe/nato-to-agree-master-plan-to-deter-growing-russian-threat-diplomats-say – Übersetz.: B. T.
8 ebenda
9 https://www.nachdenkseiten.de/?p=77227
10 https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/militaer-verteidigung/id_91022404/rolf-muetzenich-gedankenspiele-von-annegret-kramp-karrenbauer-verantwortungslos.html
11 https://www.japcc.org/wp-content/uploads/JAPCC_Conf_2017_Proceedings_screen.pdf – Übersetz.: B. T.
12 https://www.overtdefense.com/2021/01/22/kaliningrad-gambit-nato-preemptive-strike-scenario/ – Übersetz.: B. T.
13 https://www.kathrin-vogler.de/start/aktuell/details/news/es-braucht-nur-eine-bombe-steadfast-noon-2021-hat-begonnen/
14 https://www.stern.de/politik/mit-nato-partnern--luftwaffe-uebt-fuer-schreckensszenario-atomkrieg-9450878.html?
15 https://fas.org/blogs/security/2015/11/b61-12_cartwright/
16 https://buechel-atombombenfrei.jimdofree.com/hintergrund/doomsday-clock-damoklesschwert/
AUKUS – neuer Aufmarsch gegen China
Stefan Kühner
Die USA, das Vereinigte Königreich England und Australien haben Mitte September ein trilaterales Militärbündnis beschlossen. Teil des Abkommens ist die Erlaubnis für Australien Atom-U-Boote auf US-Technologie zu bauen. Dies ist nichts anderes als ein weiterer Meilenstein in der militärischen Einkreisung Chinas. Dem Abkommen wurde der harmlose Namen AUKUS (Australien-United Kingdom-USA) verpasst und soll dazu dienen, die Seewege in der Region zu sichern und den wachsenden Einfluss Chinas in der Indopazifikregion einzudämmen.
Die chinesische Regierung reagierte empört. Ein Sprecher des Außenministeriums erklärte, dass das Abkommen den regionalen Frieden und die Stabilität unterminiere sowie das Wettrüsten intensiviere.
Die USA und ihre Verbündeten begeben sich in den letzten Monaten vor den Küsten Chinas in immer aggressiveres Fahrwasser. Gemeinsam mit Australien, Japan und Indien wollen die USA das Bündnis der Quad-Gruppe im Indopazifik vertiefen. Erst am 24.9.2021 hat US-Präsident Joe Biden die Regierungschefs aus Indien, Japan und Australien im Weißen Haus empfangen. [FAZ-1] Das Treffen der sogenannten Quad-Staaten soll einer engeren Zusammenarbeit im indopazifischen Raum dienen. Mit dem AUKUS-Bündnis dreht die US-Regierung nun erneut kräftig an der einseitigen Aufrüstung gegen China.
»AUKUS ist in keiner Weise ein Verteidigungsbündnis. In absehbarer Zeit droht kein chinesischer Angriff, geschweige denn eine Invasion auf dem australischen Festland. Die Chinesen verfügen nicht über derartige Fähigkeiten und werden diese auch in den nächsten Jahrzehnten nicht haben. Nein, bei AUKUS geht es nicht darum, die Masse der australischen Bevölkerung vor der Eroberung durch chinesische Invasionstruppen zu ›verteidigen‹. Es ist ein aggressives Bündnis, das die Kriegstrommeln schlägt, um die imperialistische Vorherrschaft der USA im indopazifischen Raum aufrechtzuerhalten. Australien wird von den USA nicht widerwillig mitgeschleppt. Die australischen Behörden haben die USA dazu gedrängt. Sie freuen sich über Bidens Ansatz, da sie ihn für viel seriöser und entschlossener halten als den sprunghaften Donald Trump. Diese Haltung ist nicht das Ergebnis eines kolonialen Schreckens oder Katerstimmung des australischen Establishments. Ganz im Gegenteil. Das australische Militär und das außenpolitische Establishment sind zu der kalkulierten Einschätzung gelangt, dass den imperialistischen Interessen der australischen herrschenden Klasse am besten gedient ist, wenn sie sich in einem Kräftemessen mit China voll und ganz auf die Seite der USA stellt«, erklärt Mick Armstrong im englischsprachigen Politikmagazin MR-Online. [MR-Online-1]
Selbst die, bestimmt nicht als US-feindlich einzuschätzende, SPD-Denkfabrik ›Friedrich-Ebert-Stiftung‹ kommt in einem Kommentar zu AUKUS zu dem Schluss: die oberste Herausforderung für die US-Politik in der Region bestehe darin, die strategische Vorrangstellung der USA zu erhalten und zitiert Präsident Biden mit einer Aussage vom März 2021: »China hat das große Ziel, das mächtigste Land der Welt zu werden. Solange ich im Amt bin, wird es dazu nicht kommen«.
Die geostrategische Bedeutung des südchinesischen Meeres
Das Südchinesische Meer ist eine der verkehrsreichsten Wasserstraßen der Welt. Rund 30 Prozent des Welthandelsvolumens von etwa 19 Billionen Dollar werden durch das Südchinesische Meer transportiert. Ein Blick auf die Landkarte zeigt: wer das Südchinesische Meer beherrscht, der kontrolliert den Zugang von und nach China. Dass China das Meer vor seiner Haustüre als Lebensader ansieht und entsprechend schützt, ist logisch. Das Gebiet ist außerdem reich an natürlichen Ressourcen. Es ist eines der Meeresgebiete, in dem verschiedene Länder, darunter China, Vietnam und die Philippinen, ihre Rechte beanspruchen. Den Ländern, die in der ASEAN-Gruppe verbunden sind, ist klar, dass die Probleme mit China lokal gelöst werden müssen. In den letzten Jahren haben sich die Spannungen in der Region deutlich verschärft. Die Gründe liegen nicht in erster Linie im Konflikt zwischen China und seinen Nachbarn, sondern im aggressiven militärischen Auftreten der USA in der Region.
Das Quad-Bündnis
Der sogenannte quadrilaterale Sicherheitsdialog QUAD, zu dem sich Indien, Japan, den USA und Australien zusammengetan haben, ist der zweite Pfeil im Köcher dieser Mächte. Der indische Außenminister Shri Harsh Vardhan Shringla erklärte, dass AUKUS weder für die QUAD relevant sei noch Auswirkungen auf ihre Funktionsweise haben werde.
»In Wirklichkeit sind AUKUS und QUAD komplementär zueinander. Der Anglosphärenpakt verschärft die wachsende Rivalität zwischen den USA und China durch zwei sichtbare indo-pazifische Strategien der USA. Erstens hat der AUKUS-Pakt gezeigt, dass die USA in der Lage sind, ein Bündnis zu schließen, das allein auf Verteidigungsgründen beruht, und damit eine große Abschreckung für China darstellt. Zweitens, eine starke Ausweitung des QUAD-Zeltes gegen Chinas Durchsetzungsvermögen. AUKUS hat nicht nur in China, sondern in der ASEAN die Alarmglocken schrillen lassen«, beurteilt die chinesische Regierung die Situation nüchtern. [CSRC-1]
Das ›Pazifische Jahrhundert‹ der USA
Das verstärkte militärische Vordringen der USA in den Pazifik ist keine neue Vorgehensweise, sondern liegt über 10 Jahre zurück. Bereits 2009 hatte der damalige US-Präsident Obama eine stärkere Hinwendung der US-Militärpolitik weg vom Nordatlantik zum Pazifik formuliert und sich selbst als ›ersten pazifischen US-Präsidenten‹ bezeichnet. Ein zunächst geplanter Rückzug von Teilen der US-Kriegsflotte aus dem Nordatlantik hat allerdings nicht stattgefunden, sondern eine ungeahnte Aufrüstung im pazifischen Raum und im Nordatlantik. Inzwischen werden die US-Stützpunkte rund um China systematisch erweitert. Wie eine Perlenkette ziehen sich die US-Stützpunkte zu Land und zu Wasser um China: Sie beginnen im Osten in Südkorea und Japan sowie den im zweiten Weltkrieg von den USA annektierten Inseln Guam, Wake Islands, oder dem Johnstone-Atoll, weiter auf den Marshallinseln, in Singapur und Thailand. In diesem Gebiet liegt außerdem die 7. Flotte der US-Navy. Im südostasiatischen Raum umwirbt die USA die ASEAN-Staaten, sich auf Bündnisse gegen China einzulassen. Tatsächlich gelang es ihr, einigen der Staaten Waffen zu verkaufen, die gegen China Paroli bieten sollen. Zu diesen Ländern gehört Vietnam. Nur allzu gerne möchte das US-Militär ehemalige Stützpunkte aus dem Krieg gegen Vietnam reaktivieren, um Mittelstreckenraketen gegen China zu stationieren. Für diese Pläne kommt aus Hanoi allerdings ein striktes Nein. Das Land lehnt eine Stationierung fremder Truppen, egal ob aus den USA, China, Russland oder sonst wo, kategorisch ab.
Die militärische Aufrüstung von Chinas Nachbarn verschärft zusätzlich die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen in der Region. Im Februar 2020 besucht US-Präsident Trump Indien und schwenkte stolz die Dokumente über einen drei Milliarden-Rüstungsdeal in die Kameras der Weltpresse. Ein Jahr zuvor bejubelt Trump den Verkauf von 105 zusätzlichen F-35 Lightning II-Jets an Japan. »Die USA werden helfen, sich gegen eine Reihe komplexer Bedrohungen in der Region und weit darüber hinaus zu verteidigen«, jubelte er.
Trump fädelte überdies ein Geheimabkommen über »Modernisierung, Interoperabilität, gemeinsame Ausbildung und Doktrin« mit Thailand ein [Reuters-1]. China empfindet dies als gewaltige Provokation.
Skepsis im Bündnis
Die Reaktionen im ASEAN-Bündnis auf AUKUS sind differenziert und gespalten. Mehrere ASEAN-Staaten fühlen sich bedroht und sehen in der Konfrontation zwischen den USA und China nicht allein und nicht in erster Linie die Schuld der USA.
Vietnam
Vietnam hielt sich bezüglich AUKUS mit Kommentaren zurück; dies ist allerdings nicht sehr überraschend, da es zur außenpolitischen Doktrin Vietnams gehört, interne Vorgänge der Bündnispartner und benachbarter Staaten nicht zu kommentieren. Das ›Australische Institut für strategische Studien‹ schätzt die Stellung Vietnams zum Abkommen wie folgt ein:
»Vietnam sieht im AUKUS-Abkommen ein Instrument im nationalen Interesse Australiens. Vietnam, das ebenfalls ein Ziel chinesischer Zwangsmaßnahmen ist, unterstützt nachdrücklich eine internationale, auf Regeln basierende Ordnung im Indopazifik, zu deren Aufrechterhaltung AUKUS beitragen sollte. Hanoi sieht in dem Abkommen sowohl ein trilaterales Sicherheitsbündnis als auch ein Instrument, das es Australien ermöglicht, atomgetriebene U-Boote zu erwerben – und hat damit kein Problem. Vietnam ist sich bewusst, dass Australien die Bedrohung seiner nationalen Sicherheit als real und unmittelbar bevorstehend ansieht. Die Neutralität Hanois in Bezug auf AUKUS und die Anschaffung australischer Atom-U-Boote könnte mehr als versteckte Unterstützung denn als Opposition verstanden werden. Vietnam ist der Ansicht, dass die beste Antwort auf eine Bedrohung darin besteht, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, was sich in der derzeitigen Verteidigungshaltung (und Aufrüstung / SK) Vietnams widerspiegelt. AUKUS entstand aufgrund der Machtpolitik Chinas, des zunehmend aggressiven Vorgehens im Südchinesischen Meer.« [ASPI-1]
Indonesien und Malaysia äußerten sich pessimistisch zu AUKUS. Das Außenministerium in Jakarta zeigt sich tief besorgt über den andauernden Rüstungswettlauf und die Machtprojektionen in der Region. Zur Verstimmung in Indonesien dürfte außerdem geführt haben, dass Australien Jakarta über AUKUS vorab nicht konsultiert hatte. Die Regierung der Philippinen begrüßte das Abkommen.
Atomare Aufrüstung ist eine Gefahr auch ohne Krieg
Es wird wohl fast ein Jahrzehnt dauern, bis das Atom-U-Boot-Abkommen in die Tat umgesetzt ist, in China und bei den Anrainer-Staaten sind jedoch bereits jetzt große Befürchtungen, um nicht zu sagen Ängste vorhanden.
In den ersten Oktobertagen wurden alle Befürchtungen, dass selbst zu Friedenszeiten von atomaren Waffensystemen eine Gefahr für die Menschen der gesamten Region ausgeht, durch einen schweren Unfall des US-Atom-U-Boots USS Connecticut bestärkt. Das Schiff stieß mit einem großen unbekannten ›Gegenstand‹ zusammen. [GT-1] Die US-Regierung und die wichtigsten Medien in Europa, beeilten sich abzuwiegeln und schrieben, dass die nuklearen Anlagen des Schiffs nicht beschädigt und lediglich wenige Soldaten an Bord verletzt worden seien. Unabhängige Berichte gibt es nicht und bis heute verweigert die US-Regierung Auskunft, wo genau der Unfall passierte und in welcher Mission das Schiff sich dort befand.
Wu Shicun, Präsident des »National Institute for South China Sea Studies«, erklärte bei einer Konferenz in Beijing: »Die geheimen Tauchfahrten sind immens gefährlich. Es geht nicht darum, dass wir keine Regeln haben, sondern darum, dass die Regeln in [einem] kritischen Moment nicht befolgt werden. Darin liegt das Risiko, wenn zwei Atom-U-Boote kollidieren würden, wäre das eine riesige Katastrophe«. [SCMP-1]
Feindfahrten
Verschärft wird die Situation durch die ständigen Seemanöver der US-Streitkräfte im Südchinesischen Meer. Jüngst meldete der US-Nachrichtensender CNN: »Wie die 7. Flotte der US-Marine mitteilte, fuhr am Mittwoch ein US-Zerstörer in die Nähe der Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer. Die USS Benfold fuhr bis auf 12 Meilen an das Mischief Reef heran, einen Teil der Spratly-Inseln, auf dem die Chinesen militärische Anlagen errichtet haben.«
Australische Friedensbewegung startet Kampagne gegen AUKUS
Australische Friedens-, Umwelt- und andere Aktivisten und Organisationen wenden sich gegen die Entscheidung der Regierung Morrison, dem trilateralen Sicherheitsabkommen AUKUS beizutreten und die Entwicklung von Atom-U-Booten zu fördern. Sie planen eine nationale Koalition gegen AUKUS. Sie heben die Risiken der Verbreitung von Atomwaffen hervor und warnen davor, von der Bedrohung durch den Klimawandel und den finanziellen Kosten für die australische Gemeinschaft abzulenken.
Auch die Kommunistische Partei Australiens wendet sich entschieden gegen den neuen Schritt in der Aufrüstung. In einer Erklärung heißt es: »Wir verurteilen uneingeschränkt das neue dreiseitige Abkommen sowie die Ankündigung, dass Australien über atombetriebene U-Boote verfügen wird. Das Abkommen wird Milliarden kosten und unser Land in die Hände der USA und Britanniens geben. Australien wird sich beim Bau der neuen U-Boote und ihrer Wartung während ihrer gesamten Laufzeit vollständig auf sie verlassen müssen. Australien wird das einzige Land der Welt ohne Kernkraftnutzung sein, das über eine maritime Nuklearkapazität verfügt«. [UZ-1]
Atom-U-Boote der Extraklasse
Atom-U-Boote gibt es seit den 1950er Jahren. Entwickelt und in Betrieb genommen wurden sie durch die USA. Der entscheidende Vorteil dieser Schiffe ist ihr nahezu unbeschränkte Aktionsraum und das Zeitlimit, in dem sie, ohne aufzutauchen, agieren können. Die komplette Technologie dieser Schiffe hielt das US-Militär bis heute strikt und kompromisslos in seiner Hand. Nach Großbritannien ist es jetzt erst das zweite Mal, dass es diese Technik an einen Partner weitergibt.
Die Ausrüstung der U-Boote wird in jeder Beziehung das neueste und beste sein, was der U-Boot-Markt zu bieten hat – vollgestopft mit ›künstlicher Intelligenz‹, Quantentechnologie, und Cyberabwehrsystemen; was nichts anderes heißt als Cyber-Angriffs-Waffensystemen. Geplant sind acht U-Boote.
Europa: Streit um Profite
In Europa löste der AUKUS-Vertrag vor allem einen Streit innerhalb des Kapitals aus. Der Frust bei den französischen Kapitalfraktionen ob des entgangenen Profits führte zunächst zu verbalen Attacken zwischen dem französischen Präsidenten Macron und seinem australischen Kollegen Morrison.
Schließlich ging es um eine 56-Milliarden-Euro-Vereinbarung, die Australien bereits mit dem französischen Rüstungsunternehmen Naval Group geschlossen hatte, das zu 60 Prozent dem Staat gehört.
Der US-Präsident beeilte sich den Streit zu schlichten, bevor er eskalierte. Die Art und Weise, wie ein neues Sicherheitsbündnis mit Australien eingefädelt worden sei, sei ›ungeschickt‹ gewesen, sagte Biden. Er habe damals den Eindruck gehabt, dass Paris schon lange vor der Ankündigung des Paktes informiert worden sei.
Quellen:
[ASPI-1] Australia can count on Vietnam to support AUKUS; 11.11.2021
Australia can count on Vietnam to support AUKUS | The Runway (airforce.gov.au)
[CSRC-1] What do AUKUS and QUAD hold for ASEAN?, Center for Strategic Research; 1.11.2021
What do AUKUS and QUAD hold for ASEAN? – Centre for Strategic and Contemporary Research (cscr.pk)
[FAZ-1] Frankfurter Allgemeine Zeitung; Quad trifft sich im Weißen Haus; 25.9.2021
Erstes Quad-Treffen im Weißen Haus (faz.net)
[GT-1] USS Connecticut collision info in S. China Sea must be disclosed: 25.10.2021
[MR-Online-1] AUKUS makes workers pay for war with China; 30.9.2021
AUKUS makes workers pay for war with China | MR Online
[SCMP-1] South China Morning Post;
As PLA and US bolster naval forces, fear of South China Sea nuclear submarine collision is building
As PLA and US bolster naval forces, fear of South China Sea nuclear submarine collision is building | South China Morning Post (scmp.com)
[UZ-1] Austratische Friedensbewegung / Stellungnahe KP Australien; 28.9.2021
Australian peace movement begin fight against AUKUS – City Hub Sydney | Your Local Independent News
Nein zum Atom-U-Boot-Wahnsinn | Unsere Zeit (unsere-zeit.de)
[Reuters-1] Reuters online; 10.7.2020
U.S. Army chief of staff signs »strategic vision« pact with Thailand
https://www.reuters.com/article/us-t0hailand-usa-idUSKBN24B0L3
Umbruch in Graz
Fokus auf die alltäglichen Sorgen
Anne Rieger
Die Kommunistin Elke Kahr wurde am 17. November 2021 in Graz zur Bürgermeisterin gewählt. Ein Paukenschlag im rechtskonservativen Machtgefüge. 18 Jahre lang konnte die Österreichische Volkspartei ÖVP den Bürgermeister stellen. Nun hatten 28 der 46 anwesenden Mitglieder des Gemeinderats der Kommunistin ihre Stimme gegeben. Mit ihr wurde die Grüne Judith Schwentner zur Vizebürgermeisterin und die Kommunisten Robert Krotzer und Manfred Eber zu Stadträten vereidigt. Der neuen Stadtregierung gehören außerdem zwei ÖVP-Stadträte und eine FPÖ-Stadträtin an.
»Die Wahl von Elke Kahr zur Bürgermeisterin markiert einen deutlichen Umbruch in der Geschichte unserer Stadt: Mit Elke Kahr wird die erste Frau an der Spitze der Stadt Graz stehen, sie wird die erste kommunistische Bürgermeisterin Österreichs sein und mit ihr wird eine Arbeitertochter aus der Grazer Triester Siedlung Bürgermeisterin. Sie hat ihre jahrzehntelange Arbeit stets selbstlos und bescheiden als Engagement im Dienst der arbeitenden Menschen und der Benachteiligten verstanden. Dass sie sich für nichts Besseres hält, sondern stets das Gespräch auf Augenhöhe sucht – mit der wohnungslos gewordenen Mutter, dem Krankenpfleger, der Elektrikerin, dem Gewerbetreibenden ebenso wie mit der Universitätsprofessorin«, so charakterisierte KPÖ-Stadtrat Krotzer Elke Kahr treffend in seiner Vorschlagsrede vor dem Gemeinderat.
Ihre Wahl ist ein Erfolg der Grazer KPÖ-Vorsitzenden, ein Erfolg aber auch der jahrzehntelangen, generationsübergreifenden gemeinsamen Arbeit der Mandatar:innen, der Beschäftigten in den Büros und aller Mitglieder und Sympathisant:innen der Partei. Bei allen lag der Focus immer auf den alltäglichen Sorgen derjenigen Teile der Bevölkerung, »die nicht im Rampenlicht stehen«. Und mit denen die Partei und die jeweiligen Vorsitzenden gemeinsam auf die Straße gingen, um, wenn es nötig war, Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung
Wenige Tage vor der Bürgermeisterinnenwahl hatte die Koalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ ihre Koalitionsvereinbarung »Gemeinsam für ein neues Graz. Sozial – Klimafreundlich – Demokratisch« der Öffentlichkeit vorgestellt. Zuvor hatten die Mitglieder von KPÖ und Grünen jeweils zu 100 Prozent zugestimmt, bei der SPÖ gab es 82 Prozent Zustimmung.
Im Zuge der Gespräche, die die stimmenstärkste KPÖ mit allen ins Grazer Rathaus gewählten Parteien führte, hatten sich rasch inhaltliche Schnittmengen und der gemeinsame Gestaltungswille mit Grünen und SPÖ herauskristallisiert. Der Wille der drei Fraktionen, sich zusammen zu tun – nicht zusammen zu raufen – schlug sich bereits am Anfang des Koalitionspapiers markant nieder: »Unsere Parteien wurden von Menschen gegründet, die sich gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung gestellt haben und in der Tradition des Antifaschismus, der Arbeiter:innenbewegung, der Friedensbewegung, der Frauen- und der Umweltbewegung stehen. In ihrer Geschichte konnten sie vieles erreichen – für die arbeitenden Menschen, für die Gleichberechtigung und für unsere Umwelt. Die Koalition … knüpft an die besten Traditionen unserer Bewegungen an, mit dem Ziel, Graz freundlicher, sozialer, ökologischer und demokratischer zu machen«
Bei den anderen Parteien, mit denen die KPÖ ebenfalls Gespräche geführt hatte, überwogen Vorbehalte oder die klare Ablehnung einer Zusammenarbeit wurde deutlich signalisiert. ÖVP und FPÖ erhalten jedoch nach dem geltenden Proporzprinzip Ressorts mit Verantwortung für die Grazer Menschen. Die ÖVP hat trotz ihrer Verluste 26 Prozent der Stimmen erreicht. Das wurde respektiert.
»Sozial – Klimafreundlich – Demokratisch«
21 Arbeitsschwerpunkte (siehe Kasten) werden in dem 18-seitigen Vertrag für die nächsten fünf Jahre vorgestellt. Er verdeutlicht, dass Klimaschutz und Soziales untrennbar miteinander verbunden sind. Die Sozialpolitik steht im gemeinsamen Focus der drei Parteien.
Wohnen und Soziales
Der KPÖ, zuständig für Wohnen und Soziales, ist die Schaffung von leistbarem Wohnen durch den Neubau von Gemeindewohnungen, die Verbesserung und der Ausbau der Wohnungsbeihilfe, »Wohnungen sind zum Wohnen, nicht zum Geldverdienen«, wesentlich. Leerstände werden erhoben, mit Maßnahmen zur Leerstandsmobilisierung soll Wohnraum geschaffen werden. Die Ausweitung der Socialcard, hinsichtlich Bezieher:innenkreis und Leistungen, soziale Ausgleichsmaßnahmen gegen Teuerung, Verbilligungen beim öffentlichen Verkehr durch Erhöhung des Zuschusses zur Jahreskarte Graz und zum Klimaticket Steiermark sind weitere wichtige Schritte. Die Kinderbetreuungsbeiträge sollen gesenkt werden
Aktuell – während der Pandemiemaßnahmen – hat Bürgermeisterin Kahr mit einer Dringlichkeitsverfügung festgelegt, dass die Beiträge für die nicht wahrgenommene Nachmittagsbetreuung ausgesetzt werden. Als klare Verbesserung ist bereits festgelegt, dass die bisher jährliche an die Inflation angepasste Erhöhung der Gebühren auf Wasser, Kanalisation und Müllabfuhr für 2022 ausgesetzt wird.
Umwelt, Verkehr, Stadtplanung
Der Öffentliche Verkehr wird ausgebaut. Erster konkreter Schritt ist eine neue Straßenbahnlinie, die bis 2025 realisiert sein wird. Sie ist ein markantes Gegenstück zu den teuren U-Bahnplänen des Ex-Bürgermeisters. Bereits eine Woche nach ihrer Wahl konnte die Bürgermeisterin die Verlängerung zweier bestehender Tramlinien in neu gebaute Stadtteile einweihen. An der Initiierung und Umsetzung war sie als vorherige Verkehrsstadträtin wesentlich beteiligt.
Die Grünen sind zuständig für Umwelt, Verkehr, Stadtplanung und Stadtbaudirektion. Es gab heftige Kritik am Ex-Bürgermeister, der die Stadt von Immobilienhaien zupflastern ließ. Dem profitgetriebenen Baugeschehen soll im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten Grenzen gesetzt werden. Die Revision des Flächenwidmungsplanes ist eine vorrangige Aufgabe. Hinter dem Slogan »Jeden Tag ein Baum« verbirgt sich, dass Graz grüner werden soll. Es wird – bereits definierte – verkehrsberuhigte Zonen geben, die Innenstadt wird schrittweise autofrei, die Fahrradwege weiter ausgeweitet. Unter dem Motto »Für jedes Kind ein Fahrrad« soll bereits den Jüngsten Mobilität durch finanzielle Unterstützung ermöglicht werden, die nachhaltige Wirkung haben wird.
Gesundheit, Pflege,
Gesundheit, Pflege, Arbeit und Beschäftigung obliegt der KPÖ. Es wird eine Gesundheitsdrehscheibe geschaffen, ähnlich der bereits bestehenden Pflegedrehscheibe, als Anlaufstelle, um Hürden im Gesundheitssystem abzubauen. Mit der Gesundheitsdrehscheibe kommt das Ressort näher zur Bevölkerung und wird selbst aktiv in Prävention und Gesundheitsförderung. Die Pandemie hat gezeigt, dass sich der öffentliche Gesundheitsdienst auf kommunaler Ebene nicht auf Kontrolle und Bescheidverfahren zurückziehen darf, daher ist personelle und finanzielle Stärkung notwendig. Mit beschäftigungspolitischen Initiativen auch auf Stadtebene soll dem Personalmangel im Pflegebereich entgegengewirkt, die psychosoziale Versorgung soll verbessert werden.
Frauen
Das Ressort liegt bei der Bürgermeisterin. Es soll wieder eine unabhängige Frauenbeauftragte geben, ein Maßnahmenpaket gegen Gewalt gegen Frauen und weitere Übergangswohnungen. Am internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen gab die Bürgermeisterin in Videobotschaft und Presseerklärung bekannt, dass in Graz die Hilfsangebote, insbesondere die für die Opfer häuslicher Gewalt, ausgeweitet und besser gefördert werden, z. B. durch besser finanzierte Frauenhäuser. Gewaltschutz müsse als fixer Bestandteil der Pandemiebekämpfung verstanden werden.
Transparenz
Die SPÖ, die zwar kein Regierungsressort erreicht hat, aber Teil der Koalition ist, steht für Transparenz bei Personalbesetzungen und der Vergabe städtischer Aufträge, und erhält den Vorsitz für vier wichtige Ausschüsse.
Parteienförderung kürzen
Die Koalition wird bei der Parteienförderung, die in Österreich hoch ist, und den Werbe- und Selbstdarstellungsausgaben der Stadt, sowie bei bestimmten Projekten kürzen. »Es wird keine Prestigeprojekte geben, die dem Großteil der Bevölkerung nicht dienlich sind«, so Kahr. Ein erster symbolischer Akt ist die Kündigung der Leasingverträge der teuren Dienst-BMWs, die über ٢٠٠.٠٠٠ Euro im Jahr kosten.
Finanzen
Finanzen und die umfangreichen Beteiligungen der Stadt, sowie das Personalamt liegen in den Händen des dritten KPÖ-Stadtrats. Demokratie, Soziales und Klimaschutz werden im Budget Vorrang haben. Sicherstellung der kommunalen Grundversorgung in öffentlicher Hand und keine Privatisierung von Betrieben und Dienstleistungen, kein Verkauf von städtischen Gebäuden und Grundstücken.
Im Augenblick wird ein provisorisches Budget beschlossen, denn erst nach dem Kassensturz am 15. März wird die Koalition Klarheit über die finanzielle Situation der Stadt haben. Bis Mitte Juni soll dann das nächste Zwei-Jahresbudget stehen.
Demokratie leben
Demokratie schließt für die Koalition die Einbindung aller im Gemeinderat und in der Stadtregierung vertretenen Parteien ein, unabhängig von weltanschaulichen Differenzen. Diese Haltung drücke sich in der Ressortverteilung in der Grazer Stadtregierung aus, die auf Interessen und bisherige Leistungen aller Stadtsenatsreferent:innen Rücksicht nahm. Demokratie und Transparenz drücken sich auch darin aus, dass alle im Gemeinderat vertretenen Parteien nun in möglichst allen Ausschüssen sowie auch Aufsichtsräten vertreten sein werden.
Sozialfonds bleiben
Und selbstverständlich werden Elke Kahr und die KPÖ-Stadträte von ihren Einkommen lediglich 2000 Euro im Monat behalten, um den Sozialfonds zu füllen, aus dem unmittelbar und unbürokratisch mit dem Nötigsten geholfen wird.
Kritik aus dem rechtskonservativen Machtgefüge
Die Kritik der Oppositionsparteien kommt postwendend: »Ein Programm zwischen Ideenlosigkeit, Mutlosigkeit und Gesellschaftsspaltung«, ortet der neue Grazer ÖVP-Chef Kurt Hohensinner den Koalitionsvertrag.
Darin deuten sich bereits die harten Widerstände an, mit denen die Koalition rechnen muss. Ziel ist, ihr menschenfreundliches Programm zu durchkreuzen, es zu verhindern, um Enttäuschung bei Wähler:innen zu erreichen und eine Vertiefung der kommunalpolitischen Verankerung zu verhindern. Nicht nur in den konservativen und den sich linksliberal gebenden österreich- und europaweiten Medien gibt es ein massives KPÖ-Bashing. Auch in Graz ist mit Widerstand zu rechnen. So verlieren viele Bezirksvorsitzende – praktisch die zweite Funktionärsreihe – in den 17 Stadtbezirken ihre Funktion und ihre Funktionsgebühr.
Industrie bietet Zusammenarbeit an
Interessanterweise aber boten die Chefs von Industriellenvereinigung (IV) und Wirtschaftskammer in der Steiermark wenige Minuten
nach der Vereidigung der »neuen Stadtregierung umfassende Zusammenarbeit an«. Interessant, denn am Tag nach der Wahl hatte der Geschäftsführer der IV noch gedroht, es sei »freilich nicht förderlich für einen Wirtschaftsstandort, dessen Dynamik von privaten Investitionen abhängt, wenn eine Partei, die für Gemeineigentum steht, die stimmenstärkste Gruppierung stellt«.
Dieses Zugehen der wirklich Mächtigen in Graz auf die Koalition ist sicher der guten, gelassenen Stimmung in Graz geschuldet, mit der große Teile der Bevölkerung der neuen Regierung entgegensehen. Sie lebt etwas, was die Menschen in den letzten Jahren unter Schwarz-Blau vermisst hat. Die Ideen aus der Stadtbevölkerung sollen viel stärker aufgenommen werden, was über Stadtteilversammlungen oder offene Regierungsbüros geschehen könnte.
Große Verantwortung
Es ist eine große Verantwortung, aus den Möglichkeiten, die die KPÖ geführte Koalition jetzt hat, »etwas Ordentliches zu machen«, so Stadtrat Krotzer. Das zu bewerten, sei in erster Linie Sache der Grazerinnen und Grazer. Wenn ihnen das, was die Dreier-Koalition vorlebe und mit ihnen gemeinsam durchsetze, so passe, wenn das gelänge, und das sei ja durchaus vorstellbar, dass dann dieses Modell über Graz hinausgehend zum Vorbild werden könnte. »Zum Vorbild dafür, dass es möglich ist, eine andere Form des Politik-Machens zu praktizieren, ohne Abgehobenheit und ohne sprechpuppengleiche Politiker:innen, stattdessen mit einem klaren Fokus auf die alltäglichen Sorgen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung«. Das sei allerdings nicht einfach. Man brauche einen klaren Blick auf die Kräfteverhältnisse. Ein soziales Reformmodell ja, aber »den Kapitalismus werden wir innerhalb der Stadtgrenzen nicht außer Kraft setzen können.«
Das Elend des Antikommunismus
Eine Presseschau von Manfred Mugrauer
Der Wahlsieg der KPÖ erregte weit über die Grenzen Österreichs hinaus Beachtung. Selbst der Washington Post war die Tatsache, dass eine kommunistische Partei zur stärksten Kraft in der zweitgrößten Stadt Österreichs aufgestiegen war, eine Schlagzeile wert. Während die KPÖ sonst von den Medien weitgehend totgeschwiegen wird, ging nun ein antikommunistisches Rauschen durch den österreichischen Blätterwald. Analysen, die sich ernsthaft mit den Ursachen des kommunistischen Wahlerfolgs beschäftigen, blieben in der Minderzahl, stattdessen war in fast allen Zeitungen und Zeitschriften Stimmungsmache gegen die KPÖ angesagt.
Primitiver Antikommunismus
Wolfgang Fellner, einer der einflussreichsten Medienmacher des Landes, ließ sich in seinem Schundblatt Österreich zur »Expertise« hinreißen, dass in Graz knapp 30 Prozent die »Partei von Stalin« gewählt hätten. Im Interview mit der Krone, der auflagenstärksten Tageszeitung Österreichs, musste sich die künftige Bürgermeisterin Elke Kahr die Frage »Hat Nordkorea schon gratuliert?« gefallen lassen. Hans Peter Hasenöhrl führte im selben Blatt vergewaltigende Rotarmisten des Jahres 1945 gegen die KPÖ des Jahres 2021 ins Treffen. Auf oe24.TV, dem von Wolfgang Fellner betriebenen Fernsehsender, warnte der frühere Abgeordnete zum Europäischen Parlament Andreas Mölzer (FPÖ) gar vor der Diktatur des Proletariats, der frühere FPÖ- bzw. BZÖ-Spitzenmann Peter Westenthaler geißelte in einer TV-Konfrontation auf oe24.TV die »Linksextremistin« Elke Kahr. »Kommunisten sind rote Nazis. Erbarmungslos, menschenverachtend, ohne Gnade, mörderisch«, glaubte der Boulevardjournalist Michael Jeannée in seiner wöchentlichen Krone-Kolumne (28.9.2021) die antikommunistische Hysterie des Kalten Krieges noch einmal turmhoch übertreffen zu müssen. Ein wöchentlich erscheinendes Gratisblatt (Das Wien) stellte die wenig originelle Frage, ob das Grazer Fußballstadion nun in »Lenin-Arena« oder »Stalin-Stadion« umbenannt werden würde.
Solch primitive Formen des Antikommunismus mögen trotz ihrer massenmedialen Verbreitung noch als Kuriosum durchgehen. Für viele überraschend war hingegen, wie gereizt einige der wichtigsten Exponent:innen des (links)liberalen Journalismus auf den Wahlsieg der KPÖ reagierten. Sie rückten nicht die Hintergründe dieses »politischen Erdbebens«, sondern die Geschichte der Partei bzw. der weltweiten kommunistischen Bewegung ins Rampenlicht. Nicht selten wurden dabei die niedrigsten Ressentiments bedient, um alte Schreckgespenster wieder aufleben zu lassen.
Einige Kommentatoren hielten sich nicht lange mit Detailfragen auf, sondern gingen gleich aufs Ganze: Für sie ist Kommunismus eine verbrecherische Ideologie, die kompromisslos bekämpft werden muss, auch wenn sie nur in einer Landeshauptstadt ihr Haupt erhebt. Schon 1945 versuchte man die Österreicher:innen mit dem Lügenmärchen, dass die Kommunist:innen eine Diktatur vorbereiten, von jener Partei fernzuhalten, die sich für die breitestmögliche Entfaltung der Demokratie einsetzte. Dass sich an einem solchen »Framing« bis heute wenig geändert hat, bewies Hans Rauscher – einer der bekanntesten Journalisten Österreichs – in einer aktuellen Kolumne in der als linksliberal geltenden Tageszeitung Der Standard (2.10.2021), in der er den Kommunismus ohne jede Differenzierung als »menschenfeindliche Verirrung« charakterisiert. Als würden Elke Kahr und die Politik der KPÖ Graz nicht das Gegenteil beweisen, ist kommunistisch für ihn schlechthin ein Synonym für »intolerant« und »undemokratisch«.
Intellektueller Bankrott
In der Tiroler Tageszeitung (4.10.2021), der reichweitenstärksten Zeitung dieses Bundeslandes, ließ Alois Schöpf »das Blut von über 100 Millionen Menschen« aus dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels sprudeln und setzte Kommunisten mit Nazis gleich. Nicht weit davon entfernt bewegte sich Florian Klenk, der Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung Falter, der sich als Aufdecker von ÖVP-Korruptionsskandalen Verdienste erworben hat. Klenks lakonische Reaktion auf den KPÖ-Wahlsieg bestand darin, über sein reichweitenstarkes Facebook-Profil (mehr als 100.000 Follower) einen Wikipedia-Link zum »Schwarzbuch des Kommunismus« zu posten, mit Hinweis darauf, dass dieses für seine Jugend prägend gewesen sei. Auf Kritiker:innen, die sein substanzloses KPÖ-Bashing in Frage stellten, reagierte Klenk mit demonstrativer Arroganz.
Mit Wolfgang Mueller (Professor am Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien) sah sich bereits am 29. September im Standard einer der führenden Historiker Österreichs bemüßigt, vor der KPÖ zu warnen, weil sich diese 1948 angeblich für eine Teilung Österreichs ausgesprochen habe. Dass die Orientierung auf die Unabhängigkeit und Einheit des Landes nicht nur in den Jahren von Exil und Widerstand, sondern auch nach 1945 geradezu im Mittelpunkt der kommunistischen Politik stand, verschwieg er. Bereits in den letzten Jahren hat sich Mueller u. a. damit blamiert, einen angeblichen »Putschplan« der KPÖ aus dem November 1948, der sich letztlich als plumpe Fälschung ehemaliger Nazis in westlichen Diensten herausstellte, für authentisch zu halten.1 Als eher grotesk anzusehen ist die Tatsache, dass Mueller einen »Mangel an unabhängiger Forschung« über die KPÖ ortete, wohl im Hinblick auf jene Studien aus dem Umfeld der KPÖ, die seine Interpretationen in Frage stellen und widerlegen2 – als würde es sich bei einem Wissenschaftler, der drei Tage nach dem Wahlsonntag warnend gegen die KPÖ in den Ring steigt, um einen »unabhängigen Forscher« handeln.
Ähnliches ist über den Grazer Soziologie-Professor Christian Fleck zu berichten: Er rechnete der Grazer KPÖ – ebenso in einem im Standard erschienenen Gastkommentar (2.10.2021) – eine Negativbilanz der gesamten kommunistischen Bewegung vor, beginnend mit dem Kronstädter Aufstand im Jahr 1921, für den Elke Kahr ebenso verantwortlich zu sein scheint wie für die Verbrechen der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka. Als Gipfelpunkt meldete Fleck Zweifel an der »historischen Bildung« der Grazer Kommunist:innen an, hätte es doch »mehr als einen Anlass« gegeben, »die kommunistische Ideologie zu verabschieden«. Es gehört schon eine große Portion Überheblichkeit dazu, einer Wahlsiegerin die Berechtigung ihrer politischen Gesinnung abzusprechen und de facto ihre Zurechnungsfähigkeit in Frage zu stellen. Zuletzt wurde im Standard (5.10.2021) noch der Osteuropa-Experte Paul Lendvai aufgeboten, der nicht davor zurückschreckte, die kommunistischen Opfer des antifaschistischen Widerstands durch den Dreck zu ziehen.
Der Hauptzweck dieser von führenden österreichischen Journalist:innen und Intellektuellen getragenen Kampagne bestand darin, Druck auf die laufenden Koalitionsverhandlungen von KPÖ, SPÖ und Grünen auszuüben, um Rot-Rot-Grün und damit eine kommunistische Bürgermeisterin zu verhindern. Nicht zufällig begann der antikommunistische Blutdruck weiter zu steigen, als sich im November eine Einigung auf Elke Kahr als Bürgermeisterin abzuzeichnen begann. Wolfgang Mueller ging am 17. November im Standard sogar so weit, eine Kriminalisierung der KPÖ zu fordern. Während Nazisymbole in Österreich verboten seien, seien »kommunistische hierzulande straffrei«, wie der Professor für russische Geschichte in seinem Gastkommentar bedauerte. Zu seinen Nazi-Vergleichen passte auch das wenig gelungene Wortspiel, Graz habe sich von der »Stadt der Volkserhebung« im März 1938 zu einer »Stadt der Volkswirrung« entwickelt. Muellers Forderung, die KPÖ müsse sich vom Kommunismus distanzieren, könnte ohne weiteres in jeder Satirezeitschrift abgedruckt werden, in der sich etwa der Papst vom Heiligen Geist und der ADAC vom Automobil distanziert. Eine intellektuelle Bankrotterklärung bestand zuletzt darin, dass Mueller der KPÖ aufgrund ihrer Forderung nach einer sozialistischen Alternative eine Verletzung der »liberalen Verfassung« unterstellte. Tatsächlich ist die österreichische Bundesverfassung offen für gesellschaftliche Alternativen, der Kapitalismus ist in ihr nicht festgeschrieben.
Den Vogel schoss schließlich Johannes Schönner, der Geschäftsführer des Karl-von-Vogelsang-Instituts, der Bildungsakademie der ÖVP, in einem Gastkommentar in der Tageszeitung Kurier ab (16.11.2021): Unter dem Titel »Und wo bleibt Don Camillo?« verurteilte er darin nicht nur SPÖ und Grüne als opportunistische »Steigbügelhalter« kommunistischer Machtbefugnisse, sondern auch die steirische und österreichische Kirche, die in Österreich immerhin die Massenbasis seiner Partei, der ÖVP, gewährleistet. Manche Laienprediger würden die KPÖ, so Schönner, »als eine Art Caritas darstellen« und damit die Selbstaufgabe der katholischen Kirche einleiten. Unter dem »Deckmantel der politischen Neutralität« springe auch die Kirche auf den »Zug des Zeitgeistes« auf, trauerte Schönner offenbar jenen Tagen hinterher, in denen in Österreich die Pfarrer von der Kanzel herab den Antikommunismus predigten und das christliche Abendland vor der »roten Gefahr« in Schutz nahmen.
Kritisches Geschichtsbild
Nun sind Wikipedia-Links auf das »Schwarzbuch« und das Aufwärmen von Uralt-Geschichten, um die heutige kommunistische Politik schlecht zu machen, ausgesprochen triste Erscheinungsformen des Antikommunismus. Sie sind Zeugnis dafür, wie traurig es hierzulande um den Kommunismusdiskurs bestellt ist. Natürlich ist es nicht grundsätzlich anstößig, angesichts des wiedererwachten Interesses an der KPÖ auch deren Geschichte in den Blick zu nehmen. Es fragt sich nur, warum aus diesem Anlass nicht zuallererst die führende Rolle der Partei im antifaschistischen Widerstand und der verdrängte Anteil der österreichischen Kommunist:innen am demokratischen Wiederaufbau nach 1945 in Erinnerung gerufen wird. Stattdessen halten sich manche Journalist:innen für berufen, ein Österreich-Kapitel für das »Schwarzbuch des Kommunismus« nachzureichen, wobei dieses keine Verbrechensgeschichte, sondern allenfalls ein Sündenregister zum Inhalt haben kann. Verbrämt wird solch Schwarzbuchmethodik als »kritischer Journalismus«, der seine Rechtfertigung in angeblich »weißen Flecken« der KPÖ-Geschichte findet. Die KPÖ habe sich nicht hinreichend mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt, so der gebetsmühlenartig wiederholte Vorwurf, der weniger den aktuellen Forschungsstand, sondern eher die Ignoranz vieler Journalist:innen reflektiert. Umso mehr versuchen diese, ihr Unwissen über die Parteigeschichte mit »Enthüllungs«-Attitüde zu übertünchen.
Nicht zu übersehen ist, dass die KPÖ nach 1990 eine Neuorientierung einleitete, in der ein kritischer Blick auf die eigene Geschichte geradezu in den Mittelpunkt rückte. Als größter Fehler der Partei wurde ihre kritiklose Haltung gegenüber der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern erkannt. Die diesbezüglichen Analysen und Positionen der letzten 30 Jahre ließen sich ohne größeren Aufwand recherchieren und müssten von Journalist:innen nicht täglich neu angemahnt werden. Auch in geschichtswissenschaftlichen Analysen, die in den letzten 30 Jahren im Umfeld der KPÖ veröffentlicht wurden, wird keine einzige Problemzone der Parteigeschichte ausgespart. So hat sich der frühere Parteivorsitzende Franz Muhri um die Rehabilitierung der österreichischen Opfer des Stalin-Terrors verdient gemacht.3 In den Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft des KPÖ-nahen Geschichtsvereins sind in den letzten 20 Jahren mehr Beiträge über die Geschichte der KPÖ erschienen als in sämtlichen geschichtswissenschaftlichen Periodika über alle anderen österreichischen politischen Parteien zusammen. Ohne Übertreibung kann heute eingeschätzt werden, dass keine Partei in Österreich über ein derart kritisches Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte verfügt wie die KPÖ. Dennoch wird Elke Kahr in jedem Interview immer wieder neu auf den Prüfstand gestellt, wie sie es denn mit Stalin, der Hungersnot in der Ukraine in den 1930er Jahren und dem sowjetischen Gulag halte.
Wähler:innenbeschimpfung
Das Elend des Antikommunismus kommt nicht zuletzt in der vielerorts laut gewordenen Wähler:innenbeschimpfung und damit verbundener Realitätsverweigerung zum Ausdruck. All das, was Journalist:innen der KPÖ an Unzulänglichkeiten anlasten, wurde in den letzten 25 Jahren in Graz widerlegt. All das, was aus ihrer Sicht nicht sein darf bzw. nie eintreten darf, ist in Graz längst Realität: Nahezu 30 Prozent der Wähler:innen haben dort unter Beweis gestellt, dass der Begriff »kommunistisch« im Parteinamen der KPÖ seinen Schrecken verloren hat. Selbst Stammwähler:innen der ÖVP aus dem bürgerlichen Lager wählten nicht aus Versehen, Unwissenheit oder Dummheit die KPÖ, sondern entschieden sich bewusst für ein linkes oppositionelles Angebot, als Kontrapunkt zur herrschenden Politik. Nichtsdestoweniger bezeichnete Christian Ortner in der konservativen Tageszeitung Die Presse die KPÖ-Wähler:innen pauschal als »nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte«. Auch Wolfgang Mueller machte mangelnde politische Bildung für den Sieg der KPÖ in der »Stadt der Volkswirrung« verantwortlich.
Anstatt nach Erklärungsfaktoren dafür zu suchen, wie eine Partei mit dem ominösen »K« im Namen zur stärksten politischen Kraft einer Landeshauptstadt avancieren konnte, fällt zahlreichen Journalist:innen zumeist nichts Besseres ein, als Elke Kahr zu empfehlen, ihre Partei umzubenennen, ja dies geradezu einzufordern. Auch die leitende Falter-Redakteurin Barbara Tóth hielt es für angemessen, die Partei »mit ihren historischen Lasten« zu konfrontieren, und empfahl der »irreparabel beschädigten Marke KPÖ« einen neuen Parteinamen. Insgesamt scheinen Journalist:innen davon auszugehen, dass ihnen Kommunist:innen eine permanente Rechtfertigung schuldig sind, warum sie – ungeachtet der bisherigen geschichtlichen Erfahrungen – weiter am Antikapitalismus und an der Notwendigkeit einer sozialistischen Alternative festhalten.
Liest man die hunderten Kommentare in den sozialen Medien unter den zitierten Beiträgen, so wird jedoch deutlich, dass das Wiederkäuen von Ressentiments und Rezeptionsklischees bei der Mehrzahl der Standard- und Falter-Leser:innen auf keinen allzu großen Anklang stößt. Laut einer aktuellen Umfrage können sich sogar 42 Prozent der Österreicher:innen vorstellen, die KPÖ grundsätzlich zu wählen. Für sie ist eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne des sozialen Fortschritts wieder aktuell, und die KPÖ – im Gegensatz zu anderen politischen Kräften – ein glaubwürdiges Angebot. Klenk und Co. werden sich wohl damit abfinden müssen, dass die KPÖ auf dem besten Weg ist, Österreich-weit wieder zu einem anerkannten Faktor im Parteiensystem zu werden.
1 Vgl. dazu Manfred Mugrauer: Angeblicher Putschplan der KPÖ: eine Fälschung von Nazi-Agenten, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, 28. Jg. (2021), Nr. 2, S. 7–10.
2 Zur Auseinandersetzung mit Wolfgang Mueller vgl. Manfred Mugrauer: Die Politik der KPÖ 1945-1955. Von der Regierungsbank in die innenpolitische Isolation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020 (Zeitgeschichte im Kontext, Bd. 14).
3 Walter Baier/Franz Muhri: Stalin und wir. Stalinismus und die Rehabilitierung österreichischer Opfer, hg. vom Bundesvorstand der KPÖ. Wien: Globus Verlag 2001.
Editorial
Vor ungeheuerlicher Dummheit, Ignoranz und Lasterhaftigkeit schützen nur Vernunft und Weisheit, so die Botschaft Goyas in seiner bekannten Radierung. Weisheit kommt von Wissen. Der Umgang mit der Pandemie aber auch mit der drohenden Klimakatastrophe zeigt, wie wenig Vernunft und Wissenschaft in der Politik zu vorausschauendem Handeln genutzt werden, aber auch wie tief Wissenschaftsfeindlichkeit in der ganzen Gesellschaft verankert ist. Das hat für alle spürbare Konsequenzen und berührt letztendlich die Frage nach der Erkennbarkeit und Veränderbarkeit der Welt. Die Autor:innen unseres Schwerpunktes sind auf verschiedenen Feldern der Wissenschaftsfeindlichkeit auf der Spur, skizzieren Charakter, Entstehung, Folgen.
Die Ärztin Monika Münch-Steinbuch schreibt über Wissenschaftsfeindlichkeit, die im Pandemiegeschehen sichtbar wird und klärt dabei über wissenschaftlich Fundiertes auf. Sie belegt konkrete Zusammenhänge zwischen ökonomischen Interessen und politischen Strategien, der bereits Tausende von Menschen zum Opfer gefallen sind.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2022
- ISBN (ePUB)
- 9783961703517
- ISBN (PDF)
- 9783961706518
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2022 (September)
- Schlagworte
- wissenschaftsfeindlichkeit schlaf vernunft ungeheuer