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Das Jubiläumsheft – Mut und Marxismus

von Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)
228 Seiten
Reihe: Marxistische Blätter, Band 5/6_2023

Zusammenfassung

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Friedensbewegung in der multiplen Krise

Thomas Hagenhofer

Die, ich nenne sie mal moderne, Friedensbewegung entstand nach 45 vor dem Hintergrund der die Menschheit bedrohende Gefahr der Vernichtung durch atomare Bewaffnung. Heute sind die Gefahren für das Überleben multipler und komplexer.

Wir haben es mit folgenden Bedrohungen zu tun, wahrscheinlich ist die Liste nicht mal vollständig: Atomkrieg, Klimakatastrophe, Artensterben, Vermüllung der Meere und Endlichkeit natürlicher Ressourcen wie Wasser, Ackerflächen und Sand. Wie ein politökonomischer Tauchsieder treibt das kapitalistische Profitsystem diese Krisen an, zusätzlich werden sie angeheizt von einer Rechtsentwicklung politischer Systeme und der Zivilgesellschaften. Sie lösen Fluchtbewegungen aus, die die Lage weiter verschärfen und zudem aufgrund der Abschottung der kapitalistischen Zentren Tausende jährlich sterben.

Und wir haben es zudem mit einer neuen Bedeutung des Faktors Zeit in diesen Krisen zu tun. Die Gefahr einer atomaren Konfrontation ist so hoch wie nie, aber sie ist zeitlich nicht bestimmbar. Die Krisen im globalen Ökosystem sind es, die Uhr tickt gnadenlos herunter und wir erleben, wie der Kapitalismus vor diesen Herausforderungen versagt.

Wenn diese Analyse auch nur im Ansatz stimmt, dann verändern sich die Perspektiven für eine Friedensbewegung, die diesen Bedrohungen in ihrer Gesamtheit begegnen will. Dann kommen wir nicht umhin, die Zusammenhänge viel stärker herauszuarbeiten, dann kann die Friedensbewegung der kapitalistischen Profitlogik nicht indifferent gegenüber stehen. Das meint nicht, aus der breiten Friedensbewegung eine revolutionäre Kraft zu machen oder eine, die alle globalen Menschheitsprobleme bearbeiten will. Es meint aber, dass die Friedensbewegung sich vom Grundsatz her als kapitalismuskritische Kraft verstehen muss, wenn sie auf der Höhe der Zeit sein will. Selbiges gilt natürlich auch für die Klimabewegung.

Darüber hinaus kommt heute der Vernetzung der Bewegungen eine viel höhere Bedeutung zu. Nicht umsonst verbreitet sich die Losung »Krieg ist der größte Klimakiller«. Und ebenfalls wird Friedensbewegung immer auch Solidaritätsbewegung für Geflüchtete sein müssen, schon wegen des engen Zusammenhangs von Krieg und Flucht. Die Losung »Grenzen öffnen für Menschen – Grenzen schließen für Waffen!« ist angesichts der jüngsten Entwicklungen ein Muss für friedensbewegte Kräfte.

Gleichzeitig bleibt die Herausforderung, das so wichtige strategische Bündnis von Arbeiter- und Friedensbewegung zu erneuern. Das mag vor den aktuellen Entwicklungen eine fast utopische Orientierung sein. Zu sehr sind die Gewerkschaften eingebunden in die bellizistische Einheitsfront, die diesen Kriegin der Ukraine um nahezu jeden Preis gewinnen will. Und genauso verhält es sich im Verhältnis zu den Kirchen. Wenn die FAZ zum Evangelischen Kirchentag titelte: »Abschied von der Generation Käßmann«, dann wird schlaglichtartig deutlich, wie sehr uns dieser Krieg zivilisatorisch zurückwirft. Aber wir wissen auch, dass nichts so bleibt wie es ist, schon gar nicht in dieser Schussfahrt des Katastrophenkapitalismus Richtung Untergang. Die Widersprüche werden nicht nur sichtbarer, sie werden erlebbar, werden von den arbeitenden Menschen erlitten. Wie in den 80er Jahren werden diese Widersprüche, diese Kanonen-statt-Butter-Politik zu neuen Massenbewegungen gegen Krieg und Aufrüstung führen, wenn der Schulterschluss mit den Gewerkschaften gelingt, wenn sich die Friedensbewegung nicht in eine bündnispolitische Sackgasse manövriert …

Die Freiheit der Kunst …

hat in der Freien und Hansestadt Bremen scheinbar keinen sehr hohen Stellenwert, zumindest wenn es um pazifistisches und antimilitaristisches Engagement geht. Das bekam der Bremer Professor, Dichter, bildende Künstler (und gelegentliche Autor der Marxistischen Blätter) Rudolph Bauer hautnah zu spüren. Anonym bei der »Meldestelle gegen Hetze im Netz« denunziert, holte ihn am 10. August frühmorgens ein bewaffnetes Rollkommando aus dem Bett, konfiszierte zwecks »Beweissicherung« einige seiner #politicalart-Bildmontagen und sein Smartphone. (siehe https://www.rationalgalerie.de/home/justiz-und-kunst). Prof. Thomas Metscher dazu in einem Solidaritätsschreiben: »Der Vorwand, Bauer verharmlose durch seine Bildmontagen die Verbrechen des Nationalsozialismus, ist lachhaft für jeden, der die Forschung und Lehre seiner Tätigkeit an der Bremer Universität sowie seine Arbeit als Künstler kennt. In diesen kritisiert er erbarmungslos die im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen gegen Russland und andere Völker der Welt … Angesichts dieser Tatsache ist es moralisch verbrecherisch, wenn es die deutsche Außenministerin als ihr Ziel betrachtet, ›Russland zu ruinieren‹ – eine Absichtserklärung, die diese bislang weder zurückgenommen noch bedauert hat. Hier von einer Kontinuität deutscher Politik und deutscher Verbrechen zu sprechen, scheint mir mehr als berechtigt. Solche Kontinuitäten aber bringt Bauer in seinen Texten und Montagen ans Licht – eine Tätigkeit, die hohes Lob verdient … Ein terroristisches Vorgehen von der Art, wie wir es hier in Bremen am Beispiel Rudolph Bauers erleben, hat in vieler Hinsicht einen ›deutschen‹ Charakter und bestätigt sehr genau die politische sowie künstlerische Wahrheit von Arbeiten, wie sie Rudolph Bauer als Teil seines Spätwerks vorlegt. Hier ist, wie Brecht sagte, »der Schoß fruchtbar noch, aus dem das kroch«.

Gabriele Krone-Schmalz …

teilte uns mit, dass sie nicht bei Hans Lemberg promoviert wurde wie wir in MBl 4_2023 Seite 6 schrieben. Bei ihm habe sie zwar studiert und in Düsseldorf als wissenschaftliche Hilfskraft gearbeitet; ihre Promotion habe aber Günther Stökl (der Doktorvater von Hans Lemberg) betreut. Und noch eine Korrektur: Der Westend Verlag übernimmt die Bücher »Russland verstehen?« und »Eiszeit« von Gabriele Krone-Schmalz in sein Sachbuchprogramm und bringt beide Bestseller als erweiterte Neuausgaben heraus. Westend-Verleger Markus J. Karsten: »Dass wichtige Bücher einer hochverdienten und erfahrenen Journalistin wie Gabriele Krone-Schmalz derzeit nicht lieferbar sind und deren wissensgesättigte Inhalte nicht in die öffentliche Diskussion gelangen, ist nicht gut für die Demokratie. Daher füllen wir diese Lücke.«

Hermann Kopp …

ist im Juli 80 geworden. Lange Jahre (1992–2004) war er verantwortlicher Redakteur unserer Zeitschrift. Im Namen von Redaktion, Verlag und Herausgeberkreis wünschten wir ihm schriftlich alles Gute: »Bleib gesund, habe noch viele gute Jahre mit Gisela und sage – ganz im Sinne von Bert Brecht – niemals Nein zu einem guten Wein und einem neuen Gedanken.«

Dank an Alle

Durch eine lieb gemeinte »Indiskretion« (Geburtstags-Anzeige in der UZ) hat meine DKP-Kreisorganisation mich als 70-jährig geoutet und mir in meinem Urlaubs-Asyl eine unerwartete Fülle von Glückwünschen, Wertschätzungen meiner Arbeit und Ermutigungen von Leser:innen beschert. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken und versprechen »I’ll do weiterhin my very best.«Lothar Geisler

Europa: Bewegungslinke im Niedergang

Max Veulliet

Die Finanzkrise läutete die Ära linker Bewegungsparteien ein. Spätestens mit den spanischen Wahlen ist diese vorbei, schreibt Max Veulliet von der KPÖ. Denn ohne starke Parteistrukturen geht die spontane Energie der Bewegungen verloren.

Griechenland: Syriza fährt massive Verluste ein. Spanien: Podemos erlebt eine herbe Niederlage bei den spanischen Regionalwahlen. Indes ist »Die Linke« in Deutschland weiterhin in scheinbar auswegloser Situation. 2023 scheint es, als wäre die in Parteiform gegossene Bewegungs- und Bündnislinke knapp 15 Jahre nach dem Beginn der Eurokrise und etwa acht Jahre nach ihren größten Erfolgen am Ende. Was ist passiert?

Kometenhafter Aufstieg, schleichender Niedergang

Podemos gründete sich 2014 aus der Indignados-Bewegung heraus, die sich ab 2011 auf Spaniens Straßen und Plätzen gegen die Austeritätspolitik in der Eurokrise wandte. Den größten Erfolg feierte die Partei 2015, als sie bei den Parlamentswahlen 20,7 Prozent erreichte. Bei der Wiederholungswahl 2016 schloss man sich mit der alteingesessenen Izquierda Unida (Vereinigte Linke) zusammen, selbst schon ein Wahlbündnis, das in den Jahren davor zwischen fünf und zehn Prozent der Stimmen geschwankt hatte. Der Antritt namens Unidos Podemos erreichte 21,2 Prozent.

Doch Verhandlungen über eine mögliche Regierungsbeteiligung scheiterten. Erst 2019, als man zwei Millionen Stimmen weniger erhalten hatte als 2016, konnte Unidos Podemos eine Koalition mit der spanischen Sozialdemokratie schließen – als Juniorpartner. Die ursprüngliche Energie war verloren und die Partei von inneren Streitigkeiten über ihre Ausrichtung geschwächt. 2023 flog sie bei den Regionalwahlen sogar aus einigen regionalen Parlamenten. »Sumar«, ein weiterer linker Zusammenschluss unter der Führung einer Kommunistin – der Ministerin für Arbeit und Sozialwirtschaft, Yolanda Díaz – dem sich Podemos etwas unwillig in letzter Minute anschloss, konnte diesen Sonntag nicht einmal das schon vergleichsweise schwache Ergebnis von 2019 halten.

Während bei Podemos die Bewegung zur Partei wurde, wurde Syriza in Griechenland eher als Partei zur Bewegung. Syriza als Zusammenschluss linker Parteien hatte bereits seit 2004 bestanden. Mit der Eurokrise erhielt die Partei dann starken Zulauf aus der Protestbewegung gegen die von EU und IWF auferlegten Austeritätsmaßnahmen. 2015 konnte sie mit Wahlergebnissen deutlich über 30 Prozent mit Alexis Tsipras den Ministerpräsidenten stellen. Bei einer Volksabstimmung über das Kürzungsdiktat stimmten die Griech:innen mit »Nein« – doch die Syriza-Regierung setzte es in einem historischen Vertrauensbruch trotzdem um. Damit war auch der griechischen Antiausteritätsbewegung der Wind aus den Segeln genommen. In Folge verlor man 2019 die Regierungsämter an die konservative Nea Demokratia und erreichte 2023 nur noch 18 Prozent der Stimmen.

Keine Bewegung hält für immer

An Syriza und Podemos orientierten sich zu ihrer erfolgreichen Zeit viele europäische Parteien, auch Die Linke in Deutschland (mit der Strömung »Bewegungslinke«) und die KPÖ in Österreich. Doch im oben beschriebenen Niedergang zeigt sich das grundlegende Problem einer Linken, die sich von Bewegungen ihre politische Richtung vorgeben lässt: Gelingt es ihr anfänglich, die spontane Energie der Straße aufzufangen, so muss sie danach starke Parteistrukturen aufbauen und kontinuierliche Basisarbeit leisten. Denn keine Bewegung hält für immer – und auf immer neue Bewegungen zu hoffen, ist ein Lotteriespiel. Die Proteste rund um Eurokrise und Austerität bildeten den Grundstein für die größte europäische sozioökonomische Bewegung seit langem. Die Klimabewegung ist dafür kein Ersatz.

Man kann nun entgegnen, dass sowohl in Spanien als auch in Griechenland linke Parteien weiterhin stärkere Wahlergebnisse erzielen als vor der Eurokrise. Gesellschaftlich gesehen wurde hingegen nichts Dauerhaftes gewonnen. Weder wurde der links-liberale Parteienblock gegenüber dem rechtskonservativen Block gestärkt, noch wurden Nichtwähler:innen in relevanter Zahl davon überzeugt, dass sich mit der Wahl einer linken Partei in ihrem Leben etwas zum Besseren verändern kann.

Ein neues Erfolgsrezept

Erfolg haben in Europa mittlerweile andere Formen linker Parteien – und das mit eher klassischen Rezepten. Ein Beispiel ist das starke Wachstum der Partei der Arbeit Belgiens (PVDA/PTB). Sie setzt auf eine direkt an den Alltagsproblemen der arbeitenden Menschen ansetzende Politik, orientiert am Marxismus und ergänzt durch jahrelang verfolgte, selbstorganisierte Solidaritätsprojekte. Strukturell zeichnet die PVDA/PTB ein modernisierter demokratischer Zentralismus aus. Mit ähnlichen Rezepten erzielte die KPÖ in der Steiermark und in Salzburg respektable Ergebnisse.

Vor der Zusammenarbeit mit Bewegungen muss eine Partei wissen, wo sie hinwill und was ihre Strukturen sind. Das ist seit dem Zerfall der Sowjetunion nur wenigen linken Parteien in Europa gelungen. Die europäische Linke war jahrzehntelang in konstantem Umbruch. Für eine kurze Zeit schien es, als hätte die Finanzkrise nach 2008 für die Etablierung eines bestimmten Typus linker Bewegungsparteien gesorgt. Diese kurze Ära ist nun zu Ende. Das müssen wir anerkennen, um unsere Lehren daraus zu ziehen. Wie können wir unsere Parteien und unsere Politik organisieren, um Kontinuität am Weg zum Sozialismus und zu einer befreiten Gesellschaft zu schaffen?

Die flüchtige Energie in Strukturen gießen

Zentral ist: Politische Erfolge, die aus temporären Situationen entstehen, müssen rasch in Parteistrukturen gegossen werden. Wahlsiege verschaffen einer Partei für kurze Zeit sehr viel Aufmerksamkeit und Zulauf. Doch ergeben sich daraus nicht Gruppen auf lokaler oder betrieblicher Ebene, die viele Menschen einbinden können; entwickelt man aus den Aktivgewordenen nicht fähige Führungskräfte, die Parlamentarismus als Werkzeug und nicht als Zweck verstehen sowie fähig sind, zentrale soziale Themen verständlich zu kommunizieren; und startet man keine Projekte vor Ort mit einem Mehrwert für die Bevölkerung; dann wird der Erfolg nicht von Dauer sein.

Was sich schließlich am Beispiel Syriza auch gezeigt hat: Es kann sich lohnen, für langfristige Ziele lieber auf kurzfristige Regierungsmacht zu verzichten. Eine starke linke Partei mit Vertrauen der Bevölkerung ist ein Projekt von Jahrzehnten und braucht entsprechendes Commitment für den Knochenjob vor Ort.

Video-Hinweise zum Thema:

Interview mit Elke Kahr:

https://www.youtube.com/watch?v=YXuc-4P9ge8

Die Linke und das Comeback der KPÖ:

https://youtu.be/0xMauoWPFhc

Begreifen geht anders

Ekkehard Lieberam

Mario Candeias, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, hat 15 Thesen zur Krise der Linkspartei vorgelegt: zur gesellschaftspolitischen Situation und zur Debatte über die Aufgaben linker Politik.

Candeias vertritt eine pessimistische Sicht. Er sieht die Linke »mindestens ein Jahrzehnt« in der Defensive. »Wir leben in keiner offenen gesellschaftlichen Situation« ist sein erster Satz. Mögliche Alternativen sieht er »verunmöglicht«. Die globale Aufrüstung verenge »den Raum schon jetzt erheblich«. Seit 2011 sieht er, unter anderem mit der Finanz- und Schuldenkrise, der Pandemie, der Bewegung der Geflüchteten, dem Kulturkampf um die liberale gesellschaftliche und die ökologische Modernisierung, neue »Konfliktlinien« und eine »Umordnung des Parteiensystems« entstehen. Der LINKEN sei es seit 2015 »an keiner dieser Konfliktlinien gelungen jeweils einen Pol in der Auseinandersetzung zu besetzen.« Candeias folgt der von den Regierenden favorisierten Transformation in Richtung eines »Green Deal«. Es gäbe eine Polarisierung »zwischen den Trägern einer grün-liberalen Modernisierung und den autoritären Verteidigern einer fossilistischen Lebensweise«.

Seine besondere Sorge gilt der Krise der Linkspartei. Der anti-neoliberale Konsens, der die Linke zusammengehalten habe, zerfasere. Politische Konfliktlinien »verwickelten« sich mit dem »Kampf um Ämter und Positionen«. Einem »sozial- oder linkskonservatives Konzept« stehe ein »sozialliberales Projekt« gegenüber. »Eine sich anbahnende neue Hegemonie schafft durchaus neue Bedingungen für etwas Neues von links.« Dazu brauche es »ein Signal des Aufbruchs auf den Feldern Frieden, sozial-ökologischer Systemwechsel und Infrastruktur-Sozialismus, Arbeit und Ökonomie der Zukunft«. Immerhin gebe es »noch ein Wählerpotential von ca. 16 Prozent für eine sozial-ökologisch ausgerichtete, kapitalismuskritische und friedenspolitisch neu profilierte linke Partei«.<

Es gehe um eine »klare Profilierung als moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei bzw. als klassenorientierte sozialistische und feministische Partei der Gerechtigkeit und Freiheit und des Friedens mit sozialistischer Perspektive«. Zu bedenken wäre angesichts »einer neuen gesellschaftlichen Entwicklungsperiode« bereits jetzt eine »desruptive Neugründung aus dem strategischen Zentrum der Partei heraus«. Erforderlich sei ein »Aufbruch im Sinne eines erkennbaren Bruchs mit dem ›weiter so‹«.

Gewarnt wird mit Recht vor der »Vernichtung« der Linkspartei, aber ansonsten: mehr Fragen als Antworten, die überzeugen; viele Andeutungen, wenig Klartext. Reale Auswege werden nicht aufgezeigt. Kein Wort zu den heftigen inhaltlichen Differenzen in der Linkspartei: um die Systemfrage, um Regierungsbeteiligung, um die Entwicklung des Ukrainekrieges zum Weltordnungskrieg des USA-Imperialismus, kein Wort zur Befürwortung der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland von Politikern der Partei.1

Die Forderung nach einem Bruch mit dem »weiter so« ist beachtenswert. Aber sie bleibt ohne Kritik des desolaten, durch Anpassung an den allgemeinen Politikbetrieb gekennzeichneten Zustandes der Linkspartei unverständlich. »Ein Bruch muss noch lange kein Aufbruch sein«, schrieb Loren Balhorn.2 Die Forderung nach einer »programmatischen Erneuerung« bleibt dunkel, wenn ungesagt bleibt, was denn am Programm von 2011 »erneuert« werden soll.

Gleich viermal ist in dem Text von »linkskonservativ« bzw. »Linkskonservatismus« die Rede. Was damit gemeint ist, wird nicht geschrieben. Der Eindruck ist: Mit diesem Begriff, erfunden, um die »Richtung Wagenknecht« zu stigmatisieren, wird dem Parteivorstand gegenüber Loyalität signalisiert. In seinem Beschluss vom 10. Juni 2023 hatte dieser erklärt, dass die Zukunft der Linkspartei »eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht« sei. Wagenknecht, die zu den Politikern der Linkspartei gehört, die in der Friedens- und Klassenfrage zum Parteiprogramm von 2011 stehen, ist erkennbar auch nach Mario Candeias bei der »Erneuerung der Linken« fehl am Platze.

Manche Einschätzungen im Text (so zur Zerfaserung des anti-neoliberalen Konsensus) sind plausibel. Anderes, wie der Hinweis auf »neue Konfliktlinien«, ist diskussionswürdig. Wichtiges aber fehlt: Der Zusammenhang von Klimakrise und kapitalistischer Produktionsweise wird nicht thematisiert. Vom Ukrainekrieg erfährt man nur, dass er Ausdruck der »Zeitenwende« ist. Zur gegenwärtigen geschichtlichen Epoche, gekennzeichnet auch durch eine neuartige Systemauseinandersetzung zwischen der Volksrepublik China und den USA, in der China nach dem IWF mittlerweile hinsichtlich des kaufkraftbereinigten Welt-BIP vorne liegt,3 wird nichts gesagt. Die damit gegebenen neuen Möglichkeiten solidarischer Fortschritte in den internationalen Beziehungen sind kein Thema.

Unübersehbar ist die pessimistische Sicht des Verfassers auf die derzeitigen politischen Gestaltungsmöglichkeiten linker Politik. Aber warum Resignation und dazu noch Klein-Klein wie das Plädoyer für »Inseln des Überlebens und der Sorge«? Warum keine Kritik an der täglichen Zerstörung der Vernunft durch die Leitmedien des Kapitals? Warum kein Hinweis darauf, dass Grundlage linker Politik nun einmal Gegenmacht, d. h. der reale gewerkschaftliche und politische Kampf der Lohnarbeiterklasse für ihre Interessen ist? »Die strategische Kernaufgabe der LINKEN«, so steht im Programm, »besteht darin, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beizutragen, um eine solidarische Umgestaltung der Gesellschaft … durchzusetzen.«4

Eine taugliche Handlungsorientierung enthält das Thesenpapier von Mario Condeias nicht. Zum Begreifen der Welt und der Aufgaben linker Politik trägt es wenig bei. Wie sollte es auch, wenn dafür geeignete Begriffe wie Imperialismus, Kapitalherrschaft, Systemfrage, Klassengesellschaft und Klassenbildung fehlen.

Das Thesenpapier macht gleichwohl deutlich, wie bitter notwendig es ist, wieder einmal die Welt gründlich zu interpretieren, um sie verändern zu können. Die Linke in ihrer Gesamtheit ist gefordert, sich an der Analyse der sehr komplexen, vielschichtigen und sich vor unseren Augen wandelnden Weltlage zu beteiligen. Sinnvollerweise sollte sie dabei dem Ratschlag Lenins folgen: »Die Gesamtheit aller Seiten der Erscheinung, der Wirklichkeit und ihrer (Wechsel-) Beziehungen – das ist es, woraus sich die Wahrheit zusammensetzt. … Um zu begreifen, muß man mit dem Begreifen, dem Studieren empirisch anfangen und von der Empirie zum Allgemeinen aufsteigen. Um schwimmen zu lernen, muß man ins Wasser gehen.«5

1 Vgl. Ekkehard Lieberam, Die Leiden der Linken und die Leiden an der Linken, Bergkamen 2022. Zu beziehen über: pad-verlag@gmx.net

2 Loren Balhorn, Ein Bruch ist noch kein Aufbruch, Jacobin, 27.7.2023.

4 PROGRAMM DER PARTEI DIE LINKE, Beschluss 2. Parteitages am 21. bis 23. Oktober 2011, Erfurt, S. 49.

5 W. I. Lenin, Konspekt zur »Wissenschaft der Logik«. Die Lehre vom Begriff, LW, Band 38, Berlin 1981, S. 186 und 196.

»Drei Jahre Marxismus und Chile war kaputt.«

(BILD am 12. September 1973)

Alfredo Rodríguez

Die 1.000 Tage der Regierung von Salvador Allende in Chile waren für Arbeiter, Bauern und Studenten eine Zeit des sozialen Aufbruchs, als in Chile durch die sozialistische Regierung die kostenlose Bildung eingeführt, das Recht auf Arbeit festgemacht und etwa Strom für alle lanciert wurde. Das Erringen von Rechten für die einen, ist das Ende der Privilegien anderer, weshalb Allendes Regierung seit dem Tag ihrer Wahl Opfer von Destabilisierungskampagnen aus dem In- und Ausland war. Als schließlich die Konterrevolution in den faschistischen Militärputsch gegen die sozialistische Regierung mündet, feiern die bürgerlichen Kräfte in Chile, den USA und auch in der BRD.

Gerade Chile hat mit seiner sehr großen deutschen Gemeinde in seinem Süden historisch gesehen eine besondere Beziehung zu Deutschland. Nicht zuletzt auch militärisch durch die Jahrzehnte andauernde Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Kaiserreich und Chile. Unter dem Preußen Emil Körner, der im Jahr 1900 sogar Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte wurde, übernahm die chilenische Armee Uniformen, die Wehrpflicht und sogar das Dienstreglement des Kaiserreichs. Bis heute gibt es aus diesem Grund eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den preußischen Dragonern und der Nationalgarde des chilenischen Präsidenten sowie die noch immer stattfindende Verwendung der Pickelhaube.

Vor diesem Hintergrund ist die Situation in Chile unter der sozialistischen Regierung für die bürgerlichen Kräfte in der BRD in ihrer Wichtigkeit nicht zu vernachlässigen. Die damalige Bundesregierung, die deutschen Parteien, sowie die bürgerliche Presse waren Teil der Kampagne zum Sturz der Regierung der Unidad Popular.

Während über lange Zeit vor allem die durch FDP-Ministerien blockierten Kredite des Internationalen Währungsfonds für die Allende-Regierung Gegenstand der Kritik der Solidaritätsbewegung an der von Kanzler Willy Brandt geführten Bundesregierung waren, brachte eine Anfrage des Linken-Abgeordneten Jan Korte aus dem Jahr 2019 neue Informationen über die Rolle des westdeutschen Staats ans Licht. So soll nach Angaben der Merkel-Bundesregierung der deutsche Geheimdienst BND genau wie die damalige Brandt-Bundesregierung vorab über den anstehenden Putsch informiert worden sein. Über eine mögliche Zusammenarbeit des BND mit der CIA, die maßgeblich an der Intervention in Chile beteiligt war, machte die Bundesregierung 2019 aus Gründen des »Staatswohls« keinerlei weitere Angaben. So ist davon auszugehen, dass die Ereignisse des 11. Septembers mit dem Staatsstreich der Militärs die Brandt-Regierung nicht überraschten.

Eine entschlossene Reaktion von Seiten der sozialliberalen Koalition blieb aus. Während die Solidaritätsbewegung die sofortige Beendigung der diplomatischen Beziehungen mit der neuen Militärdiktatur forderte, saß die Bundesregierung die Debatte aus und diskutierte später nur noch über eine mögliche Umschuldung Chiles.

Die bürgerlichen Kräfte und die Reaktion ihrer Parteien auf den Putsch

Die deutschen Christdemokraten pflegten schon vor dem Putsch 1973 gute Beziehungen zu ihrer chilenischen Schwesterpartei DC und standen wenig überraschend Allendes Projekt des chilenischen Wegs zum Sozialismus sehr kritisch gegenüber. Den Putsch begrüßte der Unionsfraktionsvorsitzende Karl Carstens am 12. September zwar nicht offen, verurteilte ihn aber auch nicht. Nüchtern erklärte er, dass das Experiment, Sozialismus und freiheitlich demokratische Grundordnung zu vereinen, gescheitert sei. Erst als die Gräueltaten der Militärjunta in Westdeutschland öffentlich wurden, sah sich das CDU-Präsidium am 1. Oktober genötigt, den Putsch zu verurteilen. In dem Beschluss heißt es, dass das CDU-Präsidium den Umsturz der demokratisch gewählten Regierung in Chile bedauere.

Diese widersprüchliche Kommunikation von Seiten der CDU manifestiert die innere Zerrissenheit in weiten Teilen des bürgerlichen Lagers, auch bei der FDP. Auf der einen Seite wurde versucht, ob politisch, medial oder wirtschaftlich, die Allende-Regierung zu destabilisieren und zu verunglimpfen, damit der chilenische Weg zum Sozialismus scheitere. Gleichzeitig aber unterstützte ein beachtlicher Teil der bürgerlichen Kräfte die späteren Verbrechen der Militärjunta nicht. Wichtig ist, sich hierbei die politische Situation 1973 in Erinnerung zu rufen, als FDP und CDU noch immer einen starken »Stahlhelm«-Flügel besaßen, der jedwedes Ende der sozialistischen Regierung begrüßte und später enge Beziehungen zur chilenischen Militärdiktatur pflegte.

Ein prominentes Beispiel für den rechtskonservativen Flügel der Christdemokraten, die den Putsch begrüßten, ist der frühere Generalsekretär der CDU und damalige Vorsitzender der Adenauer-Stiftung, Bruno Heck, der im Oktober Chile besuchte, um sich selbst ein Bild der Lage vor Ort zu machen. Bei seiner Rückkehr zitierte ihn die Deutsche Presseagentur bei seiner Pressekonferenz zur Reise mit dem Satz: »Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Frühlingswetter recht angenehm.« Die Süddeutsche Zeitung griff am nächsten Tag das Zitat auf. Die CDU sowie Heck bestritten die Aussage.

Der Hardliner in Sachen Chile war jedoch ohne Zweifel der bayrische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß. Dieser ließ sich am 22. September 1973 im Bayernkurier mit den Worten zitieren: »Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang.« Mit seiner späteren Chile-Reise, auf der er den Diktator Pinochet traf und Kontakte zur Folter-Sekte Colonia Dignidad knüpfte, versuchte sich Strauß gegenüber seinem politischen Konkurrenten Helmut Kohl zu profilieren.

Die bürgerliche Presse und
ihre Reaktion auf den Putsch

Die Monate vor dem Putsch gegen Allende waren geprägt von dieser psychologischen Kriegsführung, die auch von den internationalen Medien betrieben wurde. Als es schließlich zum Staatsstreich kam, herrschte eine Stimmung der Erleichterung in den deutschen Redaktionen. Die Bild titelte am 12. September: »Drei Jahre Marxismus und Chile war kaputt.«

Der Tenor im Deutschlandfunk, der Bild, der Welt oder FAZ, war im Kontext des 11. Septembers der gleiche, eine Mischung aus Antikommunismus und Relativierung des Putsches und seiner Folgen. Damit herrschte bei den bürgerlichen Parteien und den Medien dieselbe Strategie, man unterstützte in der Mehrheit zwar niemals offen die Militärdiktatur, aber relativierte und rechtfertigte den Sturz der demokratisch gewählten Regierung Allendes.

Das Lesen der Presse aus jener Zeit eröffnet den Einblick in eine weitere Perspektive, die der deutschen Wirtschaft. Besonders auffällig ist eine in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschaltete Anzeige vom 29.9., die zum sofortigen Investieren in Chile aufruft. Diese Anzeige kann die Stimmung der großen Konzerne wahrscheinlich am treffendsten zusammenfassen, denn sie deckt sich mit der Faktenlage. Jan Kortes Anfrage an die Merkel-Regierung ergab, dass der Außenhandel der Bundesrepublik mit der chilenischen Militärdiktatur in den Folgejahren rasant anstieg. So stiegen die Exporte 1974 um 40 %, während die Einfuhren aus Chile sogar um 65 % zunahmen. Die deutsche Wirtschaft war einer der großen Profiteure der faschistischen Pinochet-Diktatur.

»Gesiegt, auf die schrecklichste Weise.«

Teile des Staatsapparats in Form des BND, die westdeutsche Medienlandschaft sowie die Parteien mit ihren Stiftungen mischten in Chile mit und versuchten im Kontext des Kalten Krieges zusammen mit weiteren Akteuren, das Scheitern des progressiven Projekts herbeizuführen. Sie nahmen damit die brutalsten Verbrechen in Kauf. Man beteiligte sich zwar aktiv am Sturz der Regierung und man profitierte von der Militärdiktatur, doch man wollte sich, mit Ausnahme der reaktionärsten Kräfte, nicht offen mit der Pinochet-Diktatur verbrüdern. Dennoch konnten die Vertreter des Kapitals ihre Freude über den Putsch nicht verbergen.

Der ehemalige Generalsekretär der rechtsextremen paramilitärischen Organisation patria y libertad und einer der Organisatoren des Putsches, Roberto Thieme, fasste diesen auch für die chilenische Rechte existierende Widerspruch in einem Interview für eine Netflix-Dokumentation Colonia Dignidad wie folgt zusammen: »Wir haben gesiegt. Trotz alledem. Auf die schrecklichste Weise.«

Literatur

Dufner, Georg J.: Chile als Partner, Exempel und als Prüfstein. Deutsch-deutsche Außenpolitik und Systemkonkurrenz in Lateinamerika. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Band 61, Heft 4, 2013, S. 513–549.

Hofmeister, Wilhelm: Die deutschen Christdemokraten und Chile. In: Kas-Auslandsinformationen, Band 20, Heft 7, 2004, S. 22–50.

Kühnl, Reinhard: Konzeption und Funktion des F. J. Strauß. Im Anhang: Gemeinsam gegen rechts! Stoppt Strauß jetzt! Aufruf zu demokratischer Aktion, Pahl-Rugenstein, Köln 1980

Müller-Plattenberg, Urs: Die Bundesregierung nach dem Putsch vom 11. September 1973. Fünfzehn Jahre Beziehungen zur Militärdiktatur in Chile. In: Diktatur und Widerstand in Chile (= Bibliothek des Widerstands, Band 29), Laika, Hamburg 2013, S. 243–248.

Free Lina et al. – Antifaschismus ist kein Verbrechen!

Tim Engels

Ende Mai dieses Jahres ist der »größte und bedeutsamste Prozess gegen Antifaschist:innen der letzten zehn Jahre« (ak) vorerst zu Ende gegangen.

Auf der Anklagebank des Staatsschutzsenates des Oberlandesgerichts Dresden (4 St 2/21) saßen nicht nur eine zur Terroristin hochstilisierte Pädagogikstudentin als »Rädelsführerin« sowie drei junge Männer, ebenfalls Studenten bzw. Erzieher und Pfleger, sondern eben auch der militante Antifaschismus, gegen den ein Exempel statuiert wurde, um ihn von einem vermeintlich guten bürgerlichen abspalten zu können.

Bereits die Overtüre wurde orchestriert von einer medialen Vorverurteilung: die Angeklagte wurde mit der Rechtsterroristin und Serienmörderin Zschäpe in eins gesetzt. Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats meinte, die Angeklagten mit der »SS« gleichsetzen zu müssen. Die »Hufeisendoktrin« feierte fröhliche Urstände. Lina wurde medienwirksam von BKA-Fahndern verhaftet und mit dem Helikopter zum BGH-Ermittlungsrichter nach Karlsruhe geflogen, wo deren U-Haft angeordnet wurde, die über 600 Tage währte.

Der Generalbundesanwalt hatte die Ermittlungen an sich gezogen. Das liegt nach dem Gerichtsverfassungsgesetz im Ermessen der Bundesanwaltschaft1 (BAW) in Fällen, die eine »besondere Bedeutung« aufweisen. Dies sei aber restriktiv auszulegen, so dass es sich um ein »staatsgefährdendes Delikt von erheblichem Gewicht« handeln müsse, »das die Schutzgüter des Gesamtstaats in einer derart spezifischen Weise angreift« und die Anrufung des höheren Gerichts somit geboten erscheine. Dabei seien neben dem »individuellen Schuld- und Unrechtsgehalt« auch die »konkreten Auswirkungen auf die innere Sicherheit der Bundesrepublik und ihr Erscheinungsbild gegenüber Staaten mit gleichen Wertvorstellungen« zu berücksichtigen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, München 2020, § 120 GVG, Rz. 3a). Dass diese Voraussetzungen hier kaum vorliegen dürften, scheint evident. Zur »Begründung« griff die BAW als Krücke zu der blumigen Formulierung, dass die Angeklagten die »Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner weg vom gewaltfreien Diskurs hinein in die gewaltsame Konfrontation verlagern und den friedlichen Meinungskampf damit in Frage stellen würden« (antifa, 7.1.23); sie hätten die »Gewaltspirale« angeheizt (ak, 20.6.23). Dies mutet vor dem Hintergrund einer Neonazi-Szene, die über Todeslisten verfügt, massig Munition und Waffen sowie Leichensäcke bevorratet, tatsächlich zynisch an.2

Der Prozess endete nach fast 100 Tagen mit insgesamt 14 Jahren Haft für Körperverletzung zum Nachteil von äußerst brutalen, gewalttätigen Neonazis und Rechtsterroristen, welche die Angeklagten selbst mit dem Tod bedroht hatten und wegen »Bildung einer kriminellen Vereinigung« (§ 129 StGB). Lina wurde zu fünf Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, Jonathan zu drei Jahren und zwei Monaten, Lennart zu drei Jahren und Jannis schließlich zu zwei Jahren und fünf Monaten. Um welche Organisation es sich bei dieser »kriminellen Vereinigung« gehandelt haben soll – außer einer vorgeblichen »Gruppe um Lina« –, blieb offen, wie die Bundesanwältin Alexandra Geilhorn selbst einräumen musste: man habe »keine Satzung, kein Kassenbuch« und keinen Namen finden können; es fehle der rauchende Colt.

»Zeit für ein Bekenntnis: Ich bin eine Frau, trage fast immer schwarze Kleidung, bin im Besitz einer Pudelmütze, fahre häufig mit dem Zug, telefoniere viel zu viel und habe eine extrem schlechte Meinung über Nazis. War ich am 15. Februar 2020 in einem sächsischen Regionalexpress unterwegs? Wahrscheinlich nicht, aber genau weiß ich es nicht. Ob Lina E. an diesem Tag in einem sächsischen Regionalexpress unterwegs war, weiß ich auch nicht. Und wenn die Bundesanwaltschaft ehrlich wäre, müsste sie wohl zugeben, dass sie es auch nicht weiß.« (Carina Book, ak v. 18.4.23)

Dies zeichnet den Indizienprozess, in dem die Anwendung von Feindstrafrecht3 offenbar geworden ist, recht anschaulich nach. Die Neonazis, die als Zeugen und Nebenkläger auftraten, gerierten sich als Opfer; vor allem aber logen sie nachweislich. So bekundete der vermeintlich unpolitische Kanalarbeiter als vorgebliches Zufallsopfer der Angeklagten, dass es sich bei seiner Mütze der Neonazi-Marke »Greifvogel Wear« um das Geschenk eines Freundes 2011 gehandelt hätte, obwohl die Marke erst 2013 von dem Neonazi Sebastian R. gegründet wurde. Leon R., »zentrale Figur der Neonaziszene in Westthüringen« (taz, 28.5.23), hatte noch während der polizeilichen Vernehmung erklärt, dass bei dem vermeintlichen Angriff gegen ihn keine Frau dabei gewesen sei; im Prozess bekundete er hingegen, dass eine Frau Kommandoführerin gewesen wäre. Dennoch hielt der Senat die Naziaussagen für glaubhaft. Doch waren die Nazis keine unschuldigen Opfer. Mindestens zwei von ihnen waren am Überfall auf Connewitz beteiligt, das Leipziger Szeneviertel, in dem zumindest auch Lina und Lennart gelebt haben.

Zur Erinnerung: Am 11. Januar 2016 hatten bis zu 300 Neonazis diesen Stadtteil bewaffnet angegriffen, Steine und Sprengkörper geworfen, Menschen verletzt und einen Sachschaden von etwa 113.000 Euro angerichtet. Obwohl die Waffen offensichtlich in deren Fahrzeugen deponiert waren, wurden sie seitens der Polizei nicht beschlagnahmt. Dazu passt, dass die Nazizeugen B. und E. von ihnen selbst erstellte Dossiers über potentielle Linke dem LKA Sachsen übermittelt hatten, die Teil der gegen Lina u. a. geführten Ermittlungen wurden.4 Gleichwohl weigerte sich der Richter, diese Zusammenhänge aufzuklären; ein Befangenheitsantrag wurde vom übrigen Senat zurückgewiesen. E. durfte trotz seiner kriminellen Energie die Ausbildung als Referendar beim LG Chemnitz fortsetzen; anderenfalls würde unverhältnismäßig in seine Berufsfreiheit eingegriffen, so das OLG Dresden. Berufsverbote gelten eben traditionell vorwiegend gegen Linke.

Mit diesem Klima waren die Angeklagten konfrontiert, das die Linken-Abgeordnete Katharina König an die 1990er Mordbrennerjahre Jahre erinnerte. Zu der Frage, wie es dazu kommen konnte, hat auch Lina gearbeitet. In ihrer Abschlussarbeit an der Universität Halle hatte sie sich mit der sog. »akzeptierenden Jugendarbeit« auseinandergesetzt, die dem »Thüringer Heimatschutz« als Vorfeldorganisation des »NSU« den Nährboden bereitet hatte.

Doch nun nahm sich der Sicherheitsstaat nicht etwa dem wiederauflebenden Problem des seit über 100 Jahren forstbestehenden Rechtsterrorismus an, sondern erschuf in einer völligen Täter-Opfer-Verkehrung, die Soko LinX des LKA Sachsen, die nun um weitere zehn Staatsschützer auf über 30 (jW, 23.8.23) aufgestockt werden soll, um den untergetauchten Antifaschisten habhaft zu werden. Es folgten rechtswidrige Hausdurchsuchungen in Connewitz, spektakuläre Fahndungsaufrufe mit Kopfgeldern bis zu 300.000,00 €. Schließlich musste das Dresdener MEK aufgelöst werden, nachdem die Verbindungen zur terroristischen »Nordkreuz«-Gruppe zu offensichtlich geworden und alleine nach dort rund 10.000 Schuss verbracht worden sind! Hierzu erklärte das Bündnis: »Es ist eine absurde Vorstellung, dass die Angeklagten sehr wahrscheinlich vom gleichen MEK observiert wurden, das gemeinsam mit rechten Preppern anscheinend für den Tag X trainiert hat.«5

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Soko LinX verantwortlich dafür ist, das Ermittlungsergebnisse aus dem Verfahren an die rechte Presse (Compact) durchgestochen wurden. Das Bündnis hat eine »Chronik des Versagens« dieser politischen Sondereinheit der Polizei erstellt.6

Bei der Ermittlungsarbeit kam ihnen freilich das gesamte Instrumentarium zupass, das die Strafprozessordnung bei einem Verfahren nach §§ 129, a (Bildung terroristischer Vereinigungen), b (Kriminelle und terroristische Organisationen im Ausland) StGB feilzubieten hat. Nicht von ungefähr gelten diese Normen seit jeher als Strukturermittlungsparagraphen7, und der ist so alt, wie es überhaupt fortschrittliche bürgerlich-demokratische bzw. die Arbeiter*innenbewegung gibt.

Als Ermittlungsnorm ist die Verfolgung nicht unbedingt auf eine spätere Verurteilung ausgerichtet, sondern der gesamte Instrumentenkasten vermag zunächst genutzt werden, um Szene und Organisationsstrukturen auszuleuchten. Es findet somit eine Vorfeldverlagerung statt, in der das Gesinnungsstrafrecht deutlich zum Vorschein tritt. (Bei ausländischen Vereinigungen wird überhaupt erst ermittelt, wenn das Bundesjustizministerium eine entsprechende Ermächtigung erteilt! Politischer geht es kaum.) Die Folge sind willkürliche Festnahmen, Großrazzien, Identitätsfeststellungen auch im Umfeld, Hausdurchsuchungen, Funkzellenabfragen, Observationen, Schleier-, Schleppnetz- und Rasterfahndungen, Straßensperren mit MP im Anschlag, Überwachung des Fernmeldeverkehrs, Verkehrs­kontrollen und Wohnraumüberwachung.

Vieles davon wurde im Ermittlungsverfahren gegen die Angeklagten dann auch angewandt. Auffällig waren falsch interpretierte TKÜ-Protokolle, die zumindest teilweise durch Alibis erschüttert werden konnten. Signifikant war auch hier die Verkehrung des Verfahrensgrundsatzes. Aus ›in dubio pro reo‹ wurde ›in dubio contra reum‹, so dass die Angeklagten wie im Inquisitionsprozess ihre Unschuld beweisen mussten. Von den erschwerten Haftbedingungen ganz zu schweigen (Kontaktsperre, Trennscheibe, Totalisolierung, Postkontrolle und Zensur). Auch die Rechte der Verteidigung sind eingeschränkt. Die Stigmatisierung der Betroffenen ist enorm und reicht bis hin zur Aberkennung der Bürger*innenrechte.

Die Verurteilung einer antifaschistischen Gruppe als vermeintlich »kriminelle Vereinigung« lässt die Einschränkung des Präjudiz der letzten zehn Jahre hinfällig werden, denn es dürfte tatsächlich die erste sein! Die vorherigen Verfahren gegen die Zeitschrift radikal (bei linksunten.indymedia hat die Regierung auf das profane Vereinsverbot zurückgegriffen8), die Autonome Antifa (M) sowie die »Antifaschistische Aktion« wurden sämtlich noch im Stadium des Ermittlungsverfahrens eingestellt.

Kein Novum hingegen stellte die Dienstbarmachung eines zweifelhaften Kronzeugen dar. Johannes D. war folglich nicht der erste in politischen Prozessen, der seine ehemaligen Genoss*innen für Zeugenschutz belastet hat. Es ist die Glaubwürdigkeit eines Drei-Groschen-Jungen und trotzdem folgte ihm der Senat, dass Lina und Johann in einer symbiotischen Beziehung gelebt hätten (obwohl dies offensichtlich nicht der Fall war); Johannes D. selbst wurde von ehemaligen Genoss*innen wie seiner damaligen Lebensgefährtin vorgeworfen, sie vergewaltigt zu haben. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Nach dessen Outing suchten Inlandsgeheimdienst und Staatsschutz den Kontakt zu ihm und haben ihn erfolgreich »umgedreht«. Innerhalb der linken radikalen Szene entbrannte in diesem Kontext die dritte große Sexismusdebatte, die bis heute anhält und auch in den »VS«-Berichten mehrfach Erwähnung findet. Cointelpro9 lässt grüßen.

Was bleibt: »Nach der Urteilsverkündung ist vor dem Prozess« (Solibündnis). Offenbar genügen der BAW 14 Jahre Haft gegen Antifaschismus nicht; auch sie hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Die SPD-Innenministerin Faeser, der kurz nach Amtsantritt selbst vorgeworfen worden war, für die antifa publiziert zu haben, hat weiteres konsequentes Handeln gegen die »linksextremistische Szene« angekündigt und ihren Worten Taten folgen lassen. »Selbstjustiz« dürfe es auch gegen Neonazis nicht geben. Das BKA will ein »neues RAF-Umfeld« ausgemacht haben. Festnahmen, Durchsuchungen und Razzien folgten auf dem Fuße. Im Leipziger Polizeikessel erschien ein vermummter Staatsanwalt, was eher an Militärdiktaturen denken lässt, und einem Gefangenen wurde notwendige Medikation verweigert.

Dieses Urteil dürfte das Vertrauen jugendlicher wie alter Antifaschist:innen in den Rechtsstaat beschädigt haben, ob sie nun schon selbst direkt von faschistischer Gewalt und Rechtsterrorismus betroffen waren oder nicht. Der Buchenwaldhäftling Emil Carlebach hatte schon früh erkannt, dass uns niemand verteidige, wenn wir uns nicht selbst helfen. Es ist nicht allzu lange her, dass Ralph Giordano dem Bundeskanzler öffentlich mitgeteilt hatte, die Abwehr neofaschistischer Angriffe »in die eigenen Hände zu nehmen« – bis zum »bewaffneten Selbstschutz« (taz, 25.11.92).

Ob das heute eine erfolgversprechende Option sein kann, sei einmal dahingestellt. Wenn nun aber im Zuge der Kriminalisierung der Umweltaktivist:innen der »Letzten Generation« selbst das bürgerliche Feuilleton fordert, § 129 StGB abzuschaffen (SZ, 10./11.6.23), sollte die politische Linke dem nicht nachstehen.

1 Kiessling/Safferling, Staatsschutz im Kalten Krieg, München 2021; SZ, 15.11.21 – https://www.sueddeutsche.de/politik/das-politische-buch-als-der-rechtsstaat-auf-der-strecke-blieb-1.5463738, 26.8.2023.

2 So wurde nun der Prozess gegen Ringel, Andreas, Böhm eröffnet wegen der Verbreitung antisemitischer Nazipropaganda im extrem rechten Verlag »Der Schelm« bzw. Beteiligung an der militant-faschistischen »Kampfsport«-Gruppe »Knockout 51«, die für eine Vielzahl rechter Gewalttaten und gezielter Überfälle verantwortlich zeichnet. SZ/jw vom 21./22.8.2023.

3 Zum Feindstrafrecht vgl. Volkmar Schöneburg, Der Sicherheitsstaat und das Problem der Kontinuität zur NS-Vergangenheit, in: Marxistische Blätter, Heft 4/2021, S. 65 f.

4 ak, 20.6.23; jW v. 13.4.22; https://entnazifizierungjetzt.de/04-05-2021-leipzig-polizei/, 27.8.2023.

7 Vgl. zur Geschichte und Funktion dieser Kerntatbestände des politischen Strafrechts Volkmar Schöneburg, Soziale Kämpfe und politische Justiz in der BRD, in: Marxistische Blätter, Heft 3/2023, S. 89 ff.

8 Instruktiv: Detlef G. Schulte, »Undurchdachtes Vorgehen«, in: jW v. 14.4.23.

9 COINTELPRO war ein geheimes Programm der US-Bundespolizei FBI. Es umfasste die systematische Überwachung und Störung von politisch aktiven Organisationen sowie Privatpersonen, die das FBI als subversiv bewertete.

Angriff aufs Streikrecht ist kein Kavaliersdelikt

Anne Rieger

Seit dem »Megastreik« im Frühjahr, mit dem sich ca. 100.000 Beschäftigte von ver.di und der Eisenbahnerverkehrsgewerkschaft EVG in einem gemeinsamen 24-Stunden-Streik gegen die Lohndumpings der Herrschenden wehrten, 10,5 bzw. 12 Prozent Lohnerhöhung einschließlich hoher Mindestbeträge von 500 bzw. 650 Euro forderten, reagiert die Klassengegner gereizt. Um die Wirkung des Streiks zu »dämpfen«, rief Verkehrsminister Wissing die Bundesländer offiziell zum Rechtsbruch auf: Er empfahl ihnen, das Fahrverbot für Lastwagen am Sonntag vor dem Streik nicht zu kontrollieren.

Schon im vergangenen Jahr hatte die im Interesse der Eliten agierende Europäische Kommission das »neue Notfallinstrument für den Binnenmarkt (SMEI)« vorgelegt. Ein scheinbar harmloses Instrument, mit dem das Wohlergehen der Bürger:innen gesichert werden solle. »Dieser Rahmen für die Krisengovernance1 zielt darauf ab, den freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr zu sichern sowie wesentliche Waren und Dienstleistungen bei künftigen Notfällen für die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen EU-weit verfügbar zu halten«2.

Trojanisches Pferd

Aber, so Ey und Wegerer, vom Österreichischen Gewerkschaftsbund und der Arbeiterkammer: »Das neue Gesetzespaket zu SMEI ist aus Sicht von Gewerkschaften und der Arbeiterkammer jedoch als brandgefährliches trojanisches Pferd zu bewerten, das eine unmittelbare Gefährdung von Grund- und Arbeitsrechten darstellt: Denn die geplanten Regelungen drohen das Streikrecht sowie arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen infrage zu stellen«. Schon bisher sei im Bereich der EU-Binnenmarktpolitik festzustellen, dass Arbeitnehmer:innen- und Gemeinwohlinteressen gegenüber den sogenannten Marktfreiheiten nachrangig behandelt würden.

Das ist keine neuere Erscheinung. »Das Streikrecht im ILO-Normensystem sieht sich Angriffen der Arbeitgeberschaft ausgesetzt, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks begannen und mittlerweile ein Ausmaß erreicht haben, das nicht nur das Streikrecht, sondern die Funktionsfähigkeit der ILO selbst zu beeinträchtigen droht«, so sie Friedrich Ebert-Stiftung 2016.

Zwar schützt die EU-Grundrechtecharta »die kollektiven Rechte von Arbeitnehmern ausdrücklich. Doch tatsächlich wurden Tarifautonomie oder Streikrecht durch die europäische Rechtsprechung immer wieder eingeschränkt. Im Konflikt zwischen Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit auf der einen Seite und sozialen Rechten auf der anderen Seite hat der EuGH in mehreren seiner Entscheidungen den wirtschaftlichen Freiheiten den Vorrang gegeben«3, erklärte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung.

Ein scharfer Wind –
nicht offensichtlich spürbar

Die 600 Delegierten des Europäischer Gewerkschaftskongresses hielten es im Mai 2023 für notwendig, auf die vielfältigen Angriffe auf das Streikrecht, die häufig unter dem Radar der veröffentlichten Meinung bleiben, aufmerksam zu machen. Mit der Resolution »Streikrecht als universelles Recht« wiesen sie darauf hin, dass es in einzelnen Mitgliedsstaaten in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Bestrebungen gab, das Streikrecht einzuschränken. Der neue gewählte Präsident Katzian betonte in seiner Antrittsrede: »Wer glaubt, das Streikrecht bekämpfen zu müssen, muss mit dem Widerstand der gesamten europäischen Gewerkschaftsbewegung rechnen.«4

Das ist zu hoffen. Denn bereits 2018 hat die Initiative Kommunistischer und Arbeiterparteien Europas in einer Stellungnahme festgestellt: »Viele bürgerliche Verfassungen erkennen das Streikrecht formell an, doch in der Praxis wenden die Regierungen und die Repressionswerkzeuge bestimmte Mittel an, um das Streikrecht zunichte zu machen und im Allgemeinen soziale Proteste in vielen Ländern zu verhindern, wobei sie sogar ein Blutvergießen der Arbeiterinnen und Arbeiter in Kauf nehmen.«5

Noch kein Blutvergießen bei uns, aber Beispiele zeigen, wie auf nationaler Ebene die Vorgaben der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Europäischen Kommission gegen die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften vorangetrieben werden. Diese hatte bereits 2012 ausdrücklich die »Verringerung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht«6 als Ziel ausgegeben.

Beispiele

In der Hetzkampagne gegen die Mitglieder der EVG zur Urabstimmung über den unbefristeten Streik, argumentierte das Leitmedium FAZ, dass es »im Interesse des Landes und mit Blick auf die hohe Inflation« wichtig sei, nun »die EVG in die Schranken zu weisen«. Die Ampel solle »endlich gesetzlich sicherstellen, dass bei Streik künftig wenigstens eine mobile Grundversorgung auf der Schiene gewährleistet ist«. Und Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, forderte beim Arbeitskampfrecht »bessere Spielregeln«. Zuvor hatte die Deutsche Bahn die EVG mit einer einstweiligen Verfügung – unter Androhung immenser Schadenersatzforderungen – zur »Aussetzung« eines Streiks gezwungen.

Wenn Arbeitgeber, die bei Streiks in der Pflege vor den Gerichten für die Besetzung von Notdiensten eine Personalstärke einfordern, die sie selber im Alltag gerade nicht verwirklichen, wenn ver.di im Einzelhandel flächendeckend mit Schadenersatzklagen wegen der Streiks überzogen wird, oder wenn Auszubildende nicht zur Prüfung zugelassen werden, weil ihnen durch Teilnahme an Streiks Ausbildungszeiten fehlen, sind das weitere Beispiele. Auch die vom Gericht als rechtswirksam geurteilten Kündigungen von streikenden Gorilla-Beschäftigten oder die seit fünf Monate nicht ausgezahlten Löhne an die Fahrer polnischer Spediteure sind darunter zu fassen.

»Damit wird deutlich, welche Missstände im internationalen Fern- und Güterverkehr auf Deutschlands Straßen jeden Tag vorherrschen«, sagte Renate Sternatz vom DGB Hessen-Thüringen. »Es ist ein Skandal, wenn EU-weite Vorschriften und deutsche Gesetze massiv missachtet und die Fahrer systematisch ausgebeutet werden.«

Europas Sparpolitik sorgt für Abbau von Arbeitnehmerrechten.

Schon 2015 hatte der Internationale Gewerkschaftsbund festgestellt: Europas Sparpolitik sorgt für Abbau von Arbeitnehmerrechten. »Nirgendwo auf der Welt haben sich Arbeitsstandards für Beschäftigte deutlicher verschlechtert, als in den Ländern, die von der europäischen Sparpolitik betroffen sind.«7 So hätten Arbeitgeber und Regierungen die Sparpolitik der Europäischen Union für einen Angriff auf soziale und Arbeitnehmerrechte genutzt.

Tarifsysteme »praktisch aufgelöst«, Streikrecht geschwächt. Unter dem Deckmantel der Wirtschaftsreformen seien Tarifrecht und Tarifsystem in Ländern wie Griechenland und Rumänien praktisch aufgelöst worden. In Serbien und Ungarn wurden Gesetze verabschiedet, die die Verhandlungsrechte zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern beschnitten haben. Länder wie Großbritannien (damals EU) und Spanien haben Maßnahmen eingeführt, um das Streikrecht einzuschränken.

Umso wichtiger ist es heute, der EU-Kommission bei ihren Gesetzespaketen auf die Finger zu schauen, und den versteckten Angriffen auf Streik- und Beschäftigtenrechte europaweit Widerstand zu leisten.

Idioten, nicht länger nützlich

Boris Kagarlitsky

Am 26. Juli 2023 wurde der bekannte Marxist und Soziologe Boris Kagarlitsky in Russland unter dem Vorwand des »öffentlichen Aufrufs zum Terrorismus« verhaftet. Siehe auch Seite 144. Vom gleichen Tag datiert sein Kommentar im Newsletter »Russian Dissident«, den wir hier als Zeichen der Solidarität dokumentieren.

»Sie können, aber wir nicht.« Das mussten wir viele Monate lang wiederholen, als linke und liberale Oppositionelle verhaftet und vor Gericht gestellt wurden, nur weil sie das Wort »Krieg« im Zusammenhang mit militärischen Operationen auf dem Territorium der Ukraine geäußert hatten, während Igor Strelkov und seine Mitarbeiter Worte der militärischen Führung kritisierten, sich über Niederlagen an der Front beklagten und offen über die schrecklichen Zustände in den militärischen Einheiten sprachen. Natürlich kamen sie damit durch, weil sie die Notwendigkeit eines militärischen Vorgehens nicht in Frage stellten. Putin wurde zunächst nicht beim Namen genannt und nicht direkt getadelt. Der Regierung wurde lediglich vorgeworfen, nicht streng genug zu sein. In Bezug auf die Ukraine vertrat man strikt die Meinung, dass ein Land mit einem solchen Namen nicht existieren sollte.

Aber alles hat sich geändert. Am 21. Juli um 11.30 Uhr holten sie Strelkow ab, FSB-Offiziere, die den Gründer des »Angry Patriots Club« festnahmen. Zuvor war bereits Anklage gegen Oberst a. D. Wladimir Kwatschkow, ein weiteres bekanntes Mitglied des Clubs, erhoben worden. Er soll wegen Verunglimpfung der russischen Armee bestraft werden. Natürlich hat Strelkow mit seinen beleidigenden Äußerungen über Putin bestimmte ungeschriebene Grenzen überschritten. Aber wichtiger ist, dass sich die Situation geändert hat.

Den »Wütenden Patrioten« kann man zu Recht Aggressivität und Blutrünstigkeit vorwerfen (und vor dem Hintergrund seiner Mitstreiter ist Strelkov sogar einer der gemäßigtsten). Doch ihr Hauptproblem liegt nicht in ihren Ansichten an sich, sondern in ihrer ungeheuren politischen Naivität und ihrem wirtschaftlichen Analphabetismus, der sie genau dorthin geführt hat, wo sie heute sind. Sie haben nicht verstanden, dass militärische Operationen so kompetent und effektiv durchgeführt wurden, wie es der derzeitige russische Staat vermag. Sie wollten nicht akzeptieren, dass die Ziele dieses Konflikts nichts mit den offiziellen Erklärungen (die sich ohnehin ständig widersprachen) oder mit den schönen Träumen von der Wiederherstellung des Russischen Reiches oder der UdSSR zu tun haben, von denen die »Wütenden Patrioten« immer noch schwärmen. Die Behörden, so sagen sie, haben alles richtig gemacht und ihre Probleme so gut gelöst, wie sie konnten. Wenn man es anders haben will, dann muss man das staatliche System und die politischen Ziele ändern. Das Problem ist jedoch, dass jede ausreichende Änderung weder für die derzeitige Oligarchie noch für eine »patriotische« Agenda, die auf die Rückkehr zu einer imaginären Vergangenheit abzielt, Platz machen würde …

Nichts anderes als politische Amnesie

Die Lügen der modernen Kreml-Propagandisten unterscheiden sich grundlegend von dem, was wir in der UdSSR erlebt haben. Damals zielte die Propaganda zumindest auf die Lösung echter strategischer Probleme, auf die Mobilisierung von Unterstützung und die Beteiligung der Öffentlichkeit ab. Heute wird nur noch eine unmittelbare Rechtfertigung der aktuellen Situation verlangt, während ein Kurswechsel keinerlei Erklärung erfordert, sondern nur die Weigerung, die eigenen Aussagen der Vergangenheit anzuerkennen – es gab sie einfach nicht! Die von Herrn Orwell in 1984 satirisch beschriebene Praxis ist zu unserem Alltag geworden. Von der Gesellschaft wird nichts anderes verlangt als politische Amnesie.

Strelkow und seine »Wütenden Patrioten« wurden nicht in dem Moment zu einer Bedrohung, als sie begannen, den Verlauf der Feindseligkeiten zu kritisieren, sondern als sie begannen, die Rhetorik ernst zu nehmen, mit der sie in den letzten anderthalb Jahren gefüttert worden waren.

Wir müssen nicht darüber nachdenken, wie das Regime diese ganze Operation begründet. Die Behörden nehmen sie eindeutig nicht ernst und bereiten sich auf eine große Kehrtwende vor. Beamte auf allen Ebenen sind sich darüber im Klaren, dass das ukrainische Hoheitsgebiet verlassen werden muss, je früher, desto besser. Wie das geschehen soll und vor allem von wem, wissen wir noch nicht. Putin passt eindeutig nicht in diese Planänderung, aber nach dem Aufstand von Jewgeni Prigoschin ist es für niemanden ein Geheimnis, dass seine Herrschaft sich ihrem Ende nähert.

Ferment für eine konservative Revolte

In der Zwischenzeit können die »Wütenden Patrioten« unter dem Vorwand der Missachtung des Herrschers zum Schweigen gebracht werden. Sie sind viel gefährlicher geworden als die linke und liberale Opposition, nicht weil sie eine Alternative bieten oder weil sie etwas ändern wollen oder können, sondern weil sie stur an der alten Agenda festhalten, und zwar genau in dem Moment, in dem die herrschenden Eliten selbst sich anschicken, diese Agenda zu ändern. »Wütende Patrioten« schaffen ein ideologisches Ferment für eine konservative Revolte. Sie können selbst nichts organisieren, und sie werden es auch nicht tun. Aber man weiß ja nie, wie die eigenen Worte ankommen werden! Was ist, wenn Menschen, die genug vom Fernsehen gesehen haben, die beschwerlichen Parolen, die früher verkündet wurden, zu ernst nehmen?

Der Respekt vor der Macht im heutigen Russland erfordert nicht die Unterstützung ihrer ständig wechselnden offiziellen Ziele, die sich gegenseitig widersprechen, sondern Demut. Eine loyale Öffentlichkeit muss bereit sein, jeder Entscheidung gegenüber loyal zu sein. Dann wird man versuchen, aufrichtige Patrioten, Bewunderer des Zarenreichs, Militaristen, Nostalgiker der UdSSR und einfach diejenigen, die die Mantras von gestern zu fest auswendig gelernt haben, zu vernichten.

Raus aus der ukrainischen Falle?

Die Opposition von gestern mag heute schadenfroh sein. Aber das hat nichts Gutes zu bedeuten. Ganz gleich, wie falsch die »Wütenden Patrioten« liegen, …, sie werden nicht für ihre Sünden bestraft, nicht einmal für ihre Prinzipien, sondern für die Tatsache, dass sie überhaupt Prinzipien haben. Selbst wenn solche Maßnahmen einen überfälligen Politikwechsel einläuten, gibt es nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass die nächste Wende erfolgreicher sein wird als die vorherige. Die Probleme werden nicht nur nicht gelöst, sie werden nicht einmal erkannt. Die Machthaber beginnen nun zu begreifen, dass sie sich noch aus der ukrainischen Falle befreien müssen, in die sie vor anderthalb Jahren fröhlich hineingesprungen sind. Aber danach wird die ganze riesige Last anderer ungelöster Probleme auf ihre – und unsere – Köpfe fallen.

Wenn jedoch jemand ernsthaft versuchen würde, diese Probleme im Bereich der Wirtschaft, der Politik, des Managements, des sozialen Lebens und der internationalen Beziehungen zu lösen, gäbe es keine ukrainische Kampagne und keinen »Club der Wütenden Patrioten«.

Ins Englische übersetzt von Dan Erdman; DeepL-Übersetzung ins Deutsche durchgesehen und korrigiert von Joachim Hösler

Venezuela – Verratene Hoffnung im 21. Jahrhundert?

Carolus Wimmer

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts blickten weltweit die fortschrittlichen Kräfte hoffnungsvoll auf Lateinamerika und die proletarischen und Volksbewegungen; sahen dort teilweise die Verwirklichung ihrer sozialistischen Utopien, die nach der Niederlage des europäischen Real-Sozialismus nicht mehr möglich schienen.

Heute dagegen sieht man sich mit einer politischen reaktionären Wende in der Region konfrontiert, die zu viel Unverständnis und Fragen führt.

Die neuen Regierungen und Regierungsparteien, die Persönlichkeiten wie Hugo Chávez, Evo Morales und Rafael Correa folgten, wandten sich teilweise oder ganz von den sozialistische Utopien der V. Internationalen (Bolivarianische Revolution in Venezuela, indogener Sozialismus in Bolivien und Bürgerrevolution in Ekuador) ab und griffen auf den nicht klar definierbaren Begriff »Progressivismus« zurück, um sich in Wort und Tat vom Gedanken eines wissenschaftlichen Kommunismus zu trennen und in der Praxis Antikommunismus zu säen.

Als jüngstes Beispiel sehen wir die Verfolgung von Kommunisten, Gewerkschaftern und sozialen Kämpfern in Venezuela, was sicherlich die Frage der Solidarität mit der venezolanischen Regierung und ihrem »Arbeiter-Präsidenten« Maduro in Frage stellt.

Jede Warnung hat nur Sinn, wenn sie rechtzeitig geschieht, deshalb sollte man in diesem Zusammenhang den Artikel von Martin Steffens: »Die Yakarta Methode: Mörderische Blaupause für Lateinamerika über den brutalen außenpolitischen Antikommunismus der USA – und die westdeutsche Mitverantwortung« lesen1.

Ein Gespenst geht um, auch in Venezuela – das Gespenst des Kommunismus, und alle reaktionären Mächte, angeführt vom US-Imperialismus, haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet.

Nachdem der Oberste Gerichtshof Venezuelas den Namen und die Symbole der Kommunistischen Partei (PCV) kaperte, bewies die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) in vieler Hinsicht internationale Solidarität mit der PCV und stellte fest: »Durch den Angriff der Maduro-Regierung auf die Kommunistische Partei schwächt sie sich letztendlich selbst. Sie schwächt auch ihren eigenen Stand gegen Angriffe und Sanktionen des Imperialismus.«2

Der dialektische internationale Zwiestreit zwischen antikapitalistischem und antiimperialistischem Kampf weitet sich aus.

Mit der Analyse der Pariser Kommune, helfen uns Karl Marx und Friedrich Engels, auch das Auf und Ab der »lateinamerikanischen kleinbürgerlichen Revolutionen« im XXI. Jahrhunderts aus marxistischer Sicht zu verstehen.

»Bürgerliche Revolutionen, …, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt«3.

Ja, alles was bisher so »revolutionär« und »rot« erschien, waren nach dem Tod Präsident Hugo Chávez’ weiter nichts als »bürgerliche und kleinbürgerliche« politische Machtkämpfe, die in einem »Katzenjammer« in Venezuela mit 81 % Armut, 8 Millionen Emigranten, Dollarisierung der Wirtschaft und 5 Dollar Monatslohn endeten.

Wirtschaftliche und soziale Kämpfe in Venezuela: essen, trinken, wohnen und sich kleiden

Verschiedene Sektoren der venezolanischen Arbeiterklasse in mehreren Bundesstaaten setzen sich für Lohnforderungen ein, die meisten stehen auf der staatlichen Gehaltsliste. Dies hat zu einer erneuten Belebung der Lohndebatte geführt, sowohl innerhalb der Regierung als auch unter den breiten Mehrheiten im Land. Wiederholen wir, dass der Monats-Mindestlohn der Angestellten und Arbeiter und aller inzwischen 5 Millionen Rentnern bei 130 Bolívar liegt, heute weniger als 5 Dollar.

Erinnern wir uns der Rede Engels’: »Das Begräbnis von Karl Marx«, 1883.

»Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen – nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.«4

Was tut der sozialdemokratische Präsident angesichts der Mobilisierungen? Schafft er Politisierung oder gar eine Politik zur Kanalisierung der Unzufriedenheit? Bis heute bestand die Reaktion in vielerlei Hinsicht einfach darin, die Proteste zu kriminalisieren oder den Kampf zu ignorieren.

Wenn die rechte Opposition aus der Unzufriedenheit der Arbeiter Kapital schlägt, dann nicht unbedingt, weil sie eine großangelegte Verschwörung betreibt, sondern einfach, weil wir nicht in der Lage sind, die Forderungen des Volkes in dringenden Momenten zu begleiten. Wir müssen verstehen, was Rosa Luxemburg treffend sagte, dass angesichts von Verwirrung und Orientierungslosigkeit, politische Kühnheit die einzige Antwort ist; wenn wir dieses Prinzip nicht begreifen, sind wir dazu verurteilt, von den Widersprüchen dieser Zeit zerrissen zu werden und nicht von der Wirkungskraft der Rechten. Und da retten uns nicht reformistische oder neoliberale Theorien der sogenannten »Bolivarianischen Revolution« mit der Suche eines »Dritten Weges«, sondern einzig und allein der wissenschaftliche Kommunismus.

Der Kampf für einen würdigen Lohn ist mehr als nur ein taktisches Gefecht. Er ist die wesentliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Modells eines Landes, eine Voraussetzung für den Wiederaufbau oder die Vertiefung einer echten Revolution auf demokratischen Grundlagen im wirtschaftlichen und sozialen. Wie Präsident Hugo Chávez selbst betonte, als er am 30. April 2012 das Dekret über das Arbeitsgesetz (Ley Orgánica del Trabajo, los Trabajadores y las Trabajadoras, Lott) unterzeichnete: »Keine Errungenschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter ist ohne einen langen Prozess des Widerstands, des Kampfes und sogar des Leidens erreicht worden«5.

Was ist charakteristisch?
Was bestimmt diese bürgerlichen und kleinbürgerlichen politischen Prozesse im XXI. Jahrhunderts?

Nach den erfolgreichen Regierungsjahren des Präsidenten Hugo Chávez mit wichtigen vom Volke unterstützten Schritten zu einer sozialistischen Transition haben wir nach seinem Tode die fatalen Resultate der aktuellen autoritären Regierung, mit klaren bonapartistischen Zügen, und der sozialdemokratischen Regierungspartei PSUV. Sie lassen sich auf fünf schwerwiegenden Probleme zurückzuführen:

  1. Korruption, die im Präsidentschaftspalast beginnt und das wohl größte aller Übel darstellt, denn wie ein schwarzes Loch verschlingt sie alles Positive, was ihr in den Weg kommt.
  2. Bürokratismus, der im Präsidentschaftspalast beginnt und die Ressourcen verschwendet, die zum Wohle der Menschen investiert werden müssten.
  3. Macht- oder Amtsmissbrauch, der im Präsidentschaftspalast beginnt und sich dann wissentlich im ganzen Staatsapparat verbreitet.
  4. Inflation und Spekulation sind zwei Seiten derselben Medaille einer skrupellosen Schicht von Geschäftsleuten, die die Preise ohne jede Begründung erhöhen.
  5. Straflosigkeit, die im Präsidentschaftspalast beginnt und sich in der von ihm kontrollierten Justiz fortsetzt.

Die Reihenfolge oder Hierarchie, die man den registrierten Problemen geben kann, spielt keine Rolle. Bemerkenswert ist die Beziehung, die zwischen ihnen herrscht. In dieser Vision durchdringt die Staatsführung alles, sei es in Form von Korruption, Bürokratismus oder in ihren Ausdrucksformen in Machtmissbrauch und Straflosigkeit. In Wirklichkeit sind sie Teil derselben Verhaltensweise.

Aber was tun?
Wohin geht der richtige Weg?

Und auch da helfen uns Marx und Engels, wenn sie argumentieren: »Proletarische Revolutionen dagegen, …, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen«6.

Obwohl seit seiner Erstausgabe 175 Jahre vergangen sind, verliert auch das Manifest der Kommunistischen Partei nichts an Aktualität, sondern wird vielmehr in seinen wesentlichen Punkten bestätigt, auch in Lateinamerika und konkret in Venezuela bei den Klassenkämpfen der venezolanischen Arbeiterklasse, die sicherlich bei Marx und Engels volle Unterstützung bekommen hätten.

Wie wir sehen, kündigt das Manifest bereits prägnant und im Wesentlichen einen Großteil der entscheidenden Widersprüche an, die den heutigen Angriff auf die Kommunistische Partei und die Arbeiterklasse Venezuelas erklären, und bietet gleichzeitig einige zu fordernde Maßnahmen an, für die man organisiert kämpfen muss, wenn die Arbeiterklasse die Macht ergriffen hat.

Marx und Engels bestanden darauf, dass ihre Schriften unter Berücksichtigung der räumlichen und zeitlichen Unterschiede zwischen ihren aufeinanderfolgenden Ausgaben gelesen werden, um die stets notwendige revolutionäre Kritik des Kapitalismus trotz seiner Veränderungen zu bereichern. Aus diesem Grund wurden den neuen und wichtigen Ausgaben des Manifests Einleitungen oder Prologe vorangestellt, die die wertvollen Teile für den neuen Kontext des Klassenkampfes zeigten, wie er in dem Land geführt wurde.

Der Klassenkampf in Venezuela:
von der Utopie zur Wissenschaft

Die Studien von Marx und Engels haben »die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« ermöglicht: vom Traum einer Welt der Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit, den die Menschheit seit Jahrtausenden kultiviert, bis zur Wissenschaft von den Aktivitäten, mit denen Menschen ihre Geschichte schreiben, und damit bis zur Wissenschaft vom Aufbau einer zukünftigen Welt. Kommunisten sind diejenigen, die diese Wissenschaft nutzen, um die Emanzipation der Volksmassen von der Bourgeoisie voranzutreiben. Dies gilt für die Kommunisten auf der ganzen Welt, in besonderer Weise aber auch für die Kommunisten der vom Imperialismus unterdrückten Länder, wo nur eine gründliche Kenntnis des Laufs der Dinge es ihnen ermöglicht, die Volksmassen dazu zu bringen, aus eigener Initiative eine Ordnung zu zerstören, die sie erstickt, die sie ausbeutet und unterdrückt, und eine neue Ordnung aufzubauen, die sie nicht kennen, die die Bourgeoisie mit raffinierten Mitteln verheimlicht und verunglimpft und von der sie sie mit allen Mitteln abzulenken versucht.

»Überall ist der Sozialismus das Ergebnis konsequenter Klassenkämpfe, von gemeinsamen Gesetzmäßigkeiten geprägt, wie sie von Marx, Engels und Lenin dargelegt und durch die Praxis der Oktoberrevolution wie auch aller nachfolgenden sozialistischen Umwälzungen bestätigt wurden. Zugleich nimmt, je weiter der revolutionäre Prozeß voranschreitet und je mehr Völker aus dem Herrschaftsbereich des Imperialismus ausbrechen, die Mannigfaltigkeit der Zugänge zum Sozialismus wie auch der konkreten Formen seiner Ausgestaltung zu«7.

Ohne Zweifel muss sich auch die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) vor jenen Pseudorevolutionären hüten, die die realen Bedingungen dieses Kampfes und die Wechselbeziehungen der Klassenkräfte ignorieren, die bereit sind, in voluntaristischer Manier notwendige Etappen des revolutionären Prozesses zu überspringen und die ihn künstlich forcieren wollen. Ein solches Spiel mit der Revolution, betonte Engels, mit welchen »linken« Deklarationen es auch immer verdeckt wird, kann nur dazu führen, das revolutionäre Ziel zu kompromittieren sowie Niederlagen und Demoralisierung heraufzubeschwören. Wiederholt wandte sich Engels gegen das Abenteuertum der Bakunisten und die sektiererisch-verschwörerischen Tendenzen der Blanquisten und deren Aufrufe, in der Politik keinerlei Kompromisse und Übereinkünfte zu schließen8.

»Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«9

3 Karl Marx/Friedrich Engels, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, Marx/Engels, Werke Bd. 8, S. 118.

4 Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, S. 335 f.

6 Karl Marx/Friedrich Engels, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, Marx/Engels, Werke, Bd. 8, S. 118.

7 Willi Gerns/Robert Steigerwald, Antimonopilistischer Kampf heute. Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Düsseldorf, 1973.

8 P. N. Fedossejew, Der Marxismus im 20. Jahrhundert. Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt/Main 1973.

9 K. Marx/F. Engels, Das Manifest der Kommunistischen Partei, Marx/Engels, Werke, Bd. 4, S. 493.

Die Partei reagiert auf die Krise in Kuba

Charles McKelvey

… Am 23. Mai 2023 fand die VI. Plenartagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei statt. Der Rechenschaftsbericht über die Arbeit des Politbüros wurde dem Plenum von Roberto Morales Ojeda, Mitglied des Politbüros und Sekretär für Organisation des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas, vorgelegt.

Der Bericht stellt fest, dass die Plenarsitzung vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozioökonomischen Komplexität stattfindet, die durch die Auswirkungen der Verschärfung der Blockade mit 243 neuen Maßnahmen der Trump-Administration verursacht wird, zu denen auch die willkürliche Aufnahme Kubas in die fiktive Liste der Länder gehört, die den Terrorismus unterstützen. Der Bericht stellt fest, dass in der Bevölkerung kein ausreichendes Verständnis für die Auswirkungen der Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade auf die Wirtschaft des Landes vorhanden ist.

Der Bericht bekräftigt den politischen Sieg der Revolution bei den jüngsten nationalen Wahlen, da sie die Einheit und das Vertrauen des kubanischen Volkes in das demokratische und sozialistische System Kubas bestätigt haben. Er erkennt auch an, dass die Bedingungen des nationalen Stromversorgungssystems verbessert wurden, so dass die Instabilität überwunden werden konnte, auch wenn es immer noch einige Unterbrechungen der Versorgung gibt, die ständige Aufmerksamkeit erfordern. Der Bericht wertet als wertvoll den jüngsten Besuch einer Parteidelegation in Laos, Vietnam und China zum Zwecke des Austauschs mit den kommunistischen Parteien dieser Länder. Und der Bericht bekräftigt die Außenpolitik der Regierung, die auf den Grundsätzen der Achtung der Souveränität aller Nationen und der Entwicklung von für beide Seiten vorteilhaften Handelsbeziehungen zwischen den Nationen beruht.

Der Bericht räumt jedoch auch eine Vielzahl von Problemen ein. Die Verknappung der Benzin- und Dieselvorräte hat zu einer Treibstoffkrise geführt, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten Verkehr ernste Schwierigkeiten verursacht. Auf dem Lande haben sich die Wohn- und Verkehrsverhältnisse verschlechtert, und die Dienstleistungsinfrastruktur ist unzureichend. Es hat eine Landflucht stattgefunden, die zu einem Mangel an Arbeitskräften in den ländlichen Gebieten geführt hat. Die Zuckerrohrernte 2023 war unzureichend, was auf undisziplinierte Arbeit, eine unzureichende Zahl technisch qualifizierter Arbeitskräfte und einen Mangel an Treibstoff, Schmiermitteln und Ausrüstung zurückzuführen ist.

Der Bericht verweist darauf, dass die Auswanderung vor allem von jungen Menschen und Fachleuten eine Herausforderung für Gegenwart und Zukunft darstellt. Sie verschärft den Mangel an Arzneimitteln und trägt dazu bei, dass weniger hochtechnologische medizinische Geräte und Krankenwagen zur Verfügung stehen. Der Bericht empfiehlt eine Verbesserung der ideologisch-politischen Arbeit bei der Ausbildung von Fachkräften und verweist auf eine Untersuchung des Problems der Personen, die weder studieren noch arbeiten. Fünfzig Prozent sind Jugendliche und Heranwachsende, wobei die höchste Zahl in Santiago de Cuba, Havanna, Granma, Villa Clara und Sancti Spiritus zu verzeichnen ist.

In dem Bericht wird festgestellt, dass die sozialistischen Staatsbetriebe ihr Potenzial bei weitem nicht voll ausschöpfen. In seiner Rede vor der Nationalversammlung am 25. Mai wies Alejandro Gil Fernández, Vizepremierminister und Minister für Wirtschaft und Planung, darauf hin, dass 84 % der staatlich geführten Unternehmen schwarze Zahlen schreiben, d. h. dass die Einnahmen höher sind als die Ausgaben. Von den Unternehmen, die rote Zahlen schreiben, werden einige vom Staat aufrechterhalten, weil sie für die Wirtschaft und die Gesellschaft wertvoll sind. Ziel ist es jedoch, schrittweise eine Situation zu erreichen, in der alle staatlichen Unternehmen mit Einnahmen über den Kosten arbeiten.

Der Bericht stellt fest, dass die Inflation und die Abwertung der kubanischen Währung die Kaufkraft der Bevölkerung verringert haben, was zu einer Zunahme von Illegalität, kriminellem Verhalten, Korruption und sozialer Disziplinlosigkeit geführt hat. Der Bericht stellt fest, dass eine passive Haltung gegenüber diesem Phänomen vorherrscht und dass es an administrativer Kontrolle mangelt. Die Verhängung von Bußgeldern wird nur unzureichend beachtet, und die Aufsichtsräte der Produktionszentren üben nur geringe Wachsamkeit aus. Nachtwachen und Wachsamkeit seitens der Werktätigen und der Nachbarschaftsorganisationen gibt es so gut wie gar nicht. Der Bericht ruft dazu auf, den Kampf gegen Korruption, Kriminalität, Illegalität und Disziplinlosigkeit zu verstärken.

In seinem Bericht vor der außerordentlichen Sitzung der Nationalversammlung der Volksmacht am 25. Mai stellte Wirtschaftsminister Gil fest, dass die durchschnittliche jährliche Preisinflation derzeit 45,4 % beträgt, wobei einige Güter, insbesondere die vom Staat bereitgestellten, keine Preiserhöhung erfahren, während die Preise für andere Güter stärker steigen. Gil erläuterte die drei Faktoren, die die Inflation verursacht haben. Erstens, der Anstieg der Preise für importierte Waren aufgrund der Inflation in der Weltwirtschaft. Zweitens, der Rückgang der kubanischen Produktion, insbesondere der landwirtschaftlichen Produktion, einschließlich solcher Güter wie Milch, Mais, Kartoffeln, Schweinefleisch, Reis und Eier. Die Produktion ist aufgrund von Versorgungsengpässen, Kraftstoffmangel und undisziplinierter Arbeit zurückgegangen. Drittens: Spekulationen auf dem Einzelhandelsmarkt, bei denen einige Zwischenhändler das Fünffache des von ihnen gezahlten Preises verlangen und so die Knappheit ausnutzen. Derartige missbräuchlichen Spekulationen, so Gil, tragen der Wirtschaft keine Werte bei. Die Regierung versuche, gegen diese Form der Korruption vorzugehen, erklärte er.

Gil schloss seinen Bericht an die Nationalversammlung mit der Feststellung, dass sich die kubanische Wirtschaft seit April dieses Jahres auf dem Weg befindet, die im Wirtschaftsplan 2023 festgelegten Ziele zu erreichen. Er zeigte sich zuversichtlich, dass das kubanische Volk trotz der US-Blockade in der Lage ist, Hindernisse zu überwinden.

Alejandro Gil liefert regelmäßig umfassende und wissenschaftlich fundierte Analysen der kubanischen Wirtschaft mit klaren Erläuterungen. Er erklärte wiederholt, dass die Lösung für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes in einer Steigerung der Produktion, insbesondere der landwirtschaftlichen Produktion, liegt. Er erläutert regelmäßig die von der Regierung unternommenen Schritte zur Produktionssteigerung, zu denen auch Kooperationsvereinbarungen mit strategischen Partnern und verbündeten Nationen gehören. Er ist ein wichtiges Mitglied des kubanischen Führungsteams unter der Leitung von Präsident Miguel Díaz-Canel, das durch seine kontinuierliche Kompetenz Vertrauen und Hoffnung weckt.

Auf der außerordentlichen Sitzung der Nationalversammlung am 25. Mai sprach der kubanische Außenminister Bruno Rodríguez vom Plenum aus, nicht in seiner Eigenschaft als Außenminister, sondern als gewählter Abgeordneter der Versammlung. Er erklärte, dass die Hauptursache für die wirtschaftlichen Probleme des Landes bei weitem und ohne jeden Zweifel die US-Blockade gegen Kuba sei. In seinem ausführlichen Kommentar gab er einen Überblick über die Geschichte der Blockade von 1959 bis heute. Er stellte fest, dass sich die Blockade mit zunehmender Intensität weiterentwickelt hat, so dass die Blockade in ihren Anfangsjahren nicht die Auswirkungen hatte, die sie heute hat, insbesondere in einem weltweiten Kontext, in dem Kuba eine kooperative Beziehung zur Sowjetunion und dem osteuropäischen sozialistischen Block unterhielt. Er verwies darauf, dass infolge der 2019 von der Trump-Administration verhängten Maßnahmen Unternehmen und Banken in Drittländern von den USA für Handels- und Finanztransaktionen mit Kuba mit Sanktionen belegt werden, die häufig durch die willkürliche Aufnahme Kubas in eine fiktive Liste von Ländern, die angeblich den Terrorismus unterstützen, verhängt werden.

Der Bericht schließt mit einem Aufruf, den Prioritäten der Menschen Aufmerksamkeit zu schenken: Wohnraum, spekulative und missbräuchliche Preiserhöhungen, die langen Warteschlangen beim Kauf von Waren und die Instabilität des Stromnetzes. Der Bericht ruft zu einer stärkeren Beteiligung der Parteigruppen an allen Prozessen auf. Er ruft dazu auf, die Schulen der Partei zu verbessern, die Ideologie mit dem Wissen zu verknüpfen und die theoretische Ausbildung der Parteigruppen zu verbessern.

Die Umsetzung der Leitlinien der Partei

Joel Queipo Ruiz, Mitglied des Sekretariats des Zentralkomitees der Partei und Leiter der Abteilung für produktive Wirtschaft, legte dem Plenum einen Bericht über die Einhaltung der Leitlinien der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Partei und der Revolution für den Zeitraum 2021 bis 2026 vor. Er verwies darauf, dass der Bericht auf der Grundlage umfassender Konsultationen mit den 48.121 Parteigruppen im Land erstellt wurde. Er stellte fest, dass die effektive Umsetzung der Leitlinien nicht dem entspricht, was für die Gewährleistung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes erforderlich ist. Er erklärte, dass die Parteigruppen in den Produktionszentren zu echten Kampfeinheiten werden müssen, die die effektive Einhaltung der Leitlinien vorantreiben.

Alejandro Gil, Minister für Wirtschaft und Planung, stellte fest, dass von den 201 Leitlinien 13 keinen Fortschritt bei der Umsetzung verzeichneten und 67 einen geringen Fortschritt aufwiesen, so dass etwa 40 % der Leitlinien wenig oder gar nicht umgesetzt wurden. Andererseits haben 110 Leitlinien einen mittleren Fortschritt (54,7 %) und 11 einen hohen Fortschritt (5,4 %) erreicht. Er stellte ferner fest, dass die dreizehn Leitlinien ohne Fortschritte bei der Umsetzung in erster Linie mit der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion zusammenhingen. Gil bemerkte, dass »uns nichts vom Himmel fällt und es keine Hexerei gibt. Wir haben es mit einer Reihe von Maßnahmen zu tun, die noch keine Ergebnisse gebracht haben, die aber über großes Potenzial verfügen«.

Ein ethischer Kodex
für die Parteigruppen

Das Plenum billigte den Ethikkodex der Zellen der Revolution. Der Kodex wurde auf der Grundlage der Thesen und Resolutionen des Ersten Parteikongresses, der von Fidel im Jahr 2001 formulierten Definition der Revolution und der von Raúl und Che angestellten Überlegungen zum Thema formuliert. Der Kodex drückt die Eigenschaften aus, die ein Führer besitzen sollte: die Ehre und die Pflicht, das Land zu verteidigen; antiimperialistischer Geist; die ständige Bereitschaft, eigenes Verhalten zu erklären und sich der öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen; ständige Interaktion mit den Bürgern; und proaktiv zu sein bei der Lösung von Schwierigkeiten und Problemen, indem man sie mit den verfügbaren Mitteln angeht. Der Kodex nennt fünfzehn Werte, die eine gute Führungskraft haben sollte: Patriotismus, Antiimperialismus, Treue, Ehrlichkeit, Ehre, Disziplin, Altruismus, Humanismus, Solidarität, Professionalität, Zusammenarbeit, Integrität, Verantwortung, Transparenz und Sparsamkeit.

Überwindung der Blockade,
ohne dass sie aufgehoben wird

Miguel Díaz-Canel, Präsident Kubas und Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas, erklärte zum Abschluss der Plenarsitzung, dass die wichtigste Herausforderung, vor der die Partei heute stehe, die Suche nach Lösungen für die wirtschaftlichen Herausforderungen sei, denen sich das Land gegenübersehe. Er rief dazu auf, die auf dem Plenum vorgeschlagenen Maßnahmen und Aktionen rigoros umzusetzen. Er betonte, dass es unerlässlich sei, die Produktion zu steigern, insbesondere die Wiederbelebung der landwirtschaftlichen Produktion, und das Netz von Zwischenhändlern bei der Kommerzialisierung von Waren zu beseitigen. Er rief dazu auf, sich den gegenwärtigen Herausforderungen im Geiste des Sieges, der Anstrengung, des Talents, der Entschlossenheit und der Kreativität zu stellen. Er erklärte, dass es nicht allein darum gehe, Widerstand zu leisten, sondern gleichzeitig etwas zu schaffen.

Die Partei, so Díaz-Canel, müsse das Verständnis und die Beteiligung der Bevölkerung fördern und Hoffnung wecken. Bei seiner jüngsten Reise in die Provinzen des Landes habe er festgestellt, dass es im Vergleich zu den fünf vorangegangenen Monaten Fortschritte gegeben habe. Er erklärte, wir haben auf lokaler Ebene die Kapazität gefunden, die Produktion zu verwalten: Willen und Ausdauer trotz widriger Umstände. Wir haben Personen gefunden, die bereit waren, Widrigkeiten zu überwinden, und sie schafften es, indem sie vorhandene Potenziale nutzten. Diese Personen standen wie alle anderen in Kuba unter der Blockade, doch konnten sie vorwärtskommen, obwohl sie dieselben Bedingungen wie alle anderen erlitten. Sie sind diejenigen, die die Blockade herausfordern, erklärte Díaz-Canel. Sie heben die Blockade durch kreativen Widerstand auf. Sie sind nicht selbstgefällig oder unbeweglich, sondern begegnen jedem Problem, mit dem sie konfrontiert sind, mit Intelligenz.

Der Präsident ruft zu einem solchen Widerstandsgeist auf, nicht nur von einigen, sondern von allen. »Wir rufen alle dazu auf, die Blockade zu überwinden, ohne dass sie aufgehoben wird, indem wir sie auf lokaler Ebene überwinden und die in den einzelnen Provinzen und Gemeinden des Landes vorhandenen Möglichkeiten nutzen.«

Einberufung der zweiten Konferenz der Partei

Das Zentralkomitee hat die Zweite Nationale Konferenz der Kommunistischen Partei Kubas für Oktober einberufen. Die Konferenz soll die Einhaltung der Beschlüsse des Achten Parteitags vom April 2021 kritisch und objektiv analysieren. Und sie wird die Transformationen des Sozial- und Wirtschaftsmodells und die Einhaltung der Leitlinien der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Partei analysieren.

Redaktionell leicht gekürzt aus Cubanews, Gepostet bei MLToday | Jun 5, 2023

Zum Tod von Thomas Kuczynski

Georg Fülberth

Am 19. August 2023 starb in Berlin Thomas Kuczynski. – Dass er einen großen Namen trug, war ihm weder Last noch Lust. Wissenschaftlich war er nicht nur von seinem Vater, sondern auch seiner Mutter Marguerite geb. Steinfeld geprägt. Von ihm hatte er die Neigung für die Statistik, von ihr die Geduld und Leidenschaft für akribische Philologie. Seine bewunderte Tante Ursula Kuczynski trug als Kundschafterin der Roten Armee sehr verschiedene Namen, als Schriftstellerin hieß sie Ruth Werner. Er selbst war er selbst: Thomas Kuczynski auf eigenen Wegen, von denen er wusste, dass jede große Leistung tiefe Wurzeln hat.

Geboren wurde er am 12. November 1944 im britischen Exil seiner Eltern. Bis zum Ende seines Lebens war er der Insel verbunden, zumal einige seiner Verwandten weiter dort lebten.

Thomas Kuczynski studierte Statistik an der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Er promovierte 1972 bei Hans Mottek über »Das Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland 1932/33«. 1978 folgte die Promotion B (Habilitation) mit der Schrift »Zur Anwendbarkeit mathematischer Methoden in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Methodologische Überlegungen und praktische Versuche«. Sein Vater hatte das Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR gegründet. Als es 1990/91 abgewickelt wurde, war Thomas Kuczynski sein letzter Direktor. Er erkannte, dass die Auflösung beschlossene Sache war, bevor die sogenannte Evaluation begonnen hatte, machte das öffentlich und löste damit internationalen Protest aus. Direktoren anderer Institute versuchten es teils mit wortlosem Trotz, teils mit Diplomatie, teils mit Unterwürfigkeit und erreichten ebensowenig wie er, der sich durch seine entschiedene Haltung Respekt verschaffte. Am Ende hat er nicht weniger Arbeitsplätze gerettet als sie, vielleicht sogar mehr. Die meisten seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhielten teils prekäre, teils stabile Stellen anderwärts, er allerdings nicht. Fortan schlug er sich als wissenschaftlicher Freelancer durch …

Ohne die Dummheiten

Als um die Jahrtausendwende über die Entschädigungen für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter verhandelt wurde, übernahm er den Auftrag, die Höhe des ihnen vorenthaltenen Lohns zu errechnen. Heraus kam eine so große Summe, dass sie selbst die Anwälte der Überlebenden blass werden ließ. Gezahlt wurden nur die »Brosamen vom Herrentisch« (so der Titel seines Gutachtens, das 2004 erschien). Er kommentierte: Diese Arbeit habe er zwar nicht umsonst gemacht – er meinte sein Sachverständigenhonorar –, aber vergebens.

Zwanzig Jahre lang erstellte er die Neue Textausgabe (NTA) des ersten Bandes des »Kapitals« – eine Rekonstruktion einer Edition letzter Hand, für die Marx Vorlagen geschaffen, die er aber nicht mehr selbst vorgelegt hat. Sie kam 2017 heraus und ist sein philologisches Hauptwerk. Es wird bleiben. Eine englische Ausgabe ist in Vorbereitung.

Er war nicht nur Ökonom und Marx-Philologe, sondern unkonventioneller Popularisator. Mit der Gruppe »Rimini Protokoll« und deren Programm »Karl Marx: Das Kapital. Erster Band« tourte er seit 2006 über die Bühnen mehrerer Länder.

Nach der NTA nahm er sich eine neue, ebenso riesige Aufgabe vor: Rekonstruktion und Weiterentwicklung der Arbeitswertlehre. In den Preis der Waren müssten auch deren Reproduktionskosten (für Entsorgung und/oder Recycling) eingerechnet werden. Damit ist er nicht mehr fertig geworden. Mit Sympathie rezipierte er das 2016 erschienene Buch »Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus« des japanischen Philosophen Kohei Saito … Dessen universellen Degrowth-Vorschlägen begegnete er allerdings kritisch, da zu OECD-lastig und auf Länder nachholender Industrialisierung nicht eins zu eins anwendbar.

In der Deutschen Demokratischen Republik gehörte er zu denjenigen Intellektuellen, die loyal zum sozialistischen Staat standen, aber keine seiner Dummheiten mitmachten. Im gleichen Geist arbeitete er nach ihrem Ende Teile der DDR-Geschichte auf: in seinen Studien über den Ökonomen Fritz Behrens.

Neben alldem stürzte er sich ab 1990 in das, was von der gesamtdeutschen, auch westlichen Linken übriggeblieben war. Von den Trotzkisten bis zur FAU: Sie interessierten ihn alle. Was er schlecht ertrug, war auftrumpfende Lautstärke. Da verstummte er und hüllte sich in ein die Schreihälse (hoffentlich) verunsicherndes Schweigen …

International gut vernetzt

Mit seiner Frau, der Mathematikhistorikerin Annette Vogt, wohnte er in einem kleinen Haus in Pankow. In größeren Abständen luden die beiden in einen großen Saal in diesem Bezirk rund um den 14. Juli zu einer Art Revolutionsfest ein. Der »Zeit« erzählte er in einem Interview, er fürchte künftige Revolutionen nicht. Das war, auf die Fragesteller berechnet, schonend.

Am 12. Februar 2022 reichte er bei Lunapark 21 einen Artikel ein, in dem er die Lügen und Provokationen auflistete, mit denen die USA immer wieder in der Vergangenheit einen Kriegskurs begleitet haben, und äußerte die Hoffnung, dass Russland in der Ukraine-Krise besonnen bleiben werde. Schon am 22. Februar 2022 bezeichnete er den Text als Totgeburt und ließ ihn von der Website der Zeitschrift nehmen. Zwei Tage später wurde vollends klar: Seine Hoffnung war vernünftig gewesen, ihr Scheitern eine Katastrophe. Er retirierte nicht zu geopolitischen Erwägungen. Verschlossen in persönlichen Dingen, britisch absolutely unsentimental, unsentimental und unpathetisch, hätte er nie sagen können, der Krieg habe ihm das Herz gebrochen. Aber er war nicht mehr der alte. Etwas in ihm war zu Ende.

Vor und nach 1990 war er immer in internationaler wissenschaftlicher Kooperation aktiv. Freundschaften verbanden ihn mit Kolleginnen und Kollegen im »Russischen Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte« (RGASPI) in Moskau. Nach dem 24. Februar haben die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und die Königlich-Niederländische Akademie der Wissenschaften ihre Zusammenarbeit mit russischen Stellen unterbrochen, darunter auch mit dem RGASPI. Dort liegen die meisten Originalmaterialien für die MEGA. Die Beeinträchtigungen für dies Projekt haben Thomas Kuczynski in seinen letzten Lebenswochen umgetrieben, und er hat seine Kolleginnen und Kollegen in Moskau seiner Solidarität versichert.

Er kannte das Wort von Georg Christoph Lichtenberg: »Für den Verlust von Personen, die uns lieb waren, gibt es keine Linderung als die Zeit, und sorgfältig und mit Vernunft gewählte Zerstreuungen, wobei uns unser Herz keine Vorwürfe machen kann.« Das im 21. Jahrhundert leicht frivol klingende Wort »Zerstreuungen« meinte damals wohl auch: Arbeit. Als dann der Krebs Thomas ­Kuczynski anfiel – sehr plötzlich, rasch fortschreitend und unheilbar –, hoffte er, dass es nun schnell gehen werde. Die ihm lieb waren, sollten, statt sich Sorgen um ihn zu machen, arbeiten.

Leicht gekürzter Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors: https://www.­jungewelt.de/artikel/457648.marxistischer-wirtschaftshistoriker-unsentimental-und-­entschieden.html

Zu: Künstliche Intelligenz für alle Menschen?

In: MBl 4_2023

Peter Schadt

Peter Fleisser stellt in seinem kurzen Artikel dar, wie ChatGPT funktioniert, gibt Hinweise auf seine gesellschaftliche Wirkung und mögliche weitere Anwendungen.

1.

Im zweiten Abschnitt »Achtung Fake News!« widmet sich Fleissner den politischen Konsequenzen der Technik, welche sich daraus ergeben, dass die KI immer wieder falsche Ergebnisse zeitigt … Weil die Ergebnisse der KI sich aus hergestellten Korrelationen von Millionen bis Milliarden Daten ergeben und keine ursächliche Bestimmung von Zusammenhängen vorliegt, sind die Ergebnisse notwendig fehlerhaft und geben Verzerrungen wieder, die bereits in den »Trainigsdaten« angelegt sind. Fleissner verweist darauf selbst – wenn auch sehr kurz – wenn er schreibt, dass die Software aus beliebigen [!] »Textstücken«, die seine Datengrundlage bieten, versucht das »nächste Wort vorauszusagen«, also gerade nicht deren Inhalt prüfen (kann), sondern Korrelationen feststellt.

Dieses Verfahren stellt sich ignorant gegen die Frage, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen diesen Korrelationen gibt. Insofern gehört es zur Sache der KI notwendig dazu, dass sie, wo sie sich Personalfragen und ähnlichem widmen soll, lauter Zusammenhänge zwischen Geschlecht, Religion, Hautfarbe und verschiedensten anderen Charakteristika von Personen aufmacht, die von einem denkenden, beurteilenden Subjekt mit entsprechender Politisierung erkannt werden: als rassistische und sexistische Resultate, die ChatGPT als Ergebnis präsentieren würde. Der Autor weiß selbst, dass die Programmierer diese Ergebnisse nur durch einen »digitalen Filter« (Fleissner 2023: 7) blockieren, aber nicht deren ständige Herstellung unterbinden können.

Dieses wiederkehrende Ergebnis der KI wird nun von ihm mit einem politischen Auftrag kontrastiert, den die Technik nach Fleissner zu erfüllen habe: »Um einigermaßen verlässliche Informationen zu erhalten, sind möglichst bald Regulierungen auf gesetzlicher Ebene nötig« (Fleissner 2023: 8).

Es bleibt ein Widerspruch, dass Fleissner die KI über die politische Gewalt dazu nötigen will, etwas zu leisten, was diese der Natur ihrer Sache nach nicht kann: »einigermaßen verlässliche Informationen zu erhalten« kann nach zwei Seiten hin verstanden werden: Qualitativ verbessern sich die Ergebnisse der KI nicht nur staatliche Regelungen, sondern durch noch mehr und »bessere« Daten. Qualitativ gibt es die oben beschriebene Grenze der beständig neu herstellbaren Korrelationen, ohne dass ein kausaler Zusammenhang bestehen muss. Nach beiden Seiten ist der Staat als Lösung für diese technische Begrenzung eher eine Auskunft über Fleissners Bild, wie mit den Widersprüchen der politischen Ökonomie seiner Meinung nach umzugehen wäre; als tatsächlicher Beitrag zur Frage, was eine KI leisten kann oder nicht, ist der Gedanke ein schlichter Fehler.

2.

Im vorletzten Kapitel »Weitere Anwendungen absehbar« wird die Frage, inwiefern künstliche Intelligenzen ihrem Namen eigentlich gerecht werden, zuerst mit einer indirekten Skepsis vorgestellt: »extrem technikaffinen Menschen« läge es nahe, eine solche in naher Zukunft zu vermuten. Diese Aussage wird dann aber gar nicht kritisiert, sondern relativiert: »diese Wünsche [würden] noch für viele Jahrzehnte in den Bereich der Utopie gehören« (Fleissner 2023: 9). Die immer weitere Erhöhung der Fallzahlen hinsichtlich der Trainingsdaten ändert aber gar nichts an dem qualitativen Unterschied, dass die KI eine ganz andere Operation durchführt als ein urteilendes Subjekt, wieso Fleissners Relativierung den Fehler selbst wiederholt, den er bei den »technikaffinen Menschen« ausmacht: die Vorstellung, »dass KI in der Lage sein wird, die Menschen zu ersetzen, dass das menschliche Gehirn durch KI so angenähert werden kann, dass es Bewusstsein entwickeln würde, und schließlich wahrheitsgetreu von sich sagen kann: ›Ich bin‹« (Fleissner 2023: 9).

Hier irritiert also nicht nur, dass Fleissner die Funktionsweise der KI nicht zur Kenntnis nimmt, sondern auch das Disparate seiner folgenden Argumentation im Anschluss an seine Relativierung: »Diese KIs müssten dann auch juristische Rechte wie Menschen erhalten. Obwohl diese Wünsche noch für viele Jahrzehnte in den Bereich der Utopie gehören, ist die Leistungsfähigkeit von KI nicht zu unterschätzen.« (Fleissner 2023: 9) Es gibt einfach keinen Zusammenhang zwischen der Leistung der KI für und in Textverarbeitungssoftware und dem gerade noch diskutierten und als entfernte, aber eben durchaus mögliche Zukunft prognostizierten Bewusstsein einer solchen KI.

3.

Als letzten Gedanken stellt Fleissner noch eine Überlegung zu den Grundrissen von Marx vor, die er mit der KI verknüpft: »Aus marxistischer Sicht könnte man sagen, dass der ChatBot einen neuen – leider immer noch fehlerbeladenen – Zugang zum General Intellect ermöglicht, der kollektiven Quelle von Wissen und Fähigkeiten des Gesamtarbeiters. Die uns allen bekannten bisherigen Formen (Bücher, Texte aus dem Internet, Fundstellen von Suchmaschinen usw.) boten nur punktuelle Zugänge, ein ChatBot der letzten Generation ermöglicht dagegen einen one-stop-Zugang zum Weltwissen (oder zumindest zu weiten Teilen davon).« (Fleissner 2023: 9).

a.) In dem »leider immer noch fehlerbeladen« wiederholt sich der gerade vorgestellte Fehler, dass es sich hierbei um die notwendigen Friktionen einer auf Wahrscheinlichkeiten basierenden Aggregation begriffsloser Korrelationen handelt, die nicht »immer noch«, sondern notwendig immer zu dieser Technik gehören.

b.) Eine kurze Erinnerung an das, was dieser Begriff bei Marx meint. In den Grundrissen hält dieser an der entsprechenden Stelle fest, dass in und an der Entwicklung der Produktivkräfte auch der Stand des »allgemeine[n] gesellschaftliche[n] Wissen[s]« (MEW42: 602) abzulesen ist, dass als Wissen, d. h. allgemeiner Stand der Wissenschaft selbst eine Produktivkraft ist. Die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst sind gestaltet nach Maßgabe dieses Wissens über die Welt, was als allgemeiner Wissensstand existiert, dessen sich die Kapitalisten in ihrer Produktion als Produktivkraft bedienen. Bei Marx handelt es sich daher um einen (kurzen) Hinweis darauf, dass die Unternehmen sich auch dem als Produktivkraft für ihre private Bereicherung bedienen, was als gesellschaftliche Produktivkraft existiert. Marx betont also, dass die Natur »keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. [baut]. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur« (MEW42: 602).

Bei Fleissner dagegen erscheint der General Intellect als das genaue Gegenteil: Er ist nicht der Ausdruck menschlichen Willens und Wissen über die Natur, sondern selbst »Quelle [!] von Wissen und Fähigkeiten des Gesamtarbeiters«, also eine von den Arbeitern getrennte Instanz, der die Gesamtarbeiter ihr Wissen verdanken und nicht umgekehrt ein Ausdruck des vergegenständlichten Wissens der Gesellschaft.

c.) Den General Intellect als das »Weltwissen« verstanden, ist der ChatBot kein »one-stop-Zugang« dazu. Auch hier verhält es sich genau umgekehrt: Damit der ChatBot seine originäre Leistung vollbringen kann, nämlich lauter Korrelationen zwischen den Daten herzustellen, braucht er selbst dieses »Weltwissen« als »Trainingsdaten«, die extra für ihn aufbereitet werden. Die KI ist also nicht dieser Zugang, sondern benötigt ihn selbst. Eine einfache Suchmaschine, die Zugang zum gleichen Datenpool hat ist also vielmehr das, was Fleissner hier als »Zugang zum General Intellect« behauptet, die KI hat eine ganz andere Funktion: Sie kann Zusammenhänge behaupten zwischen dem »Weltwissen« (will man diesen Euphemismus für unendlich viele Daten wirklich gebrauchen, wo jegliche mathematische Formel, Kafkas Schloss und die Einkaufspräferenzen aller Schwaben als Datensatz gemeinsam vorliegen) und so zur Bild-, Sprach- und Texterkennung sowie Generierung eingesetzt werden.

Meine Anforderungen an ein Kommunistisches Manifest Nr. 2

Leserzuschrift von Hermann Jacobs, Berlin

Die »Marxistischen Blätter« veröffentlichen in ihrer Ausgabe 3/2023 den Beitrag von John Smith: »Ein Kommunistisches Manifest für das 21. Jahrhundert erarbeiten«. Den Gedanken sollten wir, Kommunisten/Marxisten weltweit, aufgreifen. Vielleicht reicht auch eine Einschätzung allgemeinster Art zur Entwicklung der kommunistischen Frage seit dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes. Sie sollte aber aus zwei Teilen bestehen: Einmal dem Teil, in dem die Gedanken von John Smith angesiedelt sind – also bei der Entwicklung des Kapitalismus seit den Zeiten noch von Marx. Da ist ja vieles bekannt. Aber einiges, ganz bzw. wirklich Neues, enthält der Beitrag von Smith; ich meine die Behandlung des Waren- bzw. Wertcharakters der Arbeitskraft. Hier sind – in diesem Beitrag – Gedanken/Einschätzungen geäußert, die ich so noch nirgendwo, d. h. bei keinem anderen Autoren gelesen habe.

Der Gegensatz von Kapital und Arbeit – oder Profitbildung und Lohnbildung – hat eine weltweite Erscheinung angenommen, oder ist ein weltweiter Gegensatz geworden, ein Ländergegensatz. Und zwar in einer verstärkten Form als noch in der Form seines nationalen Gegensatzes. Hier ist es auch richtig zu sagen, dass diese Entwicklung über jenen Status, den Marx noch erlebte und analysiert hat, hinausgeht; d. h. hier liegt auch eine historische Geschichtsentwicklung den neuen Momenten zugrunde.

Der zweite Punkt aber, der in eine neue, Marx erweiternde Fassung eines Manifestes hineingehörte, ist die Entwicklung zu einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft selbst. Ob wir schon von einer wirklich real sozialistisch-kommunistischen Welt sprechen können, muss darin auch behandelt werden. Auf alle Fälle haben wir es mit erster Praxis dieses Ansatzes in der Formationsgeschichte der Menschheit zu tun.

Smith behandelt diesen Aspekt, oder diese historische Erweiterung, gar nicht. Brauchen wir diesen Aspekt aber – die Sowjetunion und auch die anderen, osteuropäischen Länder schon des Sozialismus-Ansatzes existieren doch nicht mehr? Ja, wir brauchen auch diesen Aspekt in einem Kommunistischen Manifest Nr. 2. Sagen wir mal für – China, Vietnam, Kuba, Nordkorea.

Aber nur zum einen für diese Länder. Wichtig, existentiell wäre das für die Arbeiterbewegung insgesamt in der Welt. Es geht bei allen (!) bisherigen Versuchen in der Welt, Sozialismus/Kommunismus praktisch aufzubauen, darum, aus der allgemeinen Geschichte bzw. Theorie hinüberzuwechseln in die so genannte konkrete Geschichte. Oder auch so: die allgemeine Geschichte um die konkrete zu ergänzen.

Erst indem der Kommunismusgedanke Staaten/Länder ergreift, beweist er sich als machbarer Gedanke, d. h. es zeigt sich dann, dass er kein nebulöser Gedanke ist.

Andererseits aber gerät der bis dato allgemeine Gedanke an konkrete Bedingungen einer Verwirklichung. Damit entsteht ein Problem, das an sich dem Kommunismusgedanken nicht gemäß ist, nämlich, wenn solche ersten Länder ökonomisch gesehen noch gar nicht über einen gesellschaftlich entwickelten Charakter der Arbeit verfügten. Dieser ist aber die objektive (!) Voraussetzung für Sozialismus/Kommunismus. Dann kann es dazu kommen, dass das Allgemeine, Gesetzmäßige an Geschichte identifiziert wird mit den konkreten Verläufen, unter denen das Gesetzmäßige Gestalt annimmt. Das ist zwar bei jeder Geschichte so, aber kann auch zu Fehlurteilen führen, indem das Allgemeine auf das Konkrete reduziert wird. Liegt aber dem Konkreten eine allgemeine Entwicklung – in diesem Fall eine der modernen Ökonomie – zugrunde, kommt letzten Endes immer eine objektive Entwicklung heraus.

Das erste Land, dass mit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft begann – Russland, litt an eben diesem Grundwiderspruch: es verfügte über diesen Charakter der Arbeit noch nicht. Und alle weiteren Länder, die nach dem 2. Weltkrieg der Sowjetunion folgten, litten auch an diesem Widerspruch1: Dem zwischen dem Subjekt, das schon für den Sozialismusgedanken steht, und dem Objekt, also dem Entwicklungsstand der Ökonomie, der für den Übergang zu den dem Sozialismus gemäßen Produktionsverhältnissen die Voraussetzung bildet.

Wie diesen Widerspruch lösen? Die notwendige Industrie aufbauen, ist nur das eine. Aber was tun in der Zwischenzeit, bis dieser hohe/höhere ökonomische Stand erreicht ist?

Es kommt (und kam auch) zu einer besonderen Art von Verselbständigung des Subjekts – bis hin zur politischen Partei dieses Subjekts – gegenüber dem Objekt, das die Voraussetzung der notwendigen Produktionsverhältnisse des Kommunismus ist. Nennen wir diese »Periode« die des proletarischen Absolutismus. Warum nicht schlechthin Absolutismus? Warum die Eingrenzung auf proletarisch? Nun, weil das Proletariat auch politisch beginnen kann, d. h. als Partei, als ein (!) Kommunist beginnen kann. Nämlich dann, wenn ein Mensch als ein Marxist beginnt. Und das heißt um die Formationsgeschichte der Menschheit anhand der Marxschen Erkenntnisse bzw. Arbeiten das dafür Notwendige gelernt zu haben. Er kann dann nämlich die Entwicklung auch noch ökonomisch unentwickelter Länder voraussehen. Kommunisten/Marxisten in Russland konnten die Entwicklung Russlands voraussehen. Sie wussten um die kommende Ökonomie Russlands; sie wollten sie. Und das bedeutet, dass früher oder später ein proletarischer Absolutismus, anders als der geschichtlich bekannte des Feudalismus, auch überwunden wird, beendet werden kann. Proletarischer Absolutismus ist ökonomisch überwindbar. Das ist ja der reale Absolutismus nie. Aber seien wir ehrlich: Er lies am realen Sozialismus auch zweifeln.

In einem zweiten Manifest für den Kommunismus muss alles, die weitere, moderne Geschichte des Kapitalismus, und die erste, auf besondere Weise erste sozialistische Geschichte … marxistisch erklärt werden. Sonst kein Kommunistisches Manifest Nr. 2.

1 Mit Ausnahme vielleicht der DDR und evtl. noch der CSSR.

Editorial

Runde Geburtstage sind so eine Sache. Die DDR hat ihren 40. noch groß gefeiert und ihren 41. nicht mehr erlebt. Auf uns und unser Überleben haben damals viele nichts gegeben. 2013 haben wir dann unseren 50. Geburtstag mit einer wunderbaren Konferenz im Essener »Unperfekthaus« feiern können (siehe Marxistische Blätter 1_2014). Und nun gibt es uns schon 60 Jahre, seit kommunistische und sozialdemokratische Marxist:innen im November 1963 mitten im Kalten Krieg und trotz KPD-Verbot ihr mutiges Projekt starteten. Ihr Mut und ihr Grundverständnis von »Marxismus für die Arbeiterklasse« waren, sind und bleiben Ansporn und Herausforderung.

Diesmal gibt’s keine Feier. Dazu fehlt uns weniger der Stolz auf alle, die bisher ihren Beitrag zum Gelingen des Projektes geleistet haben, sondern vor allem (Arbeits-)Kraft und (Finanz-)Mittel. Also haben wir uns mutig in die Arbeit gestürzt. Nicht nur für diese Jubiläums-Doppelnummer »Mut und Marxismus«. Sondern auch für eine erweiterte Neuauflage des Buches »Lob des Kommunismus« und ein neues MASCH-Skript zur in Vergessenheit geratenen kurzen Geschichte der »Weltliga der Antifaschisten 1923/24«.

Im Thema skizziert Thomas Metscher sein (und unser) heutiges Verständnis von Marxismus und Mut. Dietmar Dath rät zu »Lernen, Lehren, Lesen gegen die Verwahrlosung«. Domenico Losurdo vergleicht das »unaussprechliche Wort« Kommunismus mit anderen nur scheinbar »aussprechlicheren«. Hermann Klenner reflektiert anhand eigener Lebenserfahrungen, die existenzielle Bedeutung des »Trotz Alledem«. Vijay Prashad beleuchtet den Stellenwert des Anti-Kolonialismus für die marxistische Linke. Kai Degenhardt schreibt von Kämpfen und Liedern der Arbeiterbewegung in Deutschland. Und Georg Fülberth haben wir gebeten, uns Denkanstößiges zur heutigen KP und der ihr nahestehenden Zeitschrift auf den Weg zu geben. Weil beim Vorwärtskommen hilfreich ist, auch mal in den Rückspiegel zu schauen, haben wir Beiträge herausgesucht, die im Herbst vor 60, 50, 40, 30, 20 und 10 Jahren bei uns zu lesen waren. Für deren Aktualität sind weniger die Autor:innen verantwortlich als die realen Verhältnisse, die Christa Luft in unserer Beilage: »Von der ›Zeitenwende‹ zum Epochenbruch« skizziert.

In der Rubrik »Positionen« packen unsere Autor:innen mutig heiße Eisen an: Migration (Artur Pech), Populismus und Marxismus (Augustin Renier), Climate Engineering (Annette Schlemm), den Unterschied von Gesinnungs- und Verantwortungsethik (Marlon Grohn), die Machtverhältnisse im heutigen Russland (Ditte Gerns) oder sie schreiben über mutige Persönlichkeiten: Antonio Gramsci (Gerhard Feldbauer), Pablo Neruda (Jenny Farrell), die von Faschisten ermordet wurde und Boris Kagarlitzki (Roger D. Markwick), der wegen seines Widerstandes gegen die Kriegsherren im eigenen Land unter »Terrorismus«-Verdacht verhaftet wurde.

Auch hierzulande werden Antifaschist:innen, Klima- und Friedensaktivist:innen, die in Wort, Schrift und Aktion den verengten Rahmen, des aus Sicht der Herrschenden erlaubten Sag- und Machbaren durchbrechen, nicht nur medial mit Killerphrasen und Totschlagargumenten bekämpft, sondern zunehmend von Polizei und Justiz. Die Schwierigkeiten beim Verbreiten der Wahrheit über Kriegstreiber (m/w/d) und Friedensstifter nehmen allseits zu. Wir stellen uns weiterhin diesen Schwierigkeiten.

Und da es beim Kampf um Frieden keine Abkürzung des steinigen Weges gibt, dokumentieren wir in unserer Jubiläumsausgabe Beiträge von der Hanauer Friedenskonferenz von IG Metall und Rosa-Luxemburg-Stiftung. Denn auch beim Zusammenführen von organisierter Arbeiter- und Friedensbewegung sind Mut und Marxismus höchst hilfreich.Lothar Geisler

Über Marxismus und Mut1

Thomas Metscher im Interview

Was ist Marxismus?

Wie sich der Begriff im Verlauf meiner vielfältigen Erfahrungen herausgebildet hat, ist Marxismus einerseits enger, andererseits weiter als er von vielen anderen verstanden wird, die den Begriff gebrauchen. Betrachten wir die weltgeschichtliche Lage unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des Sozialismus und sozialistischer Hoffnungen, so wird nicht zu leugnen sein, dass wir uns gegenwärtig auf einem Tiefpunkt befinden. In einer solchen Lage stellt sich die Versuchung ein, den Marxismus zu einem Messianismus zu machen, Kommunismus zur ›Hypothese‹, die durch einen ›Glaubenssprung‹ zu gewinnen sei. Der Marxismus wird so zur Quasi-Religion. Solche Gedanken finde ich gerade bei Autoren, die heute medialen Kredit genießen: bei Žižek, Badiou, und selbst Haug spricht in Anschluss an Benjamin und Derrida von einem ›Messianismus ohne Messias‹, womit er den Marxismus meint. Mir kommen solche Autoren wie Leute vor, die im Dunkeln singen, um sich Mut zu machen.

Falscher Mut und trügerische Hoffnung

Mut braucht es in Zeiten der Niederlage, und sicherlich braucht es Hoffnung, um der Verzweiflung zu entgehen. Es gibt aber auch den falschen Mut und die trügerische Hoffnung. So führt, meine ich, der Weg, dem Marxismus einen Anstrich von Religion zu geben, gar zu einer profanen Religion zu machen, in die Sackgasse und macht die Niederlage unumkehrbar. Zukunftsfähig ist der Marxismus nur, wenn er jede Gestalt der Religionsförmigkeit ablegt. Fundamental für ihn ist gerade die Trennung von Wissen und Glauben. Er ist kein Messianismus, welcher Form auch immer. Er ist Wissen, und zwar kritisches Wissen und verhält sich kritisch gegenüber jeder Ideologie. Ohne das Moment des Kritischen wird er zur Ideologie. Seine Fundamentalkategorie ist die Dialektik als Lehre, jede gewordene Gestalt des Lebens als bewegt, Teil eines Prozesses und damit veränderlich, den Erkenntnisprozess selbst als unendlichen Prozess aufzufassen. Das Wissen des Marxismus ist somit relativ, unabschließbar, begrenzt, in dem Rahmen, der menschlichem Wissen jeweils historisch gesetzt ist.

Marxismus, möchte ich formulieren, ist eine politische Weltanschauungsform, in der, gemäß dem Postulat der Einheit von Theorie und Praxis, politische Bewegung und konzeptive Weltanschauung zusammentreten. Sein Ziel ist, im Sinne der elften Feuerbachthese, die Interpretation und die Veränderung der Welt.

Als konzeptive Weltanschauung beruht der Marxismus auf drei Säulen: Wissenschaft, Philosophie, Kunst – dieser Gesichtspunkt ist es, der gegenüber den üblichen, auch traditionellen Marxismusauffassungen eine entschiedene Erweiterung vorschlägt. Wissenschaft und Philosophie werden gewöhnlich im Zusammenhang gesehen, ich schlage eine methodische und kategoriale Trennung vor.

Wissenschaftliche Grundlagen

Die wissenschaftliche Grundlage des Marxismus bilden Ökonomie, Politik, Geschichte, Rechts- und Gesellschaftswissenschaften, in einem weiteren Sinn auch Geistes- und Naturwissenschaften –, wobei ihr jeweiliger Anteil dem untersuchten Gegenstandsfeld entsprechend variiert.

Sprechen wir von der philosophischen Grundlage des Marxismus, so ist neben dem auf die Antike zurückgehenden Materialismus (Demokrit, Epikur, Lukrez) vor allem die Hegelsche Philosophie zu nennen, und mit ihr die Tradition dialektischen Denkens; in einem weiteren Sinn dann auch nominalistische, empiristische und naturphilosophische Strömungen (wie sie die philosophische Wissenschaftslehre eines Francis Bacon repräsentiert).

Die dritte Säule: Kunst/Literatur

Die dritte Säule aber, auf dem der Marxismus in seiner entwickelten Gestalt fundiert, ist die Kunst, vor allem die Literatur, doch auch die anderen Künste. Es ist dies die hier entscheidende Ergänzung des Marxismus als weltanschauliches Konzept, die ich vorschlage. Zur Orientierung und als Hinweis auf das Gemeinte seien hier die Namen Bertolt Brecht, Pablo Neruda, Michael Scholochow, Anna Seghers, Sean O’Casey, Lewis Grassic Gibbon, Hugh MacDiarmid, Hamish Henderson, David Craig, Nazim Hikmet, Jannis Ritsos, Peter Hacks, José Saramago, Peter Weiss, Ngũgĩ wa Thiong’o, Pablo Picasso, Renato Guttuso, Willi Sitte, Dmitri Schostakowitsch2, Hanns Eisler genannt. Sie bilden nur eine Auswahl, die paradigmatisch das Feld bezeichnen soll, das der trockene Begriff ›Marxismus in der Kunst‹ benennt. Es umfasst einen bedeutenden Anteil der Gegenwartskunst, weit mehr als die Kunst in den ehemals sozialistischen Ländern, geschweige denn Kunst im Umkreis marxistischer politischer Organisationen. Marxistische Kunst, verstanden als eine solche, deren weltanschauliche Grundlage und politische Orientierung der Marxismus ist, besitzt eine erstaunliche Weite und Vielfalt. Sie bildet eine distinkte Dimension in der Welt-Kunst der Gegenwart. Wenn also vom Reichtum und den Potentialen des Marxismus gesprochen werden soll, wird nicht nur von Wissenschaft und Philosophie, sondern auch von den Künsten zu sprechen sein.

Im Zentrum freilich des Marxismus als Weltanschauung steht die Wissenschaft. Ihr Kernbereich ist, mit Engels’ Begriff, der wissenschaftliche Sozialismus. Dieser ist keine Ideologie, er stellt nicht den Anspruch absoluten Wissens (als Kriterium von Ideologien kann gelten, dass diese mit einem absoluten Wahrheitsanspruch auftreten), sondern ist ein Corpus wissenschaftlichen Wissens, das sich der Möglichkeiten und Grenzen solchen Wissens bewusst ist und dieses Bewusstsein im Begriff der Kritik reflektiert: als Kritik der politischen Ökonomie, Kritik der Ideologie und des gesellschaftlichen Bewusstseins, Kritik der Ethik, der Kultur und der Künste usf. Positives Wissen auf allen diesen Feldern ist aus der Kritik zu gewinnen.

Weltanschauung und Wissenschaft

Das bedeutet: der Marxismus als wissenschaftliche Theorie ist ein überliefertes Corpus von Wissen, das der ständigen Überprüfung, der Revision des Fehlerhaften, der Weiterentwicklung im Licht neuer Erfahrungen und Erkenntnisse bedarf. Dies ist nicht mit Relativismus zu verwechseln, und es hat mit Revisionismus nicht das Geringste zu tun. Im Marxismus gibt es einen substantiellen Kern theoretischen Wissens, das den Test kritischer Überprüfung bestanden hat. Die Aufgabe solchen Wissens, aus welchen Gründen auch immer (meist sind es opportunistische), ist das, was man berechtigt als ›Revisionismus‹ kritisiert und ggf. auch organisatorisch bekämpft. Zum substantiellen Kern dieses Wissens gehören beispielsweise die Erkenntnisse der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, seine ideologietheoretischen Befunde, die Einsicht, dass alle bisherige Geschichte seit dem Ausgang der Urgesellschaft eine Geschichte von Klassengesellschaften ist, die Grunderkenntnisse (bei allen internen Differenzen) der von Lenin und Luxemburg entwickelten Imperialismustheorie, Grunderkenntnisse im Bereich der Kultur, der Ästhetik und der Künste, und vieles mehr. Doch selbst auf diesen Feldern gibt es historisch Neues, das theoretisch verarbeitet werden muss und zu Veränderungen, Erweiterungen der Theorie führen kann.

Fundamental: Dialektik

Die Fundamentalkategorie der marxistischen Theorie, sagte ich, ist die Dialektik, und die Dialektik als Methode erfordert und befähigt uns, eine sich verändernde Wirklichkeit im Zustand ihrer Veränderungen wie auch das Wissen über diese Veränderungen zu erfassen. Kraft der Dialektik kann es gelingen, die unerhörte Zunahme menschlichen Wissens, die sich in unserer Gegenwart vollzieht, dem Corpus marxistischen Denkens einzuverleiben. Für einen so verstandenen Marxismus habe ich den Begriff eines integrativen Marxismus geprägt; integrativ bezogen auf die Fähigkeit der Integration wissenschaftlichen wie kulturellen Wissens in die konzeptive Systematik marxistischen Denkens. Ein so verstandener Marxismus besitzt ein Zukunftspotential, das ihn über jede andere mit ihm konkurrierende wissenschaftliche Weltanschauung hinaus hebt.

Ein Beispiel für eine legitime und notwendige (also nichtrevisionistische) Korrektur überlieferter Theorie ist die Utopie3. Die kritische Einstellung von Marx und Engels zur Utopie (in der Gestalt des utopischen Sozialismus) ist bekannt. Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft war in der historischen Lage, in der sich Marx und Engel befanden, ein notwendiger Schritt. Heute befinden wir uns in einer anderen historischen Lage, in der einer universalen Gefährdung. Sie erfordert utopisches Denken, um Perspektiven zielorientierten Handelns zu gewinnen. Mein Vorschlag lautet deshalb, die Utopie in den Marxismus zurückzuholen, nicht gegen dessen wissenschaftliche Orientierung, sondern im Sinne ihrer Erweiterung: Utopie als Denken des historisch Möglichen; und über das zu befinden, was historisch möglich ist, liegt durchaus im Rahmen möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Jean Ziegler hat es in seinen wichtigen Büchern zum Problem des Welthungers überzeugend gezeigt.

Theorie der Befreiung

Der Marxismus ist in seiner ideellen Substanz eine Theorie der Befreiung. Es geht ihm, mit Marx, um das Umwerfen aller Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« – um die Emanzipation des Menschen in voller Diesseitigkeit. Als Mangel ist zu konstatieren, dass die Ausarbeitung einer politischen Ethik immer noch fehlt. Lukács plante, als Krönung seines großen Werks, im Alter eine Ethik zu schreiben, hat es aber am Ende nicht mehr tun können. Dabei ist die Ethik für den Marxismus so zentral wie es die Utopie im erläuterten Sinn ist – an deren Seite sie tritt. Sie gibt der Kritik herrschender Verhältnisse einen normativen Horizont. Im Konnex mit der Utopie verweist sie auf eine mögliche Welt, die wir uns wünschen. Es ist eine Welt, so Brecht in ›An die Nachgeborenen‹, einer Dichtung von epochalem Rang, »wo der Mensch dem Menschen ein Helfer ist«. In solcher Welt herrscht das Ethos der Freundlichkeit und Solidarität. Begriffsgeschichtlich lässt sich eine Linie zum plebejisch-christlichen Liebesgebot ziehen, zum Gedanken der Würde, die jedem Menschen zukommt qua Mensch – kraft seiner materiellen Verfasstheit. Shakespeare hat diesen Gedanken in den Sturmszenen des Lear in einer Weise Ausdruck verliehen, die in die Grundlegung einer marxistischen Ethik gehört – vielleicht schreibe ich selbst noch einmal etwas dazu. An solcher Stelle wird die enge Verbindung des Marxismus mit den humanistischen Kunsttraditionen fassbar, wie nicht zuletzt auch mit dem Gedanken des Friedens – einer von Angst und Not befreiten Welt. Unabweisbar ist die enge Verbindung von Marxismus und Aufklärung, die Erkenntnis, dass der Marxismus ein Humanismus ist, die Zerstörung dieses Kerns ihn in seinen Wurzeln zerstört …

Zivilisatorische Errungenschaft

MR: Wie kann der Marxismus heute zum Kampf für die Menschenrechte und die Gerechtigkeit beitragen?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783961703654
ISBN (PDF)
9783961706655
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Dezember)
Schlagworte
jubiläumsheft marxismus

Autor

  • Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)

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Titel: Das Jubiläumsheft – Mut und Marxismus
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