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»Dass ein gutes Deutschland blühe …«

von Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)
168 Seiten
Reihe: Marxistische Blätter, Band 1_2024

Zusammenfassung

<strong>Das Thema:</strong> Deutschland 2024: Schlimmer geht immer – Gedanken, Raimund Ernst; »Ein besseres Deutschland soll es werden« – Vorstellungen nach der Befreiung, Ulrich Schneider; Deutsche Spaltung und Europastrategie des deutschen Kapitals, Beate Landefeld; Braune Kontinuitätslinien, Ralf Hohmann; Notwendiges Erinnern an Kurt Pätzold, Friedrich-Martin Balzer; Höslers Zahl der Woche, Joachim Hösler; Zukunft – Das Papier der SDAJ, Andrea Hornung, Simon Massone
<strong>Kommentare:</strong> Staatsräson, Lothar Geisler; Kriegstüchtigkeit, Arnold Schölzel; Habecks Doppelmoral, Leo Mayer; Gefährliche Regierung, Bernhard Trautvetter; Österreichs Neutralität, Josef Meszlenyi; Thema Frieden beim ver.di-Kongress (Michael Quetting), bei der IG Metall (Klaus Pickshaus) und beim Parteitag Die Linke (Artur Pech); Leipziger Perspektive, Volker Külow; Gerd Callesen (1940–2023), Georg Fülberth/Hans-Norbert Lahme
<strong>Bei anderen gelesen:</strong> Was heißt Europäische Sicherheits- und Friedenspolitik?, Rolf Mützenich
<strong>Kalenderblatt:</strong> Die KPÖ und der 12. Februar 1934, Winfried R. Garscha
<strong>Positionen:</strong> Angela Davis zum 80. Geburtstag, Volkmar Schöneburg; Lenin zum 100. Todestag, Joachim Hösler; Westafrikas Zukunft, Valentin Zill; Sicherungsverwahrung in Politik und Medien (Teil 2), Franziska Schneider; Realismus in der Bildenden Kunst, Peter Wilke; Ukraine-Krieg – »Wir haben einen schrecklichen politischen Fehler gemacht«, Jeffrey Sachs
<strong>Beilage:</strong> Krise des Zionismus, Chance für Palästina?; Prof. Ilan Pappé

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einwurf von Links

Mal eine ganz andere »Staatsräson«

Lothar Geisler

Ich habe mir auf meine alten Tage noch ein neues »PLO-Tuch« gekauft, – nicht das schwarz-weiße meiner Jugend, sondern das Modell »Rainbow«. Denn mit schwarz-weiß-Malerei ist kein komplexes Problem zu verstehen, und schon gar kein Krieg zu befrieden. Und der Regenbogen gilt halt als Symbol für Aufbruch, Veränderung und Frieden und als Zeichen der Toleranz und Akzeptanz, der Vielfalt von Lebensformen und der Hoffnung.

Ich grübele also in der Hoffnungstraße, auf was ich mich im Minenfeld der Meinungen und Emotionen nach dem 7. Oktober in diesem schon so langen, so asymmetrischen Kampf Israel vs. Palästina auf 3500 Zeichen konzentrieren soll. Da flattern mir zwei E-Mails der südafrikanische Menschenrechts-NGO »Africa4Palestine« auf den Rechner:

In der einen wird die Beendigung der Kampagne #BoycottWollworths verkündet. Grund: der CEO von Woolworths hatte in einem offiziellen Schreiben versichert: »Wir haben keine Produkte in unseren Regalen, die aus Israel importiert wurden«. Ein Erfolg. Denn für die südafrikanischen NGO-Aktivisten steht »der Verzicht auf Produkte aus Israel im Einklang mit den Grundsätzen des ethischen Verbraucherschutzes.« Ein Unternehmen zeige so »sein Engagement als sozial verantwortlicher Unternehmensbürger.« (Das sollte mal jemand beim Parteitag der ansonsten achso Sanktionsfreudigen deutschen Grünen sagen!)

In der anderen Mail wird die Abreise des israelischen Botschafters begrüßt, dessen Ausweisung im südafrikanischen Parlament beschlossen werden sollte. Vor dem Hintergrund der eigenen historischen Erfahrungen im Kampf gegen das Apartheidregime- ein nachvollziehbares Verständnis von Staatsräson und Solidarität. Die internationale Isolation des Apartheid-Regimes war ein wichtiger Schritt zu seiner Überwindung. Dies sei auch »ein entscheidender Schritt, um das Apartheidregime Israel für seine Verstöße gegen das Völkerrecht zur Rechenschaft zu ziehen.« Und weiter heißt es: »Ähnlich wie in Südafrika müssen die Ursachen des Konflikts angegangen werden, um Frieden für alle, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben (Juden, Muslime, Christen und alle anderen), zu erreichen, einschließlich des Abbaus des israelischen Apartheidregimes, der Beendigung der rechtswidrigen israelischen Besetzung und der Beendigung der Verstöße gegen das Völkerrecht. Dies ist der einzige Weg zu einer nachhaltigen und gerechten Lösung – für alle

Diese Positionierung, die jenseits des deutschen Tellerrands vor allem im globalen Süden häufiger ist, spricht mir aus dem Herzen. Mein PLO-Tuch ist zwar heute bunter, mein Blick differenzierter, aber meine hart erarbeitete internationalistische Grundhaltung bleibt unverändert. Da bin ich ganz »k. u.k« (konservativ und kommunistisch)1.

Die deutsche »Staatsräson« ist so gar nicht meine. Bedingungslose Unterstützung des israelischen Staatsterrors mit Waffen, Waffen, Waffen und einem pauschalen »Demokratie«-Zertifikat sind keine »roadmap to peace«. Israels »iron dome« bietet so wenig Schutz vor Raketen, wie der Vorwurf des »israelbezogenen Antisemitismus« vor Kritik seiner Politik. Eine »roadmap to peace« muss die Sicherheit aller garantieren, denn die Menschenrechte gelten nicht nur für »Auserwählte«. Und aus dem »Nie wieder!« der Überlebenden des deutschen Faschismus ließe sich eine ganz andere »Staatsräson« ableiten, – eine friedenstüchtige nämlich.

1 Meine österreichische Lieblingskabarettistin Lisa Eckhart aus der Steiermark bezeichnete sich selbst mal so. Sorry für die kulturelle Aneignung.

In gemeinsamer Sache

Veränderung 1

Nun ist es soweit. Die Marxistischen Blätter erscheinen ab Januar 2024 nur noch alle drei Monate, jeweils zu Beginn des Quartals, ein Schritt, den wir 2019 schon einmal erwogen hatten. Nun ließ er sich nicht mehr vermeiden. Damit zogen Gesellschafter und Herausgeber die »Notbremse«. Aus Gründen: Die Abo-Entwicklung hält nicht Schritt mit den Preissteigerungen bei Druck und Vertrieb. Der Konkurrenzkampf um Spenden und Zuverdienst durch Buchversand ist härter geworden. Größere politische Herausforderungen müssen nicht nur mit wenigen bewältigt werden, sondern erfordern auch mehr Raum und Zeit für inhaltlich klärende Debatten. Denn eins wollen wir an der Schwelle zu unserem nächsten Jahrzehnt auf keinen Fall verändern: die erforderliche Qualität und das Grundkonzept unserer Zeitschrift – auch wenn es im Lay-out und einzelnen Rubriken des Jubiläums-Jahrgangs 2024 kleinere Veränderungen geben wird.

Veränderung 2

»Mit der Umstellung der Erscheinungsweise der Marxistischen Blätter ergibt sich die Notwendigkeit der Reorganisation des Herausgeberkreises, d. h. konkret seines weiteren personellen Umbaus zu einem wirklichen Arbeitsgremium.« Darum wurden auf Vorschlag der NIV-Gesellschafter drei neue Mitglieder zur Verstärkung des Herausgeberkreises aufgenommen. Daneben wurden Mitherausgeber, die über lange Zeit nicht an der konkreten Arbeit teilgenommen haben oder teilnehmen konnten, gestrichen. Die Neuen sind:

  • Ditte Gerns, Historikerin und gewerkschaftliche Friedensaktivistin aus Hamburg, parteilos, arbeitet schon über ein Jahr in unserer internen Osteuropa-/Russland-AG mit
  • Artur Pech, Diplomgesellschaftswissenschaftler, Kreistagsabgeordneter, Mitglied im Ältestenrat der Partei Die Linke aus Schöneiche und Mitinitiator des Karl-Liebknecht-Kreises in Brandenburg.
  • Norbert Heckl, Stellvertretender ver.di-Vorsitzender im OV Stuttgart, Friedensaktivist und DKP-Mitglied

Darüber hinaus konnten wir Bernd Gerwanski, Journalist im Ruhestand, gewinnen, uns beim Redigieren und Korrigieren von Artikelmanuskripten zu unterstützen Wir freuen uns über die zukünftige Zusammenarbeit mit ihnen. LoG

Erfolgreiche Friedensdemo »under fire«

Peter Wahl

Die Demonstration und Kundgebung am 25.11.2023 in Berlin unter dem Motto Nein zu Kriegen – Rüstungswahnsinn stoppen – Zukunft friedlich und gerecht gestalten war mit über 20.000 Teilnehmern ein großer Erfolg.

Als jemand der einige Großdemos in Leitungsfunktionen auf dem Buckel hat, weiß ich wovon ich rede, wenn ich die Zahlen der Polizei als reinen Polit-Fake bezeichne. In der Demoleitung gab es sogar Gemurre, weil wir nicht auf das übliche Ritual eingestiegen sind, deutlich höhere Angaben zu machen. Wir haben uns aber bewusst entschlossen, bei der realistischen Zahl zu bleiben.

Der Erfolg der Mobilisierung ist umso bemerkenswerter, als Friedensbewegung in diesen Zeiten nicht gerade unter günstigen Bedingungen agieren muss. Denn:

  1. Mit dem Ukraine-Krieg versuchen der herrschenden Block und seine ideologischen Apparate eine Renaissance von deutschem Militarismus und deutschem Großmachtstatus – beschönigend als »Zeitenwende« bezeichnet – durchzusetzen. Sie wollen den deutschen Imperialismus 3.0. Auch wenn das … nicht so recht funktioniert … muss Friedenspolitik gegen unglaublichen propagandistischen Gegenwind ankämpfen.
  2. Das geschieht in einer Situation, in der vor allem für jüngere Generationen das Thema Krieg – und sei sie auch nur durch die Eltern vermittelt – keine Rolle spielt. Verständlicherweise. Auch Kenntnisse über internationale Konflikte und Krieg, die von der Anti-Raketenbewegung der 1980er Jahre in die Öffentlichkeit getragen wurden, sind nicht mehr vorhanden. Wer unter 50 weiß, was atomarer Winter, was strategisches Gleichgewicht, Eskalationsdominanz oder Enthauptungsschlag bedeuten? Wer ist mit den Methoden von Feindbildproduktion vertraut, wie sie die im Kalten Krieg Sozialisierten erlebten? Sehr treffend daher der Vorschlag von Wagenknecht an The last Generation: »Klebt euch doch mal vor der Airbase Ramstein auf die Straße!« Klima und Frieden gehören schließlich zusammen.
  3. Die Entscheidung für den 25.11. und der Aufruf dazu kamen vor dem Ausbruch des neuen Nahostkriegs. Innenpolitisch hat dieser Krieg den Konformitätsdruck in Richtung Einheitsmeinung noch einmal um eine Größenordnung nach oben gedreht. Im Vergleich zur Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs erscheint das Etikett Putinversteher inzwischen fast schon wieder harmlos. Der neue Krieg hat zusätzliche Spaltungslinien in der gesellschaftlichen Linken hervorgerufen. Derz. wird auch Fridays for Future mit einem haltlosen Antisemitismusvorwurf gegen Greta Thunberg fertig gemacht. Der (Un)Geist von Rache und Vergeltung, Emotion und Affekt, fernab jeglicher rationaler Analyse und die skrupellose Negation von UNO und Völkerrecht bis in einige Milieus der Linken hinein machen sich in einem Maße breit, dass es einem gruselig werden kann. Wie war das nochmal mit der dünnen Decke der Zivilisiertheit, auf der wir uns bewegen?
  4. Die vorgenannten Faktoren hinterlassen natürlich auch ihre Spuren in einigen Teilen der Friedensbewegung. Sie äußern sich in z. T. heftigen Polemiken, an deren Spitze meist die Unterstellung von ›Rechtsoffenheit‹ steht. Hier dürfte aber der 25.11. endgültig für Klarheit gesorgt haben. Außer der Tür zum Toilettenwagen war hier nichts nach rechts offen …

Noch in einem anderen Punkt hat der 25.11. für Klarheit gesorgt. Jene in der Friedensbewegung, die geglaubt hatten, mit der Befürwortung von Waffenlieferungen an Kiew und eines ukrainischen Siegs auf dem Schlachtfeld Menschen für Friedenspolitik gewinnen zu können, dürften jetzt gemerkt haben, dass man sich schon deutlicher von Baerbock und NATO abheben muss, um Gehör zu finden …

Neben dem zahlenmäßigen Erfolg ist auch die politische Zusammensetzung der Demo interessant. Es dominierten die blauen Fahnen mit Friedenstauben und die Pace-Regenbogenfahnen, wie sie in lokalen Initiativen verbreitet sind. Das verweist auf eine Verankerung an der Basis. Außerdem gäbe es viel Fahnen und Transparente von ver.di, GEW und traditioneller Friedensorganisationen wie DfG/VK, VVN, DKP u. ä. Vereinzelt waren auch ein paar Jusos dabei. Da anders als noch bei der Anti-Raketenbewegung der 1980er Jahre heute keine gut geölten Organisationsapparate zur Verfügung stehen und auch der Initiatorenkreis nur ein Zusammenschluss von Einzelpersonen ist, kann die Bedeutung der lokalen Basis gar nicht hoch genug geschätzt werden.

Der Erfolg des 25.11. ist natürlich kein Grund, übermütig zu werden. Noch sind Einfluss und politische Breite der Bewegung zu gering. Und das in einer historischen Situation, die ebenso gefährlich wie komplex ist. Eine der Problemlage angemessenen Strategie stellt enorme Anforderungen, auf die es auch neue Antworten zu entwickeln gilt.

Zwischenstationen zur Kriegstüchtigkeit

Die erste »Nationale Sicherheitsstrategie« der Bundesrepublik und die »China-Strategie« aus der Rückschau weniger Monate

Arnold Schölzel

Am 14. Juni 2023 legte die Bundesregierung auf 76 Seiten die erste »Nationale Sicherheitsstrategie« in der Geschichte der Bundesrepublik vor. Einen Monat später, am 13. Juli 2023, folgte die erste »China-Strategie« auf 64 Seiten. Um beides hatte es in der Koalition langes Gerangel gegeben, insbesondere beim China-Papier beharkten sich Auswärtiges und Bundeskanzleramt sogar öffentlich. Der Inhalt ist entsprechend zäh, die Formulierungen sind phrasenhaft.

Wozu es dieser beiden Papier bedurfte, erschließt sich einige Monate nach der Veröffentlichung kaum noch. Die Ursachen sind das Kriegsengagement der Bundesregierung nun auch für Israel und die massive Schwächung der deutschen Industrie und des Handels mit China. In den Medien werden beide Dokumente ohnehin nicht mehr erwähnt.

Oppositionschef Friedrich Merz nannte die Nationale Sicherheitsstrategie im Juni richtigerweise »blutleer« und »irrelevant«. Zugleich bemängelte er, dass die Regierung auf die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates nach US-Vorbild verzichtete. Das Papier tauge nur für die Archive. Das Verteidigungsministerium unter Boris Pistorius (SPD) freute sich dagegen: »Die erste Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands steht im Zeichen der integrierten Sicherheit.«

Der Begriff »integrierte Sicherheit« taucht bereits im Titel des Dokuments auf und wird dort durch drei hohle Vokabeln des Politjargons ergänzt: »Wehrhaft, Resilient, Nachhaltig«. Nach ihnen ist es gegliedert. Bereits im November 2023 wurde aber aus dem »Wehrhaft« der Sicherheitsstrategie in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, die Pistorius am 9. November 2023 (35 S.) auf einer Tagung des Bundeswehrverbandes vorstellte, »Kriegstüchtigkeit«. Die wurde immerhin definiert: »Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime« bedeutet demnach: »Soldatinnen und Soldaten, die den Willen haben, unter bewusster Inkaufnahme der Gefahr für Leib und Leben das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.« Sowie: »Verantwortungsvolle Wehrverwaltung, für die die Unterstützung der Streitkräfte für das hoch-intensive Gefecht handlungsleitende Maxime ist.« Das Programm lautet demnach: Moralische und technische Aufrüstung der Bundeswehr in neuer Dimension.

In der »Nationalen Sicherheitsstrategie« finden sich kaum klare Bestimmungen, praktische Konsequenzen werden nur angedeutet – bis auf eine: Die Verteidigungsausgaben sollen ab 2024 »im mehrjährigen Durchschnitt« auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO-Staaten erhöht werden. Finanzminister Christian Lindner (FDP) kündigte am 14. Juni an, er wolle das »Sondervermögen Bundeswehr« in Höhe von 100 Milliarden Euro dafür ausgeben. Und ergänzte: Gegen Ende des Jahrzehnts müsse das aus dem normalen Haushalt kommen. Lindner bot dazu die Gürtel-enger-Schnallen-Formel an: »Wir müssen aus der Zeit der Friedensdividende in die Freiheits- und Friedensinvestitionen kommen.« Denn: »Wünschenswerte Vorhaben werden zurückgestellt werden müssen.«

Zu den Freiheits- und Friedensinvestitionen gehört laut dem Papier, die Abhängigkeit bei Rohstoffen und Lieferketten zu verringern und auf »freie Handelswege« zu achten. Klar wird damit: »Integrierte Sicherheit« bedeutet weitere Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens. In der »Nationalen Sicherheitsstrategie« heißt es, die Handlungsfähigkeit Deutschlands nach außen hänge »zunehmend auch von seiner Resilienz im Inneren ab.« Laut Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), die bei der Ausarbeitung federführend war, werden zum Beispiel Katastrophenschutz »wie an der Ahr«, Entwicklungshilfe, Kampf gegen Klimawandel, Schutz der Infrastruktur, Wasserversorgung, Bildung und Cyberraum einbezogen, also alles. Die im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP 2021 noch erwähnte Koppelung der Steigerung von Verteidigungs- und Entwicklungsausgaben im Verhältnis eins zu eins wurde ebenso verabschiedet wie die damals noch proklamierte Zurückhaltung bei Rüstungsexporten. Die Bundesrepublik war bis zur Vorstellung der Sicherheitsstrategie in nicht ganz eineinhalb Jahren zum zweitgrößten Waffenlieferanten der Ukraine nach den USA aufgestiegen.

Zur gleichen Zeit, da Pistorius mit den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« die »integrierte Sicherheit« zur »Kriegstüchtigkeit« weiterentwickelte, nahm der Bundestag in einer Gedenkstunde aus Anlass des 85. Jahrestages des Nazipogroms den Krieg Israels in Gaza zum Anlass, moralische Aufrüstung in nicht gekannter Form zu betreiben. Kein Redner erwähnte die bis dahin fast 11.000 durch die israelische Armee getöteten Palästinenser. Nur Dietmar Bartsch (Die Linke) wies darauf hin, dass es in Halle oder Hanau Morde aus rechter antisemitischer Motivation heraus gegeben hatte. Von SPD bis AfD waren sich alle übrigen Fraktionen einig, dass die Bundesrepublik durch linken und »importierten« Antisemitismus bedroht werde. Besonders tat sich dabei Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) hervor. Die rhetorische Führung übernahm aber Beatrix von Storch (AfD) mit der Erkenntnis, dass Linke und Muslime gezielt gemeinsame Sache machen: »Ein neuer Judenhass konnte aus dem Nahen Osten in Europa einziehen, weil die linke Migrationslobby die Tore weit geöffnet hat.« Und: »Auf den Palästinenserdemos sehen wir dieser Tage Islamisten und Linke vereint. Diesen Antisemitismus, der real jüdisches Leben und die Existenz Israels bedroht und auslöschen will, finden wir nicht unter der arbeitenden deutschen Bevölkerung.« Und: »Diese politische Achse reicht von der Hamas bis zu Fridays for Future, von der Hisbollah bis zur Antifa und von der PFLP bis zur Black-Lives-Matter-Bewegung.« Die frühere FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg zog folgerichtig den Schluss: »Wir müssen auch wehrhafter werden. Gehört es nicht zur Wahrheit, dass uns die Wahrnehmung des Selbstverteidigungsrechts Israels auch deshalb irritiert, weil wir selbst zu wenig selbstverständlich wehrhaft sind?« Mehr AfD-Hegemonie im Bundestag war nie.

Im folgenden Tagesordnungspunkt ging es um eine Beschwerde der Fraktion CDU/CSU: Der Verteidigungsetat müsse sofort um zehn Milliarden Euro erhöht werden. Er steigt 2024 auf die neue Rekordhöhe von mehr als 71 Milliarden Euro. Die AfD unterstützte selbstverständlich die Union.

Die beiden Strategiepapiere waren nach Erscheinen fast vergessen, nach dem 7. Oktober 2023, an dem die Hamas und andere Organisationen Israel angegriffen hatten, spielten sie überhaupt keine Rolle mehr. Sie waren, so sieht es aus der Rückschau nach wenigen Monaten aus, Zwischenstationen auf dem Weg zu jener Kriegshysterie und -hetze, die von der etablierten Politik, den Konzern- und Staatsmedien sowie dem gesamten ideologischen Apparat entfacht wurde. Das Resultat der Aufwallungen war gewissermaßen der Begriff »Kriegstüchtigkeit«. Erstmals wird mit ihm das grundgesetzlich vorgegebene Gebot, Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen, ersetzt durch: Angriffskriege inbegriffen.

Insofern waren die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« – die ersten seit 2011 – ein Kipppunkt. Die Vorgeschichte bis dorthin begann faktisch mit dem Anschluss der DDR 1990. So war zum Beispiel bereits in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« 1992 erstmals ein Satz zu lesen, der davor sowie vor dem Zerfall der Sowjetunion in einem offiziellen Dokument der Bundesregierung ausgeschlossen war: Zu den deutschen Sicherheitsinteressen gehörte nach der »Einheit« die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung«. Was damals wegen der klassisch imperialistischen Drohung allerhand Staub aufwirbelte, wurde gut 20 Jahre später schon freimütiger formuliert. 2013 verabschiedete zum Beispiel ein Gremium aus Parlamentariern, Journalisten und Sicherheitsexperten ein außenpolitisches Strategiepapier mit dem Titel: »Neue Macht. Neue Verantwortung«. Darin hieß es, die Bundesrepublik gebe sich noch als »eine Gestaltungsmacht im Wartestand«. Dies müsse sich nun ändern: »Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen.« Russland und China seien keine »Partner«, auch keine »Störer« (wie zum Beispiel Kuba oder Venezuela), aber »Herausforderer«, also Feinde.

Von dort bis zum Heraustreten aus dem Wartestand und zur konkreten Drohung vergingen nur wenige Jahre. So erwog etwa die damalige Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am 21. Oktober 2021 in einem »Deutschlandfunk«-Interview den Einsatz von Atomwaffen gegen Russland – fünf Monate, bevor Scholz die »Zeitenwende« scheinbar als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine ausrief.

Ein weiteres Beispiel auf dem Weg zur »Kriegstüchtigkeit«: Im Oktober 2022 beschrieb die Berliner »Bundesakademie für Sicherheitspolitik« (BAKS) mit ihrem »Arbeitspapier 9/22« unter dem Titel »Mindset LV/BV: Das geistige Rüstzeug für die Bundeswehr in der Landes- und Bündnisverteidigung«, was nach der »Zeitenwende« fällig sei. Die Autoren forderten ein »Umdenken« in den deutschen Streitkräften, weil »für die Armee Kriegstauglichkeit seit der Wiedervereinigung nicht mehr im Mittelpunkt« gestanden habe. Jetzt gehe es aber um: »kämpfen, töten und sterben« sowie das »Durchstehen außerordentlicher Entbehrungen«. Das kam der »Kriegstüchtigkeit« schon recht nahe. Die »Nationale Sicherheitsstrategie« fasste diese Entwicklung noch einmal zusammen, verblasst aber völlig vor Sprache und Inhalt der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, die Pistorius fünf Monate danach vorlegte.

Mit ihnen und der ihre Veröffentlichung begleitenden Hetze gegen Russland, China, Palästina und den Iran wird der Versuch unternommen, die Bevölkerung zum Ruf nach Gewalt aufzustacheln. Es geht nicht mehr nur um Ruhe an der Heimatfront, es geht um deren Mobilisierung. So gefährlich dies ist, so blamabel erscheint vor diesem Hintergrund die »China-Strategie«. Selten wurde derartiger Murks formuliert, selten dürfte der wirtschaftliche Schaden fürs deutsche Kapital so rasch eingetreten sein. Das Resultat ist ein entschiedenes Wanken zwischen »Entkopplung« und Kooperation: Das deutsche Kapital soll zusätzlich neue Märkte anderswo in der Welt erschließen, »Derisking« genannt oder mundartlich: »Nicht alle Eier in einen Korb legen.« Hier heißt es: »An der wirtschaftlichen Verflechtung mit China wollen wir festhalten.« Die BRD wolle jedoch die »Abhängigkeiten in kritischen Bereichen« verringern, um »von ihnen ausgehende Risiken zu mindern.« Diese sieht das Papier beispielsweise »bei Medizintechnik und Arzneimitteln« sowie bei »seltenen Erden und Vorprodukten, die wir für die Energiewende benötigen.« Es geht demnach um die »Betrachtung wirtschaftlicher Entscheidungen auch unter geopolitischen Aspekten und die Steigerung unserer Resilienz.«

Das ist nicht leicht zu machen, wenn der gesamte deutsche Außenhandel 2022 einen Umfang von 1,5 Billionen Euro hatte und 20 Prozent davon auf den mit der VR China entfiel, wenn mehr als 90 Prozent der seltenen Metalle und zwei Drittel aller Mobiltelefone in der Bundesrepublik von dort bezogen werden. Es erklärt aber die pflaumweiche Diktion. Wenige Tage vor der Veröffentlichung hatte Scholz noch der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Vilnius seinen Segen gegeben. Darin wurde die standardmäßige EU- und NATO-Formel, China sei »Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale«, durch die Wortschöpfung, die Volksrepublik betreibe eine »Politik des Zwangs« verschärft. Zwang übt demnach nach Auffassung des Kriegspaktes allein China aus.

Wenige Monate später schien sich niemand mehr an die »China-Strategie« oder die »Nationale Sicherheitsstrategie« zu erinnern. Stattdessen scheinen sich auf Grund der deutschen China-Politik Panik und Galgenhumor im deutschen Außenhandel auszubreiten. So zitierte die FAS am 12. November 2023 BASF-Chef Martin Brudermüller, der in China gerade zehn Milliarden Euro in ein Chemiewerk in der Größenordnung des Stammsitzes in Ludwigshafen investiert, in Bezug auf die Windkraftindustrie: »Die Chinesen sind technisch besser als wir, und sie sind auch kostengünstiger als wir.« Brudermüller weiter: »Es gibt ja eine politische Diskussion, dass mit der Windkraft jetzt nicht die nächste Technologie weggeht. Ich würde tendenziell sagen: Die ist schon weg.« Das liege nicht an Preisdumping oder Subventionen, sondern: »Die sind einfach gut geworden mit ihren Produkten.« Forderungen nach Protektionismus gegen Produkte aus China, kommentierte der Konzernchef mit den Worten: »Für eine Exportnation wie Deutschland ist das gefährlich, sehr gefährlich.« Die EU dürfe jetzt nicht gegen Chinas Windräder »den Lattenzaun hochziehen«.

Das Thema war der »Frankfurter Allgemeinen« so wichtig, dass sie am 17. November 2023 nachlegte und Alarm schlug. Anlass waren düstere Aussichten für den deutschen Maschinenbau, der eine Exportquote von 80 Prozent hat und eine Million Menschen beschäftigt. Laut FAZ hat das mit der Qualität chinesischer Produkte zu tun: »Chinesische Maschinen seien viel besser als früher, heißt es jetzt unverblümt, das setze deutsche Mitbewerber unter Handlungsdruck.« Weder Indien noch Südostasien insgesamt hätten sich zu jenen Alternativen entwickelt, zu denen sie regelmäßig erklärt wurden. China sei – trotz konjunktureller Schwäche – zu dominant. Und weiter: »Das Ganze wird mit einem Wort zusammengefasst, das auch in der Politik gerade sehr beliebt ist: Die Branche erlebe eine Zeitenwende im China-Geschäft.« Inzwischen wackelten sogar »Stützpfeiler, die bisher jede Erschütterung unbeschadet überstanden haben.« Das scheint zu bedeuten: China ist dabei, sich von Importen aus einer besonders wichtigen deutschen Industriesparte zu lösen. Das war vermutlich nicht die Intention der »China-Strategie«. Aber es bleibt ja noch die Kriegstüchtigkeit.

Habeck und die Doppelmoral

Leo Mayer

Volle sieben Minuten brauchte der deutsche Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen, um in seiner mit englischen, arabischen und hebräischen Untertiteln versehenen Videobotschaft das Leid der Millionen von Zivilisten in Gaza zu erwähnen. Und das, nachdem die israelische Armee seit vier Wochen mit ihren Flächenbombardements mehr als 10.000 Menschen, darunter mindestens 4.100 Kinder, ermordet und eine ethnische Säuberung des Gaza von Palästinenser:innen in Gang gesetzt hat.

Der Gazastreifen ist zu einem »Friedhof für Kinder« geworden, sagen übereinstimmend UNO-Generalsekretär António Guterres sowie der Generalkommissar der UNRWA, Philippe Lazzarini, und UNICEF-Sprecher James Elder. »Es ist kein Krieg, sondern ein Völkermord, dem fast zweitausend Kinder zum Opfer gefallen sind, die nichts mit diesem Krieg zu tun haben«, klagte Brasiliens Präsident Lula schon vor Wochen. »Die vollständige Belagerung des Gazastreifens in Verbindung mit undurchführbaren Evakuierungsbefehlen und erzwungenen Bevölkerungstransfers stellt eine Verletzung des humanitären Völkerrechts und des Strafrechts dar. Sie ist außerdem unsagbar grausam«, stellten der UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen, Pedro Arrojo Agudo, und die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, in einer gemeinsamen Erklärung fest. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, wirft sowohl der Hamas – die »Gräueltaten am 7. Oktober waren Kriegsverbrechen ebenso wie die anhaltende Geiselnahme« – wie auch Israel Kriegsverbrechen vor. »Die kollektive Bestrafung palästinensischer Zivilisten durch Israel stellt ebenfalls ein Kriegsverbrechen dar, ebenso wie die unrechtmäßige Zwangsevakuierung von Zivilisten.« Es dürfe bei der Beschreibung der Situation keine doppelten Standards geben, sagte Türk.

Doppelte Standards zeichnen aber die Rede von Habeck wie auch die Politik der Bundesregierung und die »Leitmedien« aus.

»Straßen übersät mit Leichen und notdürftig verscharrte Körper. Es ist von Frauen, Kindern und Alten die Rede, die unter den Opfern sind. Die Ermordung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen. Die Täter und ihre Auftraggeber müssen zur Rechenschaft gezogen werden«, sagte Bundeskanzler Scholz (SPD) über den russischen Krieg gegen die Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt (3. April 2022) wurden 1.417 getötete Zivilist:innen, darunter 201 Frauen und 62 Kinder als Opfer des russischen Angriffs gezählt.

Zu Gaza sagt Bundeskanzler Scholz: »Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten. Und deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Daran habe ich keinen Zweifel.« Zu diesem Zeitpunkt (26. Oktober 2023) waren bereits 7.028 Zivilist:innen, darunter 2.913 Kinder und 1.709 Frauen, Opfer der israelischen Bombardierungen geworden.

Der israelische Kriegsminister bezeichnete die Palästinenser:innen als »menschliche Tiere« und verkündete »wir handeln entsprechend«. Er ordnete die totale Blockade und das Aushungern des Gazastreifens an. Die Infrastruktur – Krankenhäuser, Schulen, Bäckereien, Energie- und Wasserversorgung – wird seitdem systematisch zerstört. Die UN-Organisationen WHO, UNRWA, UNFPA und UNICEF fordern in einer alarmierenden gemeinsamen Erklärung, die in deutschen Medien kaum Beachtung findet, eine sofortige Waffenruhe und betonen die Verpflichtungen der Konfliktparteien gemäß humanitärem Völkerrecht. Sie fordern besonderen Schutz für Kinder und betonen das Recht aller Zivilist:innen, einschließlich der Geiseln, auf medizinische Versorgung.

Alles kein Thema bei Habeck. Dazu passt, dass sich Deutschland in der UNO gegen die von einer überwältigenden Mehrheit erhoben Forderung nach einer »humanitären Waffenruhe« stellte. Erst jetzt, wo deutlich wird, dass sich außerhalb Israels und der westlichen Kernstaaten USA und Deutschland kaum jemand auf die Erzählung Netanjahus vom »Kampf zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Dunkelheit« und der »Verwirklichung der Prophezeiung Jesajas« einlassen will, wo massive Mobilisierung im Globalen Süden, aber auch in den westlichen Hauptstädten, sowie die scharfen Äußerungen von Staatsoberhäupter wie Lula oder Gustavo Pedro, aber auch von Regierungsmitgliedern in Irland, Belgien oder Spanien, die Aussetzung der diplomatischen Beziehungen einer wachsenden Zahl von Staaten Lateinamerikas zu Israel darauf hindeuten, dass sich hier ein veritabler Großkonflikt zwischen dem Westen und dem Globalen Süden andeutet, lenkt die US-Regierung und in ihrem Gefolge die Bundesregierung ein und fordern von Israel »humanitäre Feuerpausen«.

»Zusammen mit unseren amerikanischen Freunden machen wir Israel immer wieder deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung zentral ist. Der Tod und das Leid, das jetzt über die Menschen im Gazastreifen kommt, sind schlimm« – mehr fällt Habeck in seiner Rede dazu nicht ein. Allerdings nicht so schlimm, dass Habeck in einer neuen Video-Botschaft an die grüne Parteibasis nicht noch einen draufsetzen würde: »Im Grunde muss die Hamas zerstört werden, weil sie den Prozess des Friedens im Nahen Osten zerstört.«

Aber waren es nicht die Netanjahu-Regierungen, die den Friedensprozess und die Gründung eines Palästinenserstaates torpedierten – und die westlichen Staaten dabei untätig zusahen? Hat nicht Netanjahu während seiner Rede am 22. September 2023 bei der 78. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Landkarte gezeigt, die seine Version eines »New Middle East« darstellt? Dort existieren die palästinensischen Autonomiegebiete nicht mehr. Der Gazastreifen und das Westjordanland – insgesamt leben dort zusammengerechnet fast 5 Mio. Araber – sind beide im selben Blau gehalten wie das israelische Staatsgebiet. »From the river to the sea« auf israelische Art. Es ist nicht bekannt, dass Habeck, Baerbock oder ein anderes Mitglied der Bundesregierung protestiert hätte. Auch die Medien gingen kommentarlos darüber hinweg.

Habeck bietet die »Perspektive einer Zweistaatenlösung« als Lösung an, die aber »wollen die Hamas und ihre Unterstützer, insbesondere die iranische Regierung nicht«. Aber waren es nicht die Netanjahu-Regierungen und die israelische Armee, die die jüdischen Siedler ermuntern und unterstützen, illegale Siedlungen im Westjordanland zu errichten und die palästinensische Bevölkerung zu terrorisieren und zu vertreiben?

Der Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, verlangte jüngst sofortige Maßnahmen zum Schutz der Palästinenser:innen im Westjordanland. Diese seien »täglich Gewalt durch israelische Sicherheitskräfte und Siedler, Misshandlungen, Verhaftungen, Vertreibungen, Einschüchterungen und Demütigungen ausgesetzt«. »Man redet über eine Lösung, als ob sie existiere«, sagt der Redakteur der israelischen Zeitung Haaretz, Gideon Levy, in den Tagesthemen. »Wenn man 700.000 Juden im Westjordanland ansiedelt, dann ist damit die Zwei-Staatenlösung tot. Alles andere ist nur Gerede.«

»Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson« wiederholt Habeck die ständig vorgetragen Formel. Damit sie nicht zur »Leerformel« werde, erklärt Habeck, was er darunter verstehe. Dass »die Sicherheit Israels für uns als Staat notwendig ist«. In der Sendung von Markus Lanz ergänzte er, dass Staatsraison »natürlich« auch heiße, »dass Israel militärischen Beistand bekommt. Waffenlieferungen, die angefragt werden, werden erfüllt werden.« Waffen aus Deutschland an eine ultrarechte, rassistische Regierung für ihren völkermörderischen Krieg im Gaza? Kurz gefasst: Es ist uns egal, was Israel tut, wir unterstützen es, und alles andere ist antisemitisch.

So nebenbei schreibt er dazu auch den Vernichtungskrieg der Nazis um. »Der Zweite Weltkrieg war ein Vernichtungskrieg gegen Juden, für das Naziregime war die Vernichtung des europäischen Judentums das Hauptziel.« Das Hauptziel der Nazis formulierten diese mit dem »Unternehmen Barbarossa«: die Vernichtung des »Bolschewismus« und die Eroberung der Sowjetunion. Der gesamte europäische Teil der Sowjetunion sollte erobert, ihre politischen und militärischen Führungskräfte ermordet und große Teile der Zivilbevölkerung dezimiert und entrechtet werden. Mit dem Hungerplan, zu dem die totale Blockade Leningrads gehörte, wurde der Hungertod vieler Millionen von Kriegsgefangenen und Zivilisten einkalkuliert, und nach dem »Generalplan Ost« sollten großangelegte Vertreibungen folgen, um die eroberten Gebiete anschließend zu germanisieren.

Dies hat Habeck wahrscheinlich im Geschichtsunterricht sogar gelernt. Passt ihm aber nicht in die aktuelle politische Gemengelage. Da passt es besser, Putin vorzuwerfen, dass sich dieser »mit Vertretern der Hamas und der iranischen Regierung fotografieren« lässt. Dabei hatte er selbst keine Skrupel, sich bei seiner tiefen Verbeugung vor dem Emir von Katar fotografieren zu lassen. Bekanntlich gewährt Katar Hamas-Kadern Unterschlupf. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte keine Skrupel, sich bei seinem Antrittsbesuch in Ankara mit Erdoğan fotografieren zu lassen. Dabei ist Erdoğan ein ausgewiesener Förderer der Muslimbrüder und der Hamas. Ganz abgesehen davon, dass er für seinen völkerrechtswidrigen Krieg in Nord- und Ostsyrien auf die dschihadistischen Hilfstruppen einschließlich des IS setzt.

Wenn der Satz »Die Sicherheit Israels ist unsere Verpflichtung« wirklich ernst gemeint wäre, dann müssten Habeck und die Bundesregierung dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seiner ultrarechten, rassistischen Regierung mit aller Kraft in den Arm fallen und mit aller Macht auf einen sofortigen Waffenstillstand, einem Ende der Belagerung des Gazastreifens, einem Ende der Siedlergewalt und der illegalen Besiedelung des Westjordanlandes und einem Ende der Apartheid in Israel drängen.

Denn eines ist sicher, die jüdischen Israelis werden niemals sicher sein, wenn die Palästinenser nicht sicher sind, und umgekehrt.

Oder wie der Präsident Kolumbiens, Gustavo Pedro, sagte: »Israelische Kinder können nur dann ruhig schlafen, wenn auch palästinensische Kinder ruhig schlafen können. Und palästinensische Kinder können nur dann ruhig schlafen, wenn auch israelische Kinder ruhig schlafen können. Mit Krieg ist das nicht zu erreichen, sondern nur mit einem Friedensabkommen, das die internationale Legalität und das Recht der beiden Völker auf eine Existenz in Freiheit respektiert.«

Aus: www.kommunisten.de

Die Ampel-Koalition ist eine besonders gefährliche Regierung

Bernhard Trautvetter

Sahra Wagenknechts Aussage, der zufolge die Ampel-Regierung die schlechteste Regierung der Bundesrepublik Deutschland sei, bedarf angesichts fataler Entscheidungen früherer Bundesregierungen etwa zur Wiederbewaffnung und zugunsten der West- und Nato-Bindung der BRD in den 1950er Jahren einer Überprüfung. Immerhin verhinderten Friedenskräfte eine vom damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß vorgesehene atomare Aufrüstung der Bundeswehr.

1968 beschloss der Bundestag die Notstandsgesetze, die sogar den Einsatz der Bundeswehr im Inneren vorsehen. Die große Koalition unter Kanzler Kiesinger, den Beate Klarsfeld wegen seiner NS-Vergangenheit ohrfeigte, ging dabei über einen breiten Widerstand hinweg.

Die 1970er Jahre waren stark durch den Vietnamkrieg der USA geprägt, über den die Nato und die Bundesregierung weitgehend schwiegen.

Durch Willy Brandts Ostpolitik kam es dann zu einer positiven Entwicklung durch die Entspannungspolitik. Doch bald schon setzte Kanzler Schmidt die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen durch, die 1986 nach dem INF-Vertrag wieder aus der BRD abgezogen wurden.

Wenige Jahre später, in den 1990ern warnte die DDR-Oppositionelle Bärbel Bohley1, die Integration der DDR ins Staatssystem der BRD stärke einen autoritären Staat.

Anfang der 2000er-Jahre destabilisierte das Hartz-IV-Gesetz von Rot-Grün die Lebensverhältnisse vieler Menschen. Schon ihre Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien hatte die Aussicht auf eine Friedensordnung in gemeinsamer Sicherheit zerstört. Die Nato-Ost-Expansion hat die Spannungen verschärft.

Die derzeitige Ampel-Regierung ist insofern eine besonders schlechte Regierung, als sie das vielleicht noch offene Zeitfenster zur Abwendung von fatalen Kipp-Punkten ungenutzt verstreichen lässt.

Zu den ökologischen Gefahren eines Kipp-Punktes, ab dem es keinen Weg mehr zurück zu einer bewältigbaren Krise gibt, schreibt das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung in einem aktuell veröffentlichten Forschungsbericht: »Bereits das Überschreiten einzelner Kipppunkte hat weitreichende Umweltauswirkungen, welche die Lebensgrundlage vieler Menschen gefährden. Es besteht … das Risiko, dass durch Rückkopplungsprozesse weitere Kipppunkte … überschritten werden und so eine … Kettenreaktion ausgelöst wird.«

Solange die Gefahren für unser Klima im Raum stehen, hat jede Regierung Risikominimierung zu betreiben. Der Weltklimarat erwartet eine existenzielle Katastrophe, wenn das Restbudget von ca. 250 Gigatonnen CO2-Emissionen in die Atmosphäre2 aufgebraucht ist: Nach ihrer Schätzung bleiben »nur noch rund sechs Jahre, in denen so wie heuer CO2 emittiert werden kann.«

In der Situation setzt Finanzminister Lindner auf die Verlängerung der Nutzung fossiler Energieträger: Er »zweifelt an, dass bei einem vorgezogenen Kohleausstieg im Jahr 2030 die Versorgungssicherheit gewährleistet wäre … Zudem will er die deutsche Gasförderung intensivieren.« Er kündigt damit unausgesprochen die auf der Pariser Klimakonferenz eingegangene Verpflichtung, die Erderwärmung möglichst auf 1,50 °C zu begrenzen.

Die Verletzung der Klimaziele von 2016 in Paris wird durch die von der Scholz-Regierung betriebene Hochrüstung verschärft. Die klimaschädliche Vorgabe der Nato, mindestens 2 % der gesamtwirtschaftlichen Leistung der Staaten für den Militärsektor vorzusehen, setzt die Bundesregierung um.

Und das obwohl das Militär jetzt schon der größte institutionelle Einzelemittent von Treibhausgasen ist.3 Die Staaten der Welt geben aktuell circa sechsmal mehr für ihr Militär als für Klimaschutz aus. Hauptverantwortlich dafür ist die Nato, die mehr als die Hälfte aller Militärausgaben weltweit verantwortet. Für die Bundeswehr ist Klimaschutz nachrangig: »Klimaschutz ist wichtig, aber Einsatzbereitschaft der Bundeswehr hat Vorrang.« (ebenda) Passend zu diesem Etikettenschwindel hat das Außenministerium seine Sicherheitsstrategie4 veröffentlicht, die dem Militär einen Vorrang einräumt: »Wehrhaft, Resilient, Nachhaltig«. Diese folgt einer orwellschen Sprachumkehr (War is Peace); sie ist doppelt gefährlich, da sie die Botschaft verbreitet, dass die Zerstörung der Lebensgrundlagen und das Risiko einer finalen Katastrophe der Menschheit irgendetwas mit Nachhaltigkeit zu tun habe. Diese Sprachverwirrung lähmt selbst Gegenkräfte nachhaltig, wenn die Friedens-, Menschenrechts- und Klima-Bewegungen nicht zusammenfinden.

Dies ist besonders dramatisch, seit das Mitteilungsblatt kritischer Nuklearwissenschaftler erklärt, dass die Welt mit symbolischen 90 Sekunden vor ihrer finalen Katastrophe, also in der gefährlichsten Lage seit Hiroshima steht.

Als Gründe für diese Alarmstufe5 sind laut den Nuklearwissenschaftler/innen vor allem drei Punkte: 1. Die Atom- /Hochrüstung, 2. die internationalen Spannungen und 3. die Risiken, aufgrund der alle Weltregionen erfassenden ökologischen Katastrophen. Dieser Mix aus sich gegenseitig verstärkenden Zukunftsgefährdungen kann auf Seiten von Krisenmanager/innen zu Kurzschlussreaktionen führen oder auch zu Katastrophen infolge technischer Fehler in Überwachungs-Systemen, der militärischen Radar-Aufklärung oder bei Meldungen über Cyber-Angriffe aus dem Netz.6

Die Gefährlichkeit der Ampel-Regierung steigert ganz aktuell »Verteidigungs«minister Pistorius, indem er die Bundeswehr zur »kriegstauglichen Armee« umbauen will. Kriegsvorbereitung in einem Europa mit circa 140 Atomreaktoren erfährt aus der Koalition vor allem Unterstützung aus der FDP und keine Ablehnung. Sie alle gehen ein Risiko ein, das niemand das Recht hat, jemals einzugehen.

Pistorius’ Kriegskurs ist eine Konsequenz aus der Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz, die eine Abkehr von jeglicher Friedenspolitik bedeutete.

Zitat aus Olaf Scholz’ Rede: »Wir werden deutlich mehr investieren müssen in die Sicherheit … Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr …«

Die Verpflichtung zu einer auf Diplomatie gerichteten Außenpolitik aus dem 2+4-Vertrag bricht Deutschland lange schon. Ihre Umsetzung hätte den Ukraine-Krieg verhindern können, sie hätte für Deutschland sozialere, ökologischere und gesündere Umstände gebracht und die Gefahr eines großen Krieges minimiert.

In den 1980er Jahren hatten die großen Demonstrationen das Motto »Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen!« Das ist aktueller denn je, es ist zum Überlebenserfordernis für die Menschheit in unserer Zeit geworden.

Neutralität ist
wichtiger denn je

Josef Meszlenyi, KPÖ

Führende Kommentator:innen und Politiker:innen wollen die österreichische Neutralität beseitigen. Dabei ist die Neutralität in der heutigen Welt wichtiger denn je. Die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) ist sich darüber mit der überwältigenden Mehrheit der Österreicher:innen einig. In einer Welt, in der sich neue Blöcke bilden, Eliten um Macht und Einfluss kämpfen und nicht davor zurückschrecken, diese militärisch zu erkämpfen, ist die Neutralität ein unverzichtbares Gut und kein Konzept aus der Vergangenheit.

Es war die KPÖ, die als erste Partei nach dem Zweiten Weltkrieg die Neutralität gefordert hat. Ab dem Frühling 1950 hat die KPÖ immer wieder Anträge für die Neutralität im Parlament eingebracht, sie wurden noch von den anderen Parteien abgelehnt. Die KPÖ setzte der Westorientierung von SPÖ und ÖVP militärische Allianzfreiheit, wirtschaftliche Beziehungen mit allen Ländern und Freundschaft mit allen Völkern entgegen. Dafür wurde ihr besonders von der SPÖ Hochverrat vorgeworfen. Erst nach und nach setzte sich die Linie der Neutralität auch in den beiden Großparteien durch, unter anderem deswegen, weil für die sowjetische Führung ein in die NATO integriertes Österreich nicht in Frage kam und sie darin auch die Gefahr eines neuerlichen Anschlusses sah.

Als Österreich seine Bereitschaft zur Neutralität erklärte, wurde der Weg frei zum Staatsvertrag und zur Wiedererlangung der Souveränität, zu der die KPÖ damit noch einmal einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Am 26. Oktober 1955 hat der Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ und KPÖ die Neutralität beschlossen. Der FPÖ-Vorgänger VdU war dagegen.

In den Jahren darauf hat sich das heute bekannte Bild von der österreichischen Neutralität gefestigt. Dieses Bild ist mit der Person von Bruno Kreisky verbunden, der 1958 für die SPÖ Außenminister wurde. Österreich war nach 1955 eindeutig nach Westen orientiert und ein kapitalistisches Land, wirtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen wurden aber mit Ost und West gepflegt. Kreisky war auch der erste westliche Regierungschef, der die DDR besuchte.

Für Kreisky war Friedenspolitik die beste Verteidigungspolitik, und so hat sich Österreich im Gegensatz zur Schweiz nicht militärisch hochgerüstet, sondern aktiv an der Schaffung einer Friedensordnung und der Konfliktvermeidung beteiligt. Internationale Organisationen wurden nach Wien geholt, wichtige Abrüstungsverträge wurden in Österreich bzw. auf Initiative Österreichs verhandelt.

Ein Konflikt, der Bruno Kreisky besonders beschäftigt hat, war jener im Nahen Osten. Kreisky hat früh erkannt, dass es in Palästina zu einem Erstarken religiöser Fundamentalisten kommen würde, wenn den Palästinenser:innen ihr Recht auf einen eigenen Staat und eine selbstbestimmte Entwicklung vorenthalten wird. Er hat sich mit Yasser Arafat getroffen und die PLO und die israelische Regierung an einen Tisch gebracht. Der anschließende Friedensprozess ist vor 20 Jahren »eingeschlafen«, auch weil niemand mehr vermittelt hat. Für die Folgen zahlen die Zivilbevölkerungen von Israel und Palästina heute einen schrecklichen Preis.

In den späten 80er Jahren begann eine Umorientierung der österreichischen Außenpolitik und nach dem Ende des kalten Krieges wollte man uns einreden, die Neutralität sei obsolet geworden. Die KPÖ hat damals die Schaffung eines neutralen und atomwaffenfreien Gürtels durch Europa vorgeschlagen.

Mit dem Beitritt zur EU 1995 begann die Aushöhlung der Neutralität immer mehr Form anzunehmen. FPÖ, ÖVP und Teile der SPÖ forderten auch einen NATO-Beitritt, während man auf der anderen Seite den Menschen weismachen wollte, die EU hätte keinen Einfluss auf unsere »sicherheitspolitischen Besonderheiten«. Die breite Zustimmung der ÖsterreicherInnen zur Neutralität hat den NATO-Beitritt schließlich verhindert, ihre schrittweise Demontage wurde und wird von Eliten gegen den Willen der Bevölkerung fortgesetzt.

Bald begann man aber auch, sich in militärische Strukturen einzubringen, NATO-Partnerschaft, EU-Battlegroups, Auslandseinsätze, die ökonomischen Interessen folgen, die »ständige strukturierte Zusammenarbeit« PESCO, Sky Shield und so weiter. Die Mitwirkung Österreichs an der Sicherheitspolitik der EU wurde auch in die Verfassung geschrieben. Im Jugoslawien- und Irak-Krieg hat Österreich bereits den illegalen Überflug durch NATO-Bomber hingenommen.

Das Bundesheer wurde »bündnisfit« gemacht. Die Milizstruktur wurde aufgeweicht, zeitweise wurde auch versucht, das Bundesheer in ein Berufsheer umzuwandeln. In immer mehr Bereichen wird mit NATO-Armeen kooperiert: Bundeswehrsoldat:innen und US-Nationalgardist:innen sind Dauergäste auf österreichischen Übungsplätzen. Während uns vorgespielt wird, das Bundesheer wäre finanziell ausgehungert, steigen die Rüstungsausgaben seit Jahren.

Mittlerweile tragen die österreichischen Soldat:innen Uniformen, die deutlich an die deutsche Bundeswehr erinnern. Dabei hat der Staatsvertrag Österreich aus gutem Grund militärische Zusammenarbeit mit Deutschland verboten. In militärischen Zeitschriften wünschen sich Bundesheeroffiziere ganz offen freie Hand für, sie nennen es verharmlosend, »internationales Engagement«.

Während das österreichische Kapital und die Eliten sich zu Zeiten des kalten Krieges mit der Neutralität arrangiert und durchaus Profit daraus geschlagen haben, ist sie ihnen heute ein Hindernis geworden, wenn sie geopolitisch, als Juniorpartner der deutschen Monopole, mitspielen wollen. Darum betreiben sie die Aushöhlung, Umgehung und Abschaffung der österreichischen Neutralität, und keine Parlamentspartei setzt diesem Kurs etwas entgegen.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich die Angriffe auf die Neutralität intensiviert. Es gibt ja auch wieder ein klares Feindbild.

Für die KPÖ ist die Neutralität im Interesse der österreichischen Bevölkerung, weil sie die Sicherheit, den Frieden und die Freiheit Österreichs schützt. Weil sie ein Mittel ist zu verhindern, dass österreichische Soldat:innen für die Interessen der Mächtigen in fremden Ländern sterben.

Die Neutralität muss aber auch wieder zu einem Auftrag werden, aktiv in der Welt für Abrüstung, Dialog und Frieden einzutreten. Neutralität und Solidarität sind kein Widerspruch. Sie heißt nicht, dass man die Augen vor Ungerechtigkeiten verschließen kann, sondern sich im Gegenteil einzubringen hat in Konflikte, aber nicht im Fanclub der einen oder anderen Seite, sondern als Vermittler, als Ort für Verhandlungen.

Die UNO und mit ihr das Völkerrecht sind weitgehend abgemeldet, es scheint sich ein Recht des Stärkeren einzustellen. Ein internationales Friedenslager ist dringend notwendig und Österreich kann dazu nur beitragen, wenn es Glaubwürdigkeit als neutrales Land zurückgewinnt.

Dafür ist es notwendig, die Integration in die militärischen Strukturen der EU und die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik zurückzunehmen. Das Bundesheer muss aus den Battlegroups und den sonstigen multinationalen Verbänden und den NATO- und EU-Auslandseinsätzen zurückgezogen werden.

Österreich muss sein Engagement auf der Ebene der Diplomatie verstärken und sich als Verteidigerin der völkerrechtlichen Normen einbringen. Es muss Abrüstungsverträge auf den Weg bringen, und dabei nahtlos an seine Arbeit bei früheren Abkommen anknüpfen.

Österreich muss sich Verbündete suchen, nicht im militärischen Sinn, sondern Verbündete für eine aktive Friedenspolitik. Dabei darf die Suche nicht in Europa enden, sondern muss sich gezielt an Länder der so genannten Dritten Welt richten.

Österreich hat mehrmals in kritischen Situationen die Führungen der USA und der Sowjetunion an einen Tisch gebracht. Im sich zuspitzenden Konflikt der USA mit China ist das auch wieder denkbar.

Die Wiederbelebung einer aktiven Neutralitätspolitik ist nur denkbar, wenn sich die Kräfteverhältnisse in Österreich verändern, wenn sich eine Friedensbewegung bildet und Druck auf die Regierung ausübt, den Neutralitätsbruch zu beenden.

Weil die KPÖ die einzige Partei ist, die die Neutralität verteidigt und nicht auf NATO-Kurs einschwenkt, wird sie scharf bekämpft und von den bürgerlichen Parteien und Medien wegen ihrer Friedenspositionen angegriffen. In der Bevölkerung zeigt sich ein anderes Bild: 80 % sprechen sich in Umfragen für die Neutralität aus, die KPÖ will sie ab dem kommenden Jahr auch im Parlament verteidigen.

Sechs Thesen …

… zum Umgang mit dem Beschluss »Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch« des 6. ver.di Bundeskongresses

Michael Quetting

  1. Der ver.di Kongress hat Grundsatzpositionen der Friedensbewegung verlassen. ver.di ist für Waffenlieferungen in die Ukraine. Das ist schlecht und erschwert die Friedensarbeit innerhalb von ver.di.
  2. ver.di definiert sich weiterhin als Teil der Friedensbewegung und benennt wichtige Forderungen gegen Krieg, Militarismus und für Abrüstung, die aufgegriffen werden müssen.
  3. Die Zeitenwende ist in ver.di angekommen. Der Einfluss von SPD und Grünen wächst wieder, allerdings verkürzt die Überschrift »Des Kanzlers Gewerkschaft« die Wahrheit und spiegelt nicht die Realität wider.
  4. Sowohl Grundsatzreferat, Diskussion wie auch Beschlussfassung zeigen eine Gewerkschaft, die deutlich mehr auf offensive Interessenvertretung und Ausweitung von Kämpfen setzt, als sich einer Konzertierten Aktion unterzuordnen.
  5. Die Verbindung zwischen Friedenskampf und sozialer Frage wird erkannt, wenn auch nicht deutlich genug ausgesprochen. Frank Werneke sagte unter Beifall in seiner Grundsatzrede als ver.di-Vorsitzender: »100 Milliarden Euro sind im Sonderfonds für die Bundeswehr. Das lehnen wir ab. Aber wenn 100 Milliarden Euro an Sondervermögen für die Bundeswehr möglich sind, dann muss es doch möglich sein, im gleichen Umfang auch Sondervermögen für Bildung, für Gesundheit, für Wohnen und für Verkehrswende zur Verfügung zu stellen.«
  6. Jede/r fünfte Delegierte stimmte gegen den Vorstandsantrag zur Friedenspolitik. Das ist bemerkenswert. Das Engagement von Friedensaktivist:innen – die ja alles andere als ein einheitlicher Block sind – war schon im Vorfeld und auf dem verd.i-Kongress beachtlich und nicht vergeblich. Das bietet die Chance für weitere Überzeugungsarbeit. Für uns muss die Diskussion Anlass sein, sich nicht zurückzuziehen und eine Abkehr von früheren Positionen zu beklagen. Es gibt unterschiedliche Positionen, folglich müssen wir für unsere Position werben – innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaft.
Zur Erläuterung

Richtig ist, ver.di hat im Bereich der Friedenspolitik einen Beschluss gefasst, der von ihren bisherigen Positionen abweicht. Darüber gab es sowohl auf dem Kongress als auch schon vorher eine heftige Diskussion. Dieser Leitantrag wurde vom hauptamtlichen Bundesvorstand erarbeitet und vom ehrenamtlichen Gewerkschaftsrat eingebracht. Der Beschluss verurteilt scharf den Angriff Russlands auf die Ukraine und hält Militärhilfe für die Ukraine und Sanktionen für »grundsätzlich richtig«.

Allerdings werden weiterhin die 100 Mrd. Sonderschulden für die Bundeswehr und das 2 %-Ziel Militärhaushalt am BIP abgelehnt. Aus dem Krieg dürfe nicht der »Schluss einer Auf- und Hochrüstung der Bundeswehr und der Nato gezogen werden.« Die »nukleare Teilhabe« Deutschlands wie auch die Anschaffung der F35-Kampfjets und die Lieferung der Taurus-Raketen an die Ukraine werden ausdrücklich abgelehnt. Es heißt dort ebenfalls: »Der öffentliche Diskurs zum weiteren Umgang mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ist gegenwärtig übermäßig fixiert auf Waffenlieferungen und militärische Lösungen in Kategorien wie ›Sieg‹ oder ›Niederlage‹. Das ist problematisch, da so weder Strategien der Konfliktbeilegung jenseits militärischer Gewalt in den Blick genommen werden, noch eine Verständigung darüber in Gang kommt, wie eine längerfristig tragfähige europäische Sicherheits- und Friedensordnung mit Russland jenseits einer Auf- und Hochrüstungsspirale gegenseitiger Abschreckung aussehen kann. ver.di fordert die Bundesregierung, die EU und die internationale Staatengemeinschaft auf, alle diplomatischen Bemühungen zu unternehmen, das Töten und die Vergewaltigung von Menschen in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden und Perspektiven für Frieden und Sicherheit in der Region und Europa insgesamt zu erarbeiten.«

Wichtig erscheint mir auch: der Beschluss anerkennt nicht nur, dass es in ver.di unterschiedliche Positionen gibt. »ver.di steht für einen respektvollen Umgang untereinander, auch bei strittigen Themen. Uns eint die Ablehnung eines Denkens in rein militärischen Kategorien.«

Gerne wird in der Diskussion behauptet, faktisch wäre mit dem Beschluss die Satzung von ver.di außer Kraft gesetzt worden. Deshalb hätte er eine ⅔-Mehrheit gebraucht. Ich finde eine solche Diskussion nicht hilfreich. Die Satzung mit ihren Grundpositionen zu Menschenrechten, Freiheit, Solidarität etc. gilt weiterhin. Unser Leitbild bleibt: »Eine Welt ohne Konflikte wird es niemals geben. Aber eine Welt ist möglich, in der Konflikte friedlich geregelt werden. Allgemeine Abrüstung und eine durch die Völkergemeinschaft legitimierte Weltpolitik sorgen für Frieden. Wir setzen uns für eine Welt ohne Atomwaffen ein.«

Beachtlich war es, dass sich schon im Vorfeld des Kongresses viele Gewerkschafter:innen mit der Friedensproblematik befassten. Das kenne ich so nicht. Im Vorfeld des Kongresses hatte sich die Initiative »Sagt Nein! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden« gebildet. Sie formulierte die Petition »SAGT NEIN! zum Leitantrag für den ver.di-Bundeskongress«. Ich fand die Sprache dieser Petition nicht klug, weil sie nicht davon getragen war, auch schwankende oder zögernde Kolleg:innen zu gewinnen. Die linksradikale Sprache war m. E. nicht hilfreich Trotzdem fand sie beachtliche Zustimmung. In kurzer Zeit wurde die Petition von 11.000 Gewerkschafter:innen unterstützt.

Auch auf dem Kongress selbst waren friedensbewegte Delegierte sehr sichtbar. Ein ganzer Tag wurde die Friedensfrage diskutiert, über 100 Redebeiträge zeigten die Zerrissenheit des Kongresses. Es gab 17 Änderungsanträge zum Leitantrag. Leider befasste sich lediglich ein Antrag aus Stuttgart mit der Vorgeschichte des Krieges und dem Unwillen der Ukraine und der Nato, das Minsker Abkommen umzusetzen.

Geschäftsordnungsanträge führten leider auch dazu, dass die 17 Änderungsanträge zum Leitantrag en bloc abgestimmt wurden. So konnte nicht mehr zu den einzelnen Änderungsanträgen diskutiert werden.

Resümee

Man muss diesen Beschluss schon als Niederlage für die Friedenskräfte bewerten, im Prinzip handelt es sich um ein Spiegelbild der herrschenden und veröffentlichten Meinung. Man sollte gleichzeitig auch zur Kenntnis nehmen, dass es beachtliche Abwehrkämpfe gegen diesen Beschluss gab. Jetzt heißt es: nicht nachlassen, sondern die begonnene Diskussion weiterführen und vorhandene Ansätze nutzen, um weitergehende Erkenntnisprozesse zu fördern. ver.di ist nicht auf Regierungskurs. Eine solche Einschätzung verkennt die Widersprüche und verbaut mögliche Chancen für weitere Auseinandersetzungen. Es gibt viele vorwärtsweisend Beschlüsse, die es anzupacken gilt.

ver.di ist an ihrem eigenen Anspruch zu messen, nämlich Teil der Friedensbewegung zu sein. Deswegen muss die Friedensbewegung auf ver.di zugehen und versuchen, sie zu Aktivitäten zu bewegen. Der Spielraum für eigenes Wirken ist zu nutzen.

Friedenspolitische Positionen geschärft

Klaus Pickshaus

Auf dem 25. Gewerkschaftstag der IG Metall fand angesichts des Ukraine-Kriegs am 24. Oktober eine bemerkenswerte Debatte statt, in deren Ergebnis die friedenspolitischen Positionen der IG Metall geschärft wurden. Eingangs wurde festgehalten, dass zwar unterschiedliche Ansichten in der Debatte zu vermerken seien, aber Krieg als Mittel der Politik von allen entschieden abgelehnt werden muss. Gegenüber dem Leitantrag des Vorstands (»Für eine verantwortliche Politik für Frieden und Sicherheit«) verlangte ein Ergänzungsantrag aus der Geschäftsstelle Hanau-Fulda, den die Geschäftsstelle Braunschweig unterstützte und von über 150 Delegierten unterzeichnet wurde, in mehreren Punkten klarere Aussagen. Bemerkenswert war, dass die Antragskommission in dieser Frage einen Konsens mit den Antragstellern suchte und auch fand.

Eine Kernaussage des Beschlusses lautet: »Wir setzen uns mit Nachdruck für diplomatische Lösungen auf allen möglichen Ebenen und über alle Kanäle ein. … die Eskalations- und Rüstungsspirale darf sich nicht weiterdrehen.« Die 1. Bevollmächtigte der Geschäftsstelle Braunschweig, Garnet Alps, kritisierte genau diese Situation: »Die Strack-Zimmermanns und Hofreiters dieser Welt krähen seit anderthalb Jahren nach nichts anderem als nach mehr Waffen, neuen Waffensystemen, nach Sieg und Niederlage.«

Zur umstrittenen Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine heißt es jetzt neu: »Waffenexporte sind restriktiv und transparent zu handhaben. Eine Fixierung auf Waffenlieferungen verlängert diesen Krieg und führt auf beiden Seiten zu tausenden Toten und Verletzten. Daher ist der Schwerpunkt auf diplomatische Lösungen zu legen, um zunächst einen schnellen Waffenstillstand zu vereinbaren. Eine Fixierung der Debatte auf Waffenlieferungen und ein Denken in den Kategorien ›Sieg‹ oder ›Niederlage‹ ist der falsche Weg.«

Da zum Organisationsbereich der IG Metall auch zahlreiche Rüstungsunternehmen gehören, und Beobachtern zufolge in den letzten Jahren in diesem Feld wenige Initiativen zu beobachten waren, ist auch diese Aussage bemerkenswert und als Auftrag genau in dieser Situation zu vermerken: »Außerdem setzen wir uns gemeinsam für Rüstungskonversion ein.« Die IG Metall bekräftigt ferner: »Eine Neuaufstellung und Revitalisierung der Friedensbewegung ist gleichwohl unerlässlich.« Dies soll im Rahmen des DGB und gemeinsam mit weiteren Bündnispartner:innen angestrebt werden. Zum Rüstungshaushalt wird gesagt: »Eine dauerhafte Steigerung des Etats für Rüstung und Verteidigung auf ein willkürlich erscheinendes, an konjunkturelle Entwicklungen gekoppeltes Zwei-Prozent-Ziel oder gar darüber hinaus lehnen wir ab.«

Im Unterschied zum ver.di-Bundeskongress im September zeigte sich die IG Metall in diesen Fragen sehr geschlossen. Die Beschlussfassung erfolgte mit überwältigender Mehrheit.

(Veröffentlicht auf der Webseite des Autors. Dort ist auch ausführlicher Bericht über alle Themen des Gewerkschaftstages zu finden. www.klaus-pickshaus.de)

Längste Blockade der Geschichte in Brüssel verurteilt

Anke Jonack

Die UNO-Generalversammlung verurteilte die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der USA gegen Kuba am 4. November d. J. mit überwältigender Mehrheit (187:2 Stimmen) zum 31. Mal, und die sechs Richter des Internationalen Tribunals gegen die einseitige Blockade der USA gegen Kuba fällten am 17. November ein vernichtend klares Urteil.

Der Prozess, der in der Tradition der Russelltribunals steht, fand am 16. & 17. November in den Räumen des EU-Parlaments in Brüssel statt. Die sechs Richter und die Staatsanwälte hörten die Aussagen zahlreicher Zeugen aus verschiedenen Ländern der EU, aus den USA und Kuba zu den immensen Schäden der Blockade für die kubanische Bevölkerung.

Konkret benannte und belegte Folgen sind u. a. blockadebedingt nicht gelieferte Medikamente und medizinische Instrumente: Es wurde berichtet, das dies bis hin zum Tod von Menschen, wie dokumentiert von an Krebs erkrankten Kindern, führt. Internationale Zeugen berichteten, wie die Blockade den wissenschaftlichen Austausch über den fehlenden Zugang zu Fachpublikationen und Onlinekonferenzen erschwert bis unmöglich macht. Insbesondere am Beispiel der Zeit des Kampfes gegen das Coronavirus wurde die Unmenschlichkeit der von den USA beschlossenen Maßnahmen deutlich. Als »besonders pervers« wurde auf dem Tribunal die Verhinderung der Lieferungen von Beatmungsgeräten und medizinischem Sauerstoff benannt. Darüber hinaus hat Kuba, welches über fünf selbst entwickelte Impfstoffe gegen Covid-19 verfügt, keinen Zugang zum Kauf von Spritzen und Kanülen auf dem Weltmarkt. Dieser Mangel, so wurde auf dem Tribunal betont, konnte nur durch das weltweite Engagement von NGO und Solidaritätsorganisationen behoben werden.

Des Weiteren wurden die Auswirkungen der Blockade auf die Bereiche Bildung, Kultur, Transport, Energieversorgung und Technologie detailliert ausgeführt. Der entstandene Schaden für die kubanische Wirtschaft beläuft sich alleine für den Zeitraum zwischen März 2022 und Februar 2023 auf 3.081,3 Millionen Dollar.

So erklärte der vorsitzende Richter, Prof. Norman Peach, bei der Urteilsverkündung: »Die umfangreichen politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, die seit 1960 bis heute gegen die Republik Kuba verhängt wurden, verstoßen gegen das Völkerrecht. Dazu gehören vor allem die Artikel 2(4) und 2(7) der UN-Charta zum Schutz der Souveränität, der Selbstbestimmung und des Interventionsverbots, die Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) von 1966 sowie die Bestimmungen der Welthandelsorganisation (WTO) zum Schutz der Handelsfreiheit und zahlreiche Grundsätze des Vertrags über die Europäische Union (EUV, Maastrichter Vertrag).«

Punkt für Punkt belegten die Richter in der Urteilsbegründung die Verstöße der USA und forderten sie auf, für den wirtschaftlichen Schaden, den sie der kubanischen Bevölkerung und dem kubanischen Staat zugefügt haben, aufzukommen.

Ausführliche Informationen, Zeugenaussagen, Berichte und Videomitschnitte über den Verlauf des Tribunals können Sie dem Dossier auf der Homepage der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba entnehmen:

(www.fgbrdkuba.de/presse/artikel/20231117-urteil-des-tribunals-ueber-die-sanktionen-der-usa-gegen-kuba.php)

Zum Parteitag der LINKEN in Augsburg

Artur Pech

Objektiv standen vor diesem Parteitag drei Hauptprobleme:

Erstens: Es ist Krieg in Europa. Was ist zu tun, um diesen Krieg zu beenden? Diese Frage muss Vorrang vor allen anderen Problemen haben, denn wenn der Krieg fortgesetzt wird und ausufert, hätten sich alle anderen Fragen erledigt.

Der Parteitag hat sich in die Reihe derer eingeordnet, die Russland bezwingen wollen. Streit gibt es nur um die dafür zu nutzenden Mittel. Es gibt die Illusion, der Krieg ließe sich mit Sanktionen gewinnen und dafür werden im »Europa«-Wahlprogramm und in einem Dringlichkeitsbeschluss eigene Vorschläge unterbreitet.

Damit hat DIE LINKE wohl endgültig die Position von Karl Liebknecht geräumt. Der hatte schon 1915 gemahnt: »Jede positive Mitwirkung in dieser Art wird stets in ein positives Eintreten für den Krieg umgeschmolzen, und alle Vorbehalte werden zur Dekoration, was das Erstgeburtsrecht des Sozialismus schließlich doch um ein Linsengericht verkaufen hieße.«1

Zweitens: DIE LINKE ist in der Krise. Auf dem Parteitag ist es dem Parteivorstand gelungen, die Krise der Partei so umzudeuten, dass er sich in seiner Politik bestätigt sehen kann.

Die Erzählung lautet: Am Niedergang war der Streit schuld. Wer dieser Erzählung folgt, muss stutzig werden, wenn zugleich eingestanden wird, »es wäre ein Irrtum zu glauben, mit dem Weggang der zehn Bundestagsabgeordneten wären alle Probleme der LINKEN gelöst«2. Da stimmt mehr als nur die Logik nicht.

Selbst bei gutwilligster Betrachtung des Wahlprogramms ist nicht zu übersehen, dass es sich um den Versuch einer Therapie ohne Diagnose handelt.

Auch die mit vielen Einzelmaßnahmen versehene Therapie für die Europäische Union muss scheitern, wenn sie die Auseinandersetzung mit deren Hauptproblemen meidet. Ohne eine schonungslose Bestandsaufnahme kein Ausweg.

Drittens: Im Juni 2024 stehen Wahlen vor der Tür. Dafür waren ein Wahlprogramm und ein Wahlvorschlag zu beschließen.

In der Hauptsache hat der Parteitag versagt. Das beschlossene Wahlprogramm hat einen Grundfehler, der durch viele richtige Einzelforderungen nicht aufgewogen wird: Verzichtet wurde sowohl auf die Analyse der Widersprüche, die innerhalb der Europäischen Union auszutragen sind, als auch auf die Analyse des Agierens der Europäischen Union in den weltweiten Konflikten.

Damit wurde die Mahnung des Ältestenrates der Partei von Anfang 2022 in den Wind geschlagen: »Wir dürfen diese Partei nicht aufgeben! Wir dürfen sie nicht einigen wenigen überlassen, deren Ziel offenkundig darin zu bestehen scheint, Helfer am Krankenbett des Kapitalismus zu sein. Wir wollen dieses System nicht heilen, sondern müssen es überwinden!«3

Entsprechend verlief auch die Klärung von Personalfragen. Die von Carola Rackete mustergültig gelebte Solidarität mit den Opfern der EU-Abschottungspolitik im Mittelmeer wird als Hebel benutzt, um die Linke weiter zu entkernen. Wie sonst soll es zu verstehen sein, wenn unmittelbar nach der Präsentation des Personalvorschlages eine »radikale Erneuerung der Partei unter anderem auch in der Außen- und Sicherheitspolitik« gefordert wurde? Oder wenn wenige Stunden vor der Abstimmung auf dem Parteitag die Forderung über die Medien geht, die Linke solle doch ihren Namen ändern und sich von ihrer Geschichte verabschieden? Und wie sonst sollte es zu verstehen sein, wenn derartige Einlassungen dann ohne weitere Klärung mit einer Entschuldigung vor dem Parteitag abgetan werden konnten? Deutlicher kann Selbstaufgabe kaum aussehen.

Im November 2023 mag es eigenartig klingen, aber zur Vorgeschichte gehört der sowohl vor als auch nach der Bundestagswahl vom damaligen Wahlkampfleiter der Linken vorgetragene Satz: »Die Friedensfrage ist nicht wahlentscheidend.«

Das ist doppelt verheerend. Es sagt zum einen: Um Frieden geht es uns nur, soweit es im Wahlkampf nützlich ist. So wird eine Existenzfrage zum verzichtbaren Mittel parteipolitischer Profilierung.

Dabei ist es in Augsburg geblieben. Dafür aber ist die Lage zu ernst: Nicht nur für die LINKE, sondern für die Menschheit.

Dass der Parteitag diese Politik nicht ändern wollte, machte der Umgang mit meinem Antrag deutlich, den Aufruf für die Friedensdemonstration am 25. November 2023 in Berlin zu unterstützen.

Gemeinsam mit vielen anderen hatte ich den Aufruf unterschrieben und den Antrag für seiner Unterstützung durch den Parteitag eingebracht.

Im Unterschied zur Friedensdemonstration im Februar ’23 beschloss der Parteivorstand diesmal (eine Woche nachdem ich den Antrag an den Parteitag eingebracht hatte), zu dieser Demonstration auch aufzurufen – aber mit einem eigenen Aufruf und er brachte zum Parteitag einen Ersetzungsantrag ein.

War die Nichtunterstützung des Aufrufes für den 25. Februar das Wetterleuchten für das Zerbrechen der Bundestagsfraktion, so ging es nun wieder ganz offen um die Reduzierung des Friedens auf ein Wahlkampfthema, wenn es in der Begründung hieß:

»Der Parteivorstand hat sich für eine Verbindung zu (anderen) Kernthemen des Wahlkampfes ausgesprochen.«

Diese Reduzierung des Friedens auf ein Wahlkampfthema wirkt gegen die Breite des Bündnisses mit Mitgliedern anderer Parteien, die sich für den Frieden engagieren und nicht für die LINKE Wahlkampf machen.

So steht nicht Druck auf die Regierung, sondern die Abgrenzung von anderen Friedenskräften vorn. In der Begründung dafür fiel dann tatsächlich der Name, dessen Erwähnung auf dem Parteitag sonst tunlichst vermieden wurde.

Und wenn in dem beschlossenen Ersetzungsantrag des im Karl-Liebknecht-Haus tagenden Parteivorstandes Sanktionen gegen Russland gefordert werden, dann ist es Zeit, den Namensgeber zu Wort kommen zu lassen:

»Würden die deutschen Sozialisten z. B. die englische Regierung und die englischen Sozialisten z. B. die deutsche Regierung bekämpfen, so wäre das eine Farce oder Schlimmeres. Wer den Feind, den Imperialismus, nicht in den Repräsentanten angreift, die ihm Auge in Auge gegenüberstehen, sondern in denen, die ihm und denen er weit vom Schusse ist, und noch gar unter Approbation und Förderung der eigenen Regierung … ist kein Sozialist, sondern ein trauriger Offiziosus der herrschenden Klassen. Eine solche Sorte Politik ist Kriegshetzerei und nicht Klassenkampf, sondern das Gegenteil davon.«4

Nichts vergessen! Trotz alledem!

1 Karl Liebknecht, Prinzip für die sozialdemokratische Taktik im Kriege, Gesammelte Reden und Schriften Bd. 8, Berlin 1972, S. 143.

2 Dringlichkeitsantrag D2 des Parteivorstandes: Die LINKE: Eine laute Stimme für Gerechtigkeit, Frieden und Antifaschismus.

3 Erklärung des Ältestenrates zum Austritt von Christa Luft aus der Partei Die Linke, junge Welt, 07.01.2022, S. 8

4 Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. IX, Dietz Verlag Berlin 1971, S. 17

Leipziger Perspektive

Volker Külow1

Warum befindet sich die Linkspartei in einer Existenzkrise und wie können sozialistisch orientierte Genossinnen und Genossen dort ihre weitere Arbeit gestalten?

Beginnen wir mit dem 1. Punkt: es hat in den letzten Jahren dazu viele treffende Analysen gegeben, die von der Parteiführung stets ignoriert wurden, egal ob es kollektive Beiträge von innerparteilichen Strömungen wie SL, AKL, KPF usw. oder prominente Einzelmeinungen wie z. B. von Fabio de Masi, Christa Luft, Hans Modrow und der Ältestenrat sowie Michael Brie waren. Die jeweilige Parteiführung hat das stets beharrlich ignoriert und sich in ihrer Scheinwelt bequem eingerichtet. Über Wahlniederlagen, Fehler, Defizite usw. wird schon lange nicht mehr substantiell diskutiert; magisches Denken ist an die Stelle ernsthafter Analyse und Erarbeitung einer linken Handlungsstrategie getreten.

Ekkehard Lieberam und ich haben seit Gründung des Liebknecht-Kreises Sachsen (LKS) im Jahr 2015 viele Beiträge insbesondere in der »jungen Welt« zu den Gründen für diese reformistische Mauserung der Linken publiziert. Hier noch mal in gebotener Kürze unsere Erkenntnisse: Ausgehend von Luxemburg, Lenin und Robert Michels zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben dann in den 1950er und 1960er Jahren vor allem Wolfgang Abendroth und Johannes Agnoli die Ursachen von Anpassungsprozessen linker Parteien in der Herausbildung bürokratischer Strukturen erkannt. Abendroth schreibt, dass sich auch in einer sozialistischen Partei eine »Sozialschicht« herausbildet, die eigene Interessen gegenüber den Interessen der Lohnarbeiter entwickelt und an »der verwaltungsmäßigen Fortführung der Partei in der gegebenen Existenzweise interessiert ist«. Diese agiert »konservativ im Rahmen dieser Aufgabe ohne über ihre eigene Situation in der Gegenwart hinaus denken zu wollen und zu können«. Sie verliert damit unweigerlich an »politischer Intelligenz« und entfernt sich zugleich immer weiter von der Lebenswirklichkeit der Menschen, deren Interessen sie zu vertreten vorgibt.

Die Größe der Sozialschicht, die von der Partei lebt und zugleich auf Parteitagen oft die Mehrheit der Delegierten stellt, hatten wir im Herbst 2019 grob überschlagen: sie betrug in der LINKEN zusammen mit ihrer parteieigenen Stiftung ca. 2.300 Personen und war damit bedeutend größer als zu Zeiten der PDS (seinerzeit ca. 1.000). DIE LINKE hatte gegenüber der PDS ebenfalls signifikant bei den Einnahmen aus der Staatskasse zugelegt. Sie ist durch die existenzielle Abhängigkeit von pekuniären Zuschüssen und dem Angebot vielfältiger Karrieremöglichkeiten faktisch in eine verstaatlichte, systemkonforme Oppositionspartei verwandelt worden. Oder um es kurz und knapp mit Oliver Nachtwey zu sagen: »Die Kritik der politischen Herrschaft war lange ein zentrales Motiv der Linken. Aber nun lebt sie ganz gut mit und vom System.«

Damit komme ich zum 2. Punkt. Wie kann oder soll man unter diesen eher bedrückenden Umständen als Sozialist noch innerhalb der Partei agieren? Bevor ich auf diese Frage aus der Leipziger Perspektive eingehe (für anderes fühle ich mich nicht berufen), gestattet mir bitte eine kurze Vorbemerkung mit Blick auf unseren heutigen Kongress. Die Dynamik der gesellschaftlichen Bewegung ist ungeheuer gross und geht es immer schneller in Richtung einer Vertiefung der »kannibalischen Weltordnung« (Jean Ziegler). Wir brauchen daher zwingend mehr friedenspolitische und sozialpolitische Gegenmacht von links gegen die nun fast täglich verschärfte Kanonen-statt-Butter-Politik der Herrschenden (siehe das Münkler-Interview in den letzten Tagen zur atomaren Aufrüstung Europas). Tatsächlich ist derzeit aber nicht die Linke, sondern die Rechtspartei AfD zur ersten Adresse des politischen Protestes sowohl bei Wahlen als auch im außerparlamentarischen Bereich geworden.

Das linke Parteienspektrum muss sich neu gruppieren und linke Genossinnen und Genossen sind dabei, dies zu tun. Aber es ist weder klar, ob dies gelingt, noch gibt es bislang ein überzeugendes Konzept, wie das gelingen kann. Wir sind noch alle auf der Suche nach dem richtigen Kompass. Bei dieser Suchbewegung brauchen wir eine Debatte über Grundfragen linker Politik und linker Parteientheorie. Allerdings m. E. weniger mit Bezug auf die Jahre im und nach dem Ersten Weltkrieg, sondern eher in Bezug auf die Traditionslinie der sozialistischen Zwischengruppen und des undogmatischen »westlichen« Marxismus der fünfziger und sechziger Jahre, wie sie in der Debatte um die Krise der SPD insbesondere Wolfgang Abendroth vertrat.

Es gibt auch heute (ähnlich wie damals) eine vage politische Unzufriedenheit inner- und außerhalb der Linkspartei, aber keine größere Massenbewegung für eine linke parteipolitische Alternative. Der weitere Niedergang der Linkspartei scheint mir unaufhaltsam – mit einzelnen möglichen Ausnahmen. In der größten ostdeutschen Stadt, meiner Heimatstadt Leipzig, ist die Linkspartei noch – um mit Wolfgang Abendroth zu sprechen – »Operationsbasis« für linke Politik. Im Leipziger Stadtrat, dem ich angehöre, sind wir die stärkste Fraktion; zusammen mit SPD und Grünen gibt es eine relativ stabile Mehrheit in der Ratsversammlung. Wir beeinflussen damit erheblich die Leipziger Kommunalpolitik im Interesse der arbeitenden Menschen.

In dem Zusammenhang ein zweites Problem: Wolfgang Abendroth schlussfolgerte aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, dass Gründungskongresse neuer linker Parteien nicht willkürlich einberufen werden können. Nur dann haben neue linke Parteien Erfolg, wenn eine entsprechende Aufbruchsstimmung unter der arbeitenden Bevölkerung vorhanden ist, wenn Hunderttausende auf der Straße eine neue konsequente linke Partei fordern. In den Jahren 2005 ff. gab es diese Aufbruchsstimmung im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Agenda 2010. Heute ist sie offenkundig nicht vorhanden.

Mich beunruhigt in diesem Zusammenhang noch ein drittes Problem: die bisherige Theorieabstinenz vom BSW, wie sie aus der Video-Botschaft von Sahra Wagenknecht zur Gründung des Vereins und dem »Gründungsmanifest« hervorgeht. Die Banalität und Schwammigkeit der politischen Sprache ist schon erstaunlich, wie sie in dem Credo zum Ausdruck kommt: »Wir brauchen eine Rückkehr der Vernunft in die Politik.« Im Sinne von Wolfgang Abendroth sollten wir bekräftigen, dass die Durchsetzung von Vernunft in einer Klassengesellschaft eines sozialen Subjekts bedarf. Machtpolitische Grundlage linker Politik, so lehrte er, ist die Aktionskraft und Aktionsbereitschaft der abhängig Arbeitenden. In diesem Sinn stimme ich der Aussage völlig zu, dass unser Netzwerk zumindest kurz- und mittelfristig ein Forum der theoretischen Debatte und des politischen Dialogs zwischen der Linkspartei und der neuen Partei sein sollte.

1 Redebeitrag des Leipziger Stadtrats (Partei Die Linke) und Mitgründers des Karl-Liebknecht-Kreises Sachsen bei der 2. Bundesweiten Was-tun-Konferenz am 2.12.2023 in Ffm.

Gerd Callesen
(1940–2023)

Georg Fülberth/Hans-Norbert Lahme

In der Nacht zum 9. November 2023, einen Tag vor seinem 83. Geburtstag, starb in Wien der Historiker Gerd Callesen, Begründer und führender Kopf der Geschichtsschreibung über die dänische Arbeiterbewegung mit internationaler Wirksamkeit.

Geboren im nordschleswigschen Aabenraa (Appenrade) in einer Familie der dortigen deutschen Minderheit, wuchs er zweisprachig auf. Sein Studium führte ihn nach Marburg, wo er Wolfgang Abendroth kennen lernte, Tübingen, Kiel und Kopenhagen. 1965 wurde er Mitglied im SDS. 1970 promovierte er in Kiel mit der Dissertation

»Die Schleswig-Frage in den Beziehungen zwischen dänischer und deutscher Sozialdemokratie von 1912–1924. Ein Beitrag zum sozialdemokratischen Internationalismus.« Es war die erste wissenschaftliche Abhandlung, die sich mit der Geschichte der dänischen Arbeiterbewegung beschäftigte. Bis dahin hatte es nur zwei dänisch-sprachige Jubiläumsschriften zu diesem Thema gegeben. Nun inspirierte Gerd Callesen eine ganze Generation junger Historikerinnen und Historiker, die sich fortan mit der Geschichte der dänischen Arbeiterbewegung beschäftigten und diese zu einem selbstständigen Forschungsfeld machten. Eine gute institutionelle Basis fanden sie im Arbejderbevægelsens bibliotek og arkiv (Bibliothek und Archiv der Arbeiterbewegung) in Kopenhagen – dem Archiv der dänischen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Gerd Callesen war dort ab 1973 beschäftigt, seit 1982 als Abteilungsleiter. Er gab der vorher wenig bekannten Einrichtung eine internationale, über die europäischen Grenzen hinausragende Position. Lange Zeit ist hier auch der Nachlass des ehemaligen KPD-Führers Heinrich Brandler aufbewahrt worden.

Bereits 1970 war Gerd Callesen an der Gründung der »Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung« (Selskabet til Forskning i Arbejderbevægelsens Historie) beteiligt. 1971 bis 1974 redigierte er deren »Jahrbuch zur Geschichte der Arbeiterbewegung« (Årbog for Arbejderbevægelsens Historie), aus dem 1973 die »Mitteilungen zur Forschung in der Geschichte der Arbeiterbewegung« (Meddelelser om Forskning i Arbejderbevægelsens Historie/Arbejderhistorie) hervorgingen. Drei Jahrzehnte lang waren das Kopenhagener Institut und seine Publikationen der Mittelpunkt einer umfangreichen Erschließung, Sammlung, bibliografischen Erfassung und wissenschaftlichen Auswertung von Quellen zur dänischen und internationalen Arbeiterbewegung, wobei Gerd Callesen die Hauptlast trug. Mit seiner kontinuierlichen Rezensionstätigkeit begleitete er die internationale Forschung. In den Jahrzehnten der Ost-West-Entspannung und der diese ablösenden neuen Konfrontation legte er großen Wert darauf, gleichermaßen Beziehungen zu den Wissenschaftseinrichtungen in den sozialistischen und nichtsozialistischen Ländern zu unterhalten. Auch nach dem Umschwung von 1989/91 hielt er die Verbindungen, die so entstanden, aufrecht. Auf den alljährlichen Tagungen der Historikerinnen und Historikern der Arbeiterbewegungen in Linz hatte sein Wort Gewicht. In den aufgeregten westdeutschen Debatten zur Gewerkschaftsgeschichte Ende der siebziger Jahre wirkte sein unvoreingenommener Blick von außen versachlichend.

2002 verließ Gerd Callesen seine bisherige Kopenhagener Wirkungsstätte und ging 2004 mit seiner Frau, der Übersetzerin Lena Fluger, nach Wien. Hier widmete er sich verstärkt einem Arbeitsfeld, auf dem er ebenfalls von Anfang an intensiv gearbeitet hatte: der Marx-Engels-Forschung, unter besonderer Berücksichtigung von Friedrich Engels. Dessen Korrespondenz mit dänischen Sozialdemokraten war von ihm bereits 1973 ediert worden. 2011 gab er zusammen mit Wolfgang Maderthaner den Briefwechsel von Engels mit Victor Adler heraus. Als nach dem Zusammenbruch der DDR und der UdSSR die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) gefährdet war, gehörte er zu dem weltweiten Netzwerk, das sich erfolgreich für ihre Rettung einsetzte. Daraus entstand die Internationale Marx-Engels-Stiftung (IMES), die jetzt diese Edition trägt. Gerd Callesen war bis zu seinem Tod Mitglied in deren Wissenschaftlichem Beirat. Innerhalb der Briefabteilung der MEGA erschien 2013 die von ihm und Svetlana Gavrilcenko bearbeitete Korrespondenz von Engels aus der Zeit vom Oktober 1889 bis November 1890. Danach bereitete er die Edition des Engels-Briefwechsels zwischen April 1888 und September 1889 vor, deren Veröffentlichung in der MEGA noch aussteht.

Wer mit ihm zu tun hatte, sah sich ermutigt, gefördert und aktiviert. Die gastfreundliche Wiener Wohnung von Lena Fluger und Gerd Callesen war – wie einst das Kopenhagener Institut – ein guter Ort des Austauschs für forschende Besucherinnen und Besucher aus aller Welt. Nun trauern sie um einen produktiven Autor, unermüdlichen Wissenschaftsorganisator und guten Freund.

Leser-Mails zur Jubiläumsausgabe »Mut und Marxismus«

Lieber Lothar, ich habe erfahren, dass die MB im November ihren 60. Geburtstag feiern.

Ich feierte dieses Jahr auch meinen 60. Geburtstag (obwohl im September). Anlässlich dieses doppelten Geburtstages habe ich mich entschlossen, zur Geburtstagsspendekampagne mit einer 1.000-Euro-Spende beizutragen. Ich will damit eine der besten marxistischen Zeitschriften (nicht nur in Deutschland) unterstützen und auch meinen Dank aussprechen: für ihre große Leistung in einem über mehrere Jahrzehnte sich entfaltenden theoretisch-politischen Kampf, der sich in einer zunehmend schwierigen politischen Lage entwickelt

Ich gratuliere zum Geburtstag! Mit solidarischen Grüßen

Vladimiro (Giacché)

Lieber Lothar, congratulations. Die MB 60 sind ganz ausgezeichnet geworden. Ich finde es sehr treffend, Marxismus und Mut zusammen zu denken. Auch Eure internationale Ausrichtung entspricht ganz meinen Auffassungen. Mein Geburtstagsgeschenk ist eine Bestellung von 10 Exemplaren von MB 60 auf Rechnung und die Anhebung auf ein Förderabo von 100,– Euro, wie in Eurer Anlage vorgeschlagen. Mit sehr herzlichem Gruß

Thomas (Metscher)

Lieber Lothar! Das Jubiläumsheft der MBl finde ich dank seiner Reichhaltigkeit sehr gelungen. Besonders wichtig ist für mich Ditte Gerns Russland-Artikel. Den Text des digitalen Belegexemplars habe ich mehrfach weitergeleitet, um Reklame für die MBlätter zu machen. Herzlich grüßt der sich auch auf das »Lob des Kommunismus« freuende

Hermann (Klenner)

Liebes Blätter-Kollektiv! Eure Jubiläumsausgabe hat mich endgültig überzeugt, die Blätter endlich wieder zu abonnieren. Haltung bewahren in diesen Zeiten können offenkundig nur wenige; aber Ihr.

Danke für Eure bemerkenswerte Arbeit!!! Solidarische Grüße

Steuerkanzlei Heinz Schneider

Lieber Genosse Lothar, mit großem Gewinn habe ich die Jubiläumsausgabe angelesen. Für mich hätte es nicht so dick sein müssen, man kommt ja kaum hinterher. Aber insbesondere die alten Artikel haben mich »abgeholt«, wie man so schön sagt. Ein besonderes »Schmankerl« war das »Update« des Artikels von G. Fülberth. Ich fand bereits den Artikel Anno ’87 sehr anregend. Über die Aktualisierung habe ich mich sehr gefreut; eine gute Wahl! In der beiliegenden Flugschrift waren ein paar Aussagen zum Thema »Entdollarisierung« enthalten, die ich nicht zur Gänze teile. Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit der Rolle des Dollars und der Frage ob und wie (!) man einen Niedergang feststellen kann. Gerne würde ich darauf reagieren, ich fürchte aber ein Leserbrief wäre dafür nicht ausreichend … Solidarisch,

Markus Bernd

Lieber Genosse Lothar, die Jubiläumsausgabe ist bei Claudia M., der ich ein Geschenkabo gemacht hatte, sehr sehr großartig angekommen. Ich bin mal zu etwas Geld gekommen und möchte die Marxistischen Blätter daran teilhaben lassen … Gedacht hatte ich daran, 10 Soliabos zu finanzieren, in erster Linie für Menschen im Knast und in zweiter Linie für Menschen, die sich unsere Publikation nicht mehr leisten können und deshalb gekündigt haben… Wenn die 10 Abos vergeben sind, könnt Ihr mich gerne benachrichtigen und ich werde mir überlegen, ob und wann ich erneut 10 Abos spende.

Steffen W. aus B.

Orientierung oder Nebelschwaden?

Karl-Heinz Peil zum Kommentar von Thomas Hagenhofer in MBl 5/6_2023

Den Kommentar von Thomas Hagenhofer … finde ich leider wenig hilfreich. Inhaltlich ist das meiste zwar nicht falsch, beruht aber m. E. auf einem sehr oberflächlichen Verständnis friedenspolitischer Aktivitäten, was ich an mehreren zentralen Aussagen festmache.

Natürlich klingt es gut zu schreiben: »… die Friedensbewegung muss sich als antikapitalistische Kraft verstehen«. Das ist im Prinzip nichts Neues, denn der französische Sozialist Jean Jaurès prägte schon vor dem Ersten Weltkrieg den Satz: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen«. Aber: Organisationsübergreifende Aktivitäten sind immer ein Bündnis unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte, das gilt ganz besonders für die Friedensbewegung … Konsensfähiger ist vielleicht der Antimilitarismus, den Karl Liebknecht 1915 mit der Losung »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« prägte.

Eigentlich ist der Antifaschismus für die »moderne« Friedensbewegung unverzichtbar. Dieser wird heute jedoch nicht nur durch das Gefühl aufgeweicht, sich mit »rechtsoffenen« Akteuren auseinandersetzen zu müssen, sondern auch durch mangelndes Geschichtsbewusstsein. Antifaschismus heißt schließlich nicht, sich gegen vermeintliche »Faschos« zu wenden, sondern alle Facetten zu kennen, die 1933 zur Etablierung des NS-Terrorregimes geführt haben …

Umfassende Vernetzung ist also ein historisches Wesensmerkmal der Friedensbewegung und kein aktuelles Wunschdenken. Die nicht nur von Thomas Hagenhofer beschworene Vernetzung mit der Klimabewegung ist leider nicht mehr als ein frommer Wunsch. Wenn heute schon wesentliche Teile der Friedensbewegung an einem moralisierenden Ansatz leiden, bei dem der Kampf gegen das absolut Böse, z. B. in der Person Putins, anstelle historischer Analysen zum Verständnis von Konflikten dient, so gilt dies erst recht für die Klimabewegung… Bei den Klimaaktivisten dominiert jedoch ein moralischer Ansatz, der durch die neoliberale Indoktrination vor allem der jüngeren Generation massiv verstärkt wird. Als Ursache der Klimakrise erscheint der persönliche CO2-Fußabdruck, was individuelles Handeln als naheliegend erscheinen lässt.

Voraussetzung für eine möglichst breite Vernetzung ist aber ein Verständnis dafür, mit welchen mächtigen Gegnern und Interessengruppen wir es zu tun haben und nicht eine moralische Empörung, die leicht manipulierbar ist. Die Aktivitäten von Fridays for Future sind ein gutes Beispiel dafür. Dass diese Kräfte nur schwer für Friedensaktivitäten zu gewinnen sind, hängt mit der immer noch vorhandenen Affinität zur Partei mit dem grünen Image zusammen, die zwar plakativ Klimaschutz propagiert, aber auf der gleichen moralisierenden Ebene wie der von ihr betriebene Bellizismus agiert.

Ein »strategisches Bündnis zwischen Arbeiter- und Friedensbewegung« wird den heutigen Bedingungen nur noch bedingt gerecht. Vor allem Gewerkschaften wie die IG Metall und ver.di leiden unter Mitgliederschwund, der vor allem auf die neoliberale Zerschlagung größerer betrieblicher Einheiten und der gerade dort vorhandenen Solidarität der Belegschaften zurückzuführen ist. Hinzu kommt das weitgehende Einschwenken der Gewerkschaftsführungen auf SPD-Regierungspositionen. So bleibt vielen engagierten Gewerkschaftern vor allem bei ver.di derzeit nur der mühsame Kampf innerhalb ihrer Organisation, um an das friedenspolitische Engagement früherer Jahre anzuknüpfen.

Letztlich geht es Thomas Hagenhofer aber wohl um »bündnispolitische Sackgassen«, in die man sich manövrieren könnte. Gemeint ist offenbar die von ihm in einem Satz so bezeichnete »Rechtsentwicklung politischer Systeme und Zivilgesellschaften«. Hier werden aber zwei unterschiedliche Ebenen vermengt. Zivilgesellschaftlicher Protest ist heute meist politisch diffus und bietet Rechtspopulisten leichte Anknüpfungspunkte, wenn eine klar konturierte linke Alternative fehlt. Das eigentliche Problem sind aber Regierungen, die sich als »nach rechts offen« erweisen. Das betrifft in Deutschland nicht nur die offizielle Flüchtlingspolitik, die sich ganz im Sinne der AfD entwickelt. Noch gravierender ist der Umgang mit Faschisten in Regierungen, die von der deutschen Politik als Verbündete betrachtet werden. Es gibt eben auch »gute Faschisten«, wie in der Ukraine oder in Israel. Wenig beachtet wird hierzulande auch, dass Russland Jahr für Jahr UN-Resolutionen einbringt, in denen mit überwältigender Mehrheit die Verharmlosung und Verherrlichung von Nazi-Traditionen verurteilt wird. Die Gegenstimmen kommen stets von einigen wenigen westlichen Staaten wie z. B. Deutschland.

Doch zurück zur Bündnispolitik: Die Menschen, die heute regelmäßig mit Friedensfahnen auf die Straße gehen, kommen auch aus dem Milieu derer, die in den letzten Jahren durch die staatliche Corona-Politik politisiert wurden. Natürlich gibt es dort eine mitunter giftige Mischung aus aufrechten Friedensaktivisten und rechtspopulistischen Trittbrettfahrern. Friedenspolitische Arbeit bedeutet aber nicht nur, viele Menschen auf die Straße zu bringen, was die »alte« Friedensbewegung nicht mehr schafft …, sondern auch viel Überzeugungsarbeit in den bestehenden Strukturen.

Zumindest in Organisationen mit historischen Wurzeln müssen Programme und Ressourcen für friedenspolitische Bildungsarbeit mobilisiert werden, um ein Verständnis für kriegerische Konflikte zu ermöglichen. Natürlich spielt dabei der Antikapitalismus eine zentrale Rolle. Bei den neuen Friedensbewegten, die in ihrer Orientierungssuche auch »nach rechts offen« sind, dürfte dies erfolgreicher gelingen als derzeit bei den Gewerkschaften. Letztere sind natürlich wegen des Mobilisierungspotentials aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Zerstörungen durch Aufrüstung und kontraproduktive Wirtschaftssanktionen bündnispolitisch vorrangig. Neue Organisationsstrukturen, die sich als Demokratie- und/oder Freiheitsbewegung verstehen, als »rechtsoffen« zu etikettieren, ist der falsche Weg.

(Anmerkung: Die Denunziation fortschrittlicher Kräfte als »rechtsoffen« halten auch wir für wenig zielführend. In seinem Kommentar benutzt unseres Mitherausgebers Thomas Hagenhofer diesen Kampfbegriff auch gar nicht. Seine Warnung vor »bündnispolitischen Sackgassen« finden wir hingegen sehr berechtigt. Denn was nützen »neue« Bündnispartner (die K. H. Peil leider nicht konkret benennt), wenn sie »alte« (und wichtige Vertraute) verdrängen bzw. ihre Reaktivierung erschweren? Die sachliche Prüfung, ob ein Selbstbild als »Demokratie- und/oder Freiheitsbewegung« (z. B. der Partei Die Basis) substanziell gerechtfertigt ist, halten wir für legitim und notwendig. »Ein strategisches Bündnis zwischen Arbeiter- und Friedensbewegung« und die Vernetzung mit der Klimabewegung bleibt dabei für uns eine unerlässliche, zentrale Kampfaufgabe, bei der es keine bequeme Abkürzung des steinigen Weges gibt und kein Kapitulieren geben darf. Auch hier bedarf es »viel Überzeugungsarbeit in den bestehenden Strukturen«, der wir uns als Zeitschrift auch weiterhin gerne stellen. Eine konstruktive Debatte darüber finden wir sehr wünschenswert. LoG)

Besucherrekord bei den 16. Gramsci-Tagen

Timo Reuter

Die 16. Braunschweiger Gramsci-Tage (www.gramsci-tage.de) fanden am 6. und 7. Oktober unter dem Titel »Der Kapitalismus an den Kipppunkten von Natur und Gesellschaft – Perspektiven für einen nachhaltigen Sozialismus« statt. Am Freitag sprach Prof. Dr. Klaus Dörre zum Thema »Kompass für einen nachhaltigen Sozialismus«, am Abend gab es ein Kulturprogramm von Isabel Neuenfeld zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht. Samstag startete der Tag mit einem Inputreferat von Ingar Solty unter dem Titel »Der globale Kapitalismus in der Dauerkrise«, ergänzt von Ines Schwerdtner und Prof. Dr. Michael Brie. Nach verschiedenen Workshops zur Vertiefung der Themen fand das Abschlussplenum »Eine lebenswerte Zukunft gestalten – wie geht das?« mit Jugendlichen aus Gewerkschaft und politischen Verbänden statt. Die 16. Gramsci-Tage brachen dabei mit rund 200 Teilnehmenden alle bisherigen Besucherrekorde. Besonders erfreulich war die stärkere Beteiligung von jüngeren Menschen als in den Vorjahren.

Prof. Dr. Klaus Dörre1

Wir müssten Kapitalismus heute als etwas begreifen, das wegen seiner ökonomischen Erfolge in Schwierigkeiten gerät und nicht wegen seiner zyklisch wiederkehrenden Krisen, so Klaus Dörre einleitend. Seine erste These daher: »Für moderne, ausdifferenzierte, komplexe Gesellschaften rentiert sich der Kapitalismus nicht mehr, denn diese Gesellschaften müssen einen immer größeren Aufwand betreiben, um den Konkurrenz- und gewinnorientierten Expansionszwang kapitalistischer Marktwirtschaft überhaupt noch am Leben zu erhalten. Deshalb plädiere ich für eine nachhaltig-sozialistische Alternative.« Gewinne seien für die zentralen und führenden Geschäftsmodelle nur noch möglich, wenn die Rahmenbedingungen und negative Einflüsse auf Natur und Mensch aus dem privatkapitalistischen Kalkül herausgerechnet würden. Würde man alle Einflüsse auf die heutige Gesellschaft den Unternehmen und Konzernen in Rechnung stellen, wären kaum mehr privatwirtschaftlich gewinnbringende Produktionen möglich. Als Beispiel nannte er hier das Tesla-Werk in Grünheide, welches nur durch massive Subventionierung durch die Gesellschaft möglich geworden sei.

Seine zweite These: »Sozialistische Ideen des 21. Jahrhunderts müssen ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen. Sie entstehen zumindest in den frühindustrialisierten Ländern, zunehmend aber auch in den großen Schwellenländern, aus einer Kritik an Überproduktivität, Luxusproduktion und Luxuskonsum. Und sie präsentieren sich als Alternative zu einem ›Imperialismus gegen die Natur‹, sie attackieren die Ökonomie der billigen Güter und mit ihr die Abwertung reproduktiver Tätigkeiten. Und sie beanspruchen, gleichwertig mit der Beseitigung von Klassenherrschaft, eine Überwindung aller patriarchalisch, rassistisch oder nationalistisch legitimierten Herrschaftsmechanismen anzustreben. Sozialismus bedeutet heute die Suche nach einem Notausgang, nach Auswegen aus einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Überleben menschlicher Zivilisation infrage stellt.«

Wir müssten die »Arbeit der Natur« stärker in unsere Betrachtungen einbeziehen, denn es existiere kein Dualismus von Mensch und Natur. Der Mensch könne die Natur nicht weiter nur nutzen und beherrschen. Der Kapitalismus habe uns damit in eine ökonomisch-ökologische Zangenkrise geführt, so Klaus Dörre. Diese resultiere aus dem Umstand, dass das wichtigste Mittel des Kapitalismus zur Befriedung sozialer Konflikte die Erzeugung von Wirtschaftswachstum, nach den Kriterien des BIP, sei. Unter seinen heutigen Bedingungen – hoher Emissionsausstoß, hoher Ressourcen- und Energieverbrauch – führe dies zur Verschärfung ökologischer Gefahren, insbesondere des Klimawandels.

Ökologische Nachhaltigkeit sei nur mit sozialer Nachhaltigkeit zu realisieren. Vernachlässige man die soziale Nachhaltigkeit, triebe dies die Menschen, die wir für die Nachhaltigkeitsrevolution brauchten, in die Hände der ökologischen Konterrevolution. Dazu verwies er auf die Studie »Global carbon inequality over 1990–2019« von Lucas Chancel, der darin den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und klimaschädlichen Emissionen untersuchte. Chancel stellte fest, dass die untersuchten Unterschiede 1990 vor allem zwischen den Nationen lagen (Nord-Süd-Gefälle und entwickelte vs. unterentwickelte Länder), hingegen sich 2019 dieses Verhältnis vor allem auf Unterschiede innerhalb der Gesellschaften (Reiche tragen wesentlich mehr zum Klimawandel bei als Arme) verlagert hat. Der Rückgang der Emissionen in den reicheren Nationen wurde insbesondere durch die untere Hälfte der Einkommensbezieher:innen erbracht, wohingegen das reichste 1 % dieser Gesellschaften sogar zugelegt habe. Die Luxusproduktion der Reichsten der reichen Gesellschaften werde damit zum wesentlichen Treiber des Klimawandels.

Wenn von den Teilen der Gesellschaft, die den geringsten Teil zum Klimawandel beitrügen, verlangt werde, sich in Relation zu den Reichen stärker an den Kosten seiner Bewältigung zu beteiligen, während die Reichen weitermachen könnten wie bisher, entstehe ein fundamentales Gerechtigkeitsproblem.

Als Kernelemente eines »nachhaltigen Sozialismus« schlägt Dörre deshalb u. a. vor:

  • Kollektives Selbsteigentum, das die Verantwortung für das Eigentum erhält (Mitarbeitergesellschaften, Genossenschaften, Sozialunternehmen, Stiftungsunternehmen);
  • Umfassende Wirtschaftsdemokratie, mindestens aber die Erweiterung der betrieblichen Mitbestimmung auf Produktionsentscheidungen;
  • Übergang zu einer Qualitätsproduktion langlebiger Güter und nachhaltiger Dienstleistungen nach der einfachen Formel: besser statt mehr, für alle statt für wenige;
  • Demokratische Umverteilung zugunsten der Ärmsten und der Peripherie;
  • Transformations- und Nachhaltigkeitsräte, auf Basis der 17 »Sustainable Development Goals« der UN;
  • Eine robuste, öffentlich finanzierte soziale Infrastruktur, die gesellschaftliche Aufwertung von Sorgearbeit, eine Care-Revolution;
  • Demokratische makroökonomische Verteilungsplanung;
  • Neuorganisation der Arbeitsprozesse und Arbeitsvermögen, Aufhebung der funktionalen Arbeitsteilung, kurze Vollzeit für alle und Zeit für Arbeit an Gesellschaft und Demokratie.

Bei der Formulierung von Alternativen dürfe es keine Bilderverbote geben, Kapitalismuskritik alleine reiche nicht mehr aus. Wer heute von Alternativen spreche, müsse diese benennen, sofern er die Menschen für eine Nachhaltigkeitsrevolution gewinnen wolle. Sozialismus sei heute auch eine Lebensweise.

Ingar Solty2

»Wir müssen uns radikalisieren, wir müssen so radikal sein wie die Wirklichkeit; die Wirklichkeit ist radikal, sie schreit nach Veränderung, sie schreit nach einer Veränderung zum bestehenden System und die heißt immer noch Sozialismus«, so die einleitenden Worte von Ingar Solty. Diese Alternative müsse wieder stärker in die Debatten und die alltäglichen Gespräche eingebracht werden.

Bei seiner Bestandsaufnahme des heutigen Kapitalismus ging der Referent von einer Sechs-Dimensionen-Krise aus:

  1. Krise des kapitalistischen Akkumulationsmodells, spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007/2008 erreichte dies auch die kapitalistischen Zentren;
  2. Krise der Geschlechterverhältnisse, die durch eine Unterfinanzierung der sozialen Daseinsvorsorge verschärft wurde;
  3. Krise des sozialen Zusammenhaltes, u. a. durch den Umbau des Sozialstaates (Fördern und Fordern);
  4. Krise der bürgerlichen Demokratie und der politischen Repräsentationsmodelle, Zerfall der Volksparteien, Polarisierung der Gesellschaften;
  5. Krise der Ökologie, der Nachhaltigkeit und des Klimas;
  6. Krise der Weltordnung, Abstieg der Hegemonialmacht USA und Aufstieg Chinas von der verlängerten Werkbank des Westens zu einem Hochtechnologierivalen.

Die Dimensionen der Krise seien nur mit einem Blick auf die Maßnahmen der Regierungen auf die Krise von 2007/2008 zu verstehen. Die USA und die EU wählten damals den Weg der Austerität und wälzten die Krisenlasten auf die breiten Bevölkerungsschichten und die arbeitende Klasse ab, (Halbierung der Löhne in der Automobilindustrie in den USA für Neueingestellte und Abwicklung von Flächentarifverträgen, sowie die Kürzung öffentlicher Ausgaben im europäischen Süden). Die VR China wählte damals den Weg der (durch die KPCh) staatsgelenkten Wirtschaft, der sich heute der westlichen Austeritätspolitik und einer Politik der inneren ökonomischen Abwertung als überlegen erwies. Dies zeige sich in Zukunftstechnologien (künstliche Intelligenz, autonomes Fahren, Cloud- und Big-Data, grüner Industrien), in denen China dem Westen mindestens ebenbürtig sei.

Der Westen stehe nicht erst seit heute an einem Scheideweg, China entweder mit seinen eigenen Mitteln, d. h. einem massiven Staatsinterventionismus, oder militärischen und nichtmilitärischen Mitteln, von seinem Weg abzubringen. Aktuell sei ein Weg der industriepolitischen Nachahmung, z. B. durch den Inflation Reduction Act (Zurückholen ganzer Lieferketten in die USA) oder den CHIPS and Science Act (Förderung der Chipentwicklung und -produktion in den USA), bzw. die massive Förderung für TSMC und Intel in Ostdeutschland zu sehen. Der Westen ginge aktuell den Weg der massiven Förderung von Industriekapital, bei gleichzeitiger Austerität für die arbeitenden Klassen und die privaten Haushalte (Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU). Parallel forciere die NATO eine massive Aufrüstung, manifestiert durch das Bekenntnis aller europäischen NATO-Staaten, ab sofort 2 % ihres BIP für Rüstung auszugeben. Die Option, einen Krieg gegen China zu führen, sei im Pentagon ziemlich weit entwickelt.

Der Ukrainekrieg sei der Katalysator einer neuen Blockkonfrontation und die USA zum jetzigen Zeitpunkt der einzige Gewinner. Russland solle geschwächt und Europa stärker von den USA abhängig gemacht werden. Diese Abhängigkeiten seien dabei:

  1. Energiepolitische; durch Kappung der Versorgung mit russischem Erdgas unter Weltmarktpreisen (Preise aktuell in Europa 3× höher als in USA und 7× höher als in China),
  2. Wirtschaftspolitische; durch forcierte Abkopplung von China,
  3. Geopolitische; durch Militärkapazitäten der USA, sollte es zu einer großen Auseinandersetzung kommen,
  4. Militärindustriepolitische; Bestellungen der Rüstungsgüter im Rahmen der NATO-Aufrüstungspolitik würden in den USA erfolgen.

Ausblickend verwies Ingar Solty darauf, dass es für die gesellschaftliche Linke drei zentrale Herausforderungen gebe. Erstens müsse die Blockkonfrontation und die damit verbundene Abkopplung von China verhindert werden, da mit dieser auch die Zusammenarbeit in Zukunftstechnologien verloren ginge und sie die Gefahr eines großen Krieges berge. Zweitens konterkariere eine Abkopplung auch alle Bekundungen für einen grünen Umbau der Wirtschaft, die z. B. in Fragen der Solar- und Windkraftproduktion, sowie bei Hochgeschwindigkeitszügen auf chinesisches Knowhow angewiesen sei. Drittens müsse die historische Chance der Krise – privates Kapital sei auf staatliche Rettung angewiesen – genutzt werden, um die Eigentumsfrage zu stellen. Wenn nun ein Industriestrompreis gefordert werde, wie es ein Bündnis aus Kapital und Gewerkschaften tut, dann müsse das mit sozialen Garantien für Beschäftigung und einer Überführung von Eigentumstiteln in die öffentliche Hand einher gehen.

Ines Schwerdtner stellte an den Beginn ihres Referats die Feststellung, dass wir es heute mit einer massiven Krise der bürgerlichen Demokratie und ihrer Repräsentation zu tun haben. Wir erlebten eine Phase hoher Politisierung, ohne politische Folgen. Der Neoliberalismus führe bei den Menschen zu einer Individualisierung, bei gleichzeitig abnehmender Organisierung (in Parteien, Verbände, Gewerkschaften, Verein, etc.). Daher sei der größte Gegner des Kampfes für Alternativen die Resignation. Der gesellschaftlichen Linke fehle es an politischer Macht und Strahlkraft, um als Alternative wahrgenommen zu werden.

Strategische Felder, auf denen die gesellschaftliche Linke bereits gezeigt habe, dass sie Kraft und Ausstrahlung entfalten könne, sei die Wohnungsfrage und die Daseinsvorsorge. Diese gelte es wieder stärker aufzugreifen. Zudem brauche sie ein strategisches Zentrum, um ihre Zersplitterung und damit verbundene Schwäche zu überwinden.

Michael Brie wies darauf, dass das Wort »Krise« im chinesischen aus zwei Zeichen bestünde. Dem für Gefahr und dem für Chance. Um aus einer Gefahr eine Chance zu machen, bedürfe es eines handelnden Akteurs. In seiner Analyse hob er sechs für ihn zentrale Punkte hervor:

  • Die lohnabhängige Klasse in Deutschland sei politisch heimatlos geworden;
  • Der Sieg des Neoliberalismus über die alte Linke, habe dem Neofaschismus zum Erfolg verholfen;
  • Die gesellschaftliche Linke habe sich in den vergangenen Jahren zu sehr auf identitätspolitische Fragen und Orientierungen konzentriert und damit versucht, den Neoliberalismus auf seiner eigenen diskursiven Grundlage zu kritisieren;
  • Die Linke müsse dies erkennen und heute verstärkt auf eine klassenpolitische Orientierung, mit dem Ziel einer sozialistischen Klassenpolitik, setzen;
  • Die Partei die Linke habe es nicht geschafft in zentralen Fragen, etwa der Migrationspolitik, oder der Kriegsgefahr, politische Hegemonie zu erringen;
  • Die akademische Linke müsste ihre eigene Klassenlage reflektieren.

Auf die Frage, ob es heute Beispiele für eine erfolgreiche Mobilisierung linker Kräfte und die Entfaltung von sozialistischer Gegenmacht gebe, wurde immer wieder auf die Arbeit der KPÖ in Österreich und die Entwicklung der PvDA in Belgien verwiesen.

Gemeinsame Konferenz österreichischer Kommunist:innen

Anne Rieger, Mitglied im Landesvorstand der KPÖ Steiermark

»Erstmals seit Jahrzehnten könnte die KPÖ wieder im Nationalrat landen«. Dieses Zitat aus der überregionalen Zeitung »Die Presse« beschreibt die Stimmung vieler Medien in Österreich. Es beschreibt aber auch die Stimmung im Grazer Volkshaus am ersten Novemberwochenende. 105 Jahre nach Gründung der KPÖ am 3. November 1918 kamen weit über 300 Kommunistinnen und Kommunisten aus ganz Österreich in der Steiermark zusammen.

Sie berieten, in der ersten gemeinsamen Konferenz nach 20 Jahren, wie das Wahljahr 2024 genutzt werden kann, um die Kommunistische Partei organisatorisch flächendeckend österreichweit zu entwickeln. Zugleich wurde der Grundstein für die Nationalratswahl (vergleichbar Bundestag) im kommenden Jahr gelegt. Die mitgliederoffene Bundeskonferenz beschloss in großer Einigkeit, gemeinsam als »KPÖ – Kommunistische Partei Österreichs« anzutreten. Sie legte die beiden Spitzenkandidat:innen fest. Der 33jährige Bundessprecher Tobias Schweiger aus Wien, der die Wohnkampagnen bundesweit koordiniert und selbst Mietberatungen durchführt, und Bettina Prochaska aus Salzburg, die seit 40 Jahren in der Pflege arbeitet, wurden mit 88,9 bzw. 91,9 Prozent auf die beiden ersten Plätze gewählt.

Das gemeinsame offensive Antreten der KPÖ-Steiermark und der KPÖ-Bund zur Nationalratswahl und der formulierte Anspruch, im kommenden Jahr in den Nationalrat einzuziehen, führte nach jahrelangem Verschweigen zu einem enormen österreichweiten Medienecho.

Was rief die Aufmerksamkeit der Medien hervor? In dem Land, in dem die FPÖ seit Monaten bei Wahlumfragen mit 29 Prozent vor der SPÖ mit 23 Prozent, und der ÖVP mit 21 Prozent an der Spitze liegt, werden das frische entschlossene Auftreten, die selbstbewusste Anstrengung der KPÖ, politisch wahrgenommen und sind medial nicht mehr zu ignorieren.

Was bringt die KPÖ dazu, diese Herausforderung anzunehmen? Wie überall ist das Leben für der Mehrheit der Menschen kaum mehr bezahlbar. Die Preise wurden enorm erhöht, stärker als in den übrigen EU-Ländern. Wohnen, Heizen, Essen, Energie, alles wird zunehmend für viele, bis in den Mittelstand hinein, zur Existenzfrage. Die Regierung hat trotz vielfacher Aufforderung – aus unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Lagern – nicht in die Preise eingegriffen, sie nicht reguliert. Vielmehr hat sie durch Einmalzahlungen die Teuerung weiter angefeuert, den Profiten der Konzerne zuliebe.

Soziale Themen, die der breiten Mehrheit der Menschen unter den Nägeln brennen, stehen daher im Mittelpunkt der Forderungen der KPÖ im Superwahljahr: Mieten und Wohnen, Teuerung und Wirtschaftskrise, Pflege und Gesundheit, Frieden und Neutralität, Klima und Ökologie sowie Bildung. Entsprechend werden die Kandidaturen auf der Basis marxistischer Standpunkte erarbeitet und vorbereitet. Die beiden Spitzenkandidat:innen repräsentieren mit ihrer Arbeit die Wohnungs- und Pflegefrage.

Die ermutigenden Ergebnisse der Wahlen in der Steiermark und Salzburg (Grazer Gemeinderat 29 Prozent, Salzburger Landtag 12 Prozent), aber auch achtbare Wahlergebnisse darüber hinaus, spornen die Kommunist:innen an, sich gemeinsam den Herausforderungen von sechs Wahlkämpfen in einem Jahr zu stellen. Dabei werden genau die brennenden Themen und die damit verbundene politisch-soziale Arbeit in den Mittelpunkt von Wahlkämpfen, Kampagnen gerade aber auch von Beratungen/Unterstützungen gestellt werden. Verbunden mit der große Einigkeit und in dem Willen, als nützliche Partei für und mit den Menschen voran zu kommen, öffnet sich ein Fenster für deutliche bessere Ergebnisse bei der Nationalratswahl. 2019 wählten 0,7 Prozent die KPÖ.

Seit Monaten wurde die bundesweite gemeinsame Konferenz vorbereitet. Der harmonische Ablauf, die solidarischen, durchaus auch kontroversen, Redebeiträge waren das Ergebnis. Deutlich verjüngt, nicht nur der Bundesvorstand, sondern auch die Mitglieder. Das zeigte sich in den engagierten Redebeiträgen der Jugendorganisationen: »Wir wollen einen wesentlichen Beitrag zur Nationalratswahl leisten und als Junge Linke hunderte junge Menschen, vom Bodensee bis zum Neusiedlersee, für unsere Interessen, für eine Partei der arbeitenden Klasse, auf die Straße bringen. … Unsere Generation braucht eine starke Kommunistische Bewegung, die Orientierung bietet, die Alternativen aufzeigt, die Verzweiflung und Wut zu Hoffnung macht. Kommendes Jahr bietet sich die Chance, unsere Idee von einer besseren Welt auf die politische Bühne und in den Alltag der Menschen zu bringen«. Die Vertreterin der Kommunistischen Jugend ergänzte: »Denn nur wir Kommunist:innen können diese Alternative bieten: Und das ist der Sozialismus. Ein System, wo nicht jeder vierte Jugendliche unter Depressionen leidet. Ein System, in dem die Erde nicht brennt. Ein System, wo Krieg kein Normalzustand ist«.

Am zweiten Tag, mit immer noch über 200 Mitgliedern, wurden in sechs Programmforen die Schwerpunkte und Formulierungen für das kommende Wahljahr beraten. Die Klugheit der Expert:innen des Alltags und die kollektive Intelligenz der Partei gaben den Startschuss für den bundesweiten, nachhaltigen Austausch der Erfahrungen in den Sozialberatungen und Wahlkämpfen. Die Flexibilität der Konferenz zeigte sich auch darin, dass zu den fünf ursprünglich vorgesehenen Schwerpunkten, auf Antrag aus der Konferenz, ein sechster Schwerpunkt, Bildung, beschlossen wurde.

Zuvor freilich sind die zu bestehenden Wahlen, die Arbeiterkammerwahlen in allen neun Bundesländern, die Gemeinderatswahlen in Innsbruck und Salzburg, dort die Oberbürgermeisterwahl, die EU- und Nationalratswahlen sowie die Landtagswahl in der Steiermark, in gemeinsamer Kraftanstrengung für den Aufbau der Partei zu nutzen. In Wahlzeiten erhalten politische Themen erhöhte Aufmerksamkeit bei den Menschen. So kann für unsere Forderungen mehr Interesse geweckt werden. Elke Kahr, die kommunistische Bürgermeisterin in Graz, ist guter Dinge, dass der Einzug in den Nationalrat gelingen und die KPÖ so »den arbeitenden Menschen im Land wieder eine Stimme gibt«.

In der Woche zuvor hatte die KPÖ-Fraktion als einzige im Grazer Gemeinderat gegen das Aufhängen der Israelischen Fahne vor dem Rathaus gestimmt. »Wir begrüßen alle Initiativen der Stadt Graz für Deeskalation und für ein friedliches, respektvolles Zusammenleben, gegen die Dehumanisierung ganzer Menschengruppen. Und darum meinen wir, dass das Hissen einer Nationalflagge in diesem komplexen Konflikt nicht das richtige Zeichen ist. Wir können uns keineswegs auf die Seite der aktuellen Regierung Israels, geführt von Benyamin Netanyahu, stellen. Führende israelische Politiker:innen haben sich in einer Weise geäußert, die die Spirale der Gewalt nur weiter vorantreibt«, hieß es aus der KPÖ-Fraktion.

»Wir haben einen schrecklichen politischen Fehler begangen«

Jeffrey Sachs

Wenige Tage vor den Jubelfeiern zum »Tag der deutschen Einheit« und dem Massaker von Hamaskämpfern an israelischen Zivilisten fand am 1. Oktober 2023 im Frankfurter Haus Gallus eine bemerkenswerte Friedenskonferenz statt, mit etwa 250 Teilnehmenden in Präsenz und ebenso vielen Online-Zuschaltungen. Eingeladen hatte die »Initiative Frieden schaffen!«, der sich selbst so bezeichnenden »Viererbande« Peter Brandt, Reiner Braun, Reiner Hoffmann und Michael Müller.

Die Veranstaltung hat gezeigt, dass der Widerstand gegen die von der Bundesregierung getragene Kriegspolitik gegen Russland auch in Teilen der SPD verankert ist. Dies wurde in Beiträgen zu dieser Konferenz dokumentiert, wie z. B. vom früheren EU-Kommissar Günter Verheugen, der früheren SPD-Spitzenpolitikerin Bärbel Dieckmann und dem ehemaligen IG Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters. Die Video-Mitschnitte aller aufgezeichneten Einzelbeiträge sind abrufbar unter www.friedenschaffen.net/2023/10/02/video-mitschnitte-der-friedenskonferenz-vom-1-10-2023-in-frankfurt/. Wir dokumentieren hier den Beitrag des bekannten US-Ökonomen Jeffrey Sachs.

Ich bin sehr dankbar für die Gelegenheit, heute bei Ihnen zu sein. Ich bin dankbar dafür, dass ich jederzeit die Möglichkeit habe, über den Frieden zu sprechen, vor allem mit Ihnen in Deutschland, wo es für Deutschland und für uns alle so wichtig ist, dass wir in Bezug auf den Ukraine-Krieg die richtigen Antworten finden. Denn bisher haben wir beim Finden von Antworten versagt!

In der Tat glaube ich, dass wir uns gerade in einer Art Endphase befinden. Es ist ein sehr dramatischer Moment. Vielleicht wissen unsere Mainstream-Medien das nicht richtig einzuschätzen, aber wir müssen in den nächsten Wochen einige wichtige Entscheidungen treffen. Der Grund hierfür ist das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive sowie der Rückgang der internationalen Unterstützung. Die Verwüstungen in der Ukraine sind immens. Es ist wirklich ein Blutbad. Die Ukraine ist durch die gescheiterte Gegenoffensive mit massiven Verlusten an Menschen und Ausrüstung schwer geschwächt worden. Russland wird wahrscheinlich schon sehr bald eine große und sehr gefährliche Gegenoffensive starten.

Ich halte das für wahrscheinlich, und ich denke, dass die Folgen für alle, für die Ukraine, für Europa und schließlich für die gesamte Welt sehr, sehr groß sein könnten, wenn wir jetzt nicht verhandeln, um die Ukraine zu retten. Ich war schon immer der Meinung, dass dieser Krieg in vielen Punkten hätte vermieden werden können, dass es ein Krieg ist, der im Wesentlichen von den USA verursacht wurde. Insbesondere wegen der US-amerikanischen Idee, die NATO auf die Ukraine und sogar auf Georgien und den östlichen Rand des Schwarzen Meeres auszudehnen. Es ist nicht nur eine alte US-Idee, sondern sogar eine alte britische Idee, denn es war im Grunde die britische, imperiale Idee des Krimkriegs, um die russische Macht vom Schwarzen Meer zu verdrängen. Brzeziński hat diese Idee in den 1990er Jahren wiederbelebt und unsere Neokonservativen in den Vereinigten Staaten versuchen seit mehr als 25 Jahren, sie in die Tat umzusetzen.

Dies ist also ein Krieg, der im US-amerikanischen Unilateralismus und Neokonservatismus verwurzelt ist. Das ist nicht die Art und Weise, wie der Krieg in unseren Medien dargestellt wird, die den Menschen die Geschichte, die sie brauchen, völlig vorenthalten. Wie jeder in diesem Raum weiß, bin ich mir sicher, dass Hans Dietrich Genscher und James Baker sich gegenüber Präsident Gorbatschow sehr deutlich geäußert haben. Die NATO wird sich nicht nach Osten bewegen. Die Vereinigten Staaten haben gemogelt und Deutschland hat mitgespielt. Die Osterweiterung der NATO begann unter Clinton und beschleunigte sich unter George Bush mit sieben neuen NATO-Mitgliedsstaaten im Jahr 2004. Aber der große entscheidende Moment war die Durchsetzung der Aussicht auf eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008. Wir wissen, dass Bundeskanzlerin Merkel und die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs sehr dagegen waren. Aber offen gesagt, die europäischen Staats- und Regierungschefs boten den Vereinigten Staaten ebenso wenig die Stirn, wie es ihr aktueller Kanzler im Moment tut. Die USA drängten auf eine Verpflichtung zur NATO-Erweiterung für die Ukraine und Georgien, obwohl die europäischen Staats- und Regierungschefs wussten, dass dies sehr gefährlich und fehlgeleitet war, und unsere eigenen US-Diplomaten wussten, dass dies ein Fehler war.

Details

Seiten
168
ISBN (ePUB)
9783961703715
ISBN (PDF)
9783961706716
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Januar)
Schlagworte
marxistische Blätter

Autor

  • Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)

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Titel: »Dass ein gutes Deutschland blühe …«