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Krieg kommt nicht aus einer schwarzen Wolke

Kulturpolitische Beiträge, Gedichte und Liedtexte von Kurt Barthel (KuBa)

von Raimund Ernst (Autor:in)
©2024 239 Seiten

Zusammenfassung

Die Erinnerung an KuBa soll dem in diesem Land verordneten Vergessen über das vergangene »andere« Deutschland entgegenwirken und das Bewusstsein lebendig erhalten, dass eine andere, sozialistische Gesellschaft möglich war und deshalb auch weiterhin möglich sein wird, wenn nicht gar bei Strafe des Untergangs der Menschheit ohne Alternative ist. Wer unserem Angebot der Erinnerung an ihn folgt oder ihn auf diese Weise erstmalig kennenlernt, erlebt ein literarisches Werk von außergewöhnlicher Aktualität, dessen zeitloses Erbe den Rang eines politischen Pflichtprogramms erhält. Mit seiner Hilfe lassen sich verschüttete und erloschene Hoffnungen wiedergewinnen.
– Raimund Ernst im Vorwort

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


I. Vorwort

Kurt Barthel – Persönlichkeit, Schicksal und Werk des Antifaschisten, Kommunisten und Arbeiterschriftstellers vor dem Vergessen bewahren!

Mehr als ein Jahr, nachdem die Waffen in Europa schwiegen und Deutschland vom Faschismus befreit war, erhielten der antifaschistische Emigrant Kurt Barthel und seine wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgte Frau Ruth im Herbst 1946 von den britischen Behörden die Genehmigung zur Rückkehr in ihre Heimat. Das Ziel war Berlin, genauer der unter sowjetischer Besetzung und Verwaltung stehende Teil der Stadt. Hinter ihnen lag die Flucht – häufig unter Lebensgefahr – in ein durchaus nicht leicht zu findendes, aufnahmebereites Land, sie hatten in der Fremde ein entbehrungsreiches Leben, teilweise in Internierungslagern, geführt und waren vom Warten auf die Heimkehr zermürbt. Hinter ihnen lag vor allem ein Krieg, der nicht seinesgleichen an Zerstörung, Gewalt und Tod gehabt hatte. Für Kurt Barthel, der seinen Vater zu Beginn des ersten Weltkrieges verloren hatte und ohne Vater aufgewachsen war, blieb daher Zeit seines Lebens der Kampf gegen den Krieg das Wichtigste. Einfühlsam und ohne falsches Pathos beschreibt er in dem Gedicht »Die Mutter spricht« den Kummer und das Leid als unausweichliche Folge des Krieges (S. 82). Und unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg erhebt er wieder seine mahnende Stimme »gegen den Krieg« (S. 135). Das Gedicht beginnt mit den Versen »Krieg kommt nicht aus einer schwarzen Wolke, Krieg ist nicht ein Sommerhagelschlag«. Ursachen und Verursacher von Kriegen haben Namen, sie sind also erkennbar, und deshalb sind sie auch aufhaltbar. Hierfür sein künstlerisches Talent einzusetzen, stand für ihn an erster Stelle.

Das Gefühl, durch den Sieg der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition befreit worden zu sein, das die Emigranten wie die in der eigenen Heimat Verfolgten gleichermaßen beseelte, wurde, wie rasch klar wurde, von der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht geteilt. In ihrem antifaschistischen Kampf gehörten jene zur Minderheit, und sie blieben auch lange Zeit nach ihrer Rückkehr vor allem in den Westzonen Außenseiter, denen man mit Misstrauen begegnete. Es ist heute kaum noch vorstellbar, mit welchem Enthusiasmus sich trotzdem die Generation der Emigranten und Verfolgten – so es denn ihre Gesundheit zuließ – in die politische Aufbauarbeit stürzte. Vielleicht lag dies auch an der Einsicht, politisch zur Minderheit zu gehören, die sie als Verpflichtung den getöteten Opfern gegenüber immer wieder antrieb, ohne Schonung der eigenen Person im Kampf und Einsatz um ein – im wahrsten Sinn des Wortes – neues Deutschland nicht nachzulassen. Ein Deutschland, wo dem Faschismus nicht nur das Haupt abgeschlagen war, sondern wo er bis auf seine Wurzeln vernichtet wäre. Ein Deutschland, von dem nie wieder ein Krieg ausgehen würde und in dem die Profiteure des Krieges ein für alle Mal entmachtet sein würden. Ein Deutschland, in dem das Vermächtnis der deutschen Novemberrevolution nach dem 1. Weltkrieg erfüllt sein würde und der Weg in eine friedliche Zukunft auf der Grundlage sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit geebnet wäre. Dies schien dem Ehepaar Barthel in der sowjetischen Besatzungszone eher möglich zu sein als im Westen, der das Ziel eines neuen einheitlichen Deutschlands auf dem Altar der Restaurierung der alten Besitz- und Machtverhältnisse opferte. So war es nur konsequent, dass nach Gründung des westdeutschen Separatstaates die Identifizierung mit dem übrigen kleineren Teil Deutschlands in Gestalt der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur eine Sache des Kopfes war, also der politischen Überzeugung, sondern auch eine des Herzens, einer erlebten und gelebten Solidarität, eines neuen menschlichen Miteinander.

Im Mai 2024 sind 75 Jahre nach Gründung der BRD vergangen. Mit der Würdigung von Kurt Barthels Leben und Werk erinnern wir daran, dass während dieser Zeit 40 Jahre lang eine staatliche Alternative zu dem »alten« Deutschland Bonner Prägung existiert hat. Die historische Wahrheit lässt es nicht zu, die offizielle Geschichte der Deutschen in ihrer Nationalstaatlichkeit zu reduzieren auf die herrschende, gradlinige Traditionslinie seit 1870/71. Andere werden vielleicht als historischen Bezugspunkt die Novemberrevolution und die Weimarer Republik wählen, wieder andere werden gerade wegen des erneuten von Deutschland ausgegangenen Krieges die Jahre nach 1945 als willkommenen, weil unbelasteten Beginn deutscher Nationalstaatlichkeit den Vorzug geben. Wenn die Frage des 19. Jahrhunderts »Was ist des Deutschen Vaterland« nach der Bismarck’schen Reichseinigung beantwortet schien, ist die Frage »Was ist, was gehört zur Geschichte des deutschen Volkes« alles andere als abgeschlossen. Und genau dieser Umstand wird durch die historische Existenz der DDR wachgehalten, denn selbst nach ihrem Anschluss an die BRD ist diese Frage nicht endgültig beantwortet, ist die Frage danach, wie ein »neues« Deutschland aussehen soll, immer noch aktuell.

Für die Generation der Antifaschisten und Emigranten, der politisch Verfolgten und Lagerhäftlinge war ein »neues« Deutschland nur denkbar, wenn aus der bisherigen deutschen Geschichte die notwendigen Lehren mit aller Konsequenz und Gründlichkeit gezogen würden. Diese Lehren auf ein bloßes »Nie wieder« oder gar »Nie wieder ist jetzt« zu reduzieren, ist keine Aufarbeitung deutscher Geschichte. Es ist in diesen Monaten populär geworden, mit dieser griffigen, im Grunde inhaltsleeren Losung auf die Straße zu gehen und gegen die drohende Gefahr von rechts zu demonstrieren, was für dieses Land einen nicht gering zu schätzenden gewissen demokratischen Hoffnungsschimmer darstellt. Allerdings wenn in einem historischen Kurzschluss der Eindruck erweckt wird, als stünde man in der Tradition des Schwurs von Buchenwald, betrachte sich also als jemand, der auf diese Weise ein antifaschistisches Vermächtnis erfüllt, dann lohnt es schon, noch einmal sich den Schwur von Buchenwald im Original anzuschauen: »Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig.« Hier wird die Perspektive eines »neuen« Deutschland umrissen, das das Eingeständnis und die Erkenntnis eigener großer historischer Schuld zur Voraussetzung des staatlichen Neubeginns macht und zu einer friedlichen Nachbarschaft in Europa verpflichtet. »Nie wieder« ist also nicht aus Gründen politischer Opportunität auf »heute« beschränkt, sondern es war Losung und Programm nach 1945, behält seine Gültigkeit in der Gegenwart, aber mehr noch für die Zukunft.

Von dieser Einstellung und Überzeugung getragen, stellte sich Kurt Barthel dem Aufbau eines »neuen« Deutschland mit seiner ganzen Kraft und Persönlichkeit zur Verfügung. Der Anspruch zielte auf das ganze Deutschland, und so blieb es bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1967, der ihn in gleichsam »historischer Mission« anlässlich eines Gastspiels des Rostocker Volkstheaters zu Ehren des 50jährigen Jubiläums der Oktoberrevolution in Frankfurt am Main ereilte. Zu diesem Zeitpunkt konnte er bereits auf ein eindrucksvolles literarisches und dramaturgisches Schaffen zurückblicken, das ihn beim Aufbau des Kulturlebens des zweiten deutschen Staates zu Recht eine prominente Stelle einnehmen ließ. Auch wenn es nicht das ganze Deutschland war, so galt es doch zu beweisen, dass es »ohne Kapitalisten besser geht«, wie es in dem von ihm 1957 verfassten Text für ein Lied heißt »Ohne Kapitalisten geht es besser« (S. 179).

Für Kurt Barthel war dies keine am Schreibtisch erdachte Losung, sondern er verstand es als Verpflichtung und persönlichen Auftrag, dies in der harten Realität eines zerstörten Landes mit unzulänglichen ökonomischen Ressourcen und einer vom Faschismus verblendeten und dadurch entmutigten Bevölkerung künstlerisch umzusetzen und so auch mit Hilfe der Kultur den Menschen eine neue gesellschaftliche Perspektive zu eröffnen. Es kann daher nicht überraschen, dass der Schreibtisch für den Schriftsteller Kurt Barthel nicht sein bevorzugter Arbeitsplatz war, sondern ihn drängte es an die Orte, an denen der Kampf um das »Neue« sich entscheiden würde: in der Produktion. So ging er Anfang 1948 als Betriebszeitungs-Redakteur und Kulturleiter in die Maxhütte Unterwellenborn, das Herzstück der neu entstehenden Schwerindustrie im Osten. Im Januar 1949 legte er hier in einem Artikel der Werkszeitung mit nur einem Satz »sein« Programm der Kulturarbeit vor, das auch später Maß und Richtung künftigen Kulturschaffens bestimmen würde. »Das Ziel aller Kulturarbeit in unserer Zone heute ist, das barbarische Erbe der faschistischen Ära zu überwinden, den Menschen selbst umzumodeln.« Dies gelingt durch eine neue Kultur. »Sie entsteht im Kraftzentrum des menschlichen Lebens, und das ist heute die volkseigene Industrie, das sind Fabriken, das ist für uns die Maxhütte.« Eingefangen sind die Stimmung und Erwartungen jener Zeit in seinem Gedicht »Sagen wird man über unsere Tage« (S. 153).

Die Gründung der DDR als »neues« Deutschland (vgl. »Dem 7. Oktober 1949« als ein Vorschlag für eine Nationalhymne gedacht, S. 127), die Einführung einer gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsplanung (»Der Plan«, S. 129) und die Entscheidung über die Schaffung der Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus, und immer wieder die wirtschaftlichen Erfolge im Großen wie im Kleinen, die ohne Kapitalisten gelangen und im Selbstbehauptungskampf gegen den kapitalistischen Nachbarn stets und ständig gesichert wurden (vgl. »Lied vom glücklichen jungen Kapitän«, S. 159; »Ja, Häuser baun«, S. 163; »Zimmermannstanz/Bauhebe«, S. 165; »Mein neues Dorf«, S. 168), – in allen Fällen war Kurt Barthel niemals nur Zuschauer, sondern immer aktiver Teilnehmer, all das fand Niederschlag in seinen Gedichten und Liedtexten.

Seine besondere Aufmerksamkeit, ja Liebe galt der heranwachsenden Jugend. Hier knüpfte er an seine persönlichen Erfahrungen an, die er in der Jugendarbeit seiner sächsischen Heimat gesammelt hatte und die ihn in der englischen Emigration an der Gründung einer eigenständigen überparteilichen Jugendorganisation, der »Freien Deutschen Jugend«, mitwirken ließen. Seine Hoffnungen und Erwartungen fanden sich bestätigt in einer Zeile des Liedes aus den vergangenen Zeiten des Bauernkrieges »Wir sind des Geyers schwarzer Haufen«, in dem es trotz Niederlage siegesgewiss heißt: »Die Enkel fechten’s besser aus«. Es ist daher kein Zufall, dass noch heute der Name Kurt Barthel oder KuBa im »angeschlossenen« Teil Deutschlands erinnert wird im Zusammenhang mit Jugendweihefeiern (vgl. das Gedicht »Die ihr heut zwischen 14 und 20 Jahren seid …«, S. 181). Die neue Zukunft zu gewinnen war eben nur möglich, wenn die Jugend für das Neue begeistert und gewonnen wird.

Seine Rolle als Kulturschaffender war die eines Politikers, und seine Rolle als Politiker war die eines Kulturschaffenden. Für ihn waren Kultur und Politik unlösbar miteinander verbunden, und er betrachtete als überzeugter Kommunist beide Aufgabenfelder, in denen er verantwortlich tätig war, gleichsam als »seine« Parteiarbeit. Parteinahme und Parteilichkeit entsprachen seiner Lebenserfahrung, sie halfen ihm Verfolgung und Emigration zu überstehen, und sie blieben daher auch sein Kompass während des antifaschistisch-demokratischen Neubeginns und des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus in der DDR. Was sich in der Rückschau so einfach als seine Lebensleistung zusammenfassen lässt, verlief im realen Leben natürlich alles andere als widerspruchsfrei. Am deutlichsten wird dies vielleicht in den Tagen des Juni 1953 und seiner Position, die er als damaliger Generalsekretär des Schriftstellerverbandes eingenommen hatte und für die er im Westen endgültig als »Hofsänger Walter Ulbrichts« abgestempelt wurde.1 Wie er sich mit jenen Ereignissen des Juni im Kreis seiner Kollegen auseinandergesetzt und welche Schlussfolgerungen er gezogen hatte, verrät seine auch heute noch lesenswerte Rede, die er einen Monat danach im Verband gehalten hatte (»Unsere Aufgaben«, S. 25).

Bei einer Gesamtschau über das Werk Kurt Barthels nimmt sein »Gedicht vom Menschen« (S. 100) einen herausragenden Platz ein. Selbst seine ärgsten Kritiker und Widersacher kamen nicht umhin, ihm für diese literarische Schöpfung eine gewisse Anerkennung auszusprechen. Entstanden weitgehend in der Emigration – er hatte das fast fertige Manuskript bei der Heimkehr in seinem Gepäck – stellt es eine Art Selbstvergewisserung seines Denkens und Schaffens dar, die ihn aus der Liebe zum Menschen für die Verbesserung der Welt kämpfen lässt, die seinen Humanismus verbindet mit dem Kommunismus. Auf ein ganz anderes Genre hat er mit seiner Ballade vom »Klaus Störtebeker« zurückgegriffen. Die Suche nach historischen Vorbildern des Widerstands gegen Obrigkeit und Unterdrückung, die über Jahrhunderte hinweg in der Erinnerung der Menschen lebendig geblieben waren, führte ihn zur Geschichte von Leben und Tod des als Seeräuber verleumdeten Störtebeker, der als Haupt der »Likedeeler« den Kampf gegen die Hanse mit dem um soziale Gerechtigkeit verbunden hatte. Die Freiluftaufführungen in Ralswiek auf Rügen hatten ein gewaltiges Echo, das weniger an den Schöpfer Kurt Barthel erinnerte als vielmehr an ein großartiges Spektakel, das einen ganzen Ort in eine Bühne und seine Bevölkerung in Mitwirkende dieses Theaterstücks verwandelte. Selbst Jahrzehnte nach den ersten Aufführungen und noch nach dem Anschluss der DDR hallt dieses Echo in der kommerziellen Neuauflage der heutigen Zeit nach, auch wenn die ursprünglichen Absichten des Autors unsichtbar gemacht worden sind.

Umso mehr mühte sich der Westen Deutschlands, die Erinnerung an Kurt Barthel zu reduzieren auf ihn als den Verfasser einer »Stalinkantate« (S. 138). Wie so häufig in der Welt politischer Vorurteile und Schmähungen nähren diese sich vornehmlich aus bewusster Ignoranz und schlichter Unwissenheit. Wie auch immer dieses Gedicht literarisch beurteilt werden mag – und deshalb sei die eigene Lektüre empfohlen –, wird eines doch ziemlich klar: es eignet sich nicht, um KuBa als Stalinisten zu verunglimpfen. Ein Gedicht über die Stalinallee und eines zu dessen Tod komplettieren das Werk KuBas, Stalin betreffend, während in den acht Bänden seiner im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Werkausgabe nicht eine einzige Zeile über Stalin zu finden ist.

Allen, die mehr von KuBa lesen wollen, sei mitgeteilt: Gedrucktes ist von KuBa nicht mehr im Buchhandel erhältlich, sondern nur noch antiquarisch zu erwerben. Seine Übersetzungen und Nachdichtungen, seine Romane und Drehbücher und nicht zuletzt sein dramaturgisches Wirken am Rostocker Volkstheater konnten hier nur erwähnt werden in der Absicht, die Breite seines künstlerischen Schaffens aufzuzeigen. Mit seiner Kunst wollte er den ganzen Menschen ansprechen, alle seine Sinne, um ihn für das »neue« Deutschland, das ihm Ziel und Programm war, »umzumodeln«. Dieses Lesebuch soll zumindest einen ersten Zugang zu seinem Werk eröffnen, es soll Mut und Lust machen, einen – inzwischen – nahezu unbekannten Arbeiterschriftsteller zu entdecken, der wie kaum ein zweiter diese Kennzeichnung als Ehrentitel trägt.

Die Erinnerung an KuBa soll dem in diesem Land verordneten Vergessen über das vergangene »andere« Deutschland entgegenwirken und das Bewusstsein lebendig erhalten, dass eine andere, sozialistische Gesellschaft möglich war und deshalb auch weiterhin möglich sein wird, wenn nicht gar bei Strafe des Untergangs der Menschheit ohne Alternative ist. Wer unserem Angebot der Erinnerung an ihn folgt oder ihn auf diese Weise erstmalig kennenlernt, erlebt ein literarisches Werk von außergewöhnlicher Aktualität, dessen zeitloses Erbe den Rang eines politischen Pflichtprogramms erhält. Mit seiner Hilfe lassen sich verschüttete und erloschene Hoffnungen wiedergewinnen.

In Ergänzung hierzu wird verwiesen auf das Angebot eines 90-minütigen Vortrags zu KuBa mit Informationen zu seinem Leben und Werk durch den Herausgeber. Bei Interesse möge man sich an den Verlag wenden.

1 J. Barthel (Hrsg.), Es kommt dein Tag, Genosse Spartakus! Erinnerungen an den Antifaschisten, Schriftsteller und Dramaturgen KuBa (Kurt Barthel), Essen 2021, S. 10.

Kultur wird gesucht

WIR WOLLEN UNS MAL ERKUNDIGEN, wo denn eigentlich die deutsche Volkskultur steckt.

Da ist eine enge, holprige Gasse. Da sind ein paar alte, schindelgedeckte, baufällige Hütten, die Leute, die daran vorbeigehen, sagen:

»Sind die aber morsch!«

Und die Häuschen lehnen sich aneinander, erzählen sich von vergangenen Zeiten.

Aber eines Tages werden sie aus ihrem stillen Winkel aufgestöbert. Da kommt ein junger Mann – ihr könnt ihn euch vorstellen: hochgewachsen, breitschultrig, blond, weiße Strümpfe – – Er umschleicht die Hütten, beäugt sie sich von allen Seiten, klappt eine Leica auf, sagt im Geiste »bitte recht freundlich« und schnapp –

Das Negativ wird dann entwickelt, kriegt noch ein wenig Retusche und erscheint als Bild mit solchem Titel:

STÄTTE DEUTSCHER VOLKSKULTUR.

Motiv aus der Windgasse.

»Motiv« ist wichtig, das ist die Musik zu dem Bild.

Die Kamera hat gesprochen. Die Häuschen machen auf dem Bilde freundliche Gesichter. Und die Leute, die früher sagten: »Sind die aber morsch«, die sagen jetzt: »Ach, ist das aber nett!«

Die öffentliche Meinung haben sie ausgerichtet, die Bildchen. Das ist alles!

Gegen die alten Häuschen ist natürlich nichts einzuwenden. Daß sie von dem Mann mit der Leica vergewaltigt wurden, daran sind sie unschuldig. Und daß in ihnen noch Menschen wohnen müssen, dafür können sie auch nichts.

Das Alter soll man ehren. Aus den Hütten könnte man zum Beispiel Museen machen. An der Tür könnte man ein Plakat anbringen mit der Aufschrift:

IN SOLCHEN KATEN MUSSTEN UNSERE VÄTER HAUSEN.

Das Volk würde kommen und sagen: »Wie gut, daß die Zeiten vorbei sind! Es gruselt einen, wenn man bedenkt, daß unsere Väter da drin verkümmert sind.«

Das wäre Kultur!

Leider sind die Zeiten noch nicht vorbei.

Leider verkümmert das Volk.

In Reichenberg gibt’s eine Talsperre – außerdem einige Kirchen – außerdem einen modernen Brunnen am Markt – außerdem einen Tiergarten – außerdem gepflegte Anlagen – außerdem ein fabelhaftes Krematorium – außerdem einen Platz, wo Hunde dressiert werden – außerdem noch vieles.

Kultur ist das schon. Aber mit dem Volke hat es nichts zu tun.

Wo soll man denn nun bloß suchen?

Natürlich im Zentrum des Deutschtums.

Natürlich im Liebiegviertel.

Reichenberg liegt im Schatten der Liebiegwerke.

Die Liebiegwerke – das ist ein ganzer Stadtteil.

Liebieg besitzt eine große Arbeitersiedlung.

Die Namen sämtlicher Vorfahren Theodor Liebiegs sind auf Straßentafeln verewigt. Einige Kilometer von Reichenberg entfernt gibt es einen Aussichtsturm, der hieß früher mal Hohe Habsburg. Heute heißt er Liebieghöhe. Die Parallele ist richtig.

Liebieg beherrscht dieses Stück Erde. Und wie er es beherrscht!

»Beiß mal in das Brot« – sagt ein junger Liebiegarbeiter. –

»Nicht zu essen das Zeug.«

»Habt ihr hier solch schlechtes Brot?«

»Nein, das Brot ist gut. Ich hab’s aber mit in der Fabrik gehabt, da zieht es den Gestank so an. Ich kann das Brot essen, weil ich’s gewohnt bin.«

Eine Arbeiterin kommt eben aus dem Betrieb. »Sehen Sie sich mal diesen Eßtopf an.« (Er ist ganz grau vor Staub.)

»Na und?«

»Den Dreck muß man jeden Tag bei Liebieg hineinfressen, außer jenem, den man einatmet. So sieht das aus!«

Ein Arbeiter erzählt, daß oft Beamte durch den Betrieb gehen, die mit der Uhr in der Hand das Arbeitstempo kontrollieren.

»Wenn ich da was zu sagen hätte …«, meint er.

»Wer sich bei der Arbeit anlehnt oder setzt, bekommt eine Rüge. An den Aborttüren sind Fensterscheiben angebracht, damit beobachtet werden kann, ob einer beim Sch… raucht –«, brummt ein Liebiegkamerad.

»Jetzt werden ja bald Betriebswahlen sein, dann wird es schon besser werden.«

»Wen werden sie denn wählen?«

»Natürlich deutsch«, sagt der Junge. Er freut sich auf die Wahlen.

(Solltest lieber dem Liebieg die Freude verderben. Es gibt viele, die haben das schon beschlossen.)

Es klingelt von der Straße her. Schnell mal gucken. Aha! Ein Lastauto. Gerümpelmarkt.

Da gibt es Plakate in der Stadt:

DEUTSCHER VEREIN FÜR MUTTERSCHUTZ U. SÄUGLINGSFÜRSORGE!

GERÜMPELMARKT!

Auf den Plakaten ist noch zu lesen, wann und wo das ist. Und daß der Erlös dem Volke zugute kommt.

Auf dem Auto liegen eine alte Matratze und ein verrostetes Waschgestell. Da tut sich also etwas fürs Volk.

Gutes Entrümpeln, meine Herrschaften.

Aber Kultur – Kultur ist das nicht!

Wo ist die Volkskultur?

Nicht zu finden!

Wo soll sie denn auch herkommen, wenn die Leute den ganzen Tag hinter dem bissel Fressen herrennen müssen?

Nein, junger Mann, ihre alten Häuschen haben mit der Volkskultur nichts zu tun. Denn Volkskultur, das heißt:

Gut essen.

Gut gekleidet sein.

Schön wohnen.

Heißt:

GLÜCKLICHES LEBEN FÜR ALLE!

KuBa (Kurt Barthel) – 1936

Max erleidet eine Niederlage

Maxhütte, Unterwellenborn

Werkzeitung Nr. 6, Januar 1949

»Vor einigen Wochen wurde der Maxhütte vorgeworfen, sie wende der Kulturarbeit zu viel Aufmerksamkeit zu.

Die Werksleitung schaffte dem Kulturarbeiter Möglichkeiten wie wohl kein anderes Werk in der Ostzone. Die Werksleitung weiß sehr gut, um was es geht. Es geht um den Menschen selbst.

Das Ziel aller Kulturarbeit in unserer Zone heute ist, das barbarische Erbe der faschistischen Ära zu überwinden, den Menschen selbst umzumodeln.

Wir leben augenblicklich kulturell in einer Wüste. Die früheren Kulturträger haben uns nicht viel zu sagen. Die neuen sind noch schwach und finden unter Menschen, die noch voll des Alten sind, wenig Echo. Was wird geschehen? Der Mensch ist das Produkt seiner Umgebung. Unsere Umgebung ist die Maxhütte. Dreh dich und wende dich, wie du willst – du mußt leben, ergo mußt du Brot essen, deshalb mußt du produzieren, deshalb ist die Produktionsstätte das A und O deines Lebens überhaupt. Das war nicht immer so. Bisher wuchs die Kultur außerhalb des ›großen Haufens‹, waren es griechische Philosophenschulen, Klöster oder Ritterburgen oder die Salons der bürgerlichen Gesellschaft.

Kulturen, von jenen geschaffen, gehören der Vergangenheit an. Eine neue ist im Entstehen begriffen. Sie entsteht im Kraftzentrum des menschlichen Lebens, und das ist heute die volkseigene Industrie, das sind Fabriken, das ist für uns die Maxhütte.

Die menschlichen Konflikte, denen wir heute Ausdruck verleihen müssen, um sie als Konflikte zu überwinden, entstehen jeden Tag neu.

Neu und erregend ist der Gedanke an die individuellen Möglichkeiten, die jeder von uns hat. So erregend, daß sich die meisten fürchten, diese Möglichkeiten beim Schopf zu fassen und die vielen Wege nach dem gesellschaftlichen Oben von heute zu gehen. Auch dies ist ein Konflikt, der künstlerisch dargestellt werden muß, um im lebendigen Leben überwunden zu werden.

Von wo aber sollen die schöpferischen Kräfte kommen, die fähig sind, diesen Konflikten Ausdruck zu geben, wenn nicht aus den Betrieben selbst?

Wir selbst sind die Akteure dieser Konflikte. Wir selbst müssen ihnen künstlerisch Ausdruck geben, wir selbst werden somit zum Auditorium unseres eigenen Lebens werden. Die Bühne wird zeigen, wie man leben soll. Deshalb werden wir zu leben lernen, deshalb wird unsere Kunst, von uns selbst geschaffen, einen Wert haben, deshalb hat die Werksleitung recht gehabt, objektive Möglichkeiten für das Entstehen solch einer Kunst zu schaffen.

Darin besteht das Programm der Kulturabteilung der Maxhütte fürs nächste Jahr. Darum ruft die Kulturabteilung alle schöpferischen Kräfte und alle in ihrer Art auf, sich selbst zur Mitarbeit zur Verfügung zu stellen.«

KuBa (Kurt Barthel) – 1949

Schleier weg

Jahrtausende lassen sich nicht durch ein Dekret auslöschen. Schwer fiel es den Frauen Sowjet-Asiens, die Schleier abzuwerfen und das gute Gesetz, das ihnen Gleichberechtigung gab, als ihr Recht in Anspruch zu nehmen. Schwer fällt es den Frauen Europas, ihr Jahrtausende altes Sklaventum abzuwerfen. Die westliche Halbkugel, noch unter dem Druck des Hergekommenen, wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, daß die Frau ihr natürliches Recht in Anspruch nimmt: gleich dem Manne ihr Leben zu gestalten, unabhängig und frei. Dagegen stehen die bürgerlichen Gesetze.

Dagegen stehen die Moralgesetze der Religion.

Dagegen steht die Gefühlswelt der Frauen selbst.

Wie tief muß Sklaventum eingewurzelt sein, daß es als natürlicher Lebensumstand in Kauf genommen wird, wie schwer ist die Frau der westlichen Halbkugel unterdrückt. Während ihre Schwester im Osten als Kapitän auf der Kommandobrücke des Sowjetschiffes die Erde umfährt, stellt Marta Kunze aus Ebersdorf ihrem Herrn und Gemahl die Filzpantoffeln warm. Ihr ganzes menschliches Glück besteht darin, ihm beim Heimkommen ein paar angewärmte Filzpantoffeln über die Füße streifen zu dürfen. Während auf den Kommandohöhen des Ostens, auf Ministersitzen und an Konstruktionstischen Frauen ihr Tagewerk verbringen, findet es Lieschen Michel immer noch richtig, daß ihr Platz am Kochtopf und nur am Kochtopf ist. Glücklich der Osten Deutschlands, in dem das gute Gesetz gilt: Die Frau ist dem Manne gleich. Wie lange wird es währen, daß die Frau im Osten Deutschlands die ganze Tiefe und Bedeutung dieses Gesetzes begreift und schätzenlernt? Wie lange wird es währen, bis die Männer, auch die der fortschrittlichen Parteien, diesem Gesetz nachkommen werden und Verhältnisse schaffen, die der Durchführung dieses Gesetzes die Wege ebenen. Eine Revolution der Frauen ist nötig.

Währenddessen bereitet sich diese Revolution vor: In Laboratorien und Werkstätten, am Steuer des Traktors und am Schreibtisch Maria Torhorsts, am Webstuhl und überall, wo Frauen berufstätig sind. Ihnen gilt unser Gruß am 8. März, dem Feiertag der Frauen in aller Welt. Sie sind die erste Reihe. Sie sind die Schwestern der Frauen Chinas, Schwestern der Studentinnen, die in den Universitäten der weißen Unterdrücker studieren und den Kampf um ihre Befreiung vorbereiten. Gruß denn, den werktätigen Frauen der ganzen Welt. Gruß denn, dem 8. März, dem Internationalen Frauentag, Ehre seiner Begründerin, Clara Zetkin, einer deutschen Frau, die von aller Welt geliebt wird.

KuBa (Kurt Barthel) – 1949

Erich Weinert spricht

Wieder seid ihr gekommen, um ihn zu hören. Ich meine euch, Kampfgenossen Erich Weinerts in den schweren Jahren der Weimarer Republik, ihr, die ihr euren eigenen proletarischen Dichter im Kampf erzogen habt und dessen revolutionäres Lied euch im Kampf erzog.

Erich Weinert spricht zu euch jungen Arbeitern, Volkspolizisten, euch Töchtern und Söhnen der heldenhaften deutschen Arbeiterklasse, die furchtlos in die Gewehrläufe, in die Karabiner der Zörrgiebelpolizisten blickte und dafür kämpfte, daß die Fabriken, Ländereien, daß der Reichtum ihres Landes, den sie selber geschaffen hatten, ihnen selber gehören sollte.

Erich Weinert spricht aus uns jungen Schriftstellern, die seine Schüler sind, spricht aus uns Schriftstellern, Schauspielern, die wir uns geschworen haben, sein Wort als unser eigenes immer lebendig zu halten.

Erich Weinert spricht aus den jungen Kehlen seines eigenen Ensembles, das seinen eigenen Namen trägt, jungen Volkspolizisten, die bereit sind, den Inhalt seines Werkes, wenn es sein muß, auch mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.

Erich Weinert spricht, und sein Lied ist lebendig, wie es vor Jahrzehnten lebendig war und in den kommenden Jahrzehnten lebendig sein wird. Immer wird es die feige, verschlagene, dumme, blutdürstige, nur zum Sterben fähige deutsche Bourgeoisie verlachen; immer wird es das Heldenlied des 1. Mai 1929, die Barrikaden am Berliner Wedding besingen; immer wird es die Partei der Arbeiterklasse zu neuem Kampf hochreißen; immer wird es die Verräter der Arbeiterklasse entlarven; immer wird sein Lied das Hohe Lied der Internationalen Brigaden in Spanien sein; immer wird in ihm das erleuchtete Fenster des Kreml durch die Nächte scheinen; immer wird es in uns die Pariser Kommune lebendig halten, weil Erich Weinert uns die Lieder der Pariser Kommune deutsch dichtete; immer wenn wir das Lied vom großen Sowjetvaterland singen, werden wir es nach den Worten von Erich Weinert singen.

Erich Weinert spricht. Er spricht von der Rampe eines kleinen Theaters im nachkriegsgeschüttelten München. Die Menschen horchen auf. Wie sie aufhorchen, verbietet man Erich den Eintritt in dieses Theater, aber längst hat sein mächtiges Wort die Mauern dieser kleinen Bühne gesprengt. Sein Ruhm ist nach Berlin gedrungen. Er spricht auf den Brettern eines Kabaretts, und hier bringt man sein Wort nicht mehr zum Verstummen. Hier, im inflationsgeschüttelten Berlin, verdrängt das revolutionäre Wort den Tingeltangel bourgeoiser Geschäftemacher, und es entsteht eine kleine revolutionäre Bühne. Aber wenn auch sein Wort und seine Liebe schon längst der Arbeiterklasse gehören, gehört sein Gedicht der Arbeiterklasse noch nicht; die Arbeiterklasse selbst hat sein Wort noch nicht in Besitz.

Redakteure der kommunistischen »Roten Fahne« veröffentlichen seine Gedichte im Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands. Im Jahre 1924 wurde er Mitglied der KPD, und jede seiner Silben Eigentum der deutschen Arbeiterklasse.

Erich Weinert spricht. Neben Ernst Thälmann steht er auf der Rampe. Wie eine Flamme schlägt sein Gedicht in die Arbeitermassen hinein, wie eine Flamme lodert die Begeisterung der Arbeiter auf zu Erich Weinert und entzündet sein Gedicht zu immer hellerem und heißerem Feuer.

Erich Weinert spricht. Neben Ernst Thälmann steht er auf der Rampe, und auf der Rampe steht er neben den Sprechern der Partei vor den Arbeiterversammlungen großer Fabriken, vor Arbeiterversammlungen in kleinen verräucherten Gaststuben. Ihn hassen die Kultusministerien der Weimarer Republik. Sie haben allen Grund, Erich Weinert zu hassen, denn er reißt den Volksverbildnern die lügnerische Maske vom Gesicht. Ihn hassen die falschen Arbeiterführer; gegen ihn schleudert der Himmel des gesamten kapitalistischen Überbaus seine Tintenblitze. Sie fahren aus den Akten der Zensoren, aus den Mäulern schnarrender Polizeioffiziere; aus den einstweiligen Verfügungen sogenannter republikanischer Gerichte: Verboten, verboten, verboten! Verboten das Erscheinen der »Roten Fahne« wegen eines Gedichtes von Erich Weinert. Verboten die »Arbeiter-Illustrierte« wegen eines Gedichtes von Erich Weinert. Verboten! Den Mund verbietet man ihm. Auf der Bühne neben ihm der Polizeileutnant. Schweigend steht Erich da. Der Lautsprecher aber wirft seine Stimme in die jubelnden revolutionären Arbeitermassen. Verboten das Abspielen von Grammophonplatten, verboten! Durch die Straßen marschiert der Kommunistische Jugendverband Deutschlands, und von seinem Lied schallen die Straßen Berlins, Hamburgs, Düsseldorfs, Münchens. Sein Lied überspringt die Grenzen. Die Bergarbeiter in Südwales, die sich zum Hungerstreik formieren, horchen auf. In Shanghai kennt man seinen Namen. Moskau aber umfängt das Werk Erich Weinerts mit seiner ganzen mütterlichen Liebe. Oft wird der Wert eines Dichters am Wert eines anderen Dichters abgeschätzt. Das ist immer eine arme Rechnung. Ich behaupte hier, daß es in der deutschen Gegenwart und Vergangenheit nicht einen Dichter gegeben hat, dessen Wort in der Tiefe des Volkes so lebendig gewesen ist wie das von Erich Weinert. Erich Weinerts Gedichte hörte ich in den schweren Jahren der kapitalistischen Wirtschaftskrise in den Nachtasylen, in den Herbergen zur Heimat gesprochen. Die Worte Erich Weinerts wurden in Kerkerwände eingegraben. Die Worte Erich Weinerts wurden auf den Landstraßen gesprochen. Irische Landarbeiter haben mich gebeten, ein Gedicht von Erich Weinert aufzusagen. Grusinische Komsomolzen, polnische Auswanderer und chinesische Jugendgenossen: sie wollten wissen, wie ein Gedicht von Erich Weinert in Deutsch klingt. Die deutsche Militärkamarilla, die Faschisten haben Erich Weinert gehaßt wie wenige, weil er dem deutschen Chauvinismus wie wenige die Maske vom Gesicht gerissen hat. Und er haßte den deutschen Chauvinismus so sehr, wie er das deutsche Volk liebte. Erich Weinert war ein großer deutscher Patriot, und er hat es bewiesen durch die Jahre des Faschismus und des faschistischen Krieges. Er war neben Anna Seghers, Becher, Friedrich Wolf und vielen anderen das sprechende deutsche Gewissen. Die, welche in den Konzentrationslagern zum Schweigen gebracht wurden, jene, die man durch Marter und faschistische Kugeln zum ewigen Schweigen brachte, sprachen, klagten an, kämpften, blieben lebendig in seinem Gedicht. Und auch darum ist er unsterblich. An den Fronten Spaniens war er der Sänger des anderen Deutschland. Mit seinem Lied auf den Lippen gingen die Kämpfer gegen den internationalen Faschismus an die Front. Neben ihnen lag er in den Stellungen. Unter dem Kugelregen der Faschisten wurde das Lied von den Interbrigaden gedichtet, welches ewiges und heiliges Eigentum der Soldaten der Revolution ist. An der Front von Stalingrad rief sein feuergeschmiedetes Wort die zum Tode verurteilte deutsche Jugend zum Leben auf. Immer vorn, immer zwischen den Linien lag er neben dem Genossen Walter Ulbricht, Genossen Willi Bredel und sprach und sagte: Ihr sollt nicht sterben, ihr sollt leben! Kennt ihr viele solche Dichter in der Vergangenheit, die ihr lebendiges Herz auf das Schlachtfeld trugen, dem Tode preisgaben, um die, welche sie liebten, am Leben zu erhalten? Dichter, die so kämpfen, schreiben die Wahrheit, wie könnte es anders sein, wer kann daran zweifeln? Auf den Schlachtfeldern von Stalingrad lehrte er alle Künftigen, was das ist, Vaterlandsliebe, Patriotismus. In seinem Wort genas verführte deutsche Jugend vom Faschismus, in seinem Namen sammelte sich das Komitee »Freies Deutschland«, dessen Vorsitzender er war. Hier liegen die Wurzeln der künftigen Deutschen Demokratischen Republik.

Im Feuer der Fronten hat ihn die Kugel nicht getroffen, aber der Eiswind der Steppe legte hier wohl den Keim zu seiner langen bösen Krankheit. Mit der siegreichen Roten Armee kehrte Erich Weinert nach Deutschland zurück. Nicht hörte er auf das warnende Rasseln in seiner Brust. Alle Kraft gab er hin für die Genesung, das Glück und den künf­tigen friedlichen Ruhm seines Vaterlandes. Nicht hörte er auf das Rasseln in seiner Brust, Tag und Nacht arbeitete er in den Ruinen Berlins, diesem Ministerium, in dem die Wände feucht waren, die Räume kalt, weil es keine Feuerung gab. Man könnte sagen: Hätte er sich doch gepflegt. Wir haben recht zu sagen, warum haben wir ihn nicht besser behütet. Aber behüte du solch einen Vulkan. Denken wir an die Worte des Kampfgefährten Erich Weinerts, Nazim Hikmet, des großen türkischen Dichters, welcher der warnenden Ärztin antwortet: Mein Herz muß ruhig schlagen, nicht hassen soll ich meine Feinde wegen meines kranken Herzens, nicht lieben soll es diese sozialistische Sowjetwelt, in der ich lebe? Nicht lieben und nicht hassen? Soll es zerspringen!

Erich Weinert, der Soldat an tausend Fronten, lag auf dem Krankenbett, Jahre, Jahre: Von draußen drang der Kampflärm des Aufbaus der Deutschen Demokratischen Republik gedämpft zu ihm herein, und es hielt ihn nicht, der die Krankheit in sich wie einen faschistischen Feind bekämpfte. Zu ihm in die Krankenstube drang der andere Lärm: das Gekreisch und Gekrächz der abgehalfterten Junker und Monopolkapitalisten, ihre gekrallten Tatzen gegen unsere, seine geliebte Arbeiter-und-Bauern-Macht krümmend. Wir gingen zu ihm, er half uns mit seinem Rat, und er warnte uns und sprach nie vom Tode, aber immer vom Leben, und immer wieder gab er uns Verse, Gedichte, die wir behüten und feierlich sprechen, weil wir wissen, daß sie in einem schweren, unmenschlich schweren Kampf geschrieben worden sind. Bis zum letzten Wort ist seine Rede so geblieben, wie sie im Feuer der Kämpfe geschmiedet wurde, hart und doch biegsam, klar wie Stahl, rein wie eine rauchlose Flamme.

Dann sind noch einmal die Arbeiter Berlins, die aus Suhl, die aus den großen Fabriken und aus den kleinen Orten an seiner Fahne vorüberdefiliert, an seiner Fahne, die sein Leben war. Sie haben Blumen gebracht. Manche waren in riesige Kränze gebunden, und es waren ganz kleine Sträuße dabei, und die meisten dieser Blumen waren rot. So trauerten wir um den Menschen, der die Augen geschlossen hatte. Aber nimmer um den lebendigen Erich Weinert.

Erich Weinert ist nicht tot! Erich Weinert spricht …

KuBa (Kurt Barthel) – 1953

KuBas Rede anläßlich einer Gedenkveranstaltung für Erich Weinert im Berliner Friedrichstadtpalast

Unsere Aufgaben

In der ganzen Welt besteht eine überwältigende Sehnsucht nach Frieden. Die Völker Europas fordern eine Viermächtekonferenz. Die Regierung der USA und ihre Puppe Adenauer geraten in immer tiefere Isolierung. Der Wunsch nach Frieden in der Welt zwang jene, die nur durch Kriege leben können, zu einem verzweifelten Schlag. Dieser fiel am Tag X. Der Funken des Krieges wurde in die Deutsche Demokratische Republik geworfen. Die Exzesse des 16. und 17. Juni waren einmal Ausdruck des kleinbürgerlichen Unmutes noch immer faschistischer Elemente; sie wurden organisiert von faschistischen Westberliner Terrorgruppen, die für amerikanisches Geld auf Raub und Plünderung ausgingen. Irregeführte Arbeiter, deren teilweise berechtigte Unzufriedenheit mißbraucht wurde, distanzierten sich bald von den faschistischen Ausschreitungen. Ihre Absichten waren von Anfang an friedlich gewesen.

Der klassenbewußte Teil der Werktätigen, ihre standhaften Söhne, die Kameraden der Deutschen Volkspolizei bereiteten gemeinsam mit der brüderlichen Sowjetarmee dem faschistischen Rummel ein jähes, unrühmliches Ende.

Der 16. und 17. Juni führten zu einer Niederlage der kriegslüsternen amerikanischen Absichten. Die Völker wünschen den Frieden nach diesem Datum noch ebensosehr wie vorher, sie fordern noch nachdrücklicher die Konferenz der vier Großmächte. Die Deutsche Demokratische Republik, Teil der Weltfriedensfront, liegt im Blickpunkt des internationalen Geschehens.

Groß ist unsere Verantwortung.

Das Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei und die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik haben ihre Fehler offen dargelegt. Wir wissen, daß in Politik, Wirtschaft und Kultur heute die besten und kühlsten Köpfe alle Kräfte anspannen, das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Der Kampf ist noch längst nicht beendet. Wir aber sind festen Willens, das Vertrauen, welches die friedliebenden Völker in uns gesetzt haben, zu rechtfertigen.

Das nächste Ziel all unserer Arbeit ist die Einheit Deutschlands und die Erhaltung des Friedens. Auch wir Schriftsteller müssen unsere Positionen prüfen und unsere Fehler in den vergangenen Monaten feststellen; denn Fehler haben wir begangen. Unser Beruf verlangt, daß wir die Stimme des Volkes hören, die Wünsche des Volkes aussprechen. Wie aber haben wir gehandelt? Wir schrieben oft so, wie wir wünschten, daß es in unserer Republik sein sollte, aber wir schrieben nicht immer so, wie es in unserer Republik war.

Wir können nicht sagen, daß wir all dies nicht gewußt hätten. Wir waren von diesen Tatsachen bedrückt, wir wußten, daß der Wert unserer Literatur darunter leiden mußte. Wir saßen in den Stuben zusammen und klagten uns gegenseitig unser Leid. Wir verfluchten die Lektorate unserer Verlage, verfluchten das Amt für Literatur, beschwerten uns auch einmal öffentlich in einer Konferenz und schrieben weiter, wie es von Literaturadministratoren verlangt wurde. In der Furcht vor zeitweiligen persönlichen Nachteilen ließen die einen die Karre laufen. Andere schwiegen. Manche machten literarische Ausflüge in unbedenkliche Thematik.

Unsicher waren wir – verzagt! Jawohl, wir wurden administriert. Unsere Schuld ist es, daß wir uns administrieren ließen. Wir ließen uns korrigieren, waren mit den Korrekturen nicht einverstanden und unterschrieben doch mit unserem Namen.

So, wie sich jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber der Verfassung schuldig gemacht hat, weil er mittels der demokratischen Rechte, die ihm gegeben sind, den 17. Juni nicht verhindern half, sind auch wir zu unserem Teil schuldig, diesen 17. Juni nicht verhindert zu haben.

Wahrhaftig – wir haben uns viel vorzuwerfen.

In den Stunden der größten Gefahr haben die Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes den Kopf nicht verloren. Sie sind auf die Straßen und in die Betriebe gegangen, wo sie hingehörten. Sie sind nicht vor Schreck verstummt, sondern haben, was ihnen notwendig erschien, niedergeschrieben. Die Hälfte der uns bekannten Artikel wurde in der Presse abgedruckt. Die andere Hälfte wurde abgelehnt, darunter eine Skizze, die von der Jury des literarischen Wettbewerbes für die Weltjugendfestspiele nach Bukarest geschickt wurde. Sicherlich ist durch diese Ablehnung unsere Presse nicht schöner geworden. Es ist auch wahr, daß in den vergangenen Tagen einige Schriftsteller bedingungslos alles für richtig hielten, was in den Betrieben gesagt wurde, und dabei vergaßen, daß man den Menschen zwar immer auf den Mund schauen muß, daß man aber den Menschen nicht immer nach dem Mund reden darf. Es gab auch solche Schriftsteller, die vor lauter Kritik über die Fehler derer, die zu den Ereignissen Stellung nahmen, selbst gar nicht zum Schreiben kamen und damit über alle Kritik erhaben waren. Aber das Notwendigste ward getan.

Nun gilt es, eine feste Grundlage für unsere künftige Arbeit zu schaffen und den Weg zu beschreiten, der zum Ziel führt.

Einheit Deutschlands, das heißt für uns:

Wir müssen die Isolierung durchbrechen, die uns von unseren westdeutschen Kollegen trennt. Wir müssen unsere Basis also ideologisch und organisatorisch erweitern, die Freizügigkeit der Themenwahl gewährleisten, dürfen keine Einengung der Methode der Gestaltung und keine Uniformierung der Kritik zulassen.

Ist uns hierbei unser Statut im Wege? In der Präambel unseres Statutes heißt es:

»Der Deutsche Schriftstellerverband ist die Organisation der demokratischen deutschen Schriftsteller. Er setzt seine ganze Kraft für die Schaffung einer neuen fortschrittlichen deutschen Literatur ein, die, anknüpfend an unser großes literarisches Erbe, in Inhalt und Form dem Leben dient.«

Ausgeschlossen also ist alle dem Faschismus und Krieg dienende Literatur, alle jene, die den Menschen entwürdigt und erniedrigt. Solche Literatur muß auch künftig unterdrückt werden, dazu bedürfen wir des Schutzes und der Macht unseres Staates. Die Verfassung unserer Republik gewährleistet das Recht der freien Meinungsäußerung und verbietet lediglich, was wir verboten wissen wollen: Kriegs- und Rassenhetze.

Weder die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik noch das Statut des Deutschen Schriftstellerverbandes stehen der ideologischen und organisatorischen Verbreiterung unserer Basis entgegen.

Zu untersuchen haben wir die Methoden der staatlichen Instanzen, mit denen sie eine dem Leben dienende Literatur entweder fördern oder an der Entfaltung behindern.

Es darf in der Deutschen Demokratischen Republik nicht drei oder vier Stellen geben, die über Literatur befinden, es muß deren zwei geben. Die eine ist das betreffende staatliche Institut, es kann meinetwegen auch Kunstkommission heißen. Die andere Stelle ist die jeweilige Künstler-Organisation, in unserem Fall der Deutsche Schriftstellerverband. Im Deutschen Schriftstellerverband werden die literarischen Fragen durch die Schriftsteller selber geklärt. Durch die staatliche Institution werden auf Grund solcher Klärung in Literaturfragen Beschlüsse gefaßt, hinter welchen auf jeden Fall die Mehrheit der Schriftsteller stehen wird, weil ja auch im Schriftstellerverband die Mehrheit der Schriftsteller bestimmt, in welche Richtung die Reise geht. Besteht bei einer solchen Lösung die Gefahr, daß auf Grund falscher Einstellung einer Mehrheit von Schriftstellern die Regierung auf einen falschen Kurs in der Literatur gelenkt werden könnte? Sie besteht nicht. Unsere Erfahrungen, unsere im Druck vorliegenden Bücher und auch viele in der Vergangenheit leider nicht gedruckte beweisen, daß es die Haupttendenz unserer Literatur ist, »in Inhalt und Form dem Leben zu dienen«. Zwischen sozialistischem Realismus und Formalismus liegen viele Stationen, die weder das eine noch das andere sind. Sozialistischer Realismus in der Literatur ist eine Sache des Bewußtseins des einzelnen Schriftstellers.

Der sozialistische Realismus kann nicht dekretiert werden. Andererseits kann man den Formalismus nicht verbieten. Verbietet man – bringt man den Schriftsteller durch administrativen Druck dahin, daß er anders schreibt, als er denkt, daß er seinem Gefühl entgegen schreibt.

Steht man auf dem Standpunkt, daß der sozialistische Realismus dem Leben am meisten dient, muß man vor allem seine Vorzüge an Hand des literarischen Beispiels beweisen. Der Leser wird selbst entscheiden, wer ihm mehr zum Herzen spricht, der abstrakte Individualist oder jener, der die Wahrheit über die Wirklichkeit künstlerisch gestaltet. Es heißt dem sozialistischen Realismus einen schlechten Dienst erweisen, wenn man ihn zum Gendarmen macht. Man liebt Gendarmen nicht, am allerwenigsten in der Literatur. Außerdem paßt der sozialistische Realismus in keine Uniform. Es läßt sich für den sozialistischen Realismus so schön argumentieren, wenn ein echter Partner vorhanden ist. Wir haben den Formalismus nicht ausgemerzt, sondern in eine gefährliche Illegalität getrieben. Er hat sich in manchen Fällen in einen platten Naturalismus verkrochen, wo er sich nun kühn als sozialisticher Realismus deklariert. Indem wir den abstrakten Formalismus von Staats wegen unterdrücken, geben wir ihm einerseits den Heiligenschein des Märtyrers, andererseits erlauben wir ihm, sich zu tarnen. Diese Tarnung ermöglichte uns, zu erklären, daß bei uns der Formalismus nicht mehr vorhanden sei. Hauptsache, ein Machwerk hatte ein fortschrittliches Stempelchen in Form einiger der bekannten Phrasen aufgedrückt bekommen; damit begnügten wir uns schon. Auch hier täuschten wir uns selbst.

Es gibt nicht wenige Formalisten im Westen, die glauben, sie wären Revolutionäre, weil sie gegen das Bestehende revoltieren. Ich behaupte, daß die wenigsten von ihnen wissentlich für einen amerikanischen Krieg eintreten. Es sind oft von einer mörderischen Umgebung entsetzte Menschen, die Halt suchen und mit denen wir nur ins Gespräch kommen können, wenn wir uns vor dem Ausdruck ihres Entsetzens nicht einfach abwenden. Außerdem behaupte ich nach wie vor, daß formalistische Kunst wenig Einfluß auf die Geschmacksbildung der werktätigen Menschen hat. Formalismus im Hinblick auf die werktätigen Menschen bedeutet deshalb eine Gefahr, weil er die Kluft zwischen dem Volk und der Kunst vertieft, indem er die Menschen gegen die Kunst überhaupt einnimmt und so die Beziehung zwischen Künstler und Volk stört. Er hilft, im Volk eine Stimmung gegen die Intellektuellen zu schaffen. Diese zerstörerische Wirkung des Formalismus auf das Volk trägt indirekten Charakter. Das Mißtrauen, das der Formalismus zwischen den werktätigen Menschen und den Intellektuellen hervorruft, treibt die dem Formalismus ergebenen Künstler zu einem immer größeren Hochmut gegenüber den Massen, treibt sie weiter vom Leben fort. Der Schaden, den der Formalismus unter den Intellektuellen anrichtet, trägt direkten Charakter. Die Massen aber werden dadurch zu dem plattesten Naturalismus hingetrieben, und eben dieser Teufelskreis muß zerstört werden. Man kann ihn nur durch eine offene und verständliche Aussprache zerstören. Man darf die Kritiker nicht mit der Drohung, daß sie Objektivisten seien, schrecken.

Soll nun der Kritiker tolerant sein und den Formalismus kommentarlos neben Produkten des sozialistischen Realismus und vielem, was weder das eine noch das andere ist, anerkennen?

Auch das können wir nicht dekretieren. Das wird vom Bewußtseinsgrad des Kritikers bestimmt, hier wird die Kritik der Kritik einsetzen müssen.

Ich bin aus meiner Weltanschauung heraus überzeugt, daß unsere Argumente, die Argumente des sozialistischen Realismus, die stärkeren sind und in einer solchen Aussprache den Sieg davontragen werden. Siegen können wir aber nur, wenn diese Aussprache offen bleibt, wenn man uns durch admini­strative Maßnahmen nicht den Gesprächspartner verjagt, welcher, in die Toga des Verfolgten gehüllt, immer das Mitleid und die Zuneigung der Unentschiedenen auf seiner Seite hat. Die Sozialisten können in einer offenen Aussprache – aber nur in einer solchen – den Wert ihrer Parteilichkeit unter Beweis stellen, wobei Parteilichkeit nicht mit Partei verwechselt werden darf.

Wenn wir in der Kunst den Begriff Parteilichkeit anwenden, dann bezieht er sich auf das Neue, auf das Wachsende, auf das Leben. Uns soll nicht die bunte Feder an der Krähe schrecken. Wir müssen die Ursachen der Seuche erkennen, die Seuche ausrotten, aber auch die Menschen für das Leben gewinnen, die von ihr behaftet sind.

Nun ist durchaus nicht jeder Satz, über den man ein wenig nachdenken muß, formalistisch, nur weil man darüber nachdenken muß. Echte Formalisten sind längst zum Westen abgezogen, ohne daß wir uns mit ihnen wirklich auseinandergesetzt hätten. Drüben, in ungünstiger Umgebung, wird uns künftig diese Auseinandersetzung viel schwerer fallen.

Bertolt Brecht einen Formalisten nennen zu wollen, nur weil seine Form manchmal kleinbürgerliche Seelen erschreckt, ist eine Unverschämtheit. Man muß befürchten, daß auf Grund dessen vieles Gute von Brecht ungeschrieben geblieben ist, das heute in unserem Besitz wäre.

Wenn einer kühn ist, vielleicht zu kühn und sich einmal verhaspelt, ist er deshalb längst kein Formalist. Er hat nur die Wahrheit über die Wirklichkeit nicht dargestellt, und sein Kunstwerk ist kein Kunstwerk. Man kann auch nicht sagen, daß man aus lauter Liebe zur Demokratie an diesem Punkt schweigen muß. Wir diskutieren heute Fehler, die wir in der Vergangenheit begangen haben. Das bedeutet nicht, daß jene, die in der Vergangenheit sehr oft falsch kritisiert wurden, heute über jede Kritik erhaben sind. Wir sagten, die Diskussion sei offen, und offen ist sie nach allen Seiten. Ich sprach in der Lyrik-Diskussion davon, daß leider ganze Teile des »Gedichts vom Menschen«, wie sich herausgestellt hat, nur für einen kleinen Kreis von Menschen verständlich sind. Darin liegt nach meiner persönlichen Ansicht die Schwäche dieses Gedichts; damit habe ich mich auseinanderzusetzen. Mein Streben ist, für einen sehr großen Kreis von Menschen verständlich zu sein. Dies ist mir offenbar nicht gelungen. In dieser Hinsicht besteht die Kritik meiner Partei an diesem Gedicht zu Recht.

Es gibt aber Schriftsteller, die nicht Mitglied der Partei sind. Und auch sie schreiben oft nur für einen kleinen Kreis von Menschen verständlich. Sind sie deshalb Formalisten?

Man muß sich in der Kunst auskennen, wenn man fördernd einwirken will.

Man stelle sich vor: nicht jeder Satz aus einem Gedicht von Stephan Hermlin ist jedem Menschen sofort verständlich, und nun beschimpft man ein solches Gedicht als formalistisch. Wenn aber der Dichter nicht ein Stephan Hermlin ist – ein guter Genosse, der einen Hieb vertragen kann –, sondern ein Lyriker, der sich noch nie mit dem dialektischen Materialismus auseinandergesetzt hat, der seine Welt, seine Gedanken, seine Empfindungen, wie sie in ihm geboren werden, auf seine Art ausdrückt? Darf man sein Gedicht ohne weiteres aus dem Kreis der Lebenden streichen, indem man es nicht abdruckt?

Auch mit der Kritik der Werktätigen ist viel Schindluder getrieben worden. Freilich muß man auf jedes Wort achten, das der werktätige Mensch sagt, aber nicht jedes dieser Worte muß richtig sein. Stalin rät uns, in solchen Fällen nach den fünf Prozent Wahrheit zu suchen. Diese fünf Prozent Wahrheit muß jeder Schriftsteller für sich beherzigen, doch darf unsere Presse und Literaturkritik dabei nicht verabsäumen, die fünfundneunzig Prozent, die falsch sein mö­gen, zu berichtigen. Unsere Presse hat sich oft auf eine »Kritik von unten« berufen. Einige Leserstimmen – und auch die noch ausgesucht –, das war dann die »Kritik von unten«. Eine breite Kritik von unten wird es erst geben, wenn an Hand von konkreter und interessanter Literatur, welche die Menschen aufregt, die offene Auseinandersetzung entbrannt ist und sich Tausende an ihr beteiligen, weil Millionen von einem literarischen Werk berührt worden sind.

Ein solches Werk, über das es eine wirkliche Massenkritik gibt, ist zum Beispiel Anna Seghers’ Buch »Der Mann und sein Name«. Sie hat noch nicht die Millionen erfaßt, aber von Tausenden können wir schon sprechen. Diese Diskussion ist längst nicht beendet, und wir sind stolz auf das Werk von Anna Seghers, das die Menschen so aufrührt.

Eine offene Literaturkritik kann nicht entstehen, wenn am Anfang einer Literaturdiskussion in einer unserer großen offiziellen Zeitungen ein offizieller Artikel erscheint und versucht, die öffentliche Meinung sofort in einer bestimmten Richtung festzulegen.

Ich kann mir vorstellen, daß sich nach einer ausgiebigen offenen Diskussion ein bestimmtes Gremium von Fachleuten zusammensetzt und aus allem Für und Wider einen großen grundlegenden abschließenden Artikel schreibt. Ich kann mir auch vorstellen, daß solch ein großer zusammenfassender Artikel von einem Menschen, sagen wir, vom Format Shdanows geschrieben wird – so wir ihn haben. Ich kenne im Moment in unserer Republik niemanden, der mit solcher Souveränität Literaturfragen individuell lösen könnte. Es darf auch keine Beschlüsse über Kunstfragen mehr geben, ehe nicht die wichtigsten Stimmen im Lande gehört und beachtet worden sind. Wird alles gehört und beachtet, braucht der Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes nie zu befürchten, daß er Entscheidungen gegen die Ansichten seiner Mitglieder trifft. Das gilt auch für jede staatliche Institution, die künftig wichtige Beschlüsse fassen muß.

»Nein, man darf nicht allein entscheiden. Die Beschlüsse einzelner sind immer oder fast immer einseitig«, sagte Stalin.

Heute sind viele unserer jungen Autoren, aber auch unserer arrivierten Schriftsteller unsicher in der Thematik ihres Werkes, das sie gerade in Arbeit haben, unsicher, ob die Methode des sozialistischen Realismus noch aktuell ist. Unsicher, ob man über Produktionsgenossenschaften schreiben soll, ob man sich über Großbauern lustig machen darf; und viele andere Fragen stehen offen. Meine Meinung ist, daß alles, was lebendig ist, wert ist, beschrieben und gestaltet zu werden. Wesentlich ist, was den Schriftsteller anregt und sich im Kunstwerk selbst beweist. Freilich gibt es heute eine Thematik, die für unser Volk, für den Bestand der deutschen Nation sehr notwendig ist. Freilich werden wir sagen, daß solche Entwürfe und Werke sehr gefördert werden sollen.

Wenn auf der einen Seite der bürgerliche Schriftsteller sein bürgerliches Werk veröffentlicht, werden auch wir Sozialisten schreiben und veröffentlichen, was uns anregt und was uns richtig und notwendig erscheint.

Von den Mitgliedern des Deutschen Schriftstellerverbandes muß man nur eins verlangen, daß ihre Werke künstlerische Werke sind. Schwarzweißmalerei war auch vor dem neuen Kurs ohne künstlerischen Wert. Leider wurden in der Vergangenheit solche unkünstlerischen Darstellungen oft leichter akzeptiert als manches, das differenziert und schwerer verständlich war, nur weil sie scheinbar das neue Leben beschrieben. In Wirklichkeit schadeten sie in ihrer Kläglich- keit unserer Sache. Ich würde vorschlagen, daß wir in unseren Gruppen gegenseitig unsere in Arbeit befindlichen Werke noch einmal auf ihre künstlerische Darstellung hin anschauen, dann aber müssen wir sie zu Ende schreiben. Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft ist aus unserem Leben nicht mehr hinwegzudenken, wie kann sie aus unserer Literatur hinwegzudenken sein? In der Frage der Aufträge werden wir künftig weitherziger und gleichzeitig achtsamer sein müssen. Weitherziger in der Frage der Thematik, achtsamer in der Frage der künstlerischen Möglichkeit des individuellen Schriftstellers. Wir dürfen aus Furcht davor, gescholten zu werden, »junge Talente« nicht zu unterstützen, nicht auf Teufel-komm-heraus das Untalent fördern.

Ich glaube, wenn wir einiges von dem beachten, was hier gesagt worden ist, wird das Gespräch zwischen uns und unseren westdeutschen Kollegen rasch in Gang kommen.

Ja, auch bei uns herrschte in den vergangenen Monaten eine bedrückte Stimmung unter manchen Künstlern, aber sie wurzelte nicht in unserer staatlichen Struktur, nicht in den Gegebenheiten unseres gesellschaftlichen Seins. Was bei uns falsch ist, ist heilbar. Die Notlage unserer westdeutschen Kollegen resultiert aus Fehlern der gesamten kapitalistischen Gesellschaft, die unheilbar sind.

Die Erklärungen des Politbüros der SED und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik waren eine kühne Wendung zur Festigung unseres Staates. Die Herren in Bonn werden ihre Auswirkungen bald spüren. Unsere Literatur wird nicht zu den geringsten Faktoren gehören, die den Feinden des Friedens und damit den Feinden Deutschlands Sorgen bereiten werden. Die letzten Wochen waren eine Zerreißprobe für uns alle. Ich danke unseren Kollegen, unserer Sache treu geblieben zu sein und mit ihren Herzen bestätigt zu haben, was ihr Hirn verstanden hat.

KuBa (Kurt Barthel) – 1953

Überarbeiteter Text einer Rede vor dem erweiterten Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes am 16. Juli 1953 in Berlin

Die schöpferischen Kräfte sind da – aber sie müssen geweckt werden

Genosse Fürnberg hat uns in seinem Artikel »Was für Schriftsteller brauchen wir?« das Bild eines Schriftstellers entworfen, wie er der Welt des werdenden Sozialismus gemäß ist. Dieses deckt sich jedoch nur mangelhaft mit dem Bild des Schriftstellers, wie er auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik bisher herangewachsen ist. Wo liegen die Ursachen für dieses mangelhafte Wachstum?

Die Arbeiterklasse und die werktätige Bauernschaft als Auftraggeber, Konsument und Mutterboden der Literatur – sie, deren talentierte Töchter und Söhne als klarste Spiegel ihrer Klassen berufen sind, das Gegenwärtige und Künftige zu reflektieren, würden sofort und ohne Umstände den Kaderspiegel der Arbeitsgemeinschaften Junger Autoren im Deutschen Schriftstellerverband in Ordnung bringen können. Nach Ansicht des Genossen Fürnberg, meines besten Freundes und liebsten Lehrers, ist es doch so: Hätte der Deutsche Schriftstellerverband die Talente nicht mit der Laterne gesucht, hätte er nur hineingegriffen ins Volle, in die Stöße Manuskripte, in die losen Blätter… lieber Louis, wir haben hineingegriffen. Aus etwa zweitausend Einsendungen zum literarischen Wettbewerb für die Weltfestspiele in Berlin fanden wir eine wahre Begabung heraus. Zwischen diesen zweitausend Einsendungen waren allerdings auch solche Zeilen, »wo der Funken überspringt«, »… wo etwas im Kern« da war. Mit jedem »hoffnungsvollen Fall« wurde korrespondiert. Eine Entwicklungskartei wurde angelegt als Basis, jungen schöpferischen Kräften in kommenden Monaten und Jahren zu helfen. Einen Tag nach den Weltfestspielen lagen Kartei, Korrespondenz – ein halbes Jahr Arbeit, viele kostbare Stunden begabter Dichter – in einem hoffnungslosen Knäuel verwirrt in der Ecke des Zimmers, welches einen Tag zuvor noch die Abteilung Literatur in Zusammenhang mit der Vorbereitung der Weltfestspiele gewesen war. Wir wurden buchstäblich hinausgefegt.

Ich meine, Genosse Fürnberg hat recht. Latent sind die schöpferischen Kräfte, auch was Literatur und Kunst betrifft, unter den Arbeitern und Bauern ohne Zweifel in hohem Maße vorhanden. Wenn sich einer schon literarisch versucht, ist das sicher ein wichtiges Signal, nachzuschauen, was dahintersteckt. Aber nicht jeder, der sich im Schreiben versucht, ist schon ein Talent. Manchmal verbirgt sich dahinter auch der Wunsch, aus der »schweren« manuellen Arbeit in die »leichtere« schriftstellerische hinüberzuwechseln. Dieser Irrglauben, daß die eine Kategorie der Arbeit »leicht«, die andere »schwer« sei, ist ziemlich allgemein. Die Schlosser, Landarbeiter, Bauarbeiter, die in ihrem Leben ebensolange manuell wie schriftstellerisch tätig gewesen sind, werden mir zustimmen, daß es sich bei beiden Kategorien der Arbeit um Arbeit handelt. Man kann sie in beiden Fällen intensiv oder nicht intensiv tun. Von der Intensität hängt es ab, wie »schwer« oder wie »leicht« die Arbeit ist. Eine Binsenwahr­heit, die man hin und wieder einmal aussprechen muß. Denn gerade aus diesem Irrglauben heraus möchte sich mancher in den »immergrünen Garten« der Kunstschaffenden begeben und landet auf einem steinigen Acker. Der Betreffende hat nämlich nicht gewußt, daß es außer ihm selbst solch einen Garten nicht gibt, daß jeder seinen Garten in sich trägt, der ihm, seinem Talent entsprechend, Früchte bringt. – Aber nur in der Welt des Sozialismus! In anderen Gesellschaftsformationen ist mancher fruchtbare Garten vertrocknet.

Die Gefahr, einem »geistigen Hochstapler« aus der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft aufzusitzen, ist gering. Der Angehörige dieser Klassen versteht es selten, allerhand billigen Kultursalat so zu servieren, daß er für eine gewisse Zeit seine Umwelt damit zu blenden vermag.

Meistens fehlt ihm die geläufige Zunge, die fixe Feder, solches Blendwerk zu schaffen. Ist es doch sogar dem Talentierten nicht immer ganz leicht, sein Talent in angemessener Form vorzulegen. Gerade bei dem Talentierten, der der Feder noch ungewiß ist, besteht die Gefahr, daß sein Talent nicht gesehen wird, am meisten. Wird solch ein Talent entdeckt, ist für diesen Arbeiter oder Bauern das Literaturinstitut zuallererst da.

Nicht so einfach ist es, den »geistigen Hochstapler« kleinbürgerlichen Herkommens zu entdecken. Er gebraucht seine Zunge meisterhaft. Er serviert seinen Kultursalat appetitlich. Und da man auch kein der bürgerlichen Klasse entstammendes Talent übersehen darf und da man weiß, dass dem Betreffenden allerhand Schlacken seines Herkommens anhaften müssen, ist man leicht geneigt, noch für Schlacke zu halten, was die Talentlosigkeit übertüncht, und für Fortschritt anzusehen, was bereits »literarische Hochstapelei« ist.

Details

Seiten
239
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (ePUB)
9783961703753
ISBN (PDF)
9783961706754
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Juli)
Schlagworte
krieg wolke kulturpolitische beiträge gedichte liedtexte kurt barthel kuba

Autor

  • Raimund Ernst (Autor:in)

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Titel: Krieg kommt nicht aus einer schwarzen Wolke