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Inflation: Ursachen – Verursacher – Auswege

Marxistische Blätter 6_2022

von Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)
©2022 132 Seiten
Reihe: Marxistische Blätter, Band 6_2022

Zusammenfassung

Mit Beiträgen von: Manfred Sohn, Anne Rieger, Lucas Zeise, Murat Çakir, Claudio Ottone (Argentinien), Stephan Krüger, Klaus Müller


Weitere Themen: Aktuelle Bedeutung und Rezeption des apallo-Vertrages, Ulrike Hörster-Phillips; Sicherungsverwahrung – Illusion von Sicherheit, Franziska Schneider; Klima und Lenins Lösung, Alexander B. Vögele; Iran auf dem Weg zur Explosion?, Michail Magid (Moskau); Diskussion; Rezensionen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ein Transparent und der Frieden

Dr. Artur Pech (Kreistagsfraktion Die Linke Oder-Oberspree)

Am ersten Oktober war ich mit einem Transparent unserer Fraktion auf einer Friedensdemonstration. Darauf standen nur zwei Worte, eine Friedenstaube und das Logo unserer Fraktion. Die beiden Worte: »Frieden jetzt!« Ich musste danach lernen: Wer jetzt Frieden fordert, ist mindestens Querdenker, wenn nicht halber Nazi. So jedenfalls Redakteure des Spiegel, die uns direkt angingen.1 Da schießt das in der alten Bundesrepublik fälschlich als »Sturmgeschütz der Demokratie« bezeichnete Blatt Dauerfeuer und macht Gegner der bundesdeutschen Kriegspolitik zu »Querfrontlern« und mindestens halben Nazis. Das ist ein uraltes Rezept. Da wird eine Friedensbewegung angegiftet, die es schon gab, bevor die »Querdenkerei« erfunden wurde. Das Ziel ist ganz einfach: Wer heute für Frieden ist, wer die Zustände im Lande in ihrem Zusammenhang zur Kriegspolitik sieht, soll mundtot gemacht werden.

Später habe ich erfahren, dass am 5. Oktober – am Tage unseres Kreistages – Clare Daly, Irland, Mitglied der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament – GUE/NGL eine Rede hielt, die sehr genau auch dieses Problem beschreibt (Auszug):

»Herr Präsident,

der Krieg in der Ukraine eskaliert schnell zu einem noch größeren Schrecken. Und wie ich sehe, tut praktisch niemand in diesem Plenarsaal etwas dagegen. Tatsächlich scheinen die meisten Leute davon abzulenken, dass es eskaliert. Und genau in diesem Moment werden, wie üblich, Proteste gegen den Krieg diffamiert, und – um sie zum Schweigen zu bringen – als Verräter, Kumpane, Putin-Marionetten, Kreml-Handlanger und russische Agenten verleumdet. Ehrlich gesagt ist es erbärmlich.

Ich nehme den Vergleich nicht auf die leichte Schulter, aber die Grobheit und der Zynismus dieser Beleidigungen, die von den Mainstream-EU-Parteien kommen, könnten genauso gut von Hermann Göring geschrieben worden sein. Der sagte infam, dass die Menschen zwar nie Krieg wollen, aber in den Krieg gebracht werden können mit Drohungen und Verleumdungen. Alles, was dafür zu tun sei, ist ihnen zu sagen, dass sie angegriffen werden und dass die Pazifisten wegen mangelndem Patriotismus ihr Land einer Gefahr aussetzen – es funktioniert in jeder Hinsicht gleich …

Dieses Haus sollte sich für diese Debatte schämen. Worte werden verdreht, Bedeutungen untergraben und die Wahrheit auf den Kopf gestellt. Sich dem schrecklichen Wahnsinn des Krieges zu widersetzen ist nicht anti-europäisch, nicht anti-ukrainisch, nicht pro-russisch: Es ist gesunder Menschenverstand. Die Arbeiterklasse Europas hat in diesem Krieg nichts zu gewinnen und alles zu verlieren. (Hervorhebung A. P.) Und ich finde es bezeichnend, dass diejenigen, die nach Waffen für die Ukraine rufen, niemals Waffen für die Menschen in Palästina oder für die Menschen im Jemen fordern. Anders als Sie, bin ich gegen jeden Krieg. Ich will, dass er aufhört! Dafür entschuldige ich ich nicht.«2

Ich entschuldige mich auch nicht. Und ich verzichte auch nicht darauf, den Zusammenhang zwischen Krieg, Wirtschaftskrieg und Kosten, die den Menschen auch bei uns aufgebürdet und hinter scheinbar unverfänglichen Bezeichnungen wie »Energiekrise« oder »Inflation« versteckt werden, als das zu bezeichnen, was sie sind: vermeidbare KRIEGSKOSTEN.

1 (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/demonstrationen-in-berlin-wie-es-zur-ersten-querfront-im-heissen-herbst-kam-a-f77610e5-95ad-4050-9fb6-0cb0f97a6808)

2 Quelle: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/CRE-9-2022-10-05-INT-3-135-0000_EN.html,(Englisch, eigene Übersetzung).

Kriegs- und Krisengewinner zur Kasse!

Lothar Geisler

In der Debatte um das »Deckeln« und »Bremsen« der aktuellen Preisexplosion fällt ins Auge, dass das rosa-gelb-(NATO-)olivgrüne Regierungspersonal »Unternehmer und Bürger« meist in einem Atemzug nennt. In genau dieser Reihenfolge. So als wären beide Gruppen in gleichem Maße betroffen, oder gar dafür verantwortlich. Dementsprechend sind dann auch die meisten »Entlastungspakete«. »Geld vom Staat« wird zwar für alle angekündigt, aber die Praxis ist: »Unternehmer first«. So war es in der »Corona-Krise« zu erleben. So ist es bei der – mittlerweile ausgebremsten – »(Uniper)-Gasumlage« zu sehen. Und vor allem bei der strikten Weigerung der Bundesregierung, auch das zu deckeln und zu bremsen, was verschämt-verschleiernd »Übergewinne« oder »Zufallsgewinne« genannt wird. Im Klartext sind das »Kriegs- und Krisengewinne«, die sich große Konzerne einsacken, – nicht nur in der Rüstungsindustrie oder der Gas-, Öl- und Strombranche. Sie sind die Hauptpreistreiber und -nutznießer. Sie müssen wir ausbremsen!

Denn mehr »Geld vom Staat« für das Abpuffern von Kriegs- und Krisenfolgen funktioniert nicht ohne mehr Einnahmen für den »Sozialstaat«, zumindest nicht auf Dauer. Vor allem nicht, wenn diese Extraprofite und die gigantischen Rüstungsausgaben (für noch mehr Krieg, was sonst?) tabu bleiben. Von »Steuererleichterungen« profitiert schließlich nur, wer auch Steuern zahlt. Wer viel zahlt, wird mehr entlastet. Wer am dringendsten Hilfe braucht, weil er/sie wenig verdient, zahlt wenig und wird weniger entlastet. Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose und Geringverdienende gucken in die Röhre bei Christian Lindners Doktor-Spielen am Steuersystem. Die Gerechtigkeitslücke wird so immer größer.

Insofern sind alle Forderungen nach Besteuerung von Profiten und Vermögen, Schließung von Steueroasen etc. aus Sicht arbeitender Menschen nur logisch und heftig zu unterstützen. Denn Gewinne sprudeln noch und nöcher, nicht trotz, sondern wegen Krieg und Krise: Die börsennotierten Unternehmen in Deutschland haben dieses Jahr rund 70 Milliarden Euro für ihre Aktionär:innen ausgeschüttet, 50 % mehr als im Vorjahr. 400 Milliarden Euro Vermögen werden jährlich vererbt. In der Steueroase Deutschland wird nur ein Viertel davon überhaupt besteuert und das noch sehr niedrig. Multinationale Konzerne verschieben jährlich über 280 Milliarden Euro Gewinne aus der EU in Steueroasen …

Peter Mertens, Generalsekretär der belgischen »Partei der Arbeit«, auch bei uns bekannt durch sein Buch »Die Millionärssteuer«, hat nun für sein Land einen soliden Gesetzentwurf vorgelegt, der 70 % Steuern auf die »Übergewinne« von Energieerzeugern fordert. Darüber hinaus fordert er: »Wir müssen so wichtige Sektoren, wie den Energiesektor aus dem Markt nehmen und in die öffentliche Hand zurückführen, damit sie zum Wohle der Menschen und des Planeten arbeiten und nicht für den Profit. Das ist die einzige wirkliche Lösung für die Krise, die wir gerade erleben.«

»Von London bis Athen, von Madrid bis Bukarest – überall in Europa machen es unsere Nachbarn vor. Auch die Bundesregierung muss endlich eine Übergewinnsteuer umsetzen. Das Gebot der Stunde ist es, Kriegsgewinne umzuverteilen«, kommentiert Martin Schirdewan (Die LINKE) die jüngste Studie des Netzwerks-Steuergerechtigkeit, die im Detail vorrechnet, wie allein aus den Extraprofiten der Energiebranche jährlich 30 bis 100 Milliarden Euro staatlicher Mehreinnahmen zu generieren sind. Ja, Schirdewan sagt »Kriegsgewinne« und das ist gut gesprochen. Also ran an die Kriegskassen!

Protest gegen die Folgen der Krise ohne Nennung ihrer Ursachen? Einige notwendig polemische Einwände

Knut Mellenthin

Anders als manche ihrer Basisorganisationen ruft Führungspersonal der Partei »Die Linke« zu Demonstrationen gegen die Folgen der wirtschaftlichen und sozialen Krise auf, ohne auch die Sanktionen gegen Russland als Ursache zu erwähnen. Mehr noch: Sie unterstützt diese Sanktionen uneingeschränkt, verurteilt Kritik an den Sanktionen aus den eigenen Reihen – wie in der Bundestagsrede von Sahra Wagenknecht vom 8. September – und stellt sich gegen Demonstrationen und Kundgebungen, bei denen die Forderung nach Aufhebung der Sanktionen erhoben wird.

Angeblich ergibt sich dieses Vorgehen unmittelbar, alternativlos und zwingend aus der Hauptresolution des Parteitags der »Linken« im Juni. (»Kriege und Aufrüstung stoppen. Schritte zur Abrüstung jetzt! Für eine neue Friedensordnung und internationale Solidarität«)

In Wirklichkeit geht dieses Argument fehl, weil die Resolution zum Thema Sanktionen gegen Russland konträre, einander absolut ausschließende Aussagen enthält.

Einerseits heißt es dort:

Sanktionen müssen sich gegen Putins Machtapparat und den militärisch-industriellen Komplex und damit gegen die Fähigkeit zur Kriegsführung richten. Sanktionen, die sich vor allem gegen die Bevölkerung richten oder zur Verarmung im Globalen Süden beitragen, lehnen wir ab.

Andererseits steht in der Resolution aber auch:

Die Möglichkeiten, den Import von fossilen Energieträgern aus Russland schnellstmöglich stärker einzuschränken, müssen ausgenutzt werden. Auch den Import von umweltschädlichem Fracking-Gas lehnen wir ab. Es ist richtig, dass angesichts des Ukrainekrieges Nordstream 2 nicht in Betrieb genommen wird.

Vom zeitlichen Ablauf her ist eindeutig, dass die klare, keine unterschiedlichen Interpretationen zulassende Ablehnung von Strafmaßnahmen, »die sich vor allem gegen die Bevölkerung richten oder zur Verarmung im Globalen Süden beitragen«, die ursprüngliche Positionierung der Partei »Die Linke« in den ersten Wochen nach Beginn der russischen Militäroperationen gegen die Ukraine wiedergibt. Die gegensätzliche Position, die die schwerwiegenden Folgen für die Bevölkerung Europas und weit schlimmer noch für die Bewohnerinnen und Bewohner des »Globalen Südens« als Kollateralschäden in Kauf nimmt, wurde erst später zur Maxime der Parteiführung. Die Unvereinbarkeit der früheren mit der späteren Positionierung wurde und wird anscheinend nicht einmal bewusst wahrgenommen, geschweige denn kritisch reflektiert und diskutiert.

Gegen die vorherrschende Praxis, die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Russland als Hauptursache für die Preisexplosion beim Erdgas, dem hohen Preisniveau bei Erdöl, Kohle und Strom, und für die von diesen Faktoren ausgehende oder verstärkte Inflation zu verschweigen und die Sanktionen sogar konsequent aus allen Protestaktionen heraushalten zu wollen, lassen sich mit guten Gründen mehrere Einwände vortragen. Hier die vermutlich wichtigsten:

Erstens: Es gibt für die Staaten der EU insgesamt und vor allem für Deutschland keinen ausreichenden Ersatz für die Energieträger aus Russland, auf die durch die nach dem 24. Februar beschlossenen Sanktionspakete nicht nur langfristig, sondern erklärtermaßen dauerhaft verzichtet wurde. Dieser Stand der Dinge war den Regierenden schon vor dem von Russland ausgelösten Krieg bekannt, wurde aber zunächst bewusst geleugnet.

Zum Beispiel: Die deutsche Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, betonte am 16. Februar in einer Ansprache an das Europa-Parlament, die Gemeinschaft habe »umfangreiche Vorkehrungen« für den Fall der Einstellung aller Erdgaslieferungen aus Russland getroffen und sei für alle Eventualitäten gerüstet. Indessen kamen schon damals alle ernstzunehmenden Analysten zur Schlussfolgerung, dass die EU nicht einmal annähernd in der Lage wäre, eine plötzliche Unterbrechung der russischen Lieferungen, die im dritten Quartal 2021 etwas mehr als 43 Prozent des europäischen Gasverbrauchs ausmachten, zu verkraften.

Im Vorfeld des Krieges und der für diesen Fall verabredeten Sanktionen hatten Regierungen und Diplomaten der USA und der Europäischen Union Erkundigungen bei den wichtigsten Lieferländern von verflüssigtem Erdgas (Katar und Australien) sowie von Erdöl (Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate) eingeholt. Das übereinstimmende Ergebnis war, dass gegenwärtig und mindestens noch bis 2024/2025 keine wesentlichen Steigerungen der auf dem Weltmarkt verfügbaren Mengen möglich sind. Diese Tatsache wurde nach Kriegsbeginn bei wirtschaftlich sinnlosen Propaganda-Reisen deutscher Politiker nach Norwegen, Katar und in die Emirate (Minister Robert Habeck im März), nach Israel und Ägypten (von der Leyen im Juni), nach Aserbaidschan (von der Leyen im Juli), nach Kanada (Kanzler Olaf Scholz und Minister Habeck im August) sowie nach Saudi-Arabien und nochmals in die Emirate und nach Katar (Scholz im September) vollauf bestätigt. Dass überall dort aktuell nichts zu holen ist, hätte man, falls es wirklich nicht bekannt war, schnell und billig durch ein Telefongespräch oder eine Mail erfahren können.

Die Unterstützung für die Sanktionen der westlichen Allianz gegen Russland nimmt also wissentlich in Kauf, dass Erdgas nicht nur unerträglich teuer geworden ist, sondern im Winter nicht einmal in ausreichender Menge zur Verfügung stehen wird. Voraussichtlich werden dann Rationierungen unvermeidlich werden, die zum einen dazu führen, dass auch in wichtigen Wirtschaftszweigen »die Produktion heruntergefahren« wird, und die darüber hinaus auch die privaten Haushalte beeinträchtigen. Es droht der Bevölkerung der BRD in diesem und mindestens auch im nächsten Jahr eine tiefe Rezession, die schwerste Inflation seit 70 Jahren und ein »permanenter Wohlstandverlust«, wie es Ende September im Herbstgutachten der deutschen Wirtschaftsinstitute hieß.

Zweitens: Die Verknappung der auf den Weltmarkt gelangenden Energieträger durch die westlichen Sanktionen gegen Russland und der heftige Konkurrenzkampf um die noch verfügbaren Ressourcen haben – unter den gegebenen, nämlich vom Kapitalismus geprägten Bedingungen unvermeidbar – deren Preis in die Höhe getrieben. Die BRD an erster Stelle ist ein Land, das aufgrund seiner wirtschaftlichen und finanziellen Stärke andere, zum Teil sehr viel ärmere Länder wie etwa Pakistan überbieten und »aus dem Feld schlagen« konnte. Zu über 90 Prozent gefüllte Gasspeicher in der EU haben krassen Mangel an Energieträgern und Strom in anderen Ländern nicht nur zur Folge, sondern auch zur Voraussetzung. Noch weniger internationale Solidarität – eine scheinheilig gewordene Lieblingsparole der deutschen Mainstream-Linken – ist kaum vorstellbar. In ihrem Diskurs »problematisiert« sie diese zwangsläufige Folge der von ihr uneingeschränkt befürworteten westlichen Sanktionsstrategie jedoch nirgendwo und niemals.

Unbeachtet bleibt in diesem Zusammenhang auch, dass der mit den Sanktionen untrennbar verbundene plötzliche Umstieg vom Pipeline-Gas auf LNG-Transporte die vorhandenen Schiffskapazitäten enorm überfordert. Die unmittelbare Folge ist eine Verteuerung der Frachtraten und eine scharfe Konkurrenz um den verfügbaren Transportraum, der durch den Bau zusätzlicher Schiffe erst nach mehreren Monaten vergrößert werden kann.

Drittens: Mit ellenlangen Forderungslisten verlangt die deutsche Mainstream-Linke vom Staat, über dessen eindeutigen Klassencharakter sie lieber schweigt, die soziale Abfederung und im Grunde sogar Annullierung sämtlicher Folgen der von ihr unterstützten westlichen Sanktionsstrategie. Dass das beim gegenwärtigen Stand der Klassenkämpfe und des politisch-sozialen Kräfteverhältnisses nicht funktionieren kann, ist aber der Mehrheit der Menschen in diesem Land mehr oder weniger bewusst. Wie schon während der immer noch nicht ganz beendeten Corona-Krise stimmt die deutsche Mainstream-Linke den staatlichen Maßnahmen uneingeschränkt und bedingungslos zu, ohne verhindern zu können, dass deren soziale Folgen regelmäßig auf die schwachen, am wenigsten widerstandsfähigen Teile der Bevölkerung abgewälzt werden.

Auf die meisten Betroffenen wirken die Forderungslisten, die den Verzicht auf die russischen Energieträger als entscheidende Ursache der Misere nicht nur ignoriert, sondern sogar bis in die eigenen Reihen hinein aggressiv verteidigt, unglaubwürdig. Hinzu kommt, dass Führung und Mehrheitsströmung der Partei »Die Linke« von unüberwindlichem Ekel gegenüber der Rückständigkeit und Rechtsoffenheit der real existierenden »Massen« geschüttelt erscheinen. Wo sich auch nur 1000 Menschen zum Protest versammeln, sind nach statistischer Wahrscheinlichkeit 140 Wählerinnen und Wähler der AfD unter ihnen. In Wirklichkeit ist der Anteil der Rechten unter ihnen wahrscheinlich sogar noch erheblich größer, weil diese stärker dazu neigen, »auf die Straße zu gehen«, als der Anhang der Regierungs-Koalition oder auch der CDU/CSU. Die Mainstream-Linke kennt gegen diese Tatsache kein anderes Mittel als die ständig beteuerte und konsequent praktizierte Abgrenzung. Damit überlässt sie die real existierenden »Massen« von vornherein und völlig hilflos den Rechten. Wer diesem herrschenden Trend entschieden widerspricht, steht am Rande eines Ausschlussverfahrens.

Viertens: Die Abwendung oder wenigstens Abschwächung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der westlichen Sanktionsstrategie gegen Russland kann selbst in einem vergleichsweise »wohlhabenden« Land wie der BRD bestenfalls nur in einem geringen Ausmaß gelingen. Weltweit kann der Anstieg der Preise für die wichtigsten Energieträger und die dadurch ausgelöste oder verstärkte Inflation und Rezession gar nicht aufgefangen werden. Die ellenlangen Forderungslisten der Linkspartei sind nicht nur mit Bezug auf die BRD illusionär, sondern sie bleiben auch in einem streng bornierten nationalen, um nicht zu sagen nationalistischen Rahmen. Zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschaftskrieges gegen Russland hat die deutsche Mainstream-Linke absolut nichts zu sagen. Sie ist »solidarisch mit der Ukraine«, aber nicht mit dem Rest der Welt.

Europa auf dem Weg nach rechts

Ulrich Schneider

Eigentlich wurden nur nationale Parlamente neu zusammengesetzt. Aber die Wahlen in Frankreich, Schweden und Italien haben politische Auswirkungen auf ganz Europa.

Schon im Sommer 2022 zeigten in Frankreich die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen den gewachsenen Einfluss der extremen Rechten von Marine Le Pen im Land und im Parlament. Zwar gewann Macron noch die Stichwahl. Da die Partei des Präsidenten im Parlament jedoch keine eigene Regierungsmehrheit mehr besitzt, steht zu befürchten, dass Le Pen – ohne selbst in der Regierung zu sein – direkten Einfluss auf die französische Politik bekommt, insbesondere wenn es um die Durchsetzung von Verschlechterungen in der Sozialpolitik und bei Gewerkschaftsrechten geht.

Ähnlich sieht es in Schweden aus, wo die »Schwedendemokraten« eine offen rassistische Partei, die aus dem Umfeld der neofaschistischen Hooligans entstanden ist, nicht nur zweitstärkste Partei im schwedischen Parlament geworden sind, sondern als Mitglied einer rechten Zählkoalition dazu beigetragen hat, dass die sozialdemokratische Mitte-links-Regierung gestürzt wurde. Ob die Schwedendemokraten in der neuen Rechtsregierung vertreten sein werden, ist noch nicht ausgemacht. Es ist aber auch nicht das vorrangige Ziel dieser Partei. Ihr Ziel ist es, dass sich die Ausländerpolitik Schwedens in ihrem rassistischen Sinne ändert. Zudem vertritt sie einen sozialpolitischen Kurs, der sich am besten mit dem Slogan »Schweden zuerst« beschreiben lässt. Es geht um eine Politik, die ähnlich wie ehemals Donald Trump und andere rechtspopulistische Bewegungen einen nationalistischen Sozialrassismus vertritt. Da nicht zu befürchten ist, dass die im Zuge des Ukraine-Krieges forcierte NATO-Orientierung durch die Rechtsregierung geändert wird, gab es von der Europäischen Kommission bislang keine Kritik an dieser Politik.

Dramatisch sind die Ergebnisse in Italien. Zwar deutete sich schon vorher an, dass die extreme Rechte bei den italienischen Parlaments- und Senatswahlen deutliche Stimmengewinne erzielen würde. Doch das Wahlergebnis ist in mehrfacher Hinsicht erschreckend.

Die Wahlbeteiligung ist noch einmal gesunken und liegt nun ungefähr bei 63 %. Mit Blick auf die politischen Debatten vor der Wahl, bei denen die Gefahr einer offenen Rechtsregierung für alle klar und deutlich formuliert wurde, ist dies ein gefährliches Signal politischer Resignation auf der linken und demokratischen Seite.

Die Zusammensetzung des Rechtsbündnisses ist ebenfalls problematisch. Die mit Abstand stärkste Kraft sind die Fratelli d’Italia, eine offen faschistische Organisation, die bis heute ihre Affinität zum Mussolini-Faschismus zeigt. Wenn bundesdeutsche Medien die Vorsitzende Giorgia Meloni als angeblich »gemäßigt« darstellen, entspricht das nicht der politischen Programmatik. Matteo Salvini verlor mit seiner Lega deutlich an Stimmen. Aber nicht wegen seiner rassistischen Flüchtlingspolitik, sondern weil Meloni noch mehr sozialpolitische Versprechungen zugunsten der »kleinen Leute« gemacht hatte. Mit den neuen Kräfteverhältnissen in Parlament und Senat, wo die extreme Rechte nun eine komfortable Mehrheit besitzt, kann nicht nur »durchregiert« werden, sondern sind zudem die antifaschistischen Grundsätze der italienischen Verfassung in Gefahr.

Die politische Linke insgesamt hat eine deutliche Niederlage erlitten. Maurizio Acerbo (Rifondazione Comunista) betonte, dass es der Linken trotz Krieg und Inflation, des offensichtlichen Scheiterns der neoliberalen Politik und der Unpopularität der Draghi-Agenda nicht gelungen sei, als Alternative von den Menschen wahrgenommen zu werden.

Die europäische Dimension unterstrich Fabien Roussel, Nationalsekretär des PCF. Das Ergebnis in einem der Gründungsländer der EU sei ein politischer Wendepunkt für ganz Europa. Es zeige das Ausmaß der europäischen und italienischen sozialen, politischen und demokratischen Krise und das Ausmaß der sozialen und territorialen Ungleichheiten. Der extrem rechte Block habe zudem Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gesteigert und damit die Wut der Bevölkerung fehlgeleitet.

Mit dem Regierungswechsel in Italien wird die Gruppe der Rechtsregierungen von Ungarn, Polen und im Baltikum durch ein politisches Schwergewicht aus dem Süden gestärkt. Während beim Abbau demokratischer und sozialer Rechte zunehmend nationale Alleingänge zu erwarten sind, dürften sich in der Flüchtlingspolitik – verstärkt um die neue schwedische Regierung – Abschottung und Ausgrenzung verschärfen. Europa ist deutlich auf dem Weg nach rechts.

Der Präsident des italienischen Partisanenverbandes ANPI rief als Konsequenz dieser Wahlergebnisse auf, das gesellschaftliche Bündnis zu stärken, um die antifaschistischen Grundlagen der italienischen Verfassung zu verteidigen. Fabien Roussel sieht die Notwendigkeit, wieder eine Linke aufzubauen, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen und den Forderungen der Bevölkerung neue soziale und politische Mehrheiten entwickeln kann. Antifaschisten und Linke in allen europäischen Ländern sind gefordert, ihre politische Strategie neu zu denken.

250 000 bei Gewerkschaftsaktionstag in Frankreich

Georg Polikeit

Den deutschen Medien war das so gut wie keine Berichterstattung wert: eine Viertelmillion Menschen beteiligten sich am letzten Donnerstag (29. September) in rund 200 Orten an einem landesweiten Aktionstag der Gewerkschaften, zu dem die linksorientierte CGT zusammen mit den Gewerkschaften FSU und »Solidaires« sowie mehrere Studenten- und Jugendorganisationen aufgerufen hatten (Zahlen laut Eigenangaben der Veranstalter).

Die Beteiligung war deutlich größer als bei den vorhergehenden gewerkschaftlichen Aktionstagen im Frühjahr (150 000 am 27. Januar, 89 000 am 17. März). Offenkundig war dies ein Zeichen der inzwischen stark gestiegenen Unzufriedenheit und Wut in der Bevölkerung über die Verschlechterung ihrer sozialen Lebensverhältnisse durch die auch in Frankreich rasant ansteigenden Energie- und Lebensmittelpreise. Das hatten die beteiligten Gewerkschaften und Linkskräfte offensichtlich nicht der sozialen Demagogie der Rechtsextremisten überlassen wollen.

Unterstützt wurde der Aktionstag durch alle vier in der Koalition »NUPES« zusammengeschlossenen Linksparteien (Kommunisten, Sozialisten, »Insoumises« und sogar bislang nahezu undenkbar, selbst EELV/Die Grünen). Sie nahmen alle mit ihren führenden Politikern an den Demonstrationen in Paris (u. a. Fabien Roussel, Nationalsekretär der Kommunisten, und Olivier Faure, Erster Sekretär der Sozialisten) und Marseille (Jean-Luc Mélenchon von LFI) teil.

In vielen Orten und Betrieben waren die gewerkschaftlichen Kundgebungen und Demonstrationen mit zuvor teilweise in Belegschaftsvollversammlungen beschlossenen stundenweisen oder längeren Streikaktionen verbunden. Besonders in Energieunternehmen und im Bildungswesen – nachdem die Beschäftigen des Gesundheitswesens bereits am Donnerstag zuvor (22.9.) die Arbeit niedergelegt hatten und in vielen Städten und Gemeinden auf die Straße gegangen waren.

Laut Angaben der führenden bürgerlichen Tageszeitung »Le Monde« streikten im landesweiten Durchschnitt rund 20-30 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer, etwa 10 Prozent der Schulen blieben den ganzen Tag über geschlossen. Ein bereits dreitägiger Streik im führenden Energiekonzern TotalEnergy und Streiks in mehreren anderen französischen AKWs führten dazu, dass die Stromproduktion in Frankreich am 29.9. um etwa 8,5 Prozent zurückging. Bei den Eisenbahnen beteiligte sich auch die Eisenbahnergewerkschaft des ansonsten sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaftsbundes CFDT an den Aktionen. Laut Angaben der CGT war durchschnittlich einer von drei Beschäftigten der Regionalzüge im Großraum Paris im Streik.

Im Vordergrund der von den Aktionsteilnehmern erhobenen Forderungen stand angesichts der auch in Frankreich rapid steigenden Energie- und Lebensmittelpreise die Forderung nach einer Erhöhung der Massenkaufkraft durch allgemeine Erhöhung der Löhne und Gehälter, der Renten und Sozialleistungen. Die CGT betonte, dass dies mit einer Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 2000 €, der völligen Gleichstellung von Frauen- und Männerlöhnen und einer Verkürzung der Normalarbeitszeit auf 32 Stunden pro Woche verbunden sein müsse. Zu den auf Transparenten mitgeführten Losungen gehörte u. a. »Erhöht unsere Löhne, nicht unsere Misere!« oder auch »Macron, gib mir deinen Frigo« (Kühlschrank) und »Lasst uns die Reichen verspeisen!«

Der zweite inhaltliche Schwerpunkt der Aktionen war das »Nein« zu der von Staatschef Macron angestrebten »Rentenreform« mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf zunächst 64 und danach auf 65 Jahre und der Verlängerung der erforderlichen Dauer der Beitragszahlung für den Erhalt einer Vollrente. Kurz zuvor hatte Macrons aktuelle Premierministerin Élisabeth Borne angekündigt, dass in Kürze neue »Konsultationen« mit den »Sozialpartnern« und den im Parlament vertretenen politischen Parteien stattfinden sollen mit dem Ziel, »vor Ende des Winters« ein Gesetz zur Rentenreform im Parlament durchzubringen, damit es, wie Macron verkündet hatte, im Sommer 2023 in Kraft treten kann.

Das Problem für Macron und Co. besteht aber darin, dass seine Koalition im Parlament bei der letzten Parlamentswahl im Frühjahr 2022 die absolute Mehrheit verloren hat. Deshalb sind seine Getreuen, um die anvisierte Rentenverschlechterung im Parlament durchbringen zu können, auf Unterstützung durch Stimmen außerhalb des derzeitigen Regierungslagers angewiesen. Diese ist aber nur schwierig zu finden. Denn die »Rentenreform« ist in der Bevölkerung und damit bei den Wählerinnen und Wählern äußerst unpopulär. Deshalb will niemand von den nicht in das Regierungslager eingebundenen Kräften sein Ansehen damit belasten.

Wiederholt war daher in der französischen Öffentlichkeit davon die Rede, dass das Macron-Lager auch versuchen könnte, seine »Rentenreform« mit einem parlamentarischen Trick unter Umgehung einer Abstimmung im Parlament in Kraft zu setzen, und zwar unter Anwendung des Artikels 49,3 der französischen Verfassung. Dieser aus Zeiten von Staatschef De Gaulle stammende Ausnahmeartikel ermächtigt den Staatspräsidenten nämlich, ein Gesetz auch ohne Abstimmung im Parlament in Kraft zu setzen, wenn die Regierung sich bereit erklärt, sich anschließend einer Vertrauensabstimmung zu stellen, wonach sie, wenn sie diese verliert, zum Rücktritt gezwungen ist und der Staatspräsident das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen kann. Die Anwendung dieser deutlich erkennbar undemokratischen Prozedur in Sachen Rentenreform ist allerdings auch im Regierungslager selbst auf Widerspruch gestoßen. Die zu Macrons Koalition gehörende rechtsliberale MoDem-Fraktion machte gegen den »Schnellschuss« mit dem Artikel 49,3 Bedenken geltend. Seit der jüngsten Ankündigung der Premierministerin Borne scheint diese Variante nun zunächst vom Tisch – ohne dass sicher wäre, dass Staatschef Macron endgültig darauf verzichtet, falls die nun vorgesehenen »Konsultationen« bis zum Dezember zu keiner »Lösung« für die Annahme der »Rentenreform« im Parlament führen.

CGT-Gewerkschaftschef Philippe Martinez bewertete den Aktionstag vom 29. September mit seiner deutlichen Zunahme an Beteiligung als eine »erste Warnung an Regierung und Unternehmer«. Geboten sei die rasche Aufnahme von Verhandlungen über die Erhöhung der Löhne und Gehälter in allen Branchen des Wirtschaftslebens und der definitive Verzicht auf Pläne zur Verschlechterung der Rentenregelungen. Die Franzosen hätten deutlich genug gezeigt, dass sie »nicht länger arbeiten« wollen. Für die Gewerkschaften jedenfalls sei auch in den kommenden Wochen »die Stunde der Mobilisierung, nicht die der Resignation«.

Revolutionäre Realpolitik

Eine Stadtregierung an der Seite der Menschen

Anne Rieger

Seit Mitte November 2021 stellt die Koalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ die Regierung in Graz. Die Kommunistin Elke Kahr wurde zur Bürgermeisterin gewählt. Ziel der Koalition war »Graz freundlicher, sozialer, ökologischer und demokratischer zu machen.« Nun fragen viele: ist da was gelungen, kann man schon erste Erfolge sehen?

Ja man kann! Zwar ist der Kapitalismus in Graz nicht abgeschafft, die herrschenden Machtblöcke wirken nach wie vor in der Stadt, haben aber die Stadtverwaltung nicht mehr uneingeschränkt in der Hand. Soziale, ökologische, demokratische Verbesserungen wurden und werden ihnen von der fortschrittlichen Regierung abgerungen. In erster Linie nutzt das den arbeitenden Menschen, den Erwerbslosen und Pensionist:innen, denjenigen, die in finanzieller Bedrängnis sind. Doch auch andere profitieren davon.

Wohnen, Soziales

Bereits nach einem Monat im Amt fror die neue Stadtregierung die Kanal- und Müllgebühren für alle Grazer Haushalte ein. Ein gewaltiger Unterschied zur Vorgängerregierung, die diese Wohnkosten Jahr für Jahr um drei Prozent erhöhte.

Auch die vergünstigte Öffi-Jahreskarte für Graz bleibt mit 315 Euro für alle auf dem Niveau des Vorjahres. Ein Gegensatz zum Steirischen Verkehrsverbund, der jährlich die Preise für die Jahreskarte für Graz anhebt, auf nun 504 Euro. Für alle, die ihren Hauptwohnsitz in Graz haben, zahlt die Stadt die Differenz.

Der Zugang zu den 4350 Gemeindewohnungen wurde erleichtert. Wer ein Jahr in Graz seinen Hauptwohnsitz hat oder hier arbeitet, kann einen Antrag stellen. Die FPÖ hatte die Wartezeit auf fünf Jahren verschärft. Die Mieten in den Gemeindewohnungen steigen nicht. 200 neue Gemeindewohnungen sind bereits im Bau, weitere in Planung. Bei 6832 Wohnungen mit Zuweisungsrecht der Stadt, gibt es Mietzuzahlung. Sie gewährleisten, dass niemand mehr als ein Drittel des Einkommens für Wohnkosten ausgeben muss.

Der SocialCard-Bezug für Menschen mit geringem Einkommen wurde ausgeweitet. 23.000 statt bisher 13.000 Menschen erhalten dadurch eine Öffi-Jahreskarte für 50 Euro, Ermäßigungen bei Gebühren, Abgaben, diversen Freizeit- und Kultureinrichtungen, u. a. bei Bädern. Die Mittel für die Stadtteilarbeit, unter Schwarz-Blau beinahe zum Erliegen gekommen, wurden wieder angehoben. Die Stadtteilzentren sind wichtige Anlaufstellen in den Bezirken, wo Menschen Beratungen in Anspruch nehmen und soziale Kontakte knüpfen können. Sie sind ein wichtiger gesellschaftlicher Faktor, gerade für Menschen, die in schwierigen finanziellen Verhältnissen leben. Der städtische Sozialfonds »Graz hilft« wird unbürokratischer und treffsicherer.

Im ersten Dreivierteljahr konnte so die progressive Stadtregierung, mit der Kommunistin an der Spitze, in kleinen und großen Fragen zeigen, dass auch im Neoliberalismus Alternativen möglich und Gestaltungsspielräume im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden können. Die gezahlten Steuern werden sinnvoll ausgegeben.

»Gehts der Pflege gut, gehts uns allen gut«

Robert Krotzer, schon zuvor KPÖ-Stadtrat für Gesundheit und Pflege, baut den Bereich weiter aus. Mit dem Grazer Tarifmodell verbleibt Pflege-Bedürftigen in der Hauskrankenpflege die Mindestpension von aktuell 977 Euro, sie müssen somit nicht ins Heim. Die KPÖ fordert das für die gesamte Steiermark. Die Pflegedrehscheibe, eine Pflegeplatz-Datenbank, finanzielle Verbesserungen für die Mitarbeiter:innen der Corona-Taskforce sowie bei Springerdiensten in städtischen Pflegeheimen, wurden etabliert.

Die Zuständigkeit eines KPÖ-Stadtrats, hier für Pflege, zeigt wie im Brennglas, die Grenzen aber auch die Möglichkeiten einer fortschrittlichen Stadtregierung im Kapitalismus. Ausgebrannte Pflegekräfte in Stadt, Land und Bund, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, leerstehende Betten durch Personalmangel, fehlende Ausbildungsplätze, sind seit vielen Jahren bekannt. Landes- und Bundesregierung glänzen durch Ignorieren bzw. Sparappelle. Eine Stadtregierung allein kann diesen Notstand nicht lösen.

Auf die Straße

Krotzer zeigt die Möglichkeiten auf, aus einer Stadtadministration heraus, solch brennendes Thema auf die Straße zu tragen, um die Barrikaden der herrschenden Kreise – sprich ihre neoliberalen Kostensenkungsstrategien – zu durchbrechen. Initiiert vom Pflegearbeitskreises der KPÖ, unterstützt durch Demonstrationen, geht nun die KPÖ, gemeinsam mit Betroffenen und weiteren Bevölkerungskreisen, auf die Straße und sammelt Unterschriften für eine Petition »Gehts der Pflege gut, gehts uns allen gut«. Ziel sind mindestens 10 000 Unterschriften. 4000 wurden bereits gesammelt, auch im heißen Sommer, morgens vor den Pforten der Krankenhäuser, tagsüber auf Straßen und Bauernmärkten. Gefordert werden mehr Ausbildungsplätze und Personal, höhere Entlohnung der Pflegekräfte und finanzielle Absicherung in der Pflege-Ausbildung in Höhe eines Polizeischülers, Verringerung der Arbeitszeit mit dem Ziel einer 35-Stunden-Woche. »Und wenn uns Grenzen gesetzt werden, dann bauen wir außerparlamentarischen Druck auf«, so die kommunistische Bürgermeisterin schon im Frühjahr.

Im städtischen Gesundheitsbereich wird die Subvention auf deutlich mehr als einen Euro pro Grazer:in angehoben. Im Gesundheitsamt werden zwei neue Referate geschaffen: Eines für Infektions- und Seuchenschutz, in das der enorme Erfahrungsschatz der Corona-Task-Force dauerhaft einfließen soll, sowie eines für Gesundheitsversorgung mit einer Gesundheitsdrehscheibe, für präventive Angebote und als Lotsenfunktion im oft unübersichtlichen Gesundheitswesen.

Krotzer ist zusätzlich für »Arbeit und Beschäftigung« sowie »Integration und Zusammenleben« zuständig. Sommerkurse für Kinder und Jugendliche wurden stark ausgebaut, für Kinder und Jugendliche aus so genannten »bildungsfernen« Familien sind sie kostenlos.

Zustimmung

Die Schritte werden von der großen Mehrheit der Grazer Bevölkerung positiv wahrgenommen, davon zeugt auch eine Umfrage vom Juni: Von 300 befragten Grazer:innen hatten 65 Prozent eine gute Meinung, »wenn sie an die bisherige Arbeit Elke Kahrs als Grazer Bürgermeisterin denken«, 30 Prozent eine »sehr gute«, 34 Prozent eine »eher gute«.1

Offenes Rathaus

Das ist nicht verwunderlich. Die Grazer Regierung ist bürgernah und handelt transparent. Die Büros im Rathaus sind für alle offen, zuvor waren Stadtregierer:innen, Gemeinderät:innen und Verwaltung durch Sicherheitskräfte abgeschirmt. Die Bürgermeisterin berät am Wochenende in persönlichen Gesprächen Rat- und Hilfesuchende. Natürlich gibt es darüber hinaus große Beratungs- und Hilfsangebote in allen KPÖ-Stadtratbüros. Auf Initiative des Frauenreferats kommt niederschwellige Frauenberatung direkt zu den Frauen – in Parks und auf Spielplätze – mit dem Lastenfahrrad Fritzi.

Budget mit sozialem Gesicht statt Prestigeobjekte

Das fulminante Wahlergebnis im letzten Jahr brachte einen dritten Stadtsenatssitz für die KPÖ: Finanzstadtrat Manfred Eber verantwortet die Budgets der Abteilungen, zahllosen Eigenbetriebe und Beteiligungen der Stadt. Die Koalition übernahm einen Schuldenberg von 1,6 Mrd. Euro von der Vorgängerregierung. »Die schwierige finanzielle Ausgangslage ist hinlänglich bekannt. Uns ist es dennoch gelungen, einen beträchtlichen Rahmen für notwendige Investitionen, die der Mehrheit der Grazer Bevölkerung dienen, zu gewährleisten«, so Eber. »Zuerst müssen Basis-Hausaufgaben wie die dringend notwendige Sanierung der Kläranlage oder jene der Wasserleitung nach Feldkirchen vorgenommen werden, die unsere Vorgänger aus unerklärlichen Gründen hintangestellt haben«, erklärte er. Geplante Investitionen für das Doppelbudget sind der Ankauf längerer Straßenbahnen, die Innenstadtentlastung des Öffi-Verkehrs, die Schule im neuen Stadtteil, die Radoffensive, Klimaschutz u. a.. Soziales bekommt jetzt einen hohen Stellenwert, ohne dabei wichtige andere Bereiche zu vergessen. Kein Geld gibt es für Prestigeprojekte, die nicht dem Großteil der Bevölkerung dienlich sind. Alleine eine ursprünglich geplante »Surf- und Kajakwelle« des Vorgängers hätte die Stadt bis zu drei Millionen Euro gekostet, für eine Tiefgarage unter der Burg hätten bis zu 13,7 Millionen Euro anfallen können.

Sparen bei Parteien, Präsentation und Werbung

Grazer Parteien werden großzügig mit Steuergeld gefördert. Zwischen Juli 2021 und Juni 2022 hat allein die KPÖ-Gemeinderatsfraktion 324.944 Euro an Fraktionsförderung bezogen. Mehr als zwei Drittel dieser Fördersumme gab sie allerdings als Unterstützungsleistung direkt an Menschen in sozialen Notlagen weiter.

Insgesamt 1,24 Millionen Euro beträgt die jährliche Förderung für die im Rathaus vertretenen Parteien. Die Rot-Grün-Rote Stadtregierung kürzte diese Mittel bereits im Dezember um zehn Prozent. Die frei gewordenen Mittel von 127.000 Euro werden 2022 für den »Graz hilft«-Fonds im Sozialamt zweckgewidmet, um Grazer:innen zu unterstützen. In der gesamten Legislaturperiode sollen so insgesamt 600.000 Euro für soziale Zwecke verwendet werden. Die Kürzung der Förderung erfolgte nicht linear, sondern ist vom Stimmenanteil bei der Gemeinderatswahl abhängig. Damit sollen jene Parteien, die nicht Teil der Regierung sind, einen gerechteren Anteil an Fördermitteln bekommen. Dadurch erhielt die Partei mit den wenigsten Wählerstimmen, die NEOS (vergleichbar FDP), die höchste Aufstockung im Vergleich zum Vorjahr, bei der KPÖ, der stimmenstärksten Partei, wurde am meisten gekürzt!

Die Holding Graz, der kommunale Dienstleister der Stadt, hat bislang fast drei Mio. Euro jährlich für Sponsoring ausgegeben. Um 625.000 Euro oder 17 Prozent wird das zurückgefahren. »Keine Sorgen müssen sich aber kleine Vereine oder Veranstalter machen, die in ihrer wichtigen Arbeit auf diese Sponsorgelder angewiesen sind«, betont der KPÖ-Finanzstadtrat. »Künftig werden soziale und ökologische Aspekte stärker berücksichtigt werden.« Das Budget für die Öffentlichkeitsarbeit wird um 160.000 Euro gekürzt, noch einmal so viel bei den Repräsentationsausgaben im Rathaus. Auch für die Eigenwerbung der Politik gibt es weniger Geld. Inserate sollen der Information der Bevölkerung dienen. Alles andere darf künftig nicht mehr aus den Ämtern und Abteilungen finanziert werden.

Die großen Rücklagen mancher Abteilungen fließen nun in ihr operatives Budget. 25 Mio. Euro der angesparten 36 Mio werden so durchdacht verwendet, statt neue Schulden zu machen. Auch die Streichung der Gagen für Politiker:innen in Aufsichtsräten, die die letzte Regierung 2017 eingeführt hatte, spart Steuergeld.

Personalaufbau

Die Stadt Graz erhöht ihr Personal um 162 Dienstposten. Die Abteilung für Bildung und Integration bekommt 70 Dienstposten, davon 54 für Pädagog:innen und Kinderbetreuer:innen. Die Sozialarbeit wird mit zusätzlichen 14 Sozialarbeiter:innen, Sozialpädagog:innen und Psycholog:innen sowie Amtssachverständigen gestärkt. Außerdem wird ein neues Referat Wohnen in diesem Bereich angesiedelt. Weitere Aufnahmen sind für die Bereiche Jugend und Familie, Gesundheits-, Umwelt- und Sportamt vorgesehen.

Demokratisierung und Transparenz

Ein weiteres Versprechen war die Re-Demokratisierung städtischer Aufsichtsräte. Nun sind alle Parteien wieder in allen Eigenbetrieben und Beteiligungen der Stadt vertreten. Das gewährleistet Transparenz und Fairness. Unter der ÖVP-FPÖ-Stadtregierung wurden Aufsichtsräte der städtischen Tochtergesellschaften nur mit den jeweiligen Parteigänger:innen besetzt. Transparenz wird durch Objektivierungsrichtlinien vor allem bei der Besetzung von Spitzenjobs durchgesetzt. Politik und Verwaltung werden stärker getrennt, dem Postenschacher ein Riegel vorgeschoben.

Klimafreundlich

Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs wird forciert, die Grazer Innenstadt entlastet und ein zweigleisiger Ausbau einer Tramlinie erfolgt in naher Zukunft. Die Weiterführung der Radoffensive Graz 2030 mit 5 Millionen Euro jährlich schreitet voran. Dazu gehören der Aus- und Neubau von Geh- und Radwegen sowie Markierungsarbeiten und Grundeinlösen. Weitere Projekte werden den öffentlichen Raum aufwerten und grüner machen.

Die KPÖ sorgt sich um die dringend notwendige Versorgungs- und Preissicherheit bei der Fernwärme, weg von der Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen. Parallel zum erfolgreichen Fernwärmeausbau der letzten Jahre wird an der Entwicklung eines emissionsarmen und nachhaltigen Fernwärmesystems für den Großraum Graz gearbeitet – durch energetische Reststoff- und Klärschlammverwertung. Mit dem »Strompool Austria« hat die KPÖ Steiermark ein Konzept zur Strompreissenkung vorgelegt. Graz setzt auf effizienten Umgang mit Energie. Maßnahmen sind u. a.: Einschränkung der Anstrahlung öffentlicher Gebäude, Reduktion der Leuchtdauer der Weihnachtsbeleuchtung, Energieeinsparungen in öffentlichen Gebäuden.

Heftige Attacken

Eine bundesweite Bedeutung bekam das Grazer Wahlergebnis, weil es der erste Wahlverlust der ÖVP seit der Übernahme der Partei durch den damaligen Bundeskanzler Kurz im Jahr 2017 war. Die auf den Wahlerfolg unmittelbar folgende polit-mediale Kampagne der Kanzler-Partei und der großen Medienhäuser gegen die KPÖ ist ein Beleg dafür, wie stark die herrschenden Kreise vom Votum der Grazer Bevölkerung aufgerüttelt wurden. Es ging und geht ihnen um die Eindämmung von Sympathien breiterer Teile der Bevölkerung für die KPÖ als politischer Kraft, die konsequente Opposition und klassenkämpferische Politik mit einer gesellschaftlichen Alternative verbindet.

In Bewegung bleiben

So sehr die KPÖ alle Möglichkeiten im Interesse der arbeitenden und ökonomisch bedrängten Menschen nützt, die die politischen Verhältnisse auf kommunaler Ebene in Graz geben, werden doch viele Bereiche – von der Steuerpolitik bis zur Pflegereform – von übergeordneten Instanzen entschieden. Auf sie muss nun gemeinsam mit der Bevölkerung der Druck von unten verstärkt werden. »Deswegen ist es notwendig, dass wir gerade auch in dieser Situation als Kommunistische Partei unsere Aktivitäten ausweiten und uns eben nicht in ein Korsett angeblicher neoliberaler Sachzwänge, vermeintlich gemütlicher Amtssessel oder der ideologischen Anpassung zwängen lassen, wie das von bürgerlicher Seite versucht und erhofft wird«, so Robert Krotzer.

Deswegen begrüßten KPÖ Graz und Steiermark die bundesweiten Mobilisierungen des Österreichischen Gewerkschaftsbundes unter dem Motto »Preise runter« am 17. September, die österreichweit in allen Landeshauptstädten stattfanden. Wegen des Festes der steirischen Volkskultur am selben Tag, wurde die Kundgebung in der Steiermark aus der Landeshauptstadt in eine kleinere Stadt verlegt. Damit auch die Forderung nach Maßnahmen gegen die Teuerung in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, und steirischen Landeshauptstadt fortgesetzt wird, riefen KPÖ Graz und Steiermark für den 14. Oktober zu einer weiteren Demonstration auf:

»Der Kampf für effektive Maßnahmen gegen die Teuerung braucht eine klare Stoßrichtung, zu der wir mit dieser Kundgebung beitragen wollen: Preisdeckel, Mietendeckel, höhere Löhne/Gehälter/Pensionen, Stärkung der Beschäftigten-Interessen in den anstehenden Tarifvertragsverhandlungen, Gewinnsteuern, Vermögensbesteuerung, staatliche Lenkungsmaßnahmen und Eingriffe, Öffentliche Kontrolle und Öffentliches Eigentum. Mit dieser Forderungspalette stellen wir uns zugleich gegen bürgerliche Verwässerung der Forderung oder eine etwaige Themenführerschaft in dieser Frage durch Obskuranten und rechte Kräfte.«

Eine Bilanz der documenta 15

Ulrich Schneider

Mitte September waren die Feuilleton-Seiten aller bürgerlichen Medien wieder einmal mit dem Thema documenta15 gefüllt, aber nicht, um eine Bilanz dieser Weltkunstausstellung in Kassel zu ziehen, sondern um noch einmal einen »Antisemitismus-Skandal« breitzutreten. Das zur Mitte der documenta vom Aufsichtsrat eingesetzte »Expertengremium«, das sich mit den Antisemitismus-Vorwürfen beschäftigen sollte, hatte zwei Wochen vor der Schließung der Ausstellung das Kuratoren-Team ultimativ aufgefordert, ein Kunstobjekt in der Hübner-Halle zu entfernen, weil es »antisemitisch« und »Terror verherrlichend« sei. Dass es sich dabei um historisches Filmmaterial aus den 1970er bzw. 1980er Jahren handelte, das in der Präsentation mit einem ausführlichen Text historisch und kontextual eingeordnet worden war, interessierte nicht. Auch nicht, dass nicht alle Mitglieder des »Expertengremiums« sich diesem Vorwurf angeschlossen hatten. Als Ruangrupa, denen die »Empfehlung« per Pressemitteilung zuging, das ablehnte, hieß es nun, das indonesische Kollektiv sei »uneinsichtig« und »beratungsresistent«. Dass zu einer Beratung ein Dialog mit den Betreffenden gehört, ein solcher jedoch nicht stattgefunden hat, wurde von den Leitmedien geflissentlich übersehen. Man hatte seinen erneuten »Antisemitismus-Skandal«, der die Berichterstattung dominieren konnte. Und so lautet der Tenor zahlreicher Medienberichte, wie es der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates Olaf Zimmermann in einem Interview formuliert hatte, Ruangrupa habe »die documenta vor die Wand gefahren«.

Hatte das Kuratoren-Team anfangs noch mit erklärenden Stellungnahmen reagiert, wurde es diesmal deutlicher. Gemeinsam mit anderen Künstlern veröffentlichte Ruangrupa eine umfangreiche Erklärung »We are angry, we are sad, we are tired, we are united« (Wir sind ärgerlich, wir sind traurig, wir sind müde, wir sind vereint!«, in der sie sich gegen die erhobenen Vorwürfe wehrten, ihre Perspektive erläuterten und insbesondere den Umgang des »Expertengremiums« mit ihnen kritisierten. Sie veröffentlichten zudem ältere Stellungnahmen auf ihrer Webseite, die die Kontinuität der Ignoranz ihrer Dialogangebote zeigten. Bezeichnend ist, dass die Erklärung auf einer eigenen Homepage veröffentlicht werden musste, da es die documenta gGmbH, die Eigentümer der offiziellen Ausstellungswebseite ist, abgelehnt hatte, eine Erklärung der künstlerischen Leitung auf dieser Plattform zu veröffentlichen. Ein bezeichnender Umgang mit dem Kuratoren-Team.

Nachdem sich der politische Aufsichtsrat den »Empfehlungen« des »Expertengremiums« angeschlossen hatte, gab es erfreulicherweise eine klare Stellungnahme der Findungskommission, ein internationales Expertengremium von Kunst- und Ausstellungsmachern, die nicht nur ihre Auswahlentscheidung von 2019 bestätigten, sondern auch der Arbeit von Ruangrupa hohe Anerkennung zollten. Dies wurde aber in den Medien nur bedingt wahrgenommen.

Diese Debatte überlagerte einen wichtigen Erfolg der Ausstellung. Schon zur Halbzeitbilanz war eine enorme Besucherresonanz festzustellen. Boykottaufrufe und »Verurteilungen« liefen ins Leere. Trotz Corona-Einschränkungen, die insbesondere Gäste aus dem Ausland abhielt, wurde die Ausstellung mit über 800.000 Besuchern ähnlich erfolgreich, wie die documenta 13 vor zehn Jahren. Zudem gab es in diesem Jahr keine finanziellen Probleme, wie bei der documenta 14, die mit einem erheblichen Defizit endete, was vor fünf Jahren die mediale Diskussion der kulturpolitischen Bilanz der Ausstellung überlagerte. Dass diese zufriedenstellende finanzielle Bilanz auch durch schlechte Entlohnung und ähnliche Arbeitsbedingungen erreicht wurde, soll nicht vergessen werden, ist aber nicht der künstlerischen Leitung, sondern der documenta gGmbH und dem politischen Aufsichtsgremium anzulasten.

Der alles überlagernde »Antisemitismus-Vorwurf«

Es ist hier nicht der Platz, noch einmal die neunmonatige mediale »Antisemitismus«-Kampagne gegen die Ausstellung und ihre Akteure nachzuzeichnen. Es wäre eine lohnende Studie der ideologischen Funktionalisierung und medialen Wirksamkeit eines solchen Vorwurfes im bundesdeutschen Diskurs.

Wie schon in MB 04-2022 ausgeführt, begann diese Kampagne bereits im Januar mit unhaltbaren Vorwürfen. Einen Beitrag leistete dazu auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede. Noch bevor er überhaupt ein Bild dieser Ausstellung gesehen hatte, schwang er die »Antisemitismus-Keule«. Die Kampagne steigerte sich unendlich, als auf einem über 20 Jahre alten »Wimmelbild« des Künstler-Kollektivs »Taring Padi« auf dem Friedrichsplatz unter mehreren Dutzend Figuren zwei mit antisemitischer Bildersprache zu sehen waren.

Der anschließende politische und mediale Umgang mit diesem Konflikt zeigte, dass es gar nicht um einen kritischen Dialog über Antisemitismus und Grenzen der »Freiheit der Kunst« ging, sondern um eine Kampagne, die sich gegen die documenta und ihre Macher richtete. Der Vorschlag des Künstlerkollektivs, dem Banner erläuternde Tafeln hinzuzufügen, wurde abgelehnt. Stattdessen wurde es zuerst komplett verhüllt. Da diese Installation aber nach »Zensur« aussah, wurde das Banner nach wenigen Tagen komplett abgebaut. Bezeichnend am Umgang mit diesem Konflikt war, dass nicht mit den Künstlern geredet wurde, sondern nur über sie. Erst nachdem alles vorbei war, konnten sie eine Stellungnahme auf der Homepage der documenta veröffentlichen, die von den Medien weitgehend ignoriert wurde. Interviews mit den beteiligten Künstlern gab es nur in drei Zeitungen (u. a. junge Welt).

Der Konflikt schaffte es bis in den Deutschen Bundestag. Im Kulturausschuss gab es eine peinliche Debatte, zu der weder der Kasseler Oberbürgermeister noch die damalige Geschäftsführerin der documenta gGmbH erschienen. Das Statement von Ruangrupa war reflektiert, wurde aber von den Abgeordneten nicht zur Kenntnis genommen. Niemand von denen, die hier leidenschaftlich über die documenta diskutierten, hatte die Ausstellung bis dahin gesehen. Die Bundestagsdebatte selber war an Peinlichkeit nur schwer zu überbieten. Eine CDU-Abgeordnete sprach von »antisemita«, die AfD forderte, die Ausstellung sofort zu schließen und berief sich dabei auf den Zentralrat der Juden in Deutschland, die FDP wollte die Ausstellung so lange aussetzen, bis die »Vorwürfe« ausgeräumt seien. Da der Bundestag hierzu keine Entscheidungskompetenz besitzt, waren solche Vorschläge »Fensterreden«, die von den Medien dankbar aufgegriffen wurden.

Viel ernster waren die politischen Forderungen, die von Claudia Roth und ihrer Abteilung auf den Weg gebracht wurden, die auch nach dem Ende der Ausstellung noch länger die politische Landschaft beschäftigen werden. Sie erklärte, dass der politische Einfluss des Bundes auf diese Welt-Kunstausstellung deutlich gestärkt werden müsse und dass eigentlich Kassel mit dem Handling einer solchen internationalen Ausstellung überfordert sei, so dass man »für einen glaubwürdigen Neuanfang« nach einem anderen Standort suchen müsse. Da die Auseinandersetzung zeitgleich mit der kommunalpolitischen Auseinandersetzung in Kassel zur Vorbereitung der OB-Wahl stattfindet, unterstützten auch alle Vertreter der Grünen, deren Koalition mit der SPD gerade geplatzt war, den Vorschlag von Claudia Roth – auch hier wurde deutlich, dass es gar nicht um Kunst oder die documenta 15 geht, sondern der Streit ein Vehikel für andere Interessen darstellt.

Das Konzept und seine Umsetzung

In einem umfangreichen Interview für die »junge Welt« erklärte das Künstlerkollektiv seinen kuratorischen Ansatz mit dem »Lumbung«-Begriff, bei dem es nicht um inhaltliche Vorgaben, sondern um das Teilen von Ressourcen, das Einbringen von Kompetenzen und das gemeinsame Entwickeln von Ideen und Projekten geht, die auf reale gesellschaftliche Probleme reagieren. Von daher hatten sie von Anfang an keine Ausstellung konzipiert, die sich an einer Liste von die Gegenwartskunst bestimmenden Künstler:innen abarbeitete, sondern die durch die Einladung von Künstler-Kollektiven einen Raum schuf, in der ganz unterschiedliche künstlerische und gesellschaftliche Ansätze sich verwirklichen sollten. Ruangrupa wählte sehr unterschiedliche Kollektive aus, deren künstlerischen, politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen teils weit auseinanderlagen. Alle diese Kollektive verstanden sich jedoch nicht allein als Künstler, sondern auch als Aktivisten, die mit ihrer Arbeit auf gesellschaftliche Verhältnisse einwirken wollten. Diese Kollektive luden weitere Menschen ein, sich mit Inhalten verschiedenster Art an der Präsentation zu beteiligen, so dass – laut Zählung der documenta – etwa 1500 Menschen mit eigenen Beiträgen an der documenta 15 mitwirkten. Zu ihren Themen gehören die Langzeitwirkungen des historischen Kolonialismus sowie seine aktuellen ökonomischen und politischen Formen, das Handeln gegen Diskriminierung, seien es People of Colour, ausgegrenzte gesellschaftliche Gruppen, Frauen oder LBGT-Menschen, die Bewältigung der ökologischen Herausforderungen, insbesondere der Umgang mit Wasser und Lebensmitteln, die in vielen Teilen der Welt bereits jetzt zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen, aber auch der Umgang mit den Menschen in Europa, die vor solch ungerechten Verhältnissen auf der Flucht sind.

Durch die Kollektive und die weiteren Beteiligten rückten zum ersten Mal in der Geschichte der documenta der »globale Süden« in den Mittelpunkt. Bei der Eröffnung wurde die noch als »Perspektiv-Erweiterung« und als »Herausforderung an unsere Sehgewohnheiten« bezeichnet.

Das kuratorische Konzept von Ruangrupa lag jedoch quer zu traditionellen Ausstellungsvorstellungen, woraufhin die Medien ihnen vorwarfen, mit den von ihnen eingeführten indonesischen Begrifflichkeiten (lumbung, majelis, etc.) abgehoben zu agieren. In den Vorhaltungen war deutlich, dass vielmehr die Perspektive eines »globalen Südens« abgelehnt wurde, der nicht als folkloristischer Farbtupfer auftrat, sondern als Kritik an den ökonomischen und politischen Ausbeutungsverhältnissen einer neoliberal strukturierten kapitalistischen Welt. Viele beteiligte Kollektive verstanden sich als Künstler:innen und gleichermaßen als Aktivist:innen einer anderen Weltökonomie. Da die dabei eingesetzten künstlerischen Formen von Agit-Prop und Plakatkunst (Taring Padi), über Projekten zur Einbindung sozial Benachteiligter (Wakaliwood) bis hin zur Schaffung von Arbeitsplätzen (Ziegelwerk auf Java) reichen, ergeben sich durchaus kritische Nachfragen hinsichtlich des Anspruchs, eine Weltausstellung zeitgenössischer Kunst zu repräsentieren.

Eine Tagung der Marx-Engels-Stiftung

Mit dieser Thematik beschäftigte sich im September auch eine Tagung der MES.

Am Vortag des Treffens gab es zwei Führungen durch vier zentrale Orte der über die ganze Stadt verteilten Ausstellung, bei denen nicht nur die Objekte selber in Augenschein genommen wurden, sondern bereits Fragen der Verbindung von antikoloniale und antineoliberale Praxis der Kollektive und künstlerischen Ansprüchen debattiert wurden.

Dabei ist es legitim zu fragen, welche Antworten die documenta 15 und die hier gezeigten Werke auf die politischen, sozialen, gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen der Zeit haben. Niemand erwartet, dass Künstler:innen mit ihren Werken die Verhältnisse ändern, das müssen die Menschen selber tun. Kritisch wurden Mystizismus und Esoterik angemerkt. Solche Kritik ist jedoch nicht pauschal angemessen, wie die Installationen von Atis Rezistants in der St. Kunigundis-Kirche zeigen, die mit der Adaption von Woodoo-Kult einen Beitrag zur politischen Bewegung unter den Slum- und Ghetto-Bewohnern leisten.

Die Tagung selber beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit zwei Perspektiven, einmal die Einordnung der documenta in die gesellschaftlichen und ökonomischen Machtverhältnisse in der Welt und damit auch der Rolle des »globalen Südens« und seine gesellschaftliche Rezeption durch die Besucher dieser Weltkunstausstellung. Otto Rößer eröffnete die Debatte mit einem materialreich fundierten inhaltlichen Aufschlag. In dem Rahmen kritisierte er am Beispiel der begrifflichen Überladung von schriftlichen Erläuterungen die faktische Ausgrenzung und sprachliche Distanz zum Betrachter.

Ein großes Gewicht hatte auf der Tagung die Beschäftigung mit der lange verdrängten Anfangsgeschichte der documenta und die unheilvolle Rolle eines Werner Haftmanns, der neben Arnold Bode zu den Gründern dieser Ausstellung gezählt werden muss. Seit dem Frühjahr 2022 ist bekannt, dass Haftmann an Kriegsverbrechen in Italien beteiligt war und zudem dafür gesorgt hat, dass bei der ersten documenta, die ja so etwas wie eine Rehabilitierung der von den Nazis verfemten »entarteten Kunst« bieten sollte, keine jüdischen Künstler präsentiert werden konnten.

In einem zweiten Teil seiner Ausführung beschäftigte er sich mit der Rolle des CIA bzw. weiterer amerikanischer Einflussinstitutionen auf die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung, die einen relevanten Einfluss auf die Einbindung dieser Ausstellung in das »Totalitarismus«-Konzept, indem Nazikunst und Werke des »sozialistischen Realismus« pauschal verdammt wurden und eine bestimmte Richtung des nicht gegenständlichen Expressionismus (Pollock u. a.) für viele Jahrzehnte prägend wurde. Damit wurde in der Tagung sichtbar, dass die documenta, ihre Werke und Konzeptionen nicht erst in diesem Falle, sondern bereits kontinuierlich in der Geschichte Teil der ideologischen Auseinandersetzungen ist. Wenn es dabei vorgeblich auch um künstlerische Ansprüche geht, kann nicht übersehen werden, dass dieser Ausstellung eine Funktion in der ideologischen Ausrichtung des kulturpolitischen Dialogs zugestanden wird, weshalb Abweichungen von der erwarteten »Norm« mit massiven medialen und politischen Angriffen auf Macher und die hier ausstellenden Künstler beantwortet werden. 

Editorial

Im vergangenen Jahr – also schon vor den drastischen Energiepreiserhöhungen – stieg die Zahl der Haushalte, denen in Deutschland aufgrund unbezahlter Rechnungen der Strom gesperrt wurde auf 235 000. Die Zahl der Gassperrungen stieg um 12 Prozent auf rund 27 000 an. So die offiziellen Zahlen von Bundesnetzagentur und -kartellamt. Das lässt für den kommenden Winter Schlimmes befürchten. »Inflationssorgen« stehen in Meinungsumfragen aktuell auf Platz 1.

Inzwischen zählt jeder zweite Bundesbürger (49 %) die steigenden Preise zu den drei größten persönlichen Sorgen, gefolgt von Angst vor Armut sowie sozialer Ungerechtigkeit (38 %) und den Folgen der Klimakrise (33 %). Angst vor militärischen Konflikten, COVID 19, aber auch Einwanderung, Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Terrorismus werden derzeit davon überlagert. (Quelle: ipsos.de)

Die Inflationsrate hat im September die 10-Prozent-Marke geknackt. Dieser Durchschnittswert ist aus Sicht eines Normalverdieners klar unterzeichnet. Preissteigerungen für Lebensnotwendiges, d. h. für Nahrungsmittel, für Energie und für Mieten sind deutlich höher. Die Auswirkungen auf die Lebenssituation arbeitender Menschen sind dramatisch, in längerer Perspektive verheerend. Was für mittlere Einkommen Verlust, das Abschmelzen von Ersparnissen und die Gefährdung der Rückzahlung fälliger Kredite bedeutet, bedeutet für Geringverdienende dramatische Schritte in Richtung Hunger und Obdachlosigkeit.

Politische »Deckelungsmaßnahmen« der Ampelkoalition wirken allenfalls lustlos, wie insbesondere auch die Weigerung zeigt, gigantische Profitzuwächse der Krisen- und Kriegsgewinnler durch eine Extrasteuer zu begrenzen. Hilfsmaßnahmen liegen, wie etwa die Anhebung der umgetauften Hartz IV-Sätze, unterhalb der realen Einkommensverluste ihrer Bezieher. Oder sie sind, wie Spritpreis-Subvention oder Energiekostenzuschuss, zeitlich befristet. Die Maßnahme läuft aus, das Preisniveau steigt weiter. (Monopol)Unternehmen können sich hingegen der wohlwollendsten Fürsorge ihrer Regierung gewiss sein. Nach unten knausert Rosa-Gelb-Grün, nach oben wird verteilt im Übermaß. Die Gewinnentwicklung bleibt phänomenal, nicht nur bei Einzelhandels- und Energiekonzernen. »Dass die Unternehmen offenkundig die Inflation auch dafür verwendet haben, ihre Gewinne deutlich auszuweiten.«1, resümiert selbst der linker Regungen ziemlich unverdächtige Ökonom Joachim Ragnitz die Ergebnisse einer aktuellen Studie des Dresdener Ifo-Instituts.

Vor diesem Hintergund wachsen nicht nur Sorgen, sondern auch Unmut und Zorn im Wahlvolk. Bei Redaktionsschluss zeichnete sich eine Zunahme an Protest und Bewegung auf der Straße ab, von unterschiedlichen Zielgruppen, mit unterschiedlichen Losungen: »Genug ist genug!«, »Für Heizung, Brot und Frieden«, »Inflationsmonster stoppen – Solidarisch durch die Krise«. Von »heißem Herbst« und vereinter Kraftanstrengung ist das – auch im Vergleich mit europäischen Nachbarländern – allerdings noch einiges entfernt. Was also ist speziell für uns als politisch-theoretische Zeitschrift zur Unterstützung zu tun? Wie immer: Aufklären! Aufklären! Aufklären!

Wer die inflationäre Welle bekämpfen will, muss ihre Ursachen verstehen und Verursacher beim Namen nennen. Dass die Erzählung »Putin ist schuld« wenig über ökonomische Sachkenntnis, hingegen viel über das intellektuelle Niveau von Politik und Medien aussagt, muss hier nicht ausargumentiert werden. Welche Rolle aber spielt der militärische Konflikt in der Ukraine, welche der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland? Warum stiegen die Preise bereits Monate vor dem 24. Februar deutlich an? Ist die gegenwärtige Lage eine historische Sondersituation oder war sie mit Blick auf längerfristige Tendenzen kapitalistischer Entwicklung vorhersehbar? Liegt sie in weltpolitischem Pech begründete, in bewussten Anstrengungen zur Reduzierung des Lebensstandards der Bevölkerung, in einem Durchschlagen der Gesetze kapitalistischer Akkumulation? Oder in einer Mischung aus alledem?

Die Autoren unseres Schwerpunktes nähern sich dem Thema von verschiedenen Seiten. Manfred Sohn befasst sich mit Schlaglichtern zur Geschichte des Kampfes gegen die Inflation und das lange Ringen um den Wert des Lohnes zu Marx’ Zeiten, in der Weimarer Republik, in den 1970ern und er zieht fünf Schlussfolgerungen für heute. Anne Rieger setzt sich mit der Mär von der »Lohn-Preis-Spirale« auseinander, charakterisiert Inflation als »Raubzug auf unsere Einkommen« und plädiert für eine offensivere Tarifpolitik. Lucas Zeise fragt, ausgehend von empirischen Eckdaten zu Preissteigerungen und Geldentwertung, nach Sinn und Erfolgsaussichten der durch die Notenbanken initiierten Zinserhöhungen, die aus seiner Sicht nicht mehr als Symbolpolitik sind. Die internationale Situation wird exemplarisch von Murat Cakir und Claudio Ottone mit ihren detaillierten Darstellungen und Bewertungen der Situation in der Türkei bzw. in Argentinien beleuchtet. Beiden Aufsätzen ist gemein, dass sie Ursachen der Teuerung in den von ihnen betrachteten Ländern lange vor dem Krieg in der Ukraine verorten. Stephan Krüger und Klaus Müller schließlich thematisieren – nicht immer leicht verständliche – theoretische Aspekte der Geldentwertung, ersterer vorwiegend vor historischem Hintergrund, letzterer anhand einer marxistischen Modellierung.

Aufmerksamen Leserinnen und Lesern wird auffallen, dass unsere Autorinnen und Autoren – bei aller Einigkeit über den sozialen Inhalt der Inflation – nicht in allen Punkten übereinstimmen. Wir hoffen jedoch, dass die Vielzahl der von ihnen gelieferten Ansätze zum Verständnis beiträgt und dazu, tragfähige Strategien gegen den eskalierenden Raubzug am Vermögen der arbeitenden Bevölkerung zu entwickeln. HW/LoG

1 https://www.businessinsider.de/wirtschaft/inflation-deutschland-so-nutzen-unternehmen-steigende-preise-um-gewinne-zu-steigern-joachim-ragnitz-ifo-institut-b/

Das lange Ringen um den Wert des Lohns

Schlaglichter zur Geschichte des Kampfes gegen die Inflation

Manfred Sohn

Im Juni 1865 sprach Karl Marx vor dem Zentralrat der Internationalen Arbeiterassoziation in London an zwei Abenden zum Thema »Lohn, Preis und Profit«.1 In dem Vortrag und den anschließenden Diskussionen, die sich bis in den späten Sommer hinzogen, ging es um die wichtige Frage, wie sich die Gewerkschaften und die Arbeiterklasse insgesamt gegenüber Preissteigerungen verhalten sollten. Schon damals gab es innerhalb der Arbeiterbewegung die Meinung, Forderungen nach Lohnerhöhungen liefen letztlich darauf hinaus, dass sich die Kapitalisten ihren Teil dann, wenn die Kämpfe erfolgreich seien, eben über erhöhte Preise – also eine »Teuerung« im damaligen Sprachgebrach – wieder hereinholen würden. Weit verbreitet war innerhalb der fortschrittlichen Kräfte damals das mit dem Namen Ferdinand Lassalle verbundene sogenannte »eherne Lohngesetz«. Es besagt vereinfacht, dass sich aufgrund ökonomischer Gesetze im Kapitalismus völlig unabhängig von allen Lohnkämpfen das Lohnniveau immer auf das Existenzminimum einpendele. Lohnkämpfe der Gewerkschaften seien daher zwar ehrbare Versuche, die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern, aber letztlich zum Scheitern verurteilt – nur die Erringung einer parlamentarischen Mehrheit zur Überwindung des Kapitalismus könne für die Darbenden eine Lösung ihrer Existenznöte bringen.

Marx: Kräfteverhältnisse geben den Ausschlag

Marx hielt dagegen. In seinen Ausführungen, die Jahre später anhand der Vortragsnotizen von seiner Tochter Eleonore 1898 veröffentlicht wurden, wandte er sich entschieden und ökonomisch fundiert gegen diese Propaganda der Passivität und der Unterwerfung des Proletariats unter das Kapital. Ohne gewerkschaftlichen Kampf, schlussfolgerte er am Abend2 des letzten Teils seines Vortrages, würde die Arbeiterklasse »degradiert werden zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft. Der Vortrag umfaßt nur rund 50 Druckseiten in den »Marx Engels Werken« (MEW). Marx geht darin auf die Ausführungen von John Weston ein, einem Arbeiter und Gründungsmitglied der IAA, der auch nach 12 Stunden Maloche für den Sozialismus agitierte. Auch er hing der Theorie an, dass Lohnerhöhungen nur ein erhöhtes Preisniveau nach sich ziehen würden, namentlich bei Lebensmitteln. Marx zollt dem wackeren Mann zu Beginn seines Vortrages seine persönliche Hochachtung, geht aber mit dessen theoretischen Ansichten schonungslos um.

Marx: Kräfteverhältnisse beeinflussen Lohn, Preis, Profit

Die, so Marx, seien falsch, weil in den Wert der Ware Arbeitskraft anders als bei anderen Waren eben auch die »Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden« einfließe.3

Lohnrate und Profitrate würden eine Einheit bilden – daher die Erbittertheit, mit der das gesammelte Kapital seine Profitrate auf Kosten der Lohnrate auszuweiten trachte: »Sicher ist es der Wille des Kapitalisten, zu nehmen, was zu nehmen ist. Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken4 Marx wandte sich vor allem gegen den »Trugschluß«, zu meinen, die »Warenpreise werden bestimmt oder geregelt durch den Arbeitslohn.«5 Das Studium dieses Vortrages ist auch heute noch hilfreich für die Auseinandersetzung mit der These von der »Lohn-Preis-Spirale«. Marx’ Aussage von 1865: »Alle bisherige Geschichte beweist, daß, wann immer eine solche Entwertung des Geldes vor sich geht, die Kapitalisten sich diese Gelegenheit, den Arbeiter übers Ohr zu hauen, nicht entgehen lassen.«6 Das gilt auch für die geschichtliche Erfahrung seit 1865.

Im Ergebnis seiner Ausführungen schlägt Marx die Annahme eines Beschlusses in Form von drei Punkten vor:

  1. »Eine allgemeine Steigerung der Lohnrate würde auf ein Fallen der allgemeinen Profitrate hinauslaufen, ohne jedoch, allgemein gesprochen, die Warenpreise zu beeinflussen.
  2. Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion geht dahin, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken.
  3. Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.«7
In der Spur von Marx: Alexandra Kollontai …

Seit jenen Tagen zieht sich eine lange Traditionslinie des Kampfes gegen die Teuerung oder – wie wir heute formulieren – gegen die Inflation durch die Geschichte der Arbeiterbewegung. Die hervorragende russische Revolutionärin Alexandra Kollontai etwa, deren 150. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern durften, befasste sich seit der Jahrhundertwende intensiv mit der marxistischen Theorie und war auch dabei, als 1905 die unbewaffnete Demonstration von 140.000 Arbeiterinnen und Arbeitern in Petersburg blutig niedergeschlagen wurde. Sie verdiente sich hohe Anerkennung in der russischen Arbeiterbewegung und verknüpfte nach ihrer politisch erzwungenen Flucht nach Deutschland im Jahre 1908 die Kämpfe der männlichen Teile der Arbeiterklasse mit den Interessen und Forderungen der Frauen dieser Klasse. Mit dem am 8. April 1908 im Reichstag verabschiedeten »Vereinsgesetz« wurde Frauen erstmals die Mitgliedschaft in politischen Parteien und Vereinen erlaubt. Es war kein Zufall, dass dieser Sieg zusammenfiel mit einer noch stärkeren Gewichtung der Frage der Teuerung in den Kämpfen dieser Zeit: »Die Unzufriedenheit unter den Arbeiterinnen und Arbeitern wuchs aber auch aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung. Unter anderem wegen der Verteuerung der Lebensmittel kam es immer mehr zu Streiks.«8 Die Entwertung des in Geld ausgezahlten Lohns, die andauernden Versuche, »den Arbeiter übers Ohr zu hauen«, wie Marx sagte, war für viele Frauen, die zuhause die Aufgabe übernommen hatten, die sauer verdienten Groschen, Pennys und Centimes zusammen zu halten, oft ein Zugang, sich in Streik- und Demonstrationsbewegungen einzureihen.

… und Arbeiterfrauen.

Stolz berichtet denn auch Kollontai in ihrer kurzen Autobiographie: »Die Jahre der politischen Emigration waren für mich bewegte, ganz lebendige Jahre. Von Land zu Land reiste ich als Parteirednerin. Im Jahre 1911 machte ich den Streik der Hausfrauen ›La grève des menagères‹ gegen die Teuerung in Paris mit.«9 Dieser Schwerpunktsetzung blieb sie bis zum Revolutionsjahr 1917 treu: »Eine von den brennendsten Fragen der Zeit war die Teuerung und der wachsende Mangel an allen Dingen, die dem täglichen Leben dienten. So hatten es die Frauen der unbemittelten Schichten unbeschreiblich schwer. Doch bereitete dies den Boden in der Partei für die ›Arbeit mit den Frauen‹ vor, so daß wir bald wirklich nützliche Arbeit zu leisten imstande waren. Schon im Mai 1917 erschien eine Wochenschrift des Namens ›Die Arbeiterinnen‹. Ich verfaßte einen Aufruf an die Frauen gegen Teuerung und Krieg. Die erste nach vielen Tausenden zählende Volksversammlung, die in Rußland unter der provisorischen Regierung stattfand, war von uns, von den Bolschewisten organisiert.«10

Wir verlassen in der weiteren Darstellung alle Länder außerhalb Deutschlands und konzentrieren uns bei der Sichtung des auch hier reichen Materials der Geschichte der hiesigen Arbeiter:innenbewegung gegen Teuerung und Inflation auf zwei Schlüsseletappen dieses Kampfes: Auf die Hintergründe, strategischen und taktischen Schlussfolgerungen aus der Zeit der großen Inflation der 20er Jahre und die deutlich geringere, unserer heutigen Situation aber (noch) ähnlichere Lage in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts.

Eine Milliarde für einen Laib Brot

Als der Großvater des Autors dieses Artikels, ein Müllermeister, vor einigen Jahrzehnten starb, hinterließ er ihm unter anderem einen Geldschein über »Eine Milliarde« Reichsmark, verknüpft mit dem Hinweis: »Junge, Geld ist nichts wert, Korn und Mehl ist das, was zählt«. Er hängt bis heute bei uns in der Küche und weist mich als Milliardär aus.

Heinrich Winkler hat völlig recht, wenn schreibt: »Bis in die Gegenwart verbindet sich in Deutschland mit dem Stichwort ›Inflation‹ die Vorstellung vom Währungschaos des Jahres 1923 – die Erinnerung an jene Zeit, in der ein Laib Brot erst Tausende, dann Millionen und schließlich Milliarden Mark kostete und die Arbeiter Koffer oder Rucksäcke brauchten, um ihren Lohn nach Hause zu bringen, eine Zeit, in der unzählige kleine Sparer ihr gesamtes Vermögen verloren, während einige Industriemagnaten sich ganz Wirtschaftsimperium zusammenspekulierten.«11

Dieses »Währungschaos« ist untrennbar mit dem Ersten Weltkrieg verbunden. Einer der bis heute bedeutendsten Wirtschaftshistoriker deutscher Zunge, Hans Mottek, fasst dies so zusammen: »Die im Kriege aufgestaute Kaufkraft mußte sich, obwohl dieser Prozeß bis zum Sommer 1919 sich nur in den ersten Anfängen zeigte, unter diesen Bedingungen elementar Bahn brechen. Der Gegenwert für diese Kaufkraft war bereits im Kriege durch die Rüstungswirtschaft aufgebraucht. Der Geld- und Kapitalmarkt verflüssigte sich, das Riesengeschäft mit der imperialistischen Form der ›ursprünglichen‹ Akkumulation begann.«12

Dieses »Riesengeschäft« war kein Resultat blinder Marktkräfte. Es war – wie Mottek und andere ausführlich gezeigt haben – eine politisch begleitete kühle Ausnutzung dieser Marktmechanismen für das Projekt, über eine »Inflationskonjunktur«13 die Krise des deutschen Imperialismus nach seiner Niederlage vom November 1918 sowohl ökonomisch als auch politisch zu überwinden. Dazu sollten die Kosten des imperialistischen Krieges von 1914 bis 1918 auf die deutsche Bevölkerung abgewälzt und gleichzeitig die Schuld am Darben den Siegermächten in die Schuhe geschoben werden: »In wirtschaftlicher Hinsicht wurde der Vertrag von Versailles von der Monopolbourgeoisie benutzt, um die entstehenden Lasten vor allem mittels des Inflationsmechanismus ebenso wie im Kriege auf die werktätigen Massen abzuwälzen.«14 Es zeichnete sich nach Kriegsende schnell ab, dass steigende Preise jenen, die darauf spekulierten, Geld in die Taschen spielen würden: »Die spekulativen Käufe von Dollars und die spekulativen Käufe von Waren auf dem Inlandsmarkt … beruhten letztendlich darauf, daß man mit einer Zuspitzung der Inflation … rechnete.«15 Bis zur Jahreswende 1922/23 verlief dieser Prozess aus der Sicht der Herrschenden gut. Das Ergebnis der Inflationskonjunktur »war eine beschäftigte, aber halbverhungerte Arbeiterklasse, deren Reallöhne niedrig gehalten wurden«16 und aufgrund der fallenden Wechselkurse der Mark zu fast allen anderen Währungen eine regelrechte Exportoffensive deutscher Waren.17

Einführung der »Rentenmark«

Im Jahre 1923 geriet dieser Prozess zunehmend außer Kontrolle und resultierte schließlich am 15. November dieses Jahres in der Einführung der »Rentenmark«, durch die die alte Reichsmark im Verhältnis von 1:1 Billion entwertet wurde – und mit ihr alle Vermögenswerte, die noch auf Reichsmark lauteten. Dieser Währungsschnitt, der, wie kurz skizziert, ideologisch für Millionen Menschen im Gegensatz zu den wirklichen Ursachen den Siegermächten des I. Weltkrieges in die Schuhe geschoben wurde, bildete eine der Grundlagen für den folgenden Aufschwung faschistischer Massenorganisationen, der im Januar 1933 in der Regierungsübernahme der Nazis mündete.

Eine Rolle spielte dabei auch die in dieser Zeit weiter bestehende Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung. Einerseits kam es bereits im Sommer 1922 zu »zunehmenden Streiks und dem Anwachsen des politischen Kampfes der Arbeiterklasse unter Führung der KPD«18 und ein Jahr später trug diese Entwicklung wesentlich zu der Überlegung der Herrschenden bei, die Ernte der Inflationskonjunktur vor dem drohenden Wolkenbruch nun bald unter Dach und Fach zu bringen: »Unter dem Einfluß der entstehenden revolutionären Situation und der erzwungenen Aufgabe des ›passiven Widerstands‹ in den Kohlenzechen an der Ruhr suchten die entscheidenden Kräfte des deutschen Monopolkapitals nunmehr die Inflation mit Hilfe amerikanisch-englischer Unterstützung zu beenden.«19

Andererseits war die Reaktion des sozialdemokratisch dominierten »Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes« (ADGB) von Hilflosigkeit gekennzeichnet. Dies hängt ursächlich mit der bis heute von der sozialdemokratisch dominierten Geschichtsschreibung positiv vermerkten »epochalen Entscheidung für den Burgfrieden« der von der SPD dominierten Gewerkschaften im Jahre 1914 zusammen. Sie war verknüpft mit der »endgültigen« Entscheidung für »einen reformorientierten Weg, den sie weder in der revolutionären Übergangsphase 1918/19 noch in den Jahren der Weimarer Republik wieder verließen.«20 Nach den Jahren 1918/19 trat das Wirken im politischen Raum daher »mit Abschluß dieser Periode … abrupt wieder in den Hintergrund.«21 In diesem – wie zitiert schon von Karl Marx scharf attackierten – Selbstverständnis ist das »angestammte Tätigkeitsfeld« der Gewerkschaften der »Aufbau und Unterhaltung von Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeitnehmerschaft, vor allem aber deren Interessenvertretung gegenüber der Arbeitgeberseite«22.

Klare Analyse – fehlende Konsequenz

Wer die Dokumente des ADGB aus jenen Jahren studiert, stellt eine Kombination aus Klarheit in der Analyse und völliger Lähmung in Bezug auf praktische Konsequenzen fest. So rechnet Josef Simon, Vorsitzender des Schuhmacherverbandes, in einer Sitzung des Bundesausschusses am 29. Juni 1922 seinen Kollegen nüchtern vor: »Der Lohnabbau vollzieht sich bei uns in Deutschland ganz automatisch durch die Verschlechterung des Geldes. Die Löhne in der Schuhindustrie sind in der Zeit vom 1. Januar 1921 bis jetzt um das 3,3fache gestiegen. Die Lebenshaltung nach der Indexziffer um das 4,3fache, so daß die Löhne um mindestens 40 Prozent höher sein müßten, hätten sie mit der Preisbewegung gleichen Schritt gehalten.«23 Die Vorschläge der mit der KPD verbundenen Teile der Gewerkschaftsbewegung, dagegen vorzugehen, werden zurückgewiesen – mit einem niederschmetterndem Ergebnis, das bis heute wie ein Menetekel an der Wand jedes Gewerkschaftshauses stehen sollte: »Den Gedanken, diese Entwicklung … mit einem Generalstreik aufhalten zu wollen, hatten die Führer der Freien Gewerkschaften schon Mitte Oktober 1923 fast einhellig als realitätsfern, ja unverantwortlich verworfen. … Finanziell längst am Ende, mußten sie einen großen Teil ihrer hauptamtlichen Funktionäre entlassen, ihre Presse drastisch einschränken, zeitweilig sogar die Unterstützungszahlungen an ihre Mitglieder einstellen. Schwerer indes wog der katastrophale Vertrauenseinbruch bei der Arbeitnehmerschaft. Denn er verlieh nicht nur der kommunistischen Opposition beispiellosen Auftrieb, sondern löste vor allem auch einen Massenexodus der Mitglieder aus: Allein im letzten Quartal des Krisenjahres 1923 verloren die im ADGB zusammengeschlossenen Verbände jedes fünfte ihrer Mitglieder, insgesamt 1,3 Millionen.«24

Der inflationäre Schub, der sich ziemlich genau ein halbes Jahrhundert später in Westdeutschland entfaltete, hat bei allen historischen Unterschieden und vor allem verglichen mit den 20er Jahren geringeren Inflationsraten eine Reihe von Parallelen. Er hängt in seinen Ursachen nicht nur mit einem Krieg zusammen, dem Vietnam-Krieg. Er zeigt auch die Kombination zwischen Schwäche revolutionärer Kräfte und Hilflosigkeit der über die Regierung eingebundenen Gewerkschaftsführung, die letztlich dazu führt, dass es zur Einkommensstagnation oder einem Reallohnverlust der von Löhnen und Lohnersatzleistungen abhängigen Bevölkerung kommt.

Damals wie heute – und auch in den 20er Jahren – zeigt sich die Notwendigkeit, die Regierung als Teil des Gegners und nicht etwa als Partner zu sehen, um in Inflationszeiten wenigstens eine Reallohnsicherung zu erreichen.

Lehren der Lohnrunde ’73

Das war während des Inflationsschubes, der sich 1972/73 zu entfalten begann, ähnlich schwierig wie heute: Am 19. November 1972 hatte die Bundestagswahl der SPD den größten Sieg ihrer Parteigeschichte beschert und Bundeskanzler Willy Brandt auf einen Sockel gestellt, von dem herunter jedes seiner Worte bis in den letzten Winkel der Betriebe in Westdeutschland Gehör fand. In dieser Situation rüsteten sich die IG Metall und andere Gewerkschaften Anfang 1973 zu einer Lohnrunde unter dem Eindruck von Zahlen, die heute sehr vertraut klingen: Im Februar prognostizierte der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung einen Anstieg der Verbraucherpreise um 5,5 bis 6 Prozent. Anfang Mai hatte er sich in einem »Sondergutachten« für das erste Halbjahr auf 7 Prozent korrigiert. In den Gewerkschaften fanden heftige Debatten um die Höhe der angemessenen Forderungen statt, in die sich führende sozialdemokratische Funktionäre heftig einmischten: »Helmut Schmidt unterbreitete noch vor den Wahlen ein 15-Punkte-Programm, dessen Kernstück die offene Aufforderung an die Gewerkschaften zu ›maßvollen und verantwortungsbewußten‹ Lohnabschlüssen ist. Inzwischen meldete das ›Handelsblatt‹ vom 8. Dezember 1972, bis heute unwidersprochen, daß Helmut Schmidt auf einer Sitzung des SPD-Gewerkschaftsrates die Gewerkschaftsvorsitzenden auf eine Lohnleitlinie von rund 7 Prozent für kommende Lohnabschlüsse zu verpflichten versuchte.«25 Nichts sowohl aus den 20er Jahren als auch aus unseren Tagen Bekanntes fehlte in den Auseinandersetzungen, die dieses Jahr 1973 prägten – nicht der Verweis auf die Lohn-Preis-Spirale, nicht die Wiederbelebung der »konzertierten Aktion« aus der Krise 1966/67, nicht die Maßhalteappelle des alten und neuen Bundeskanzlers, nicht die Hoffnung, durch Mäßigung eine drohende Rezession abwenden zu können. Am 9. Mai 1973 beschloss die Bundesregierung ein »Stabilitätsprogramm«. Die Bundesbank erhöhte im Kampf gegen die Teuerung den Diskontsatz auf 7 Prozent und verteuerte damit die Kredite. In den Betrieben wuchs angesichts der Diskrepanz zwischen großen Worten und dürren Ergebnissen der Unmut, der – dank Schmidt und anderen – von der Gewerkschaftsspitze gedämpft wurde: »Während die Arbeiter und Angestellten gegenwärtig durch eine Vielzahl von Streiks und Aktionen zeigen, daß sie nicht bereit sind, kampflos eine Senkung ihrer Reallöhne hinzunehmen, scheint in den Gewerkschaften an führender Stelle große Unsicherheit zu herrschen.«26 Die ersten im Hochsommer erreichten Abschlüsse blieben hinter den Erwartungen vieler Lohnabhängiger zurück. »Ein großer Teil der Belegschaften, Vertrauensleute und Betriebsräte glaubt, daß unangebrachte Rücksichtnahme auf die Bundesregierung die Hauptursache für den ungenügenden Tarifabschluß ist.«27

Schlussfolgerungen

Werner Cieslak aus Wanne-Eickel, damals Sekretär beim Parteivorstand der DKP, konstatierte am Ende des Jahres, dass letztlich dieser »große Druck, der von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung ausgeht«28, Abschlüsse zur Reallohnsicherung verhindert hätten. Er verwies aber darauf, dass es häufig gleich nach den Tarifabschlüssen wieder zu neuen Streik- und anderen Kampfmaßnahmen kam, als sich abzeichnete, dass die Versprechungen auf ein Abflauen der Inflation nicht hielten.

Fünf Schlussfolgerungen können m. E. in Auswertung der Geschichte des Kampfes der Arbeiterbewegung gegen Teuerung und Inflation gezogen werden:

  1. Grundlage inflationärer Bewegung ist das Auseinanderfallen von Wert und Preis in einer kapitalistisch organisierten Tauschwirtschaft. Auf dieser Basis besteht immer die latente und phasenweise dann zur Wirklichkeit drängende Gefahr, dass die von Lohn oder Lohnersatzleistungen abhängigen Bevölkerungsteile von den Kapitalisten »übers Ohr« gehauen werden, wie Marx 1865 formulierte.
  2. In seiner imperialistischen Phase verknüpft sich die Inflation eng mit der Frage des Krieges. Große Kriege – vor allem, wenn sie verloren gehen – führen zu großer Inflation, kleinere zu kleinerer. Inflation ist ökonomisch ein ideales Instrument, um Kriegsfolgen auf die Massen der abhängig Beschäftigten abzuwälzen und ideologisch ein ideales Instrument, um die Schuldfrage auf andere Staaten abzuwälzen.
  3. Der Kampf gegen Teuerung und Inflation kann nur geführt werden als Einheit von ökonomischem und ideologischem Klassenkampf, um die Erzählung der Lohn-Preis-Spirale als Lüge zu entlarven, und des politischen Klassenkampfes, um zu verhindern, dass sich Sätze wie »Schuld daran ist der Versailler Vertrag« oder »Schuld daran ist Putin« in Millionen von Hirnen festsetzen.
  4. Zentral für erfolgreiche Kämpfe ist die Verbreitung des Bewusstseins, dass die Regierung dieses Staates niemals auf der Seite der abhängig Beschäftigten, sondern – hinter wieviel Nebelwänden auch immer verborgen – immer auf der Seite des Kapitals steht, das bestrebt ist, durch die Inflation Lasten auf die Schultern der abhängig Beschäftigten und Rentenbezieher abzuwälzen.
  5. Der Kampf gegen die Inflation kann, wenn er den ökonomischen, ideologischen und politischen Klassenkampf gut miteinander verbindet, Zugänge für die Stärkung revolutionärer Kräfte aus Teilen der Bevölkerung öffnen, die sonst keinen Zugang zu den entsprechenden Parteien finden. Das zeigen vor allem die Kämpfe in Russland zwischen 1905 und 1917, aber auch in Ansätzen diejenigen in Deutschland in den 20er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts.

1 In der englischen Originalversion »Value, Price and Profit« – in dieser Fassung nachzulesen in: Karl Marx & Friedrich Engels, Selected Works in one Volume, London 1968.

2 Der Vortrag begann am Mittwoch, den 20. Juni 1865 um 21 Uhr – so viel zu den damaligen Kampfbedingungen, denn nur zu dieser Zeit war es den Arbeitern, die die IAA wesentlich mitprägten, überhaupt möglich, an solchen Debatten teilzunehmen.

3 Ebenda, S. 149.

4 Ebenda, S. 105.

5 Ebenda, S. 119.

6 Ebenda, S. 143.

7 Ebenda, S. 152.

Details

Seiten
132
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (ePUB)
9783961703562
ISBN (PDF)
9783961706563
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Juni)
Schlagworte
inflation geld

Autor

  • Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)

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Titel: Inflation: Ursachen – Verursacher – Auswege
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