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Weil der Mensch ein Mensch ist – Marxismus & Abolitionismus

Marxistische Blätter 3_2024

von Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)
©2024 160 Seiten
Reihe: Marxistische Blätter, Band 3_2024

Zusammenfassung

Das Thema: Abolitionismus & Marxismus, Vanessa E. Thompson; Kriminalpolitischer Abolitionismus, Johannes Feest; Für eine Gesellschaft ohne Gefängnisse, Klaus Jünschke; Strafrecht modernisiert, Armut bleibt, Britta Rabe; Freiheit hinter Gittern: Das Berliner Gefängnistheater aufBruch, Hans-Dieter Schütt; Kampf gegen Polizeigewalt, Gruppe Death in Custody; Die Psychiatrie und der (gewalt-)tätige Staat – nebst einer kurzen Abschweifung über den Handel mit Irrsinn, Ulrich Lewe; Restorative Justice: ein neuer alter Weg, Rehzi Malzahn; KPD und Strafrechtsreform in der Weimarer Republik, Volkmar Schöneburg; 100 Jahre Rote Hilfe Deutschlands, Silke Makowski
Kommentare: Rechtsruck in der EU, Ulrich Schneider; US-Squad gegen China, Vijay Prashad; Der neue McCarthyismus, Hank Kalet/Sean T. Mitchell (USA), Die Nachwahl von Rochdale, Niall Farrell (Irland); Leuchtturmprojekt Litauen-Brigade, Jürgen Wagner; Postreform, Andreas Springer-Spieß; Verfassungsschutz: Stigmatisieren durch Datenübermittlung, Rolf Gössner
Positionen: Gewerkschaften für Waffenstillstand in Gaza, Kurt Stand (USA); Quellen des Antisemitismus & Zukunft Israels und Palästinas, Conrad Schuhler; Lateinamerika, Peter Gärtner (Teil 2); Digitales Zentralbankgeld, Klaus Wagener
Marxismus – nicht nur für Einsteiger: Fetischismus von Ware, Geld und Kapital, Holger Wendt; Konferenzberichte, Rezensionen.
Beilage: Die Evolution des Imperialismus, Vijay Prashad (Tricontinental Institute)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bandenwerbung der besonderen Art

Lothar Geisler

Am Abend des 1. Juni schrieb mir ein Freund und Genosse mitfühlend: »Schade, dass es nichts mit der schwarz-gelben Siegesfeier geworden ist.« Meine spontane Antwort: »Lass uns das doch positiv sehen und als erste Niederlage von Rheinmetall feiern.« Denn der Rüstungskonzern Rheinmetall ist wenige Tage vor dem Championsleague-Finale gegen Real Madrid zum Sponsor des Dortmunder BVB 09 avanciert und darf für ein paar Millionen Euro Blutgeld aus der PR-Kasse in den nächsten Jahren Bandenwerbung im Fußballstadion machen. Mal abgesehen davon, dass »Bandenwerbung« eine ganz neue Bedeutung kriegt, wenn eine (Kriegs-)Verbrecherbande Werbung für ihr todbringendes Geschäft machen darf: Das haben weder der Verein noch seine Fans verdient, von denen keiner gefragt wurde und einige auch heftig protestiert haben.

Wenn uns nun findige PR-Fuzzis das als »normales« Sponsoring eines »normalen« Sponsors verkaufen wollen, dann dauert es sicher nicht lange bis Kriegsminister Pistorius uns weiszumachen versucht, der Bau von deutschen Militärstützpunkten irgendwo im Ausland habe nichts mit Kriegsvorbereitung zu tun, sondern mit sozialem Wohnungsbau oder Bildungspolitik. Denn dauerhaft im Ausland stationierte Kriegstüchtige brauchen dort natürlich Wohnungen für ihre Familien, KiTas und Erzieher:innen sowie Schulen und Lehrer:innen für ihre Kinder. (Auch das sind übrigens Rüstungsausgaben.)

Rheinmetall ist kein »normales« Unternehmen, sondern der tüchtigste deutsche Rüstungskonzern, Produzent von Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Waffensystemen und dazugehörige Munition aller Art. Wo auch immer diese Panzer rollen, klingelt die Kasse beim Kriegsprofiteur Rheinmetall.

Ja, Ja die Gewalt. Sie scheint auch in unserem Alltag »unten« zugenommen zu haben, – in Stadien, in Schulen, in Familien, auch gegenüber helfenden Berufsgruppen, Feuerwehren, Sanitätern, Ärzten. Auf jeden Fall ist sie ein Be-Dauer-Thema in Medien, Studien, Politikerreden. So bedauerte jüngst sogar Bundespräsident Steinmeier anlässlich von »75 Jahren Grundgesetz« »eine Verrohung politischer Umgangsformen in Deutschland«. Was er nicht bedauerte, ist die unübersehbare Verrohung politischer Umgangsformen »oben« in den Führungsetagen der Bundesrepublik, wo man Probleme – im Sozialen wie in der Außenpolitik- nurmehr als Probleme innerer wie äußerer Sicherheit sieht und dabei gewaltsam abgeräumt hat, was mal als »Sozialstaat« und in friedlicher Koexistenz mit allen Nachbarstaaten und -völkern existieren sollte. (Von der »Abwicklung« der DDR und der Abwertung der Lebensleistung ihre Bürger:innen ganz zu schweigen.) Zwischen dieser Gewalt von da oben und der Gewalt hier unten besteht aber ein Zusammenhang.

»Das Friedensgebot des Grundgesetzes liegt im Niemandsland.« schreibt Heribert Prantl in seinem sehr lesenswerten Buch »Den Frieden gewinnen, die Gewalt verlernen.« Und: »Tüchtigkeit – das ist kein Wort, das man mit Krieg verbinden darf … Ein echter, ein ernster Friede ist einer, der befriedet und nicht den Anlass für den nächsten Krieg in sich trägt.«

Richtig bleibt darum: Waffen liefern keinen Frieden. Und Rüstungspropaganda ist »Werben fürs Sterben«. Das hat auch in Stadien so wenig zu suchen wie gewalttätige Hooligans, die ihre »Fan-Feindschaften« am Rande von Fußballspielen austoben!

In gemeinsamer Sache

Geldhahn zugedreht

Wie man den Geldhahn als Disziplinierungsinstrument einsetzt, führt uns die Kreisverwaltung im Landkreis Oder-Spree aktuell und exemplarisch vor: sie zahlte der linken Fraktion die ihr zustehenden Gelder im Mai einfach nicht aus. ND (31.5.) und MOZ (1.6.) berichteten ausführlich darüber.

Der Grund: das in Kooperation mit unserem Neue Impulse Verlag herausgegebene Buch des Fraktionsvorsitzenden Dr. Artur Pech »Marx und Engels über Migration – Einführung für den politischen Gebrauch« ist ganz offensichtlich nicht in ihrem Sinne. 450 Exemplare dieses Buches hatte die Fraktion finanziert und (wie schon eine Vorläufer-Broschüre) kostenlos verbreitet, u. a. an interessierte (Kommunal-)Politiker:innen und Aktivist:innen. Zusätzlich bieten wir das Buch über unseren Versandhandel für ein breiteres, politisch interessiertes Publikum an.(https://neue-impulse-verlag.de/shop/item/9783961700691/marx-und-engels-uber-migration-von-dr-artur-pech)

Der unbeabsichtigte Kollateralnutzen dieser Disziplinierungsmaßnahme: ein sprunghafter Anstieg der Buchbestellungen bei uns. Gerne weiter so! Der Autor steht übrigens auch als Referent und Diskussionspartner zur Verfügung. Anfragen an: log@neue-impulse-verlag.de
leiten wir gerne weiter.

»Marxistisches Denken …

in Sozialwissenschaften und sozialer Arbeit« war das Motto einer sechsteiligen Vortragsreihe an der Universität in Kassel, mitorganisiert von studentischen Tutor:innen. (Ja, sowas gibt es noch oder: wieder …) Gastvorträge hielten dort auch unsere Mitherausgeber:in Freya Pillardy, Kassel und Joachim Hösler, Marburg. Der Einführungsvortrag von Rainer Bohn »Ist der Marxismus eine – überholte – Moralphilosophie?« fiel Mitte April der Deutschen Bahn zum Opfer. Im Zug von Berlin strandete der Referent im Irgendwo. Sein Vortrag wird aber am 16. Juli nachgeholt. (18 bis 20 Uhr, Raum 0401, Arnold-Bode-Straße 2) Gäste sind herzlich willkommen. Leser:innen der Marxistischen Blätter empfehlen wir sein Buch »Marxistisches Denken« und die Rezension desselben durch Kirsten Aner in dieser Ausgabe (siehe Seite 143).

Beim Pfingstausflug
nach »Leningraz«,

wo die Marxistischen Blättern herzlich zum »Willi-Gaisch-Seminar der KPÖ« im Grazer Kulturhaus eingeladen waren, konnte auch ihr verantwortlicher Redakteur in den verschiedenen Polit-Runden und in zahlreichen persönlichen Gesprächen am Büchertisch Argumente, Kraft und Optimismus tanken. Und eine streitbar-solidarische Diskussionsatmosphäre live erleben, die ohne Zweifel zum Erfolg der KPÖ beiträgt.

Ludwig Elm und Thomas Metscher,

zwei profilierte marxistische Wissenschaftler sowie langjährige, treue Freunde und Autoren unserer Zeitschrift haben die 90 geschafft. Dem einen gratuliert Raimund Ernst im Namen von Verlag und Redaktion ganz herzlich (siehe Seite 5). Den anderen ehren wir darüber hinaus, in dem wir sein neues Buch zum Thema »Kunst und Revolution« herausgeben (Siehe Umschlagseite 2).

Zahl des Monats: <30

Weniger als 30 Prozent der DKP-Mitglieder sind Abonnent:in oder Mitleser:in unserer Marxistischen Blätter. So ein für uns interessantes Detail der Mitgliedsbuchneuausgabe, deren Ergebnisse in der DKP diskutiert werden.

Ludwig Elm zum 90. Geburtstag

Raimund Ernst

Dass runde Geburtstage einen willkommenen Anlass bieten, den Jubilar in seiner Lebensleistung zu würdigen, ist ebenso bekannt wie selbstverständlich. Unter Historikern gilt dies um ein Vielfaches mehr, da diese Tage immer zugleich Tage der Erinnerung sind, also Tage, die ein individuelles Leben in seiner Geschichtlichkeit erfassen. Ludwig Elm hat in kluger Voraussicht mit seinen 2018 erschienenen Erinnerungen einen Rahmen abgesteckt, in dem er sich persönlich und beruflich durch drei deutsche Staaten hinweg aufgehoben sah.1 Damit hat er zugleich auch den Rahmen für seine Würdigung anlässlich runder Geburtstage und ähnlicher Jubiläen umrissen. Die Geschichte war ihm zeit seines Lebens nicht nur die selbst gewählte Profession, sie war ihm auch sein Lebensinhalt. Beides galt es für ihn besonders nach dem Anschluss der DDR zu verteidigen. In den Bemühungen um die Verteidigung wurde erst recht deutlich, was erreicht worden war und was vor dem Vergessen bewahrt werden musste. Seine politische Haltung und Moral verboten ihm, sich nach 1989 aus seiner Geschichte zu entfernen, aus der Geschichte seines Lebens und seines Staates. So war es für ihn nur konsequent, seiner Partei, der von der SED zur PdS gewandelten Partei, weiterhin als Mitglied anzugehören und für diese 1994 zum Bundestag zu kandidieren. Schwerpunkt seiner Tätigkeit als Abgeordneter war die Mitarbeit in der Enquete-Kommission zur »SED-Diktatur« von 1995 bis 1998. Ziel und Zweck dieser Kommission waren von Seiten der Regierung vorgegeben, standen also von Anfang an fest und hatten mit einer vorurteilsfreien Geschichtsforschung nichts zu tun. Die perfide Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft der DDR mit dem verbrecherischen Regime des deutschen Faschismus wurde konstitutiv für das historisch-politische Selbstverständnisses der wiedervereinigten Bundesrepublik. Wieder einmal blieben Wahrheit und Wahrhaftigkeit auf der Strecke, so wie es nach dem Krieg bei der Beantwortung der Frage nach Schuld und Verantwortung für Faschismus und Krieg geschehen war. Anliegen der Herrschenden war die Verankerung des Antikommunismus im Bewusstsein der Bevölkerung, Antifaschismus und politische Lehren aus der Geschichte hatten keinen Platz in der Bundesrepublik und verloren nach dem Anschluss ihre bisherige Heimstatt, die DDR. Auf diese Weise hatte die aktuelle Politik den Wissenschaftler Elm eingeholt, der Jahrzehnte zuvor in Jena die verhängnisvolle Rolle des deutschen Konservatismus zu einem international beachteten Forschungsgegenstand gemacht hatte.

Mit seinem Leben und Wirken hat sich Ludwig Elm nicht nur als ein unbestechlicher und wahrhaftiger Chronist seiner und der vergangenen Zeit erwiesen, sondern er hat bis heute Geschichte bezeugt, er hat ein klares, historisch zu nennendes Zeugnis abgelegt. Ihm ist es so auf glaubhafte Weise gelungen, bei sich selbst zu sein und der Sache treu zu bleiben.

Lieber Ludwig Elm, Dir – im Namen von Redaktion und Herausgeberkreis der Marxistischen Blätter – unseren herzlichen Glückwunsch zum 90. Geburtstag!

1 Ludwig Elm, Geschichte eines Historikers – Erinnerungen aus drei deutschen Staaten, PapyRossa 2018; siehe auch Rezension in den Marxistische Blätter 2_2019, S. 124 f.

Wahlen zum Europäischen Parlament

Ulrich Schneider

Die Kommentare der bürgerlichen Leitmedien am Tag nach den Wahlen zum Europaparlament klangen wie »lautes Pfeifen im dunklen Wald«. Man war glücklich, dass die zur Fraktion der »Europäischen Volkspartei« (EVP) gehörenden Parteien ihre relative Mehrheit behalten haben. Das war – nach allen Prognosen – durchaus erwartbar gewesen, stellt also keine Überraschung dar. Für Deutschland wurde hervorgehoben, dass »die Parteien der Ampel« abgestraft worden seien, wobei der Absturz der GRÜNEN gerne darunter subsummiert wurde.

Nur selten wurde angemerkt, dass die Wahlbeteiligung wieder einmal sehr gering ausgefallen ist. Von den 350 Mio. Wahlberechtigten nahmen gerade einmal gut 50 % an der Wahlen teil. Wenn man sich aber nur einmal die nichtssagenden Wahlplakate und die öffentliche »Waschmittel«-Werbung der Parteien anschaut, konnte das nicht überraschen. Klare politische Botschaften suchte man bei den großen Parteien vergeblich. Das »Schlusslicht« bei der Wahlbeteiligung bildete diesmal Litauen mit knapp 29 %. In Estland, wo man sogar online abstimmen konnte, beteiligten sich mal gerade 37,8 %. Selbst Frankreich und Spanien kamen nur auf etwa 50 % Beteiligung.

Betrachtet man die Ergebnisse der großen Fraktionen im Einzelnen, dann fallen folgende Resultate ins Auge: Während die konservativen Parteien der EVP ihre Mandate ausbauten, musste die Fraktion der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas (PSE) in zahlreichen Ländern signifikante Stimmenverluste hinnehmen, konnte jedoch dank einzelner nationaler Erfolge ihren Anteil an Mandaten ungefähr halten. Damit bestätigten sich auf europäischer Ebene Tendenzen bei nationalen Wahlen. Massive Verluste mussten die ökologisch-orientierten Parteien hinnehmen, nicht nur in Österreich und Deutschland. »Klimaschutz« und ökologischer Umbau der Gesellschaften fand in verschiedenen europäischen Ländern deutlich weniger Zustimmung, als von diesen Parteien erhofft. Hinzukommt, dass diese Parteien in der Regierung oftmals Klientelpolitik betreiben und keine Antworten auf die negativen sozialen Folgen des Umbaus haben. Unklar ist nach diesem Wahltag, wohin die 98 Mandate der »Fraktionslosen« und bisher nicht im Europaparlament vertretenen Parteien tendieren werden. Es steht zu befürchten, dass nicht wenige von ihnen sich den Rechtsfraktionen zurechnen lassen, die schon jetzt mit 131 Abgeordneten fast so stark sind, wie die PSE-Fraktion.

Tatsächlich ist der Zuwachs der extremen Rechten bei diesen Wahlen signifikant. In Österreich wurde die FPÖ mit 25,7 % (+9 %) stärkste Kraft – eine schlechte Voraussetzung für die Parlamentswahlen im Herbst. In Polen, wo nur etwa 40 % zur Wahl gingen, erzielte die extreme Rechte von PiS und Konfederacja die Hälfte der Mandate. In Belgien kamen die flämisch-nationalistischen Parteien auf über 27 %, während in Frankreich die 31,5 % der LePen-Partei »Rassemblement National« einen Erdrutschsieg bedeuten. Präsident Macron kündigte noch am Wahlabend Neuwahlen in Frankreich an. In Italien und Ungarn konnte die extreme Rechte ihre politische Dominanz deutlich bestätigen, wobei die taktisch erfolgreiche Variante von Giorgia Meloni (»Fratelli d’Italia«) sich mit etwa 30 % gegen Matteo Salvinis Lega und Forza Italia (jeweils knapp 9 %) durchsetzen konnte. In Deutschland kam die AfD auf knapp 16 %. Erkennbar ist, dass hier die gesellschaftliche Mobilisierung gegen Rechts und das mediale Trommelfeuer die »Stammwähler« der AfD nicht erreichte. In den östlichen Bundesländern wurde die AfD mit Abstand stärkste Kraft.

Ob dieser Stimmenzuwachs praktischen Einfluss im Europaparlament erreicht, hängt davon ab, wie es der extremen Rechten gelingt, eine gemeinsame Fraktion zu bilden. Diese wäre dann die drittstärkste Kraft und hätte damit Einfluss auf die Besetzung von Ausschüssen und anderen parlamentarischen Gremien.

Die politischen Konflikte im Vorfeld der Wahlen, der Ausschluss der AfD aus der rechten Fraktion »Identität und Demokratie« (ID) und andere Verwerfungen waren taktische Geplänkel, mit denen man sich die erhofften Stimmengewinnen z. B. in Frankreich und Italien nicht gefährden lassen wollte. Schon jetzt ist erkennbar, dass LePen und Meloni ihren Einfluss nutzen werden, um für eine Unterstützung der erneuten Kandidatur von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin ein Höchstmaß an Zugeständnissen für die eigene Politik herauszuschlagen.

Und die Linken? Dank einiger erfreulicher nationaler Ergebnisse, wobei besonders die Resultate der »Parti du Travail de Belgique« (PTB/ PvdA) (10,6 %) und der linken Alternative in Finnland (17,3 %) zu nennen sind, konnte die Fraktion trotz deutlicher Verluste z. B. der Partei die LINKE ihren Mandatsanteil halten. Es wird jedoch darauf ankommen, wie es gelingt, die unterschiedlichen Kräfte in einer gemeinsamen Fraktion zusammenzuführen. Die Parteien der »Europäischen Linken« (EL) alleine reichen nicht aus, um tatsächlich Einfluss ausüben zu können. Wie aber will man mit den zwei Abgeordneten der griechischen KKE oder den sechs Abgeordneten der deutschen BSW umgehen, deren Positionen deutlich divergieren?

Betrachtet man die Wahlkampfthemen in den verschiedenen Ländern, dann sind drei Aspekte auffällig, die zu den Ergebnissen beigetragen haben.

Zwar hat sich die soziale Situation in vielen Ländern Europas in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert, dennoch prägte dies nur in Einzelfällen die politischen Debatten. Wo es gelang, dieses Thema in den Vordergrund zu rücken, z. B. in Belgien, erreichten linke Kräfte gute Wahlergebnisse. Insgesamt blieb das Thema aber im Hintergrund.

Stattdessen gelang es der extremen Rechten das Thema Migration und Flüchtlingspolitik mit ihren rassistischen Implikationen (»Ausländerkriminalität«) zum Debattenthema zu machen. Die Ethnisierung des Sozialen (»Ausländer nehmen uns die Wohnungen weg«) war für Wahlentscheidungen einflussreicher, als solidarische Antworten auf die Abwälzung der Krisenlasten auf die Masse der Bevölkerung.

Auffällig war, dass die Friedensfrage (Krieg in der Ukraine, Gaza-Krieg) in den gesellschaftlichen Debatten zwar eine Rolle spielte, aber die Wahlergebnisse nur begrenzt beeinflusst hat. Das dürfte zwei Gründe haben. Erstens gab es in den jeweiligen Ländern nur einzelne Parteien, die – im Widerspruch zur Politik der Regierungen – eine klare Ablehnung der Kriegspolitik vertraten. Zweitens war die bellizistische Haltung der EU-Kommission und die von ihr betriebene Militarisierung der EU eher ein Grund, sich nicht an den Wahlen zu beteiligen.

Die Wahlergebnisse stehen in gewissem Widerspruch zur zivilgesellschaftlichen Intervention in diesen Wahlkampf. Selten gab es so viele Initiativen von Gewerkschaften bis Fridays for Future, von antifaschistischen Organisationen bis zu Sozialverbänden, die mit inhaltlichen Positionen für eine Beteiligung an der Europawahl geworben haben. Diese Mobilisierung sollte Ansatzpunkt für linke Politik nach dieser Wahl sein, indem die gewählten Abgeordneten deutlicher mit den hier vertretenen sozialpolitischen Forderungen auf europäischer Ebene konfrontiert werden.

Die US-»Squad« gegen China

Vijay Prashad

Anfang April 2024 hielten die Seestreitkräfte von vier Ländern – Australien, Japan, den Philippinen und den Vereinigten Staaten – ein Manöver im Südchinesischen Meer ab. Australiens Warramunga, Japans Akebono, die philippinische Antonio Luna sowie die US-amerikanische Mobile arbeiteten in diesen Gewässern zusammen, um ihre gemeinsamen Fähigkeiten zu stärken und – wie sie in einer gemeinsamen Erklärung sagten – »das Recht auf freie Schifffahrt und Überflug sowie die Achtung der maritimen Rechte gemäß dem internationalen Recht« zu wahren. Einige Wochen später, zwischen dem 22. April und dem 8. Mai, operierten Schiffe der Philippinen und der Vereinigten Staaten gemeinsam mit australischen und französischen Marineeinheiten bei der Übung Balikatan 2024.

Für diese Balikatan-Übung (»Schulter an Schulter«) nahmen über 16.000 Soldaten in einem Gebiet des Südchinesischen Meeres teil, das außerhalb der Hoheitsgewässer der Philippinen liegt. Neben den Marinen dieser Nationen nahm auch die Küstenwache der Philippinen an der Übung Balikatan teil. Das ist bedeutsam, da die Boote der Küstenwache am häufigsten auf chinesische Schiffe in diesen internationalen Gewässern treffen, von denen ein Teil zwischen China und den Philippinen umstritten ist. Obwohl die offiziellen Dokumente dieser Übungen China nicht namentlich erwähnen, sind sie fraglos als Teil der zunehmenden militärischen Aktivitäten gedacht, die von den Vereinigten Staaten entlang der maritimen Grenze Chinas vorangetrieben werden.

Während der Balikatan-Übung attackierten und versenkten die Marineschiffe der Philippinen und der Vereinigten Staaten gemeinsam das außer Dienst gestellte Schiff der Republik der Philippinen Lake Caliraya. Das in China gebaute Schiff war 2014 von der Philippine National Oil Company der Marine gespendet worden. Die Tatsache, dass es das einzige Schiff in der philippinischen Marine war, das in China gebaut wurde, blieb in China nicht unbemerkt. Oberst Francel Margareth Padilla-Taborlupa, eine Sprecherin der Streitkräfte der Philippinen, behauptete, dies sei »reiner Zufall«.

Während Balikatan trafen sich die Verteidigungsminister der vier Hauptnationen in Honolulu, Hawaii, um die politischen Implikationen dieser militärischen Übungen vor der Küste Chinas zu diskutieren. Australiens Richard Marles, Japans Kihara Minoru, Gilberto Teodoro von den Philippinen sowie der US-amerikanische Lloyd Austin trafen sich zu ihrer zweiten Begegnung, um ihre Zusammenarbeit in der Region zu besprechen, die sie den Indopazifik nennen. Am Rande dieses Treffens begannen die PR-Teams dieser Minister, den Begriff »Squad« (Spezialeinheit) für diese vier Länder zu verbreiten. Obwohl sie die Schaffung eines neuen Blocks in Ostasien nicht formell ankündigten, verkündet dieser neue Spitzname de facto seine Existenz.

Vom Quad zur Squad

2007 trafen sich die Führer von Australien, Indien, Japan und den Vereinigten Staaten in Manila (Philippinen), um den Quadrilateralen Sicherheitsdialog (oder Quad) zu etablieren, während ihre Militärs die Übung Malabar im philippinischen Meer durchführten. Das Quad schloss anfangs die Philippinen nicht ein, deren damalige Präsidentin – Gloria Arroyo – bemüht war, die Beziehungen zwischen ihrem Land und China zu verbessern. Das Quad entwickelte sich nicht weiter, da der australische Premier Kevin Rudd unfroh mit Washingtons wachsender Feindseligkeit gegenüber Peking war. Das Quad wurde 2017, erneut in Manila, wiederbelebt, mit einer klareren Agenda, gegen Chinas Belt-and-Road-Ambitionen in der Region vorzugehen (die US-Außenminister Rex Tillerson als »räuberische Wirtschaft« bezeichnete).

Im Laufe der letzten zwei Jahre waren die USA frustriert über Indiens Unbehagen mit der Art von Druckkampagne, die die USA gegen China und Russland aufbauen. Indien weigerte sich, den Kauf von ermäßigter russischer Energie einzustellen, was eine pragmatische Entscheidung während einer Wahlperiode war (und Indiens Kauf russischer Energie im Laufe der Zeit zurückgegangen ist). Auf die Frage, ob Indien erwägen wird, ein NATO+-Mitglied zu werden, erklärte Indiens Außenminister S. Jaishankar, dass Indien nicht die »NATO-Mentalität« teilt. Indiens Zurückhaltung, sich dem lautstarken Neuen Kalten Krieg gegen China anzuschließen, verärgerte die US-Regierung, die daher beschloss, das Quad beiseite zu legen und die Squad mit der willigeren und eifrigeren Regierung des philippinischen Präsidenten Bongbong Marcos zu bilden. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass Indien im April eine Lieferung von Überschall-BrahMos-Marschflugkörpern an die Philippinen auslieferte (verkauft für 375 Millionen Dollar und produziert von einem Joint Venture zwischen Rüstungsherstellern in Indien und Russland). Dass diese Raketen Teil der neuen Druckkampagne gegen China sein könnten, ist nichts, was im Kleingedruckten des Deals vergraben ist.

Provokationen

Seit ihrem »Schwenk nach Asien« versuchen die USA, China zu provozieren. Der 2018 begonnene Handelskrieg der USA verlief weitgehend im Sande aufgrund von Chinas Belt-and-Road-Initiative und seinem Versuch, die fortschrittlichen Produktionslinien aufzubauen, um US-Handelsbeschränkungen zu umgehen (zum Beispiel, als die USA versuchten, China den Import von Halbleiterchips zu verwehren, entwickelte China seine eigene Fertigungskapazität). Der Versuch der USA, Taiwan zur Frontlinie ihrer Druckkampagne zu machen, trug ebenfalls keine Früchte. Die Amtseinführung des neuen Präsidenten von Taiwan, Lai Ching-te, am 20. Mai bringt einen Mann an die Spitze, der nicht daran interessiert ist, die Unabhängigkeit Taiwans voranzutreiben; nur sechs Prozent der Bevölkerung Taiwans befürworten die Vereinigung mit China oder die Unabhängigkeit, während der Rest der Bevölkerung mit dem Status quo zufrieden ist. Da die notwendige Provokation über Taiwan nicht geschaffen werden konnte, haben die USA nun ihre Visiere auf die Philippinen gerichtet.

Während die Philippinen und China den Status mehrerer Inseln in den Gewässern zwischen ihnen bestreiten, sind diese Meinungsverschiedenheiten nicht ausreichend, um eines der beiden Länder in den Krieg zu treiben. Im April 2024 erinnerte sich der ehemalige Präsident der Philippinen, Rodrigo Duterte, daran, dass während seiner Präsidentschaft (2016–2022) »kein Streit« bestand. »Wir können zur Normalität zurückkehren. Ich hoffe, dass wir den Aufruhr dort drüben beenden können, weil die Amerikaner die philippinische Regierung drängen, hinauszugehen und einen Streit zu finden und letztlich vielleicht einen Krieg zu beginnen.« Im März sagte Präsident Marcos, dass er »den Bären nicht reizen« und China nicht »provozieren« wolle. Die Bildung der Squad zwei Monate später zeigt jedoch an, dass die Philippinen nun Taiwan als Frontstaat für US-Provokationen gegen China ersetzt haben.

Chinas Vizevorsitzender der Zentralen Militärkommission, Zhang Youxia, warnte vor »Kanonenboot-Muskeln«. »Die Realität hat gezeigt,« sagte er, »dass diejenigen, die absichtlich provozieren, Spannungen schüren oder eine Seite gegen die andere zwecks egoistischer Vorteile unterstützen, letztlich nur sich selbst verletzen werden.«

Übersetzung aus »Globetrotter«: Jenny Farrell

Der neue McCarthyismus

Hank Kalet/Sean T. Mitchell (USA)1

Der neue McCarthyismus ist auf dem Universitätsgelände angekommen – und er bedroht die Freiheiten zu reden, zu lehren, zu forschen und sich aus Protest zu versammeln an so unterschiedlichen Universitäten wie der Columbia University, der University of Texas at Austin und der Rutgers University. Der Kongress und das US-Bildungsministerium haben Ermittlungen gegen zahlreiche Hochschulen eingeleitet und dabei Antisemitismusvorwürfe als Vorwand genutzt. Pro-Palästina-Parolen und der öffentliche Widerstand gegen Israels Vorgehen in Gaza wurden von Republikanern im Kongress und Gruppen wie der Anti-Defamation League (ADL) als Völkermord bezeichnet…

Studierende der Rutgers-Universität … haben am 29. April, dem letzten Unterrichtstag, ein Protestcamp eröffnet. Wie an der Columbia University und anderswo fordern sie, dass sich die Universität von Israel distanziert, und beabsichtigen, zu bleiben, bis ihre Forderungen erfüllt sind.

Rutgers wurde auch von der Hillel-Universitätsgruppe und der Vorsitzenden des Ausschusses für Bildung und Arbeitskräfte des Repräsentantenhauses, Virginia Foxx, vorgeworfen, »jüdische Studenten, Lehrkräfte und Mitarbeiter nicht geschützt zu haben«. Foxx … forderte Rutgers in einem Brief vom 27. März auf, im Rahmen einer Untersuchung dessen, was sie ein »allgegenwärtiges Klima des Antisemitismus« nennt, eine Reihe von Dokumenten zur Verfügung zu stellen. Die Dokumente umfassen jahrelange interne Kommunikation zu Disziplinarmaßnahmen, Social-Media-Beiträge von Studierenden und Lehrkräften sowie Daten zu »Mandat, Größe, Budget, Agenda und Leistungskennzahlen aller Diversitäts-, Gleichberechtigungs- und Inklusionsbüros und -programme«…

Der Inhalt des Foxx-Briefes an Rutgers-Präsident Jonathan Holloway ähnelt den Behauptungen, die Foxx und die Republikanerin Elise Stefannik aus New York über Columbia, Yale, Harvard, die University of Pennsylvania und das MIT erhoben haben. Sie interpretieren geschützte Meinungsäußerung und geschützte Forschung als Belästigung und Voreingenommenheit um. Die meisten ihrer Dokumente haben wenig damit zu tun, jüdische Studenten vor antisemitischen Bedrohungen zu schützen. Stattdessen sind sie Teil eines politischen Angriffs auf die Hochschulbildung und verwischen legitime Unterschiede zwischen Kritik an der israelischen Politik und Feindseligkeit gegenüber dem jüdischen Volk. Sie umgehen auch die Notwendigkeit der Universität, die Meinungsrechte der Palästinenser zu schützen und die Fähigkeit von Wissenschaftlern zu schützen, die Ursachen und Auswirkungen von Kriegen kritisch zu untersuchen.

Rutgers ist die erste öffentliche Universität, die im Rahmen dieser wachsenden rechten Kampagne vom Kongress ins Visier genommen wurde, obwohl sie nicht die erste war, an der es Solidaritäts- und Protestcamps gab. Republikaner haben die Hochschulbildung an mehreren Fronten angegriffen, z. B. durch das Verbot bestimmter Diskussionen über Rasse und amerikanische Geschichte in Florida (das inzwischen von staatlichen und bundesstaatlichen Gerichten aufgehoben wurde). Dies ist Teil einer konzertierten Aktion, um Universitätsleitungen dazu zu zwingen, kriegsfeindliche, pro-palästinensische und fortschrittliche Äußerungen auf dem Campus zu unterdrücken und Lehrkräfte und Studierende durch Angst und Schrecken zum Schweigen zu bringen.

Als Rutgers-Fakultätsmitglieder und Mitglieder der AFC-Gewerkschaft sehen wir aus erster Hand eine wachsende Angst. Insbesondere schutzbedürftige Lehrkräfte und Vollzeitkräfte ohne Festanstellung, haben Bedenken geäußert, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren könnten, wenn sie über den Konflikt sprechen oder den Studierenden erlauben, dies zu tun. Und viele Studierende haben Angst, an einer offenen Debatte teilzunehmen. Dennoch ist eine solche Debatte notwendig und von zentraler Bedeutung für die Mission einer Universität.

US-Universitäten sind seit langem Schauplatz einiger der wichtigsten gesellschaftlichen Debatten, von den Bürgerrechts- und Antikriegsbewegungen des 20. Jahrhunderts bis hin zu Gesprächen über die israelische Bombardierung des Gazastreifens und die heutige US-Außenpolitik. In all diesen Zeiträumen versuchten rechte Politiker, diese Debatte zum Schweigen zu bringen … Heute sind Universitäten in den Vereinigten Staaten möglicherweise der größten Bedrohung der akademischen Freiheit seit dem McCarthyismus Mitte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt, da der Kongress auch Kritik an der Außen- und Innenpolitik der USA untersucht. Damals spielte antikommunistische Panikmache die Rolle, die heute die Antisemitismusvorwürfe spielen.

Rutgers ist die State University of New Jersey. Die meisten anderen – zumindest bisher – vom Kongress untersuchten Universitäten sind privat. Aber alle erhalten Bundesförderung. Öffentliche Universitäten sind wie andere öffentliche Einrichtungen dazu verpflichtet, die First Amendment-Rechte für alle innerhalb der Einrichtung zu schützen. Dazu gehört die Wahrung der Freiheit, in öffentlichen Foren und im Klassenzimmer zu sprechen, zu recherchieren, zu veröffentlichen und zu kontroversen Themen friedlich zu demonstrieren …

An einer Universität gibt es keinen Platz für Bigotterie. Als es auf dem Campus echte Fälle von Antisemitismus gab, hat Rutgers entsprechende Disziplinarmaßnahmen ergriffen und auch die jüngsten Fälle islamfeindlichen Vandalismus auf dem Campus angemessen untersucht. Aber bei der aktuellen McCarthy-Kampagne geht es nicht darum, Bigotterie zu bekämpfen oder die Sicherheit jüdischer Studenten zu gewährleisten (und schon gar nicht die vielen jüdischen Studenten und Fakultätsmitglieder, die sich gegen Israels Vorgehen stellen). Es geht darum, eine Debatte einzuschränken, die offen sein sollte. Wenn die Vereinigten Staaten eine freie Gesellschaft mit einer wohlinformierten Außenpolitik sein wollen, müssen unsere Universitäten Orte sein, an denen intensive Diskussionen und Debatten ohne staatliche oder administrative Unterdrückung stattfinden können.

Die Rutgers-Gewerkschaften sind – wie unsere anderen akademischen Gewerkschaften im ganzen Land – bereit, sich für die Rechte von Lehrkräften und Studierenden einzusetzen. Das Gleiche gilt auch für die Universitätsverwaltung. Gemeinsam müssen wir eine prinzipielle Verteidigung gegen den Neuen McCarthyismus aufbauen und dabei eine nationale Bewegung zum Schutz der Hochschulbildung anführen.

Leicht gekürzte Arbeitsübersetzung aus: https://mronline.org/2024/05/08/suppressing-pro-palestinian-speech-is-the-new-mccarthyism/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=suppressing-pro-palestinian-speech-is-the-new-mccarthyism&mc_cid=ee6ab9f4d5&mc_eid=29668e533c

1 Hank Kalet ist Journalist und Dichter, der seit 30 Jahren über lokale und staatliche Themen in New Jersey berichtet. Er unterrichtet Journalismus an der Rutgers University.
Sean T. Mitchell ist außerordentlicher Professor für Anthropologie an der Rutgers University, Newark, und Mitglied des Academic Freedom Committee der AFT-AAUP.

Die Nachwahl von Rochdale

Ein Wendepunkt in der britischen Politik?

Niall Farrell (Irland)

Wenn ein britischer Premier am späten Freitagabend eine improvisierte Erklärung in der Downing Street abgibt, geht es entweder um eine vorgezogene Wahl oder militärische Aktionen gegen ein anderes Land. Rishi Sunak jedoch griff zu dieser außerordentlichen Maßnahme, um die Wähler von Rochdale zu rügen, dass sie einen schwerwiegenden Fehler begangen und damit die Demokratie selbst in Gefahr gebracht hätten.

Die ausschlaggebende Nachwahl von Rochdale vom 29. Februar 2024 hat Schockwellen durch das britische politische Establishment gesendet, wobei der unerwartete Sieg von George Galloway auf eine bedeutende politischen Verschiebung im Lande verweist. Während Nachwahlergebnisse keine genauen Vorhersagen für Unterhauswahlen bedeuten, reichen die Auswirkungen von Galloways Sieg dennoch weit über die Grenzen dieses Wahlkreises hinaus.

Galloway sicherte sich einen entscheidenden Sieg mit 12.335 Stimmen, verglichen mit 6.638 für den zweitplatzierten David Tully, einem unabhängigen Kandidaten. Der ehemalige Labour-Kandidat Azhar Ali geriet aufgrund seiner Befürwortung von Verschwörungstheorien über Israel in die Kontroverse. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 40 Prozent relativ niedrig. Die Einwohner von Rochdale, die zu den 5 Prozent der am stärksten benachteiligten Kommunen Englands gehören, wollen eine Vertretung, die ihre Interessen in den Vordergrund stellt. Doch trotz lokaler Anliegen wie der Wiedereinführung von Entbindungsstationen in Rochdale war es Galloways Botschaft zu Gaza, die bei den Wählern am stärksten ankam.

Diese Wahl deckte das politische Vakuum auf, das sich aufgrund des parteiübergreifenden Ansatzes zur Palästinafrage durch die Tory-Regierung und ihre ebenso rechtsgerichtete Opposition unter Starmer’s Labour entwickelte. Galloways Kampagne zielte darauf, die flächendeckende Zensur der Medien zu entlarven.

In seiner Siegesrede kritisierte Galloway den Labour-Führer Keir Starmer, dass er »die Katastrophe, die sich derzeit im besetzten Palästina im Gazastreifen abspielt, ermöglicht, fördert und deckt«. Galloway wörtlich: »Ich möchte vor allem Herrn Starmer sagen, dass sich heute Abend die Platten verschoben haben. Das wird eine Bewegung auslösen, einen Erdrutsch, eine Verschiebung der tektonischen Platten in zahlreichen Wahlkreisen… Der Labour-Partei ist mitgeteilt worden, dass sie das Vertrauen von Millionen ihrer Wähler verloren hat, die sie seit Generationen loyal und traditionell gewählt haben (…) Keir Starmer und Rishi Sunak sind zwei Backen desselben Hinterns, und beide haben heute Abend eine ordentliche Tracht Prügel bezogen!«

Das Votum betonte die Diskrepanz zwischen dem politischen Establishment und der öffentlichen Meinung und spiegelt eine tief verwurzelte Legitimitätskrise wider, die sich aus Jahrzehnten neoliberaler Politik, Sparmaßnahmen und militärischer Interventionen ergibt. Insbesondere Labour ringt mit dem Schwund seiner Unterstützungsbasis unter den Arbeitern wie unter anderem der Rückgang der Labour-Unterstützung in Schottland zeigt. Seit der Entfernung jeglicher linker politischer Opposition, seit dem Coup gegen Corbyn und die vollständige überparteiliche parlamentarische Unterstützung für den Völkermord in Gaza reift die Zeit für eine neue politische Alternative.

Mit dem Wahlsieg von Rochdale sind die Voraussetzungen für ein machbares linkes politisches Projekt auf dem Tisch, das die Tory/Labour Rechte herausfordert. Die Wahl markierte die erste parlamentarische Vertretung für Galloways linksgerichtete Workers Party of Britain und signalisiert eine potenzielle Neuausrichtung der politischen Kräfte. Während sich das Land auf eine Parlamentswahl1 vorbereitet, werden die traditionellen Trennlinien zwischen Links und Rechts neu gezogen, wobei Fragen von Krieg, Rassismus und Demokratie im Mittelpunkt stehen.

Aufrufe zu einem sozialistischen und Anti-Kriegs-Bündnis unter der Führung von Persönlichkeiten wie Jeremy Corbyn haben an Fahrt gewonnen und bereiten eine lebensfähige Alternative zur Mainstream-Politik vor. Trotz Unterschieden in bestimmten Fragen besteht ein gemeinsamer Boden in der Opposition gegen Krieg, Rassismus und den Abbau bürgerlicher Freiheiten. Zu den Bündnispartnern könnten auch die britischen Grünen zählen, die sich substantiell von den deutschen Grünen unterscheiden und an radikalen Traditionen festhalten. Doch die Schaffung einer neuen linken Bewegung und damit eine kohärente Herausforderung Starmers hängt vor allem von den Gewerkschaften ab. Die Hälfte von ihnen ist in das System eingebunden, aber Unite zum Beispiel hat sich aus der Politik zurückgezogen und vertritt die Haltung »Hol der Henker eure beiden Häuser!«: Wir beschränken unseren Kampf auf die Industrie. Galloway kann die erforderlichen Elemente nicht vereinen. Obwohl eine tiefgreifende Neugestaltung der politischen Landschaft auf der Tagesordnung steht, ist gegenwärtig keine Kraft vorhanden, die das notwendige Bündnis schmieden kann.

1 Die Unterhauswahl am 4. Juli lag weit nach dem Redaktionsschluss dieses Artikels. Eine politische Wertung ihrer Ergebnisse können wir erst in der Oktober-Ausgabe der Marxistischen Blätter bringen.

Litauen-Brigade

Leuchtturmprojekt der Zeitenwende!

Jürgen Wagner

Im Zuge der Eskalation der westlich-russischen Beziehungen nimmt auch die deutsche Militärpräsenz in Osteuropa rapide zu. Dies gilt besonders für die in Litauen geplante Brigade, deren Vorauskommando im April 2024 entsandt wurde und die bis 2027 voll einsatzfähig sein soll. Diese Präsenz unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht erheblich von bisherigen »Auslandsaufenthalten« der Bundeswehr – nicht umsonst wurde das von Verteidigungsminister Pistorius wiederholt, zuletzt bei seinem Besuch in Riga Anfang Mai 2024, als »Leuchtturmprojekt« der Zeitenwende bezeichnet.

Streitkräftemodell &
Litauen-Brigade

Bei ihrem Gipfeltreffen im Juni 2022 verabschiedete die NATO nicht nur ein neues Strategisches Konzept, sondern auch ein Neues Streitkräftemodell (New Force Model, NFM). Bis dato wurden im Rahmen der Schnellen NATO-Eingreiftruppe »nur« 40.000 Soldat:innen in einem hohen Bereitschaftsgrad vorgehalten, um sie bei Bedarf schnell verlegen zu können. Demgegenüber sieht das NFM ab 2025 nun drei Bereitschaftsgrade vor: 100.000 Soldat:innen sollen innerhalb von nur 10 Tagen in Bewegung gesetzt werden können; bis Tag 30 will die NATO dann in der Lage sein, bis zu 200.000 weitere Truppen hinterherzuschicken; und bis Tag 180 sollen noch einmal 500.000 Einheiten mobilisiert werden können (siehe IMI-Standpunkt 2023/027).

Die Bundeswehr stellt »traditionell« rund zehn Prozent der NATO-Kapazitäten, für das neue Streitkräftemodell scheint für die ersten beiden Bereitschaftsgrade sogar mehr zugesagt worden zu sein – dazu zählt auch die Präsenz in Litauen: »Die NATO wird künftig 300.000 Soldatinnen und Soldaten in hoher Bereitschaft vorhalten, außerdem beträchtliche Marine- und Luftunterstützung. Von 2025 an sollen 35.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zu Verbänden der beiden höchsten Bereitschaftsstufen gehören. In Litauen wird die Bundeswehr eine robuste Brigade stationieren, sobald alle infrastrukturellen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.« (bmvg.de, 13.7.2023)

Aufwuchs der Präsenz

Als einziges Zugeständnis für die damals beschlossene (und zwei Jahre später vollzogene) erste NATO-Osterweiterung wurde dem westlichen Militärbündnis 1997 mit der NATO-Russland-Akte untersagt, dauerhaft substantielle Truppenverbände in Osteuropa zu stationieren. Diese Vereinbarung wurde allerdings faktisch bereits auf dem NATO-Gipfeltreffen in Warschau im Juli 2016 versenkt. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde im Juni 2022 die Errichtung vier weiterer NATO-Stützpunkte auf den Weg gebracht (in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien). Außerdem sollten diese und bereits existierenden vier Bataillone zumindest teilweise auf Brigadegröße (ca. 3.000–5.000 Soldat:innen) aufgestockt werden. Im deutschen Führungsbereich wurde die Truppenzahl zunächst »nur« von rund 1.200 auf etwa 1.700 Soldat:innen vergrößert.

Am 26. Juni 2023 ließ Verteidigungsminister Boris Pistorius bei seinem Besuch in Litauen dann die sprichwörtliche Bombe platzen: »Deutschland ist bereit, dauerhaft eine robuste Brigade in Litauen zu stationieren. Voraussetzung dafür ist, […] dass die entsprechende Infrastruktur vorhanden ist, Kasernen, Übungsmöglichkeiten und die genannten Depots. Wir reden bei einer Brigade von 4.000 Soldatinnen und Soldaten, plus Material, und bei einer dann dauerhaften Stationierung eben auch Familie.«

»Panzerbrigade 42« soll die aus drei Bataillonen bestehende Truppe heißen, deren Umfang später auf 4.800 Soldat:innen (plus 200 Zivilangestellte) erhöht wurde, die tatsächliche Präsenz wird aber weit darüber hinausgehen.

Mit Sack & Pack

Die Bundeswehr betritt hier nahezu komplettes Neuland: Bis auf einige kleinere Kontingente gibt es mit permanenten Auslandsstationierungen bisher keine Erfahrungen. Die Tragweite der Pläne wird in militärnahen Medien wie etwa der Soldat & Technik folgendermaßen hervorgehoben: »Auf den ersten Blick hat diese Ankündigung enorme außenpolitische, als auch streitkräftepolitische Gravitas. […] An die Soldatinnen und Soldaten gerichtet bedeutet dies, dass sie sich über kurz oder lang darauf vorbereiten müssen ›mit Sack und Pack‹ nach Litauen umziehen zu müssen, nicht nur für wenige Monate, sondern dauerhaft.«

Hier geht es also nicht nur um die Soldat:innen an sich, sondern auch um deren Angehörige sowie die gesamte Infrastruktur, die neben Kasernen und Materialdepots auch Wohnungen, Kindergärten, Schulen und dergleichen mitsamt entsprechendem Personal umfasst. So berichtete Spiegel Online, das Finanzministerium habe Berechnungen angestellt, denen zufolge 1.600 Kindergartenplätze und eine deutsche Schule für 3.000 Schüler:innen erforderlich wären (woher das Personal dafür kommen soll, steht in den Sternen). Um für die Soldat:innen attraktiv zu sein, werde man insgesamt ein »gutes Paket« schnüren, gab sich Christian Freuding, Leiter des Planungsstabs im Verteidigungsministerium, optimistisch: »Da gibt es natürlich viele Modelle. Wir blicken da insbesondere auf die amerikanische Stationierung in Deutschland. Da wissen wir, welche soziale Einbettung es gibt von Schulen über Kindergärten, über Sozialeinrichtungen bis hin zu kulturellen Einrichtungen […]. Wir haben damit wenig Erfahrung, aber da werden wir ein gutes Paket mit den Litauern zusammen hinkriegen.«

Milliardenkosten

Über die Zuschläge für die Auslandsverwendung war bei Spiegel Online im November 2023 unter Berufung auf ein internes Bundeswehr-Papier zu lesen: »Ein Hauptfeldwebel, der ohne seine Familie nach Litauen zieht, erhält zusätzlich zum Grundgehalt in Höhe von 3.115 Euro netto einen steuerfreien Auslandszuschlag in Höhe von 1.594 Euro, wenn er nach Litauen geht – am Standort Rukla betrüge der Auslandszuschlag sogar 2.050 Euro. Ein verheirateter Hauptfeldwebel, der mit Partner und zwei Kindern nach Litauen übersiedelt, erhält zusätzlich zum Grundgehalt in Höhe von 3.827 Euro einen steuerfreien Auslandszuschlag in Höhe von 2.682 Euro – beziehungsweise ein Plus von 3.464 Euro, wenn alle vier nach Rukla gehen.«

Ein Preisschild an das gesamte Unterfangen wurde erst im April 2024 angehängt, als in der Süddeutschen Zeitung über Aussagen aus dem Bundesverteidigungsministerium in einer Sitzung des Verteidigungsausschusses berichtet wurde: »Demnach werden vier Milliarden für die Anschaffung von Großgerät wie Panzern und Fahrzeugen sowie sechs Milliarden Euro für Investitionen vor Ort veranschlagt. Hinzu komme etwa eine Milliarde Euro jährlich für Betriebskosten. […] Noch nicht eingerechnet sind die hohen Auslandszulagen.«

Woher dieses Geld kommen soll (insbesondere auch, wieviel davon Litauen übernimmt), bzw. in welchen sozialen Bereichen dafür der Rotstift angesetzt wird, scheint aktuell noch völlig unklar zu sein – ebenso verhält es sich mit den Soldat:innen, die derzeit wohl nicht gerade für die Auslandsverwendung Schlange zu stehen scheinen. Nach den ganzen großspurigen Ankündigungen ist aber davon auszugehen, dass Pistorius die Brigade unter allen Umständen dennoch aufstellen wird, schließlich ist sie, wie erwähnt, sein »Leuchtturmprojekt« der Zeitenwende.

Neues Postgesetz

Angriff auf die Beschäftigten

Andreas Springer-Kieß

Anfang 2025 soll die Postreform in Kraft treten. Sie bringt Postkunden vor allem längere Laufzeiten bei Briefen und ein noch weiter ausgedünntes Filialen-Netz. Und ob tagesaktuelle Zeitungen und Zeitschriften weiterhin am Erscheinungstag bei den Abonnent:innen ankommen, ist offen. Die Beschäftigten der Post AG und ihrer Töchter sorgen sich vor allem weiter um ihre Arbeitsplätze und -bedingungen.

Bereits nach Veröffentlichung des Eckpunktepapiers der Bundesregierung zur geplanten Postreform demonstrierten im Oktober letzten Jahres mehr als 30.000 Postlerinnen und Postler mit ihrer Gewerkschaft ver.di in Berlin für eine sichere Zukunft der mehr als 180.000 Arbeitsplätze bei der Deutschen Post AG (DP AG). Diese Eckpunkte sahen keine ausreichenden Regelungen für die künftige Finanzierung des Universaldienstes durch die DP AG, das einzige Unternehmen, das derzeit hierzu in der Lage ist, vor. Ebenso wenig war eine Regulierung der z. T. äußerst prekären Arbeitsbedingungen bei den Konkurrenten der DP AG vorgesehen. Auch die Forderung von ver.di nach einem Verbot von Subunternehmern in der Paketbranche (analog zur Fleischindustrie) sowie einer Gewichtsbegrenzung von Paketen im Einpersonenhandling auf max. 20 kg blieb unberücksichtigt. Die DP AG drohte, bei nicht ausreichender Gegenfinanzierung, aus dem Postuniversaldienst auszusteigen und damit zehntausende tarifgebundene Arbeitsplätze zu gefährden. Um die Situation gänzlich erfassen zu können, ist ein Rückblick in die Postgeschichte der letzten Jahrzehnte hilfreich.

Bereits in den 1980er Jahren wurde man, ganz im Sinne der neuen neoliberalen Ideologie, auf evtl. zu privatisierende Gewinne der damaligen Deutschen Bundespost (DBP) aufmerksam. Hierbei standen insbesondere die zu erwartenden Profite der aufstrebenden Telekommunikationstechniken im Bereich des Fernmeldewesens der DBP im Fokus. Aber auch im Postgeschäft könnte der Wettbewerb zwischen miteinander konkurrierenden privaten Postunternehmen, ganz im Sinne der Marktradikalen, für steigende Gewinne sorgen. So wurde auch die Aufteilung der DBP in die drei selbstständigen Bereiche Postdienste, Postbank und Telekom mit dem Ziel der Gründung von jeweils selbstständigen Aktiengesellschaften zügig in Angriff genommen. Trotz des z. T. erbitterten Widerstandes der Beschäftigten und ihrer damaligen Deutschen Postgewerkschaft (DPG) wurde zum 01.01.1995 die DBP in drei AGs unter Mehrheitsbesitz des Bundes überführt. Das Monopol auf die Beförderung und Zustellung von Briefen verblieb zunächst, als sogenannte Exklusivlizenz, bei der neugegründeten Deutschen Post AG (DP AG), wurde jedoch sukzessive gelockert und schließlich 2007 ganz abgewickelt. In der Zeit nach der Privatisierung wurden, unter Nutzung des Briefmonopols, durch eine beispiellose Arbeitsverdichtung für die Beschäftigten und der damit verbundenen Vernichtung von zigtausenden Arbeitsplätzen rasch gigantische Jahresgewinne erwirtschaftet. Der konsequente Rückbau des Postservices wie z. B. Filialschließungen und Abbau von Briefkästen trugen das übrige bei. Ferner wurden dringend notwendige Investitionen, insbesondere in den letzten Jahren, zugunsten des Maximalprofits aufgeschoben. Spätestens seit dem Börsengang der DP AG im Jahre 2000 wurde ein Großteil dieser Profite für den nationalen und internationalen Zukauf von Unternehmen der Logistik- und Expressbereiche und dem Aufbau eines weltweit agierenden Post- und Logistikkonzern verwendet. Beispielhaft hierfür stehen DANZAS, EXEL und nicht zuletzt DHL, unter deren Namen inzwischen der Postkonzern firmiert. Immerhin konnten durch einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der DPG, später ver.di, seit der Privatisierung bis heute betriebsbedingte Kündigungen tarifvertraglich ausgeschlossen werden. Der Personalabbau erfolgte ausschließlich »sozialverträglich«. Die Verwendung eines Großteils der Monopolgewinne für den Aufbau eines international agierenden Logistikkonzern sei nötig, so die Argumentation des damaligen Topmanagements, um mit den künftigen Gewinnen der Posttöchter den künftig schrumpfenden deutschen Postmarkt zu stützen und den Postuniversaldienst sowie die Arbeitsplätze in diesem Bereich zu erhalten.

Davon will der heutige Konzernvorstand freilich nichts mehr wissen. Inzwischen wird der übergroße Anteil des Konzerngewinns von den vorwiegend international agierenden Divisionen erwirtschaftet. Zu dem gigantischen EBIT des Jahres 2022 von 8,2 Mrd. Euro trug der Bereich Post und Paket Deutschland (P&P) »nur« 1,2 Mrd. Euro bei. Und das bei einem jährlichen Investitionsbedarf von mindestens 1 Mrd. Euro. Diese Investitionen sind jedoch, aufgrund des zunehmenden Rückgangs der Briefsendungen und der überproportionalen Zunahme der Paket- und warentragenden Sendungen sowie zur Aufrechterhaltung des Postuniversaldienstes, zwingend notwendig. Die von ver.di in 2023 nach mehrwöchigen Streiks durchgesetzte Lohnerhöhung schlägt zusätzlich mit 700 bis 800 Mio. Euro jährlich zu Buche. Für den Gesamtkonzern wäre dies, angesichts des Ergebnisses von über 6 Mrd. Euro in 2023, problemlos zu stemmen (s. Aussage zur Notwendigkeit der Unternehmenszukäufe). Bekanntlich hat Kapital jedoch Horror vor der Abwesenheit von Profit, und sei es auch nur in einer Sparte eines Konzerns! Vor diesem Hintergrund war die Drohung der DP AG zum Ausstieg aus dem Postuniversaldienst und der Vernichtung der damit zusammenhängenden Arbeitsplätze nur logisch.

Inzwischen wurde die Finanzierung des Universaldienstes, in einem im Dezember 2023 vorgelegten Referentenentwurf zum neuen Postgesetz, für die DP AG zufriedenstellend gelöst. Dies führte zumindest zu einer Verlängerung des tariflichen Ausschlusses von betriebsbedingten Änderungs- und Beendigungskündigen bis 31.03.2027 durch ver.di. Nicht mitaufgenommen wurde die Forderung von ver.di nach Verbot der Subunternehmen in der Branche sowie der Gewichtsbegrenzung von Paketen auf max. 20 kg. Hierfür möchte ver.di weiterhin hartnäckig kämpfen und dies offensichtlich mit Erfolg. Der Bundesrat, der der Novellierung des Postgesetzes zustimmen muss, hat sich die beiden Forderungen inzwischen zu eigen gemacht. Sollte dies erreicht werden, wäre das ein großer Erfolg von ver.di. Dennoch sollte baldmöglichst eine innergewerkschaftliche Debatte über die Wiederverstaatlichung der DP AG angestoßen werden. Auch wenn die derzeitigen Macht- und Kräfteverhältnisse wenig Anlass zur Hoffnung geben, sollten die Diskussionen hierüber geführt und entsprechende Strategien entwickelt werden. Wie das Gesundheitswesen, die Energieversorgung und der ÖPN-Verkehr gehören auch Telekommunikation und Postversorgung zur Daseinsvorsorge und zum Gemeinwohl der Bürger. Dem zu dienen, sind Kapitalgesellschaften nicht oder nur unzureichend in der Lage. Das ist hinreichend bekannt und im Alltag erfahrbar. Sie müssen daher perspektivisch vergesellschaftet und unter demokratische Kontrolle gestellt werden.

Verfassungsschutz

Stigmatisieren per Datenübermittlung?

Rolf Gössner

Es scheint immer wieder paradox, wenn ausgerechnet der Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz«, der doch die Verfassung schützen soll, seinerseits verfassungswidrig arbeitet; und wenn bereits zuvor Regierungen und Parlamente für verfassungswidrige Normen gesorgt haben. Streng genommen: lauter Fälle für den Verfassungsschutz – wegen fortgesetzter Verletzung der Verfassung und Schädigung der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung«. Dabei handelt es sich keineswegs nur um Einzelfälle, wie im Grundrechte-Report seit Jahrzehnten immer wieder nachzulesen ist, sondern zumeist um strukturelle Probleme.

Zuletzt hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit zwei Entscheidungen von 2022 gesetzliche Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden u. a. zur Übermittlung personenbezogener Daten und Informationen an andere Behörden und Stellen für verfassungswidrig erklärt (Urteil vom 26.4.2022, Az. 1 BvR 1619/17; Beschluss vom 28.9.2022, Az. 1 BvR 2354/13). Sie verstoßen in weiten Teilen gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Artikel 2 Absatz 1, Artikel 1 Absatz 1 GG), gegen das »informationelle Trennungsprinzip« im Verhältnis der Geheimdienste zur Polizei sowie gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, weshalb sie 2023 novelliert werden mussten.

Auf solch verfassungswidriger Rechtsgrundlage haben die Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern über viele Jahre gearbeitet und so unzählige Male personenbezogene Daten grundrechtswidrig an andere staatliche und nichtöffentliche Stellen übermittelt. Es geht dabei um nichts Geringeres als um die heikle Weitergabe hochsensibler Daten, die auch mit geheimdienstlichen Mitteln und Methoden – wie etwa durch verdeckte Mitarbeiter:innen, V-Leute, durch Lausch- oder Späheingriffe – erhoben worden sind. Empfänger:innen solcher Daten sind Polizei und Strafverfolgungsbehörden, andere inländische oder ausländische staatliche Stellen, aber auch nichtöffentliche Einrichtungen.

Pflicht zu verfassungsgemäßer Neuregelung: erster Versuch

Da das BVerfG dem Bundesgesetzgeber eine Frist bis Ende 2023 gesetzt hatte, die beanstandeten Übermittlungsregelungen im Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) zu novellieren, legte das Bundesinnenministerium Anfang Oktober 2023 einen Entwurf vor, den das Bundeskabinett im Eiltempo absegnete (BT-Drs. 20/8626).

Im Innenausschuss des Bundestags jedoch geriet der Gesetzentwurf ins Stocken: Denn er stieß auf scharfe Kritik von Verbänden und Sachverständigen und sogar von Grünen und der FDP. Zahlreiche Regelungen seien, so etwa der Deutsche Anwaltverein, »nicht durchdacht und verfassungsrechtlich bedenklich bis hin zu klar verfassungswidrig«. Prof. Dr. Mark Zöller von der Universität München kritisierte etliche Befugnisausweitungen und normative Unklarheiten, die einer weiten Auslegung und Anwendung Tür und Tor öffneten – statt, wie vom BVerfG gefordert, die Befugnisse zu präzisieren, mit höheren Eingriffshürden zu versehen und so verfassungskonform einzuschränken.

Im Zentrum der Kritik standen die Befugniserweiterungen zur Übermittlung personenbezogener Daten an »inländische Stellen«, wobei im Entwurf öffentliche und nichtöffentliche Stellen undifferenziert gleichgesetzt wurden (§§ 20, 22). Empfänger:innen solcher nachrichtendienstlichen Erkenntnisse können somit eine unabsehbare Zahl von Stellen sein: etwa auch Arbeitgeber:innen und Vermieter:innen, Vereine oder Sporttrainer:innen, Universitäten, Schulen oder Kitas, um diese etwa vor angeblichen oder vermuteten »Verfassungsfeinden« warnen zu können. So vor Beschäftigten, Vereinsmitgliedern, Schüler:innen oder Vereinigungen, die der Geheimdienst für islamismus- oder anderweitig extremismusverdächtig hält, auch wenn von diesen keinerlei konkrete oder konkretisierte Gefahr ausgeht. Solche Datenübermittlungen zur Eindämmung bloß abstrakter (drohender) Gefahren sollen u. a. der »Deradikalisierung« oder »Resilienz-Stärkung« dienen. Die Süddeutsche Zeitung (26.10.2023) warnte daraufhin vor einer »Lizenz zum Anschwärzen«. Tatsächlich wären solche freizügigen Einmischungen des Verfassungsschutzes in die Gesellschaft missbrauchsanfällig – mit potenziell gravierenden Folgen: Stigmatisierung und Ausgrenzung, Nichteinstellung, Entlassung, Wohnungsverweigerung etc. Dabei könnten die vom Geheimdienst übermittelten Verdächtigungen auch auf bloßen politischen Meinungsäußerungen oder Kontakten gründen, die keine Gesetze verletzen.

Zweiter Anlauf nach heftiger Kritik: neuer Fall fürs ­Bundesverfassungsgericht?

Nach der heftigen Kritik ist dem Bundestag eine modifizierte Fassung des Gesetzentwurfs zur Abstimmung vorgelegt worden (BT-Drs. 20/9345-15.11.2023), mit der die meisten Übermittlungsvorschriften abgeändert wurden. Jetzt gibt es auch eine spezielle Regelung für die »Übermittlung an inländische nichtöffentliche Stellen« (§ 22a). Darin heißt es gleich zu Beginn klar und deutlich, dass eine Übermittlung personenbezogener Daten durch den Verfassungsschutz an diese Stellen »unzulässig« sei. Doch gleich danach werden mit einem Numerus clausus Ausnahmen von diesem Grundsatz geregelt, die ihrerseits heikle Folgen auslösen können.

So ist es dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nun gestattet, personenbezogene Daten etwa zum »Schutz des Kindeswohls« an private Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu übermitteln, an private Träger von Schulen und Kitas zum »Schutz der gesetzlichen Erziehungs und Bildungsziele« sowie an Präventions-, Ausstiegs- oder Deradikalisierungsprojekte zu deren Schutz. Auch darf das BfV personenbezogene Daten an private Universitäten, Institute, Forschungseinrichtungen etc. übermitteln – zum Zweck »wissenschaftlicher Erforschung und Bewertung« verfassungsfeindlicher Bestrebungen und Tätigkeiten.

Dies und noch viel mehr ist gesetzlich möglich, wenn »im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte« bestehen, »dass dies zum Schutz der Rechtsgüter nach § 19 Absatz 3 erforderlich ist«, wozu etwa die »freiheitliche demokratische Grundordnung, einschließlich des Gedankens der Völkerverständigung und des friedlichen Zusammenlebens der Völker« gehört. Weil Datenübermittlungen damit bereits im Vorfeld einer konkretisierten Gefahr erfolgen können, genügen gegebenenfalls auch verfassungs-, staats- oder gesellschaftskritische Überzeugungen und Meinungsäußerungen – zumal, seit die »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« als neuer Anhaltspunkt für beobachtungswürdige »verfassungsfeindliche Bestrebungen« gilt. Auch rein persönliche oder berufliche Kontakte können Anlässe für Datenübermittlungen sein: etwa Kontakte zu vermeintlich »extremistisch beeinflussten« Organisationen, wie einst zur »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« (VVN-BdA), zu dem vom Verfassungsschutz als »linksextremistisch« eingestuften Rechtshilfeverein »Rote Hilfe«, zu kurdischen Vereinen, die ihm als PKKnah gelten, zu muslimischen Verbänden, die des Islamismus, oder zu palästinensischen Gruppen, die des Antisemitismus verdächtigt werden.

Zwar dürfen nach dem modifizierten Gesetzentwurf personenbezogene Daten nicht übermittelt werden, wenn etwa schutzwürdige Interessen betroffener Personen das Allgemeininteresse an der Übermittlung überwiegen (§ 23). Außerdem darf eine nichtöffentliche Stelle gemäß § 22a die ihr übermittelten personenbezogenen Daten nicht für »Handlungen« nutzen, »die für die betroffene Person eine nachteilige rechtliche Wirkung entfalten oder diese Person in anderer Weise erheblich beeinträchtigen« kann – also Leistungskürzungen, Vertragskündigungen oder Maßnahmen mit stigmatisierender Wirkung etc. (nur möglich im Fall einer zumindest konkretisierten Gefahr und mit Zustimmung des BfV). Doch das BfV wird nach Datenübermittlung kaum noch wirksam überprüfen (können), was mit den Geheimdienstinformationen tatsächlich geschieht und mit welchen (subtilen) Folgen – zumal die Datenübermittlungen auch im Eigen- und Schutzinteresse der Empfängerinnen erfolgen. Die Gefahr geheimdienstlicher Einflussnahme auf gesellschaftliche Bereiche ist also keinesfalls gebannt.

Der Bundestag hat am 16. November 2023 den so »modifizierten« Entwurf mehrheitlich verabschiedet (BGBl. 2023 I Nr. 413). Es scheint, als sei mal wieder das BVerfG gefordert, Verfassung und Bürger:innen vor dem Verfassungsschutz zu schützen.

http://www.grundrechte-report.de/2024/inhalt/

Grundrechte-Report 2024 –
Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Herausgegeben von: Peter von Auer, Benjamin Derin, Andreas Engelmann, Rolf Gössner, Sarah Lincoln, Max Putzer, Rainer Rehak, Milad Schubart, Rosemarie Will und Michèle Winkler
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2024, ISBN 978-3-596-71084-3, 256 Seiten, 14,00 Euro.

Der Grundrechte-Report 2024 ist ein gemeinsames Projekt verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Wie das Grundgesetz wurde, was es heute nicht mehr ist

Heribert Prantl1

Das Friedensgebot hängt wie eine Glocke im Glockenturm der Verfassung. Aber sie wird schon lang nicht mehr geläutet, zuletzt zu Zeiten des Bundeskanzlers Willy Brandt. In den Jahren 1948/49, als die Glocke gegossen wurde, hatte man sich das anders vorgestellt: Das Friedensgebot sollte den politischen Alltag, es sollte die Regierungsarbeit begleiten und bestimmen. Aber daraus ist nichts geworden. Heute ist es so: Die Glocke hängt zwar noch, aber sie ist Dekoration. Und diejenigen, die versuchen, die Glocke zu läuten, werden beschimpft – als »Lobbyist des Feindes«, als »Lumpenpazifist«, oder, wie im Ukrainekrieg, als »Putinversteher«. Das Friedensgebot sollte eigentlich das Prinzip sein, an dem sich alle anderen Normen der Verfassung messen lassen müssen; das ist nicht oder nicht mehr so. Mit späteren Verfassungsergänzungen, zumal mit denen, die 1954/56 die Bundeswehr und die sogenannte Wehrverfassung ins Grundgesetz eingefügt haben, ist angeblich das Friedensgebot verändert worden. Ist das wirklich so? Hat das Friedensgebot des Grundgesetzes einen Bedeutungswandel erfahren?

Gewiss: Das Grundgesetz lässt seit Mitte der 50er Jahre Rüstungspolitik und militärische Sicherheitspolitik ausdrücklich zu; aber die Schranken dabei setzt das Friedensgebot. Das Friedensgebot ist der Obersatz. »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«, heißt es der Präambel. Die Präferenz der Verfassung ist eindeutig: Sie will Frieden und Sicherheit vorrangig auf der Basis internationaler Kooperation und in einem Konzept verwirklichen, dem die Vorstellung zugrunde liegt, dass die eigene Sicherheit zugleich auf der Sicherheit des potenziellen Gegners beruht. Das meint die Einordnung in ein »System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit«. Carlo Schmid, der geistige Vater dieser Formulierung, meinte mit diesem »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« ausdrücklich nicht klassische Verteidigungsbündnisse, wie die Nato eines ist, sondern eine Institution wie die Vereinten Nationen.

Die Nachkriegsstimmung fand ihren Ausdruck in den Parolen »Nie wieder Krieg!«, »Nie wieder Militär!« und »Nie wieder Diktatur!«. Bei den Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee hatte die einfache und einprägsame Formel einigen Zuspruch, die lautete: »Der Krieg ist verboten«. Mit diesem und in diesem Geist begannen die Arbeiten des Parlamentarischen Rats am Grundgesetz. Carlo Schmid (SPD), Vorsitzender des Hauptausschusses bei den Grundgesetzberatungen, wollte Deutschland eine friedensstiftende Vorreiterrolle einnehmen lassen. »Krieg ist kein Mittel der Politik« – das war seine plakative Formulierung, die er gern im Grundgesetz gesehen hätte. Man solle doch im Zeitalter des »Atombombenkrieges«, so hatte er schon bei den Beratungen zu der von ihm geprägten Verfassung von Württemberg-Hohenzollern vom 28. November 1946 gesagt, mit einem bewussten Verzicht Deutschlands auf eine Politik der militärischen Stärke ein »neues gesundes Vorbild« auch für andere Staaten sein.

Das geschlagene Deutschland habe nun die »unschätzbare Gelegenheit«, aus der Not, »in die man uns gestürzt hat«, eine Tugend zu machen; das werde einen »moralischen Sog auf die übrige Welt« ausüben; früher oder später könne sich dem keine Nation entziehen – und eine friedfertige Welt werde dann am Ende dieser Entwicklung stehen. »Wir wollen unsere Söhne nie mehr in die Kaserne schicken! Und wenn doch einmal irgendwo wieder der Wahnsinn des Krieges ausbrechen sollte, dass unser Land das Schlachtfeld wird – nun, dann wollen wir eben untergehen und dabei wenigstens das Bewusstsein mitnehmen, dass nicht wir das Verbrechen begangen und gefördert haben.« Aus dem Grundgesetz hätte demzufolge auch eine pazifistische Verfassung werden können – so wie die japanische Verfassung von 1947. Das ist sie nicht geworden; der Kalte Krieg zog herauf, gut zwei Monate vor den Grundgesetzberatungen in Bonn hatte die Berlin-Blockade durch die Sowjetunion begonnen und begleitete und verängstigte die Arbeit am Grundgesetz.

Es hat daher erst eine Remilitarisierung der Politik, dann auch ein Mentalitätswechsel der Gesellschaft stattgefunden, der durch die Friedensbewegung der 70er- und frühen 80er Jahre zunächst stark gebremst, aber nicht aufgehalten wurde. Die Friedensbewegung, aus der sich zusammen mit der Umweltbewegung die grüne Partei entwickelte, hat kein Gewicht mehr. Aus einer sehr friedensbewegten grünen Partei wurde eine Brutstätte für Falken, eine Partei, die für Aufrüstung und immer mehr Waffenlieferungen in die Ukraine wirbt.

1956 wurde Artikel 87 a ins Grundgesetz eingeführt, der, nach heftigem Streit um die Wiederbewaffnung, »zur Verteidigung aufgestellte Streitkräfte« beschloss. Erlaubt ist also der Einsatz der Streitkräfte zur Verteidigung; das ist deren Primärfunktion. Die Wahrnehmung sogenannter Sekundärfunktionen (»außer zur Verteidigung«) setzt die ausdrückliche Zulassung durch das Grundgesetz voraus. An dieser Ausdrücklichkeit fehlte und fehlt es. Es gibt Verfassungsjuristen und Politiker, die daher einfach den Verteidigungsbegriff neu definieren wollen. Sie meinen, Verteidigung sei viel mehr als nur Landesverteidigung, Verteidigung setze also nicht unbedingt die Verteidigung eines angegriffenen deutschen Territoriums voraus; das Grundgesetz begrenze nicht den geografischen Einsatzraum der Bundeswehr, sondern lege den politischen Einsatzzweck fest. Deutschland verteidigen könne man daher überall, am Hindukusch, in Aleppo, auf hoher See und im Weltraum. Das klingt pfiffig. Aber mit bloßer Pfiffigkeit ist dem Ernst des Anliegens nicht gedient.

Das Bundesverfassungsgericht hat geholfen. Die einschlägigen Grundgesetzartikel wurden vom höchsten deutschen Gericht der von der Nato und der Bundesregierung geschaffenen Lage angepasst. Karlsruhe gestattete es also den Fakten, quasinormative Kraft zu entfalten. Das funktionierte so: Abweichend von seiner früheren Rechtsprechung vertrat das Bundesverfassungsgericht in seiner einschlägigen Out-of-Area-Entscheidung aus dem Jahr 1994 die Auffassung, die Nato sei nicht nur ein klassisches Verteidigungsbündnis, sondern auch ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« im Sinn von Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz – und daher seien deutsche Einsätze im Rahmen der Nato grundsätzlich in Ordnung. Dem Geist des Grundgesetzes und seinem Friedensgebot entspricht sie aber nicht. Diese Auslegung des Artikels 24 Absatz 2 war und ist ein Freifahrtschein für deutsche Auslandseinsätze und staatliche Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete. Das Friedensgebot des Grundgesetzes liegt im Niemandsland.

Zu einem Buch, das ein unentbehrlicher Ratgeber ist, sagt man »Vademecum«. Das kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie »Geh mit mir!« Es gibt solche unentbehrlichen Ratgeber für alle Berufsgruppen und alle Lebenslagen. Der unentbehrliche Ratgeber für Staatsbürger, auch für die Staatsbürger in Uniform, heißt Grundgesetz: Dort sind die Grundrechte formuliert, die ziemlich verlässliche Begleiter der Bürger geworden sind. Wenn es freilich um Auslandseinsätze der Bundeswehr geht, dann ist es aus mit dem Vademecum. Das Grundgesetz geht nicht mit den deutschen Soldaten ins Ausland. Es liegt auch nicht den Waffenexporten bei. Die geschriebene Wehrverfassung als Teil des Grundgesetzes befindet sich auf dem Stand von 1956. Das Grundgesetz muss aber Antworten geben auf die Fragen, in denen es um die Staatsgewalt im Wortsinn, um Leben und Tod, um Freiheit und Sicherheit geht.

Das Friedensgebot ist stumm geblieben. Für das Für und Wider von Waffenlieferungen an die Ukraine spielten und spielen das Grundgesetz und sein Friedensgebot kaum eine Rolle. Vielleicht deshalb gilt die Warnung vor einer »Eskalation« des Krieges als Ausdruck der Verzagtheit, vielleicht deshalb werden in dieser Debatte Wörter wie »Kompromiss« und »Waffenstillstand« häufig so ausgesprochen, als wären sie vergiftet; vielleicht deshalb gilt Kriegsrhetorik als Ausdruck von Moral. Wie dient man, wie es das Grundgesetz verlangt, dem Frieden in Zeiten des Ukrainekriegs – mit Haubitzen oder mit Vermittlungsversuchen? Mit Diplomatie oder mit Drohnen? Womöglich mit beidem? Nothilfe gegen einen Aggressor gehört zur aktiven Friedenspolitik, das ist im Völkerrecht unumstritten. Aber: Wo endet die gute Nothilfe, wo beginnt die Verlängerung und Vergrößerung der Not?

Wie wird wieder Frieden? Kann militärische Gegengewalt ihn bringen? Sie kann gewiss einen Teil der tödlichen Bedrohung durch Putins Raketen abwehren. Sie kann dessen Verbrechen Einhalt gebieten. Sie kann die Zerschlagung des Staats Ukraine, sie kann die Tyrannei verhindern. Aber kann sie Frieden bringen? Und wann ist Frieden? Ist er da, wenn der Angriff Russlands gestoppt ist? Oder dann, wenn die Russen aus dem Donbass und von der Krim vertrieben sind? Oder muss Putin gar auf seinem eigenen Boden niedergerungen und besiegt werden? Soll man den Krieg fortsetzen, solange man noch Chancen auf dem Schlachtfeld sieht im Glauben, die eigene Verhandlungsposition zu verbessern? Darf es am Ende heißen: Souveränität gerettet, Land zerstört?

Kann man den Frieden mit Leopard-Panzern und Taurus-Raketen gewinnen? Kann man ihn mit Jagdflugzeugen einfangen? Riskiert man damit einen russischen Atomschlag? Der Krieg definiert den Frieden, heißt es. Das meint: Wenn nicht mehr geschossen, gebombt, zerstört und getötet wird – dann ist Frieden. Solcher Frieden ist die Abwesenheit von Krieg. Das wäre schon etwas. Ein echter Friede ist das aber nicht. Ein echter, ein ernster Friede ist einer, der befriedet und nicht den Anlass für den nächsten Krieg in sich trägt.

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius fordert, Deutschland müsse wieder »kriegstüchtig« werden. Es handelt sich nicht einfach nur um rhetorische Martialität, sondern um konzeptionelle Martialität: »Unsere Wehrhaftigkeit erfordert eine kriegstüchtige Bundeswehr«, so heißt es in den neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vom 9. November 2023. Dies sei das »Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa«. Die müsse »in allen Bereichen kriegstüchtig sein« und Maßstab hierfür sei »jederzeit die Bereitschaft zum Kampf mit dem Anspruch auf Erfolg im hochintensiven Gefecht«. Fünfmal steht das Wort von der notwendigen Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr in diesen Leitlinien. Diese Propagierung einer Kriegstüchtigkeit ist ein Verstoß gegen Buchstaben und Geist des Grundgesetzes. Weder das Grundgesetz und sein Friedensgebot, noch die Vereinten Nationen, noch die OSZE, also die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, spielen in den verteidigungspolitischen Richtlinien eine Rolle. Eine Kriegstüchtigkeitsdiskussion widerspricht einem zentralen Anliegen der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Sie würden sich bei diesem Wort an die irre Kriegsbegeisterung der Deutschen am Anfang des Ersten Weltkriegs erinnern und an die brutale Ernüchterung, die dann folgte. Mit seiner Kriegstüchtigkeitsforderung hat der Verteidigungsminister einen Fehler gemacht. Pistorius ist ein Macher und eine ehrliche Haut. Aber dieses Wort »Krieg« ist nicht einfach ehrlich, es ist einfach gefährlich.

Tüchtigkeit – das ist kein Wort, das man mit Krieg verbinden darf …

1 Berliner Zeitung 13./14.04.2024, Vorabdruck aus dem Buch »Den Frieden gewinnen, die Gewalt verlernen« (leicht gekürzt).

Eskalationsspirale in der Ukraine stoppen! Waffenstillstand und Verhandlungen jetzt!

Mit der Erlaubnis für die Ukraine, jetzt auch mit NATO-Waffen russisches Territorium anzugreifen, dreht der Westen erheblich an der Eskalationsschraube. Auch mit deutschen Waffen darf jetzt wieder auf Russland geschossen werden.

Insbesondere die ukrainischen Angriffe auf Frühwarnanlagen der russischen Nuklearstreitkräfte sind unverantwortlich und eine dramatische Zuspitzung des Krieges. Sie betreffen das zentrale Sicherheitsinteresse Russlands als Atommacht. Die russische Nukleardoktrin sieht – ähnlich wie die der USA – die Möglichkeit eines Atomschlags bei Beeinträchtigung ihrer Nuklearfähigkeiten auch durch konventionelle Waffen vor. Eine entsprechende militärische Antwort Russlands kann nicht ausgeschlossen werden. Der Stellvertreterkrieg kann so leicht zum Dritten Weltkrieg werden.

Das massenhafte Sterben, die Zerstörung und der Ruin der Ukraine gehen unterdessen weiter.

Der Verlauf des Krieges zeigt, dass eine Lösung des Konflikts auf dem Schlachtfeld nicht möglich ist. Die militärische Logik muss durch Verhandlungen durchbrochen werden.

Daher fordern wir – auch aus historischer Verantwortung – von der Bundesregierung:

  • eigene Initiativen zu ergreifen, die zu Waffenstillstand und Verhandlungen führen
  • alles dafür zu tun, einen Beitrag für eine dauerhafte politische Lösung zu leisten.

Unsere Verpflichtung als verantwortungsbewusste Bürger und Bürgerinnen dieses Landes besteht indes darin, der Regierung die Unterstützung ihres Kriegskurses zu verweigern.

Wir rufen dazu auf, diese Erklärung massenhaft zu verbreiten, zu unterstützen und zu unterzeichnen.

Wir rufen zudem zu Aktionen und verstärkter Aufklärung vor Ort auf …

Die Ablehnung der Eskalation muss lautstark und unübersehbar zum Ausdruck gebracht werden – in Medien, in Gewerkschaften, Verbänden, Universitäten, Schulen, Gemeinden, am Arbeitsplatz, überall, wo Menschen zusammenkommen. Jetzt und sofort!

Initiative »Nie wieder Krieg –
Die Waffen nieder«

Yusuf As, Reiner Braun, Wiebke Diehl, Andreas Grünwald, Rita Heinrich, Jutta Kausch-Henken, Ralf Krämer, Willi van Ooyen, Christof Ostheimer, Peter Wahl

Erstunterzeichnerinnen und ­Erstunterzeichner

Ali Al-Dailami, Gießen; Mona Aranea, Düsseldorf; Friederike Benda, Berlin; Heinz Bierbaum, Saarbrücken/Berlin; Georg Bökermann, Neu Isenburg; Ulrich Brand, Wien; Peter Brandt, Hagen/Berlin; Michael Brie, Berlin; Maria Buchwitz, Münster; Carla Boulboulle, Berlin; Sevim Dagdelen, Berlin; Daniela Dahn, Berlin; Özlem Demirel, Köln, Frank Deppe, Marburg; Werner Dreibus, Wagenfeld; Ulrike Eifler, Würzburg; Hajo Funke, Berlin; Harri Grünberg, Berlin; Ulrike Guerot, Berlin; Markus Gunkel, Hamburg; Norbert Heckl, Stuttgart; Barbara Heller, Bremen; Lühr Henken, Berlin; Otto Jäckel, Berlin/Wiesbaden; Bettina Jürgensen, Kiel; Margot Käßmann, Hannover; Oskar Lafontaine, Merzig; Christian Leye, Berlin; Jürgen Hinzer, Frankfurt; Andrej Hunko, Aachen; Karl Krökel, Dessau; Gotthard Krupp, Berlin; Birgit Mahnkopf, Berlin; Barbara Majd Amin, Berlin; Rainer Mausfeld, Dänisch-Nienhof, Mohssen Massarrat, Berlin; Amira Mohamed Ali, Berlin; Zaklin Nastic, Hamburg; Kathrin Otte, Amelinghausen; Norman Paech, Hamburg; Rainer Perschewski, Berlin; Werner Ruf, Kassel; Werner Rügemer, Köln; Hannelore und Horst Schmitthenner, Niedernhausen; Helga Schwitzer, Hannover; Reinhard Schwitzer, Hannover; Michael von der Schulenburg, Wien; Joachim Spangenberg, Köln; Josephine Thyrêt, Berlin; Laura von Wimmersperg, Berlin; Sahra Wagenknecht, Berlin;

Berlin, der 4. Juni 2024

Editorial

Seit die erschütternden Bilder der Ermordung von George Floyd durch Polizisten in Minneapolis im Sommer 2020 um die Welt gingen und globale Proteste unter der Überschrift »Black Lives Matter« auslösten, rückte auch der Abolitionismus als theoretische Perspektive und als soziale Bewegung wieder stärker ins Blickfeld. Wörtlich bedeutet Abolitionismus Abschaffung und geht historisch auf die Forderung nach Aufhebung der Sklaverei im Kontext der Kämpfe gegen das kapitalistische Plantagensystem zurück.

In der BRD beinhaltete der Begriff anfänglich nur die Forderung nach Abschaffung der Gefängnisse und damit verknüpft eine Strafrechtskritik, die auch bürgerlich-demokratische Kräfte einschließt. International richtet sich die abolitionistische Kritik heute neben dem Gefängnis auch gegen andere unmenschliche Strukturen, Institutionen und Praktiken. Denn mit dem »neoliberalen Umbau« der westlichen Gesellschaften kann man konstatieren: Je stärker der Sozialstaat abgebaut wird, desto mehr wird der repressive Staat ausgebaut. In seinen Kontroll- und Strafsystemen dominiert das Prinzip des sozialen und ökonomischen Ausschlusses von Menschen, die wir als Teil der Arbeiterklasse betrachten.

Abolitionismus ist Staats- und Herrschaftskritik im besten Sinne. Insofern kommt es nicht von ungefähr, dass es Berührungspunkte zwischen einem radikalen Abolitionismus und dem Marxismus gibt. In seinem Einheitsfrontlied, an das der Titel dieser Ausgabe anknüpft, griff Bertolt Brecht Marxens Maxime auf, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385). Ein Grund mehr, Facetten des Abolitionismus als konkrete humane Utopie zur Diskussion zu stellen.

Vanessa E. Thompson unternimmt es in ihrem grundlegenden Beitrag, die vorhandenen marxistischen Wurzeln der abolitionistischen Bewegung nachzuzeichnen. Gleichzeitig betont sie die aktuelle Notwendigkeit eines »materialistischen Abolitionismus«, der die Eigentumsfrage stellt. Johannes Feest führt in die Hauptströmungen des europäischen kriminalpolitischen Abolitionismus ein, dessen Kern der Verzicht auf die Freiheitsstrafe ist. Denn Gefängnisse führen zu Desozialisierung statt Resozialisierung. Klaus Jünschke und Britta Rabe widmen sich der überproportionalen Bestrafung der Armen aus einer historischen und aktuellen Perspektive. Hans-Dieter Schütts Beitrag zum Theater im Knast verdeutlicht den Anachronismus Gefängnis. Kunst als Mittel zum Erhalt von Autonomie gegenüber der Macht der totalen Institution! Die Gruppe Death in Custody dokumentiert Fälle tödlicher Polizeigewalt. Dabei insistiert sie darauf, bei der Analyse nicht nur die rassifizierten Opfer in den Blick zu nehmen, sondern auch die aus prekären Verhältnissen. Im Zentrum der Fundamentalkritik Ulrich Lewes stehen der Maßregelvollzug und die Psychiatrie. Abolitionismus bedeutet jedoch nicht nur Negation, sondern bietet auch Alternativen im Hier und Jetzt, um die gegenwärtigen Machtstrukturen von unten aufzusprengen. Ein solches Beispiel ist das von Rehzi Malzahn beschriebene Projekt »Restorative Justice«. Abgerundet wird der Themenschwerpunkt durch die geschichtlichen Artikel zum Verhältnis der KPD zum Strafrecht, zur Roten Hilfe (Kalenderblatt) und einige Rezensionen.

Volkmar Schöneburg, Herbert Lederer, Lothar Geisler

Abolition und Marxismus

Vanessa E. Thompson

Abolition oder Abolitionismus beschreibt eine internationale Bewegung zur Aufhebung der kapitalistischen Verhältnisse, aus denen auch stets extra-ökonomische Gewalt entspringt, statt einfach nur die Aufhebung von Methoden des Kapitalismus wie der Polizei, dem Gefängnis oder dem militärisch-industriellen Komplex. Wörtlich bedeutet Abolition »Abschaffung«, lässt sich jedoch politisch besser mit »Aufhebung« übersetzen. Bezüge zum Abolitionismus haben vor allem seit den globalen Rebellionen für schwarze Leben im Jahre 2020 politisch an Aufmerksamkeit gewonnen: Im Rahmen der Bewegungen gegen Polizeigewalt sind abolitionistische Ansätze bekannter geworden, Aktivist:innen nehmen Funktion und Rolle der Polizei in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung in den Blick und kämpfen für deren Abschaffung; anti-rassistische Initiativen und selbstorganisierte Geflüchtete setzen sich für die Abschaffung von Grenzregimen ein; neuere Initiativen mobilisieren für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe und bringen damit den Gefängnisabolitionismus, der auch in Deutschland eine lange Geschichte hat, wieder auf den Plan; und auf verschiedenen linken Konferenzen und Kongressen (2023 in Hamburg und Köln) wird versucht, die abolitionistischen Bewegungen stärker ins politische Verhältnis zu setzen.

Während Abolitionismus aktuell also eine Konjunktur in der Linken erfährt, sind die marxistischen Bezüge im Abolitionismus teilweise auch aus dem Blick geraten. Zwar wird sich stets auf die geschichtlichen Ursprünge des Abolitionismus als Kampf gegen die Sklaverei bezogen, eine intensivere Auseinandersetzung mit den marxistischen Implikationen im Abolitionismus gerät dabei jedoch in den Hintergrund. Dies ist jedoch grundlegend, da zum einen die Abschaffung des Privateigentums und die der staatlichen Gewalt Hand in Hand gehen, zum anderen ist gerade ein materialistischer Abolitionismus (im Gegensatz zum liberalen Abolitionismus) dafür unersetzlich. Aber auch für die Marx’sche Theorie ist der Abolitionismus wichtig, da dieser die Tendenz der Ausblendung von direkter Gewalt und konstanter Überausbeutung (Boggs 1970; Marini 1974) herausfordert sowie den Fokus auf die Alternativen in der Gegenwart und die Kritik an der Verengung von Klassenkonflikten- und Kämpfen legt (Gilmore 2007; Gilmore 2022). Dieser Beitrag skizziert das Verhältnis zwischen Abolition und Marxismus in zwei Abschnitten. Im ersten Abschnitt zeige ich, dass im historischen Abolitionismus von einer materialistischen und einer liberalen Form unterschieden werden sollte. Im zweiten Abschnitt diskutiere ich die Herausbildung neuer abolitionistischer Bewegungen im 20. Jahrhundert sowie deren politische Möglichkeiten und Fallstricke.

Historischer Abolitio­nismus

Zu den zentralen ökonomiekritischen Erkenntnissen des Abolitionismus gehört es, die direkte Gewalt und Unterdrückung sowie unfreie oder weniger freie Arbeit als funktionale Bestandteile der kapitalistischen Produktionsweise zu theoretisieren und zudem die institutionelle Verengung von Arbeitskämpfen zurückzuweisen. Vor diesem Hintergrund ist es keine Überraschung, dass der schwarze Marxist und Abolitionist, W. E.B Du Bois, in einem unveröffentlichten Manuskript aus ca. 1951, die Verbindungen zwischen Kommunismus und Abolitionismus explizit hervorhebt, weil die Bewegungen beide im 19. Jahrhundert entstanden sind und nicht umsonst »Abolitionisten auch Kommunisten genannt wurden und Kommunisten des Abolitionismus verdächtigt wurden«. Zugleich verweist Du Bois in dem kurzen Manuskript darauf, dass viele Abolitionisten zwar für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, jedoch nicht für die Abschaffung des »industrial system«, während Kommunisten die Politisierung weißer Lohnsklaven fokussierten, da schwarze Sklaven die Freiheit angeblich nicht verdienten. Nach Du Bois war es jedoch Marx, der diese beiden Bewegungen während des Bürgerkriegs zusammenführte. Zwar hat Marx sich nicht systematisch mit moderner Sklaverei und Kolonialismus in der neuen Welt beschäftigt. Doch hat er die zentrale Rolle von Sklaverei und kolonialer Expansion in seiner Analyse der ursprünglichen Akkumulation als »Hauptmomente« betont (MEW 23: 779). In den letzten 15 Jahren seines Lebens beschreibt Marx, vor dem Hintergrund intensiver Auseinandersetzung mit Studien zu Russland, China, vor allem dem Taiping-Aufstand, Indien, Teilen von Afrika und den Amerikas (Hudis 2021; Pradella 2017), die ursprüngliche Akkumulation als einen kontinuierlichen Prozess. Den Aufständen der Sklaven kommt damit eine wichtige Rolle zu, gerade auch als Kritik an der Integration der Arbeiterbewegung in den industriellen Zentren in die kapitalistischen Verhältnisse (Frings 2019). So schreibt Marx im Jahre 1860 an Engels:

»Nach meiner Ansicht ist das Größte, was in der Welt vorgeht, einerseits die amerikanische Sklavenbewegung, durch Browns Tod eröffnet, andererseits die Sklavenbewegung in Rußland […] Dies zusammen mit dem bevorstehenden downbreak in Zentraleuropa wird grandios werden.

Ich sehe eben aus der ›Tribune‹, daß in Missouri ein neuer Sklavenaufstand war, natürlich unterdrückt. Aber das Signal ist einmal gegeben. Wird die Sache by und by ernsthaft, was wird dann aus Manchester?« (MEW 30: 6 f.)

Marx spricht hier der Bewegung versklavter Arbeiter sowie militanten Abolitionisten wie John Brown eine signalgebende Funktion zu und verschiebt damit auch ansatzweise die Geographien der Revolution. Es waren aber vor allem schwarze Marxisten wie W. E. B. Du Bois, C. L. R. James, Eric Williams oder auch schwarze radikale Theoretiker wie T. Thomas Fortune, der unter Abolition einen anderen Begriff für Kommunismus verstand, die diese Ausrichtung weiter verfolgten und damit auch Marxismus und Abolition zusammenstellten. So argumentiert W. E. B. Du Bois in seinem Magnum Opus Black Reconstruction in America aus dem Jahre 1935, dass die Über-Ausbeutung von Sklaven in den Südstaaten der USA, wie andere Teile des dark proletariat1, nicht nur den Dreh- und Angelpunkt andauernder kapitalistischer Akkumulation bilden, sondern auch entgegen der These, dass die Abschaffung der Sklaverei hauptsächlich eine Errungenschaft der Abolitionisten aus dem Norden sei. Du Bois zeigt auf, dass Sklaven im Süden der USA mit einem Massenstreik von vier Millionen Menschen die grundlegende Rolle in der Abschaffung der Sklaverei in den USA spielten und nicht auf die Abolitionisten im Norden angewiesen waren, um ihre Ketten zu sprengen. Er ordnet damit die Kämpfe unfreier oder weniger freier Arbeiter explizit in die Geschichte der Klassenkämpfe und der Arbeiterbewegung ein, kritisiert die Trennung von den Widerständen der schwarzen Sklaven von der weißer Arbeiterbewegung und analysiert, warum letztere sich nicht auf die Seite der Versklavten, sondern auf die ihrer eigenen Ausbeuter geschlagen haben.

Drei Jahre nach dem Erscheinen von Black Reconstruction veröffentlichte der schwarze Historiker und Marxist C. L. R. James Die schwarzen Jakobiner, ein Grundlagenwerk über die Haitianische Revolution (1791–1804), die als grundlegende Manifestation abolitionistischen Widerstands zur Abschaffung der Sklaverei auf Saint-Domingue und als Moment globaler Klassenkämpfe zu verstehen ist. In der französischen Kolonie Saint-Domingue, der damals profitabelsten Plantagenökonomie der Welt, erkämpften die Sklaven, zusammen in einer Fraktion mit teils formal freien schwarzen Menschen sowie mit polnischen, aber auch deutschen Landarbeitern gegen den Widerstand der Kolonialmacht Frankreich die weltweit erste Abolition. Es war der erste Sklavenaufstand, der zu einer Revolution wurde und zum unabhängigen Haiti führte. Während die haitianische Revolution in der westlichen Geschichte globaler Arbeiterbewegungen lange ein Schattendasein fristete, galt sie für große Teile des dark proletariats und schwarze anti-koloniale Marxisten wie Aimé Césaire (2000) als ein zentrales Moment, das weit über Haiti, aber auch über schwarze Widerstandsbewegungen hinauswies, wie etwa die Bezugnahme indigener Arbeiter im Pazifik, wie den Maori, oder auch lateinamerikanische Bewegungen gegen Plantagenökonomie und kolonialen Kapitalismus zeigen (Ehrmann im Erscheinen).

Eine weitere Studie, die als bahnbrechend sowohl für den Marxismus als auch für den Abolitionismus gilt, ist Capitalism and Slavery von Eric Williams (1994), einem Schüler von James und spätere Premierminister von Trinidad und Tobago, aus dem Jahre 1944. Williams hatte bereits einige Recherchearbeit für James’ historische Studie zur haitianischen Revolution geleistet. In seiner Doktorarbeit nahm er einen Gedanken von seinem Lehrer dezidiert auf, führte diesen aus und wesentlich weiter (Mimms 2021). Williams machte deutlich, dass 1) Sklaverei vor allem ein ökonomisches Phänomen ist und nicht in erster Linie ein »rassisches« oder gar anti-schwarzes (›unfree labor in the New World was brown, white, black and yellow, Catholic, Protestant and pagan‹)2, 2) Sklaverei eine fundamentale Rolle für die Entwicklung des globalen Kapitalismus spielt und die industrielle Revolution wesentlich auf die Plantagenökonomie zurückzuführen ist und 3) die Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien im Jahre 1807 nicht auf den liberalen Humanismus oder Philanthropismus der Abolitionisten zurückzuführen ist, sondern durch die Krise des (überholten) Systems des Merkantilismus zu erklären ist (Horne 2021). Die Errungenschaften der Abolition mit Bezug auf bestimmte Stränge innerhalb der abolitionistischen Bewegung wertete er damit eher als Hinwendung zum Freihandel denn als Zeichen des Humanismus. Damit wies Williams James’ Analyse der Revolution versklavter Arbeiter oder der Kraft von Sklavenaufständen jedoch nicht zurück. Vielmehr verortet er Abolition damit in dem Verhältnis von Krise und Klassenkonflikt. Dies ist der fundamentale Unterschied zwischen dem materialistischen Abolitionismus à la Du Bois, James und weiteren und dem liberalen bzw. idealistischen Abolitionismus eines Abraham Lincoln, aber auch Victor Schoelcher oder William Wilberforce, denen es wesentlich um die Integration von versklavter Arbeit in das Lohnarbeitsverhältnis ging anstatt um Revolution Ehrmann und Thompson 2019). Es geht materialistischen Abolitionist:innen nicht um eine Reform des kapitalistischen Gesellschaftssystems, sondern um dessen langfristige Abschaffung.

Vor dem Hintergrund dieser kurzen historischen Skizze des Verhältnisses von Abolition und Marxismus sind zwei weitere Aspekte zentral für die Geschichte des radikalen Abolitionismus. Dieser markiert die transnationale Dimension der Solidarität von Arbeitern. Auch in Europa waren Arbeiter mit den Sklavenaufständen oft solidarisch. Zuckerstreiks oder die Streiks von Textilarbeitern sind dafür ein gutes Beispiel. Europäische Arbeiter solidarisierten sich mit den Kämpfen der Versklavten mit einem Verständnis, dass auch sie nicht frei sein können, wenn Arbeiter in der Peripherie in Ketten liegen. Dies schlug sich auch im Streik der Textilarbeiter im Jahre 1862 in Lancashire in Solidarität mit den abolitionistischen Kämpfen in den Südstaaten nieder.

Zudem geht es im Abolitionismus nicht nur um Negation, sondern vor allem auch um das Erproben radikaler Alternativen. Diese reichen historisch von den Projekten geflohener versklavter Arbeiter in den Quilombos in Brasilien3, der Palenque de San Basilio im heutigen Kolumbien, den Maroon-Formationen auf Jamaika bis hin zu den rätedemokratischen Projekten wie der der Pariser Kommune, in denen Alternativen zur kolonial-kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweise erprobt wurden.

Mit dem Fokus auf Fragen um direkte Gewalt, Enteignung, Formen der unfreien oder wenig freien Arbeit sowie systematischer Unterentwicklung als fortwährende Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise, lassen sich auch viele anti-koloniale Ansätze wie bspw. von Frantz Fanon, Amílcar Cabral, Claudia Jones oder Walter Rodney als abolitionistisch lesen, da diese vor allem die Rolle der unfreien oder weniger freien Arbeit, imperialen Ausbeutung und Kriege sowie der Gewaltapparate zum Erhalt der kapitalistischen Produktionsweise thematisierten. Zugleich legten viele dieser Revolutionäre den Fokus auf Alternativen, wie die Land- und Bildungsprojekte von Cabral und der Afrikanischen Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde zeigen oder die Modelle der ›Survival Pending Revolutions‹ der Black Panther Party for Self-Defense. Auch der Bezug zu Gefängnissen zeigt sich bereits in den Auseinandersetzungn anti-kolonialer und schwarzer Marxist:innen sehr deutlich. So schreibt Walter Rodney über George Jackson, einem der Begründer des neueren Abolitionismus in den USA, der besonders die inhaftierte Klasse in den US-Gefängnissen organisierte:

»The greatness of George Jackson is that he served as a dynamic spokesman for the most wretched among the oppressed, and he was in the vanguard of the most dangerous front of struggle. Jail is hardly an arena in which one would imagine that guerrilla warfare would take place. Yet, it is on this most disadvantaged of terrains that blacks have displayed the guts to wage a war for dignity and freedom.« (1971: 5)

George Jackson, der auch Mitglied der schwarzen marxistischen Black Panther Party for Self-Defense war und zuvor mit W. L. Nolen die Black Guerilla Family im San Quentin State Prison gründete, steht für einen stärkeren Fokus des Abolitionismus auf das Gefängnis. Im Jahr 1970 veröffentlichte Jackson seine Gefängnisbriefe Soledad Brother: The Prison Letters of George Jackson, in denen er auch die Funktion des Gefängnisses und seine Ausweitung als Ausdruck des Übergangs schwarzer Arbeiter von Plantagengesellschaften zur Lohnsklaverei beschreibt, in deren Rahmen sie auf dem konkurrierenden Arbeitsmarkt strukturell schlechter gestellt sind als weiße Arbeiter. Jackson versteht das Gefängnis damit nicht einfach als Kontinuität von Sklaverei, sondern vor allem als staatliche Methode zur Zerschlagung revolutionären Widerstands und Verwahrung des, oft aber nicht ausschließlich rassifzierten, Subproletariats. Er liefert damit wichtige Ansätze für eine Kritik der Masseninhaftierung, wie sie später vor allem abolitionistische marxistische Theoretiker:innen wie Angela Davis und Ruth Wilson Gilmore weiterentwickeln. Zugleich betrachten diese Ansätze, wie schon von Rodney oben im Zitat beschrieben, Inhaftierte als politische Subjekte und den Knast als Ort der Organisierung.

Neuere Abolitio­nismen

Vor dem Hintergrund der staatlichen Zerschlagung revolutionärer Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren sowie dem neoliberalen Umbau des sozialen Wohlfahrtsstaats zum zunehmend karzeralen Staat, fokussieren sich radikale Abolitionist:innen zunehmend auf das Gefängnis, später auch auf Lager, Grenzregime und Polizei als Methode der Verwahrung, Einsperrung und des Managements von relativen Arbeiterüberbevölkerungen. Das war keineswegs nur in den USA so, wo auch Gefängnistechniken- und Modelle wie das Hochsicherheitsgefängnis aus Deutschland übernommen und perfektioniert wurden (Gilmore 2007), vielmehr waren Abolitionist:innen darüber hinaus voneinander inspiriert und auch transnational gut vernetzt. Anders als oft behauptet, ist der Abolitionismus nicht von den USA nach Deutschland »rübergeschwappt«, sondern es entwickelte sich parallel zu der radikalen Kritik am Gefängnis auch in Europa der Abolitionismus von Gefängnissen und Strafsystemen. Hier entstand die Bewegung vor dem Hintergrund der Mobilisierung für die Freilassung von politischen Gefangenen wie Mitgliedern der RAF sowie allgemeiner Gefängniskämpfe und Kämpfe gegen die Psychiatrie in verschiedenen Ländern. Die Organisation der Inhaftierten wurde zunehmend politisch unterstützt und das Gefängnis- und Strafsystem als Methode zur Unterdrückung des Lumpenproletariats und der vermeintlich Unbrauchbaren analysiert. Auch die Zunahme von urbanen Rebellionen in europäischen Großstädten wie London Brixton, Paris oder Marseille verweisen dabei nicht nur auf die Ausweitung des strafenden Staates als Teil des neoliberalen Umbaus, sondern auch auf die Veränderung der strukturellen Position der sogenannten Unterklassen (Robinson 2020). Für den europäischen Kontext sind hier freilich die Arbeiten von Thomas Mathiesen, Nils Christie und Heinz Steinert, für den deutschen Kontext besonders unter anderem Fritz Sack, Helga Cremer-Schäfer, Johannes Feest und Klaus Jünschke zu nennen. Auch das seit den späten 1970er Jahren zunehmend repressive Migrationsmanagement und die Ausweitung des tödlichen Grenzregimes sind hier zu verzeichnen und werden im Rahmen der grenzabolitionistischen Kämpfe zunehmend diskutiert (Walia 2023). Diese relative Neuorientierung des Abolitionismus zu Ende des 20. Jahrhunderts findet vor dem Hintergrund des neoliberalen Strukturwandels, der zunehmenden Bestrafung und Kriminalisierung von Armut, dem Ausbau von Kontroll- und Strafsystemen sowie tödlichen Migrationsregimen zur kapitalistischen Krisenregulation statt. Die abolitionistische Bewegung nimmt zunehmend Formen des Einsperrens oder der unterdrückerischen sozialen Kontrolle (Polizei, Grenzregime, Überwachung, Psychiatrien, repressive und disziplinierende Sozialpolitik usw.) ins Visier. Auch feministische Initiativen, die die strafrechtliche Bearbeitung von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zurückweisen und eine gesamtgesellschaftliche und strukturelle Kritik am Patriarchat mit dem Abolitionismus verbinden, spielen in der Bewegung eine größere Rolle.

Ausgehend von Marx’ Analyse einer relativen »Surplusarbeiterpopulation« (MEW 23: 674), haben vor allem marxistische abolitionistische Theoretiker:innen wie Ruth Wilson Gilmore oder Stuart Hall den Zusammenhang von Poly-Krise und der zunehmenden Produktion einer relativen Arbeiterüberbevölkerung diskutiert. Während die Analyse von relativer Surplusarbeiterpopulation bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts relativ wenig Beachtung gefunden hat, wird sie vor dem Hintergrund von Deindustrialisierung, De-Agrarisierung und globaler Neoliberalisierung ab den späten 1970er Jahren zunehmend aufgenommen. Aaron Benanav argumentiert in seiner Geschichte von globaler Erwerbslosigkeit (2015), dass in 2015 1,3 Milliarden Menschen zur relativen Arbeiterüberbevölkerung gehören, ca. 40 % des globalen Proletariats. Auch der marxistische Abolitionist Mike Davis erläutert in seinem Buch Planet of Slums (2005), dass die »informelle Arbeiterklasse« die am schnellsten wachsende soziale Klasse ist. Parallel zum Wachstum der relativen Surplusarbeiterpopulation ist das polizierende Management und die Kontrolle dieser Teile des globalen Proletariats durch eine Logik der »Akkumulation durch Repression« (Robinson 2020) zu verzeichnen.

Ruth Wilson Gilmore verdeutlicht am Beispiel des gefängnis-industriellen Komplexes in den USA (2007), dass die massive Expansion von Knästen und dem Polizeiapparat das komplexe Resultat staatlicher sozialräumlicher »Antworten« auf die vielseitigen im Kapitalismus zwangsläufigen Überakkumulationskrisen (Überschuss von Arbeiter, Land, von Finanzkapital und Staatskapazität) ist. Bei der karzeralen Wende geht es ihr zufolge daher weniger um (Über-)Ausbeutung der Arbeitskraft der Inhaftierten, sondern vor allem um komplexe (teils auch widersprüchliche) staatliche »Lösungen« der sozialen, politischen und ökonomischen Krisen der Deindustrialisierung, Globalisierung und ökonomischer Restrukturierung. Der marxistische Politikwissenschaftler Cedric Johnson argumentiert mit Bezug auf Polizeiarbeit (2023), dass diese vor dem Hintergrund des neoliberalen und karzeralen Wandels seit den 1980er Jahren als städtische Strategie vor allem darauf abzielt, Verdrängungsprozesse zu verwalten, sowie die Überlebensweisen und Strategien der marginalisierten Teile der Arbeiterklasse und die für das Kapital Überflüssigen zu kriminalisieren. Er führt hierfür den Begriff des »stress-policing« ein. Auch im europäischen Kontext analysieren abolitionistische Theoretiker:innen und Bewegungen ähnliche Entwicklungen mit Bezug auf die Expansion von Polizei, Knast und der Internierung sowie Abwehr von Geflüchteten als Zusammenspiel von Surplus-Bevölkerung und staatlicher Krisenregulation (Elliott-Cooper 2023; Thompson 2024; Loick 2024).

Für einen materialis­tischen Abolitio­nismus

Es geht Abolitionist:innen um eine breite Anschlussbasis für eine radikale Politik der Ausgebeuteten und Entrechteten, die den Klassenkonflikt nicht auf institutionalisierte Konflikte verengt und nicht normierte Kämpfe der Arbeiterüberbevölkerung, die den kapitalistischen Verwertungsprozess auch stören können, wie Blockaden von Pipelines, Landokkupationen oder Besetzungen, zeigen, ernst nimmt.

Zugleich besteht bei einigen abolitionistischen Ansätzen das Risiko, sich zu sehr auf einen Kristallisationspunkt der Kämpfe zu konzentrieren und damit die Produktion der Methoden staatlicher Gewalt in den Hintergrund zu drängen oder über Sozialarbeit Formen des Community-Kapitalismus (van Dyke und Haubner 2021) weiter anzuheizen. Die Kämpfe gegen den karzeralen Kapitalismus müssen stets die Breite der Klasse adressieren, das heißt nicht nur die Abschaffung der Polizei oder des Gefängnisses erkämpfen, sondern die Kämpfe für sozialen Wohnungsbau, für nicht-privatisierte Gesundheitsversorgung, für öffentlich zugängliche Bildung und für höhere Löhne, gegen massive bail outs von Unternehmen, für Vergesellschaftung und Enteignung und die Entlohnung von Care-Arbeit und gegen Grenzen und Bewegungsfreiheit für alle. Die Ursprünge des materialistischen Abolitionismus, in dem die Abschaffung des Privateigentums und die der staatlichen Gewalt Hand in Hand gehen, dient hierfür als stets zu re-aktualisierender Kompass.

Literatur
  • Benanav, Aaron (2015): A Global History of Unemployment: Surplus Populations in the World Economy, 1949–2010, UCLA Electronic Theses and Dissertations.
  • Boggs, James (1970): Racism and the Class Struggle. Further pages from a Black Worker’s Notebook, New York.
  • Césaire, Aimé (2000): Discourse on Colonialism. London.
  • Du Bois, W. E. B. (1998): Black Reconstruction in America 1860–1880, New York.
  • Eggers, Lukas (2024): Ein immerwährendes Brandmal?: Rassismus und die Regulation der kolonialen Sklaverei in Anglo-Amerika, Münster.
  • Ehrmann, Jeanette (im Erscheinen): Tropen der Freiheit, Berlin.
  • Ehrmann, Jeanette und Vanessa E. Thompson (2018): »Abolitionistische Demokratie«.
  • Elliott-Cooper, Adam 2021): Black Resistance to British Policing. Manchester University Press.
  • Fanon, Frantz (1988): »Racism and Culture«, in: Toward the African Revolution: Political Essays, New York.
  • Frings, Christian (2019): »Sklaverei und Lohnarbeit bei Marx. Zur Diskussion um Gewalt und ›unfreie Arbeit‹ im Kapitalismus«, in: PROKLA 196(49): 427–448.
  • Gilmore, Ruth Wilson (2007): Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley.
  • Gilmore, Ruth Wilson, Brenna Bhandar und Alberto Toscano (2022): Abolition Geography: Selected Essays and Interviews, London.
  • Horne, Gerald (2021): »The Politician-Scholar. Eric Williams and the tangled history of capitalism and slavery«, The Nation, https://www.thenation.com/article/society/eric-williams-capitalism-slavery/
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  • »Intersektionale Konzepte und Praktiken der Gefängniskritik«, in: Rehzi
  • Johnson, Cedric (2023): After Black Lives Matter: Policing and Anti-Capitalist Struggle, London.
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  • Post, Charlie (2021): »A Response to Satnam Virdee’s The Longue Durée of Racialized Capitalism«, The Brooklyn Rail, https://brooklynrail.org/2021/02/field-notes/A-Reply-to-Satnam-Virdee
  • Pradella, Lucia (2017): »Marx and the Global South«, in: Sociology 51(1): 146–161.
  • Robbie Shilliam (2015): The Black Pacific. Anti-Colonial Struggles and Oceanic Connections, London 2015.
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  • Rodney, Walter (1971): »George Jackson, black revolutionary«, MajiMaji, 5:4–6.
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  • Walia, Harsha 2021: Border and Rule: Global Migration, Capitalism, and the Rise of Racist Nationalism, Chicago: Haymarket.

1 Du Bois schreibt zum dark proletariat: »That dark and vast sea of human labor in China and India, the South Seas and all Africa; in the West Indies and Central America and in the United States – that great majority of mankind, on whose bent and broken backs rest today the founding stones of modern industry – shares a common destiny; it is despised and rejected by race and color; paid a wage below the level of decent living; driven, beaten, prisoned and enslaved in all but name; spawning the world’s raw material and luxury – cotton, wool, coffee, tea, cocoa, palm oil, fibers, spices, rubber, silks, lumber, copper, gold, diamonds, leather—how shall we end the list and where? All these are gathered up at prices lowest of the low, manufactured, transformed and transported at fabulous gain; and the resultant wealth is distributed and displayed and made the basis of world power and universal dominion and armed arrogance in London and Paris, Berlin and Rome, New York and Rio de Janeiro. Here is the real modern labor problem.« (Du Bois 1998: 16). Es geht bei Du Bois also nicht in erster Linie darum, dass diese Arbeiter schwarz oder braun sind, sondern um ihre strukturelle Position im kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis.

2 Damit nimmt Williams auch eine Position in der sogenannten »Ursprungsdebatte« ein, da die Entstehung des Rassismus als nachträgliche Legitimation der modernen Sklaverei analysiert wird. Positionen auf der anderen Seite machen deutlich, dass Formen eines Proto-Rassismus bereits Macht- und Herrschaftsverhältnisse in spanischen und portugiesischen absolutistischen Staaten im späten 14. und 15. Jahrhundert charakterisierten. Auf der iberischen Halbinsel wurden Formen der Rassifizierung ohne Rasse gegen muslimische und jüdische Konvertiten zum Christentum gewendet (Fanon 1988; Robinson 1983). Soziologisch-historische Perspektiven zeigen daher, dass vorherige Prozesse der Rassifzierung (mit wechselnden Markern) kontextuelle Dominanzverhältnisse prägten, mit der Entwicklung des Kapitalismus jedoch erst verallgemeinert bzw. universalisiert und biologistisch verfestigt wurden. Siehe zu der Debatte auch die solidarische Diskussion zwischen Satnam Virdee und Charlie Post (2021) sowie die Diskussion zu den Limitationen beider Positionen in Eggers (2024).

3 Palmares, eine der größten Quilombo-Siedlungen entflohener und freigeborener afrikanischer Menschen, gegründet um 1600 in den Hügeln Brasiliens, bestand zum Beispiel aus 25.000 Bewohner:innen, die eine sich selbst versorgende Republik gegründet hatten.

Kriminalpolitischer Abolitionismus

Johannes Feest

Abolitionismus ist eine Haltung, eine Bewegung, die sich auf unterschiedliche Theorien, vor allem aber auf moralische und empirische Evidenz berufen kann. Als Kriminalpolitik ist der Kern dieser Haltung der Verzicht auf den Gebrauch der Freiheitsstrafe. Der Begriff Abolitionismus wurde von Thomas Mathiesen aus der Geschichte des Kampfes gegen die Sklaverei und gegen die Todesstrafe übernommen und auf die Freiheitsstrafe übertragen. Er trägt in sich eine weit über die Kriminalpolitik hinausgehende humanistische Botschaft.

Es gibt viele kriminalpolitische Abolitio­nismen

Die Abschaffung von Gefängnissen wird schon lange und aus den verschiedensten Perspektiven gefordert. Von Anarchisten wie Kropotkin, von Sozialisten wie Karl Liebknecht, von Humanisten wie Arno Plack, Birgitta Wolf, Nils Christie und Hermann Bianchi und auch von einzelnen deutschen Kriminalwissenschaftlern (Klaus Lüderssen, Helmut Pollähne, Sebastian Scheerer).

Vier kriminalpolitische Abolitionismen, die mir besonders lieb geworden sind, sollen hier in ihrer Verschiedenheit kurz skizziert werden:

Da ist zunächst der Abolitionismus der Quaker, die ja bekanntlich frühe Vollzugsreformer waren, sich aber ebenso frühzeitig und radikal vom Gefängnissystem abgewandt haben. Schon zwei Jahre nach Mathiesens Adaptation des Begriffes veröffentlichten sie ein »Handbuch für Abolitionisten« (Knopp u. a. 1976), welches heute noch lesenswert ist. Es ist ein radikaler Reduktionismus im Gewand des Abolitionismus. Ihre Strategie zur letztlichen Abschaffung von Gefängnissen nennen sie »attrition« (Abnutzung, Verschleiß, Zermürbung). Sie besteht aus fünf Hauptpunkten:

Dem Verzicht auf Neubau von Gefängnissen (moratorium), der Schaffung neuer Möglichkeiten der Entlassung (decarceration), der Entwicklung von Alternativen zur Einsperrung (excarceration), der Beschränkung der Einsperrung auf Wenige (restraint of the few) und dem Aufbau einer aufnahmebereiten Gesellschaft (caring community).

Dieses detailliert begründete und nach wie vor plausible Programm spiegelt den Elan der 1970er Jahre mit seinem Vertrauen in Vernunft und Gemeinschaftsgeist. Es enthält auch pragmatische Züge, indem es als Langzeitprojekt angelegt, mit dem aber sofort begonnen werden soll, und indem es nicht auf jegliche Notwendigkeit von Einsperrung verzichtet.

Initiatorin dieser Gruppe war die Quakerin, Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Fay Honey Knopp. Sie war eine Aktivistin, die auch in der praktischen Arbeit mit Straffälligen eine Rolle spielte und sich dabei speziell der inhaftierten Sexualstraftäter annahm. Herman Bianchi hat sie als die »Mutter Theresa des Abolitionismus« bezeichnet (Feest/Paul 2008, 13). Außer Herman Bianchi (und später Angela Davis) hat keiner der akademisch prominenteren Abolitionisten Fay Honey Knopp auch nur erwähnt.

Das Programm ist leider ein minoritäres geblieben, nachdem der Enthusiasmus der 1970er Jahre sich verflüchtigt hatte. So ist das Büchlein nie in andere Sprachen übersetzt worden. Aber es ist weiterhin sehr lesenswert und im Netz abrufbar. Erst seit Kurzem gibt es ein neues Handbuch, ungleich umfangreicher, internationaler und teurer, auch dieses bisher nur auf Englisch (Coyle/Scott 2021).

Einen völlig anderen, aber gleichermaßen radikalen, Ansatz, hat Louk Hulsman in dem Buch »Peines perdues« (vergebliche Strafen/Schmerzen) vorgelegt und vorgelebt (Hulsman/Bernat de Celis 1982). Zentral für diesen gelernten Juristen und praktizierenden Selbstdenker ist die Ablehnung und Dekonstruktion des Begriffs der Straftat (crime). Er bezeichnet diesen und alle davon abgeleiteten Begriffe als Teil eines kriminellen und kriminologischen »Dialekts«, dessen Logik wir dringend abschwören sollten, um zu einer vernünftigen Einschätzung der sozialen Wirklichkeit zu kommen. Seiner Ansicht nach ist es sinnlos zu erwarten, dass das Strafsystem (penal system) »Kriminalität« unterdrücken könne; es sei vielmehr im Gegenteil so, dass das Strafrecht das Phantom der Kriminalität erst erschaffe, indem es höchst unterschiedliche Sachverhalte als »kriminell« definiere. Er schlägt vor, aus diesem Denkgefängnis auszubrechen und stattdessen von »problematischen Situationen« zu sprechen. Für jede dieser Situationen gebe es mehrere Möglichkeiten damit umzugehen, wovon die Strafjustiz nur eine und zwar die schlechteste sei. Hulsmann, ursprünglich Ministerialbeamter im Justizministerium der Niederlande, hat einen nicht unbeträchtlichen Einfluss als Vorsitzender einer internationalen Arbeitsgruppe des Europarates erlangt, welche einen ausführlichen Report on Decriminalization (1980) hervorgebracht hat. In diesem wird exemplarisch, am Beispiel der Bagatelldelikte, vorgeführt, wie das Strafrecht erheblich reduziert werden könnte. Mehr und mehr Staaten folgen diesem Modell heute, auch im Zusammenhang mit dem Drogenelend.

Hulsmans Buch ist in diverse Sprachen übersetzt und vor allem im spanisch/portugiesisch-sprachigen Teil der Welt sehr einflussreich geworden. Seit kurzem existiert eine englische Übersetzung (Piché 2023). In Deutschland hat vor allem Sebastian Scheerer sich bemüht, Hulsmans Gedanken bekannter zu machen, aber eine Übersetzung seines Hauptwerks fehlt nach wie vor. Im deutschen juristischen und kriminologischen Schrifttum taucht sein Name so gut wie nicht auf. Deshalb kann es nicht verwundern, dass sein Einfluss hier gering ist.

Auch der Name Alessandro Baratta wird hierzulande kaum zitiert, obwohl dieser italienisch-deutsche Jurist und Rechtsphilosoph jahrelang an der Universität Saarbrücken gewirkt und viel auf Deutsch veröffentlicht hat (zuletzt Baratta 2003). In Italien, Spanien und Lateinamerika ist er hingegen als einer der Väter des strafrechtlichen Minimalismus (minimalismo penale) bekannt. Ein Leben lang hat er sich für »die rigoroseste Reduzierung des Strafrechts« eingesetzt. Ausdrücklich bezieht er sich dabei auf Gustav Radbruchs Hoffnung, dass die Entwicklung des Strafrechts über das Strafrecht einstmals hinwegschreiten und die Verbesserung des Strafrechts nicht in ein besseres Strafrecht ausmünden wird, sondern in ein Besserungs- und Bewährungsrecht, das besser als Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht ist (Radbruch 1999, 157). Baratta, der über Radbruch promoviert hat, hat dazu in seinem, bisher nur auf Italienisch vorliegenden Hauptwerk dazu angemerkt: »Wir wissen, dass die Ersetzung des Strafrechts durch etwas Besseres nur dann kommen kann, wenn wir unsere Gesellschaft durch eine bessere ersetzt haben werden« (Baratta 2019, 193). Bis dahin sollte ein minimales Strafrecht eine Garantie gegenüber der Klassenjustiz sein (»Garantismus«). Dem entspricht es, dass sein Abolitionismus offenbar großen Schwankungen unterworfen war. Einer seiner Mitarbeiter und Freunde erinnert sich an den »incerto abolizionismo penale di Baratta«: »Er habe ihn evoziert, vorgeschlagen, aufgeschoben, zurückgestellt, und immer wieder erneut ins Gespräch gebracht, Anzeichen seiner theoretisch-praktischen Unzufriedenheit im Zusammenhang mit der Aufgabe die Kriminalpolitik zu zivilisieren« (Stefano Anastasia 2019, 212, meine Übersetzung).

Einen vierten, wiederum deutlich unterschiedlichen, Ansatz hat der norwegische Soziologe Thomas Mathiesen vorgelegt und über viele Jahre verfeinert. Bekannt wurde er mit seiner »Strategie der Negation«. Er wandte sich anfangs gegen jegliche positiven Reformen des Gefängnissystems. Nur »negative« Reformen sollten unterstützt werden, also solche, welche das System nicht stärkten. Dies stellte eine kritische Rezeption der Unterscheidung zwischen reformistischen und nicht-reformistischen Reformen dar, wie sie der österreichisch-französische Sozialphilosoph André Gorz (1967) vertreten hatte. Diese Strategie wurde in den 1970er- und 80er Jahren das Credo vieler abolitionistischer Knastgruppen, die sich von karitativen und behandlungsorientierten Reso-Gruppen unterscheiden wollten. Das führte viele Knastgruppen zur Abwendung von den konkreten Problemen der Gefangenen und dem Versuch zu ihrer Lösung beizutragen. Später hat Mathiesen seine frühe Begriffsbestimmung etwas modifiziert. Er hielt zwar an der Auffassung fest, das Abolitionist:innen sich nicht mit »System-Rechtfertigung«, nicht mit der Verfeinerung des Bestehenden befassen sollten: »Ich wollte damals zweifellos Strategien für konkrete Abschaffungen entwickeln und das möchte ich immer noch. Dazu gehören auch kleine Abschaffungen, die kleine Siege bedeuten und zum Paradigma des Abolitionismus gehören. Das ist ein wichtiger Aspekt, der heute nicht übersehen werden sollte. Aber ich war auch bestrebt, eine abolitionistische Haltung zu entwickeln und zu nähren, eine ständige und zutiefst kritische Haltung zu Gefängnissen und Strafsystemen als menschliche (und unmenschliche) Losungen« (Mathiesen 2015, 32).

Oft übersehen wird die Bedeutung von Mathiesens Philosophie des »Unfertigen« (the unfinished), an der er sein ganzes Leben gearbeitet hat. Schon 1974 schrieb er: »Ich bin allmählich nach allen Erfahrungen zur Überzeugung gekommen, dass die Alternative im Unfertigen liegt, in der Skizze, in dem, was noch nicht endgültig ist« (1979, 168). Und er stellt sich den Prozess als einen »der Beseitigung, des Aufbaus und der erneuten Beseitigung vor, auf ständig neuer Basis. Es geht um einen ständig rotierenden Übergang zu ständig neuer Unfertigkeit. Ich erlebe das als Prozess des Lebens selbst« (1979, 182). Damit verwirft er die Vorstellung eines »letzten Gefechts« und einer ein für alle Mal existierenden kommunistischen Zukunftsgesellschaft zugunsten einer Theorie der permanenten Revolution.

Details

Seiten
160
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (ePUB)
9783961703739
ISBN (PDF)
9783961706730
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Juli)
Schlagworte
Marxistische Blätter

Autor

  • Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)

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Titel: Weil der Mensch ein Mensch ist – Marxismus & Abolitionismus