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Widerstand und Befreiung

Essays über irische Literatur

von Jenny Farrell (Autor:in)
©2024 235 Seiten

Zusammenfassung

Fragt man im persönlichen Umfeld auch unter deutschen Linken spontan nach irischen Schriftstellern, geraten selbst Belesene nach Beckett, Joyce, Shaw oder Wilde ins Stocken. Fragt man nach Schriftstellerinnen, herrscht meist peinliches Schweigen im Walde (den Autor dieser Zeilen inbegriffen).
Hier will das vorliegende Buch Abhilfe schaffen. Es ist die Auskoppelung aus einer umfangreicheren Essay-Sammlung unserer Autorin mit dem Titel „Kunst und Befreiung – Essays zu Literatur, Musik und Malerei“ (Neue Impulse 2024) und in zweierlei Hinsicht besonders: Erstens schaut die Autorin mit marxistisch geschultem Blick auch auf die Werke der oben genannten „Promis“. Zweitens erweitert sie den Horizont um Schriftsteller, auch um solche aus der Arbeiterbewegung, die in Deutschland weit weniger bekannt sind.
(Aus dem Vorwort des Verlages)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort des Verlages

Fragt man im persönlichen Umfeld auch unter deutschen Linken spontan nach irischen Schriftstellern, geraten selbst Belesene nach Beckett, Joyce, Shaw oder Wilde ins Stocken. Fragt man nach Schriftstellerinnen, herrscht meist peinliches Schweigen im Walde (den Autor dieser Zeilen inbegriffen). Hier will das vorliegende Buch Abhilfe schaffen. Es ist die Auskoppelung aus einer umfangreicheren Essay-Sammlung unserer Autorin mit dem Titel »Kunst und Befreiung – Essays zu Literatur, Musik und Malerei« (Neue Impulse 2024) und in zweierlei Hinsicht besonders. Zum einen schaut die Autorin mit marxistisch geschultem Blick auch auf die Werke der oben genannten »Promis«. Zum anderen erweitert sie den Horizont um Schriftsteller, auch um solche aus der Arbeiterbewegung, die in Deutschland weit weniger bekannt sind. »Dichtende Revolutionäre« kommen im bürgerlichen Kulturbetrieb Irlands und Deutschlands eben kaum vor. In diesem Buch schon.

Zentrales Anliegen dieses Buches ist, anhand ausgewählter Beispiele eine populäre Einführung in die fortschrittliche Dichtkunst Irlands zu vermitteln. Es soll Interesse und Freude am Umgang mit verschiedenen Epochen der irischen Literaturgeschichte geweckt sowie ihr Zusammenhang mit dem europäischen Geschehen hergestellt werden, damit das progressive Erbe der rebellischen »grünen Insel« Irland von der Deutungshoheit des »Vereinigten Königreichs« sowie der Perspektive der Herrschenden befreit werden.

Das Material für dieses Buch entstand während der Berufstätigkeit von Jenny Farrell an einer Hochschule in Galway im Westen Irlands, wo sie neben Deutsch auch irische Literatur lehrte. Viele ihrer Einzeldarstellungen wurden bereits in der progressiven Presse Deutschlands, Großbritanniens und der USA veröffentlicht und für dieses Buchprojekt z. T. überarbeitet. Auf Deutsch erschienen bereits Bücher mit marxistischen Interpretationen von William Shakespeare (Shakespeares Tragödien- eine Einführung, Neue Impulse 2016) und John Keats (Revolutionäre Romantik: Die Oden des John Keats, Mangroven 2021). Für die britische, sozialistische Online-Publikation Culture Matters gab Jenny Farrell drei Anthologien irischer zeitgenössischer Arbeiterliteratur heraus: Die Gedichtsammlung Children of the Nation (2019), die Prosaauswahl From the Plough to the Stars (2020) sowie das Kinderbuch Land of the Ever Young (2021). Diese Anthologien waren die ersten ihrer Art in Irland, die auf basisdemokratische Weise literarische Werke der arbeitenden Bevölkerung zusammenstellten.

Bei diesem Buch bestand ein Auswahlkriterium darin, dass die vorgestellten literarischen Texte in deutscher Übersetzung zugänglich sein sollten. Das ist nicht immer gelungen. In einigen wenigen Fällen – zumeist handelt es sich dabei um Dichtung – hat unsere Autorin selbst den Text übertragen, ohne sich eine poetisch genügende Nachdichtung anzumaßen. Es lag ihr in jedem Fall daran, den Rhythmus sowie das sprachliche Gefühl für das Original, mit all seinen Konnotationen zu bewahren, ohne dass sie das Reimschema – wo denn eines war – erhalten konnte.

Jenny Farrell zu diesem Buchprojekt: »Immer wieder habe ich durch Reaktionen der Studierenden und Leser erfahren, wie einleuchtend und befreiend für sie das marxistische Herangehen an Literatur aus einem historischen und Klassenverständnis heraus war. Es nimmt wenig wunder, dass diese Art der Analyse einen neuen Zugang zu bislang so noch nicht verstandener literarischer Texte ermöglichte. Der Schriftsteller Liam O’Flaherty, zum Beispiel, wird in Irland kaum gelesen, da er der Literaturobrigkeit zufolge ›niemanden interessiert‹, und der daher auch kaum in der Schule und an der Universität auf dem Lehrplan steht. Es gibt praktisch keine Forschung ihn betreffend. O’Flaherty steht für viele Schriftsteller, die in Irland auf dem Index standen.«

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer: Viel Spaß bei der Lektüre.

Lothar Geisler

Mai 2024

Der Rinderraub (Táin Bó Cúailnge)1

Dieses Epos ist das älteste Dokument altirischer Literatur, das uns erhalten ist. Seine Wurzeln reichen in die mündliche Überlieferung der eisenzeitlichen Kelten. Die Eisenzeit blieb in Irland bis etwa ins 5. Jahrhundert u. Z. bestehen und wurde dann vom frühen Mittelalter abgelöst. Das mittelalterliche Christentum brachte die von Mönchen ausgeübte Schriftlichkeit, sowohl Lateinisch als auch Irisch.

Drei mythologische Erzählzyklen ragen aus dem umfangreichen Korpus altirischer Literatur hervor: Der Ulster-Zyklus bildet den Kern dieser großen Menge an epischem Material. Von den über hundert Geschichten, die einst zu diesem Zyklus gehörten, sind allerdings nur einige erhalten geblieben. Es gibt einige Dutzend, die als Remscéla2 oder »Vorgeschichten« bekannt sind, weil sie in den großen Rinderraub, den Táin Bó Cúailnge3, einfließen. Ebenso gibt es »Nachgeschichten«, die das weitere Schicksal einiger Figuren und Ereignisse erzählen.

Der Rinderraub ist das früheste Epos in Westeuropa, das sowohl Prosa als auch Poesie umfasst und als das bedeutendste Werk der Literatur gilt, das die vorchristliche, eisenzeitliche Periode in Irland hervorgebracht hat. Parallel zu Homers und anderen Epen kann der Korpus der Táin-Erzählungen als ein Gründungsmythos4 der nach Irland gekommenen Kelten angesehen werden. Wie die ihnen vorangegangenen Kulturen lebten oder wie diese verschwanden, ist nicht in das literarische Erbe eingegangen, da eine Niederschrift erst mit dem frühen Christentum möglich wurde.

Die Überlieferung des Rinderraub vermittelt eine Ahnung vom frühen Leben der Kelten in Irland, vor allem ihrer Häuptlinge, sowie ihrer Halbgötter und Götter. Hier im Rinderraub wie auch in seinen Vor- und Nachgeschichten erzählt sich eine Kulturgruppe seine heroische Geschichte – z. B. durch Ahnenlisten – einschließlich Anekdoten darüber, wie eine Vielzahl von Orten zu ihren irischen Namen kam. Damit wird unter anderem eine Besitznahme von Land signalisiert. Frühere Ortsnamen sind nicht überliefert. Für spätere territoriale Eroberungen und Umbenennungen gibt es heute zahlreiche Beispiele, nicht nur durch die Wikinger, sondern bis in die Gegenwart ausstrahlend die Anglifizierung irischer Ortsnamen.

Die zahlreichen Nebengeschichten haben ihren Ursprung in der Folklore und Geschichte dieser Kelten. Sie reichen in eine heidnische Vergangenheit, in der sich eine Reihe von göttlichen Figuren und mystischen Ereignissen zu einer Mythengeschichte zusammenfügen, mit deutlichen Hinweisen auf heroische Ursprünge. Diese berichten unter anderem die volle Lebensgeschichte von Cú Chulainn5, in dessen Händen das Schicksal der Provinz Ulster lag.

Der Übergang von der mündlichen zur geschriebenen, literarischen Form erfolgte durch christliche Mönche, die zwar offenbar bemüht waren, viel von dem existierenden Mythos festzuhalten, jedoch die Legenden durch ihre eigene Brille sahen und dem Ganzen vielfach eine christliche Interpretation auferlegten. Damit wurden tiefgreifende Veränderungen vorgenommen, die aber heute als solche in groben Zügen erkennbar sind. Ein weiterer Einfluss, der sich auf die Niederschrift des eisenzeitlichen Mythos auswirkte, sind die politischen Interessen der Zahlmeister der Mönche als aristokratisch und überregional im Sinne der eigenen feudalen Ideologie.

Zum Handlungshergang:

Eines Nachts kam es in Cruachan6 in Connacht7 zu einem Kopfkissengespräch zwischen Medb8 und ihrem neuen Ehemann Ailill9, genauer zu einem Streit darüber, wer über mehr Besitztümer verfüge.10 Um ihr jeweiliges Vermögen zu vergleichen, schickte das Paar Bedienstete aus, all ihre Habe zusammenzutragen. Sie erwiesen als gleichwertig, mit der Ausnahme eines Stiers Ailills mit dem Namen Finnbennach11, »der Weißhörnige«, dessen Gegenstück in den Herden der Regentin nicht zu finden war.

Medb war entsetzt. Doch hatte ihr Gefolgsmann MacRoth ihr erzählt, dass Darè MacFiachna12, von Cualnge, eines Gebiets unter der Regentschaft ihres ehemaligen Ehemannes Conchobar13, Herrscher von Ulster14, einen noch wunderbareren Stier als den von Ailill besaß, den Donn Cualnge, den »Braunen (Stier) von Cualnge«. Also schickte sie MacRoth zu Darè mit der Bitte, ihr den Stier leihweise zu überlassen. Als Dank versprach sie unter anderem auch sexuelle Gefallen.15

Darè empfing Medbs Boten gastfreundlich und gab ihrer Bitte bereitwillig statt, aber im Laufe des Abends behauptete einer der stark angeheiterten Boten ihm gegenüber, dass sich die Gesandtschaft bei fehlendem Entgegenkommen den Stier gewaltsam genommen hätte. Daraufhin zog der ergrimmte Darè sein Versprechen zurück und schwor, dass er den Braunen Stier von Cualnge nun keinesfalls aushändigen würde.

Erbost über das Scheitern ihrer Gesandtschaft, versammelte Medb umgehend eine gewaltige Armee, die nicht nur aus den Männern Connachts, sondern gleichfalls aus Verbündeten aus allen Teilen Irlands bestand, um Ulster einzunehmen. Unter ihrem Kommando standen ferner Ulster-Häuptlinge, die nach einem Verrat des Herrschers von Ulster, Conchobar, ins Exil nach Connacht gegangen waren. Unter ihnen war Fergus, der vor Conchobar Oberhaupt von Ulster gewesen war und diesen Posten aufgrund eines Liebesversprechens an ihn verloren hatte. In Connacht wurde er zu einem Favoriten Medbs.

Mit diesem Feldzug gegen Ulster handelte Medb der eindringlichen Warnung der Dichterin/Prophetin Fedelm16 zuwider, die großes Blutvergießen voraussah. Medbs Zuwiderhandlung beruhte jedoch auf gutem Grund: Die Männer Ulsters erlagen regelmäßig wehenartigen Leibesschmerzen aufgrund eines alten Fluches der Pferdegöttin Macha17 für vergangenes Unrecht. Zu just jeder Zeit einer ›Mobilisierung‹ waren sie von diesen Schmerzen betroffen, weswegen Medb die Weissagung der Fedelm für unmöglich hielt.18

Die Armeen von vier Provinzen Irlands versammelten sich also unter der Führung von Fergus in Connacht, weil er die Provinz Ulster am besten kannte, in die sie einmarschieren sollten. Und so machte sich bei Einbruch des Winters das mächtige Heer, darunter das Herrscherpaar und manche der größten Krieger Irlands, mit der Prinzessin Finnabair19 als Köder auf den Weg.

Sie überquerten den Shannon bei Athlone und erreichten schließlich Cualnge. Das Leiden der Männer Ulsters dauerte normalerweise fünf Tage und vier Nächte an, diesmal jedoch waren sie von Anfang November bis Anfang Februar – den ganzen keltischen Winter über – außer Gefecht gesetzt. In diesem gesamten Zeitraum fiel die Last der Verteidigung der Provinz ausschließlich auf den jugendlichen Helden und Halbgott Cú Chulainn, der mangels Initialisierung als einziger von diesen körperlichen Einschränkungen nicht betroffen war.

Die Connachtarmee war nicht weit gekommen, als sie auf Anzeichen einer großen, kriegerischen Macht stieß, die sich ihr entgegenstellte. Fergus erklärte, dass es Cú Chulainn sei, der ihren weiteren Vormarsch verhindere. Nun erzählten die Vertriebenen Ulsters von den mächtigen Taten Cú Chulainns, um die übermenschliche Kraft und die Tapferkeit des Siebzehnjährigen zu erklären. Die wichtigste Geschichte berichtete davon, wie der Knabe Cú Chulainn seinen Namen »der Hund von Culann« erhielt. Jene, die ihn kannten, sprachen voller Ehrfurcht von ihm, doch Medb meinte, selbst er müsse verwundbar sein. Nach Tötung von Hunderten der Angreifer erklärte Cú Chulainn sich zu einem Einvernehmen bereit, der Armee Connachts den Weitermarsch zu genehmigen, wenn sie ihm täglich einen ihrer Helden zum Zweikampf schicke. Sollte er den Gegner besiegen, dürfe die Armee nicht weiterziehen. Medb erklärte sich mit diesen Bedingungen einverstanden. In jedem der folgenden Zweikämpfe siegte der jugendliche Held und erschlug viele der gefeiertsten Krieger Connachts. Wiederholt erleben wir in diesen Szenen auch Momente, wo Cú Chulainn dem Krieger das Leben schenken will, einem »todsicheren« Kampf aus dem Wege gehen möchte. Doch wird dies immer wieder auf Grund des Ehrencodexes ausgeschlagen. Medb schreckt selbst nicht davor zurück, Cú Chulainns Pflegebruder gegen ihn in den Kampf zu entsenden.

Zur damaligen Zeit wurden die Söhne und Töchter höherrangiger Personen nach dem siebten Lebensjahr oft zu anderen Familien zur Erziehung und Ausbildung geschickt. Ein Ziel war das Knüpfen lebenslanger Verbundenheit zwischen den Pflegegeschwistern und deren Familien. Der schwerste der Zweikämpfe ist der gegen Cú Chulainns ehemaligen Freund und Pflegebruder Ferdia, von Medb in den Zweikampf gedrängt. In den wohl berührensten Szenen appelliert Cú Chulainn an Ferdias Vernunft, sich nicht gegenseitig abzuschlachten. Ferdia verweigert jedoch jede Schlichtung und begibt sich in den Tod durch Cú Chulainn. Am Ende dieses Kapitels singt Cú Chulainn eine große Totenklage.

Medb führte ihre Armee nun durch Ulster, plünderte und brandschatzte bis hin zur Residenz von Conchobar und nahm schließlich den Braunen Stier von Cualnge in ihren Besitz.

In diesem Moment überwanden Conchobar und seine Krieger ihre Schmerzen und besiegten Medbs Armee in der letzten Schlacht. So verwüstete Medb zwar die Territorien ihres ehemaligen Mannes und gewann den Braunen Stier von Cualnge als Kriegsbeute, doch trug Conchobar in der großen Schlacht von Garech20 und Ilgarech21 den endgültigen Sieg davon.

Auf dem Rückweg nach Connacht kam es zu einem erbitterten Gegeneinander zwischen den Stieren, bei dem der Braune seinen Rivalen niederstreckte und dessen Teile über ganz Irland verteilte. Dann kehrte er wütend nach Ulster zurück, zerschlug seinen Kopf an einem Felsen und starb.

Christliche und politische Einflüsse

Wenn wir uns dem Rinderraub nähern wollen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Niederschrift des mündlich überlieferten heidnischen Mythos durch christliche Mönche zu einer Überlagerung zweier Perspektiven führte. Die Sprache der frühesten Manuskripte geht auf das 8. Jahrhundert zurück, einige lyrische Teile könnten älter sein. Doch bedeutet das nicht, dass der Ursprung des Epos in dieser Zeit liegt. Die Sprache reflektiert lediglich den linguistischen Stand ihrer mündlichen Überlieferung zum Zeitpunkt der Niederschrift. Das früheste erhaltene Manuskript stammt aus dem frühen 12. Jahrhundert.

Máel Muire22 gehörte zum Kloster Clonmacnoise und war einer der drei Schreiber, die an dem Manuskript Lebor na hUidre23 arbeiteten, der frühesten und einer der wichtigsten Sammlungen früher irischer Literatur. Sein Beitrag beläuft sich auf etwa sechzig Prozent des überlieferten Manuskripts. In den Annalen der vier Meister, der mittelalterlichen Chronik Irlands, wird sein gewaltsamer Tod für 1106 bei einem Wikingerüberfall auf Clonmacnoise verzeichnet.

Dieser Text ist der, auf dem die meisten der im 19. und 20., sowie 21. Jahrhundert entstandenen Übertragungen beruhen. Vervollständigt wird die in diesem Manuskript festgehaltene Version durch andere Manuskripte, die Varianten des Epos enthalten. Die Mönche haben uns somit zumindest eine gewisse einheitliche Handlung überliefert, die von literarischer Qualität ist und den heidnischen, mündlich überlieferten Mythos erahnen lassen.

Der vielleicht grundsätzlichste Eingriff der klösterlichen Schreiber ist die Neuschreibung der einstigen Souveränitätsgöttin Medb, sowie anderer weiblicher Figuren. Medb ist diejenige, die geradezu verhöhnt wird. Eine vorausgesetzte Überlegenheit der Männer in der christlichen Fassung ist offenkundig. Medbs Vernachlässigung der Prophezeiung von Fedelm zu Beginn des Feldzugs unterwandert nicht allein ihren Anspruch auf Regentschaft und ihre Befähigung dazu, sondern verspottet sie auch als Frau. Hinzu kommen die vielen Kommentare über törichte Ratschläge von Frauen und den unweigerlich negativen Folgen, wenn ein Mann »dem Steiß einer Frau, die uns in die Irre führte«, folgt.

Medb ist hier des Weiteren keine Göttin, sondern eine »Königin«. Subtil oder nicht, werden die heidnischen Götter unterwandert und zu christlichen Titeln umfunktioniert. Es treten hier weit weniger Götter in Aktion als dies vermutlich im ursprünglichen heidnischen heroischen Mythos der Fall war. Auch Medbs offensichtliches Feilhalten ihres eigenen Körpers sowie dessen ihrer Tochter als Belohnung für Krieger erscheint in kritischem Licht und wird nicht im Kontext der vorgeschichtlichen Vorstellung und des Rituals der Vereinigung des Hochkönigs von Irland mit der Souvernitätsgöttin begriffen. Der Name Medb leitet sich ab vom Honigwein Met und der damit zusammenhängenden Berauschung. Medb bedeutet sowohl die Berauschte als auch die Berauschende und verweist damit selbst mit ihrem Namen auf uralte heidnische Zeremonien.

Weitere offenkundig aus dem heidnischen Epos übernommene Elemente sind die Zeichen eines unchristlichen Umgangs mit den Körperfunktionen, die ebenfalls eher zu Zwecken der Belustigung beibehalten wurden. So deutet das Entblößen der weiblichen Brust in kriegerischen Auseinandersetzungen auf einen heidnischen Fruchtbarkeitsursprung. Gleichzeitig fügten die Mönche nach Gutdünken auch Anachronismen hinzu, wozu auch Cú Chulainns Lesen von Phrasen im Ogamalphabet gehört.

Medb ist nicht die einzige Figur, die sich als unfähige Herrscherin erweist. Die Autorenperspektive ist kritisch gegenüber der Fähigkeit aller im Epos auftretenden Kräfte, ihre eigenen Interessen zu wahren. Dies spiegelt die politischen Interessen der Zahlmeister der Mönche wider. Fergus gibt sein Königtum für ein Jahr auf und erhält dafür sexuelle Gefälligkeiten von Nes24. Als das Jahr vorbei ist, verweigert das Volk Ulsters Fergus das Königtum, da Fergus es wie eine Mitgift übergeben hatte. Die hohe Wertschätzung des Volkes von Ulster für den neuen König Conchobor, einem verräterischen und rachsüchtigen König, der die Grenzen gerechten Machtanspruchs überschreitet, deutet ebenfalls auf Torheit. Ailill ist ein ebenso wenig effektiver Souverän.

All das besagt etwas über die politischen Kräfte im Irland des 8. Jahrhunderts und vor allem über die Bedeutung der Uí Néill25-Dynastie. Die Uí Néills hatten seit dem 5. Jahrhundert ihre Herrschaft auf die Mitte und die nördliche Hälfte Irlands ausgedehnt. Infolge dieser Expansion waren die Stämme Ulsters auf das Gebiet der heutigen Grafschaften Antrim, Down und den Nordteil Louths beschränkt, aber erst im Jahre 851 erzwang der Uí Néill, Hochkönig von Tara, die Unterwerfung dieser Territorien. Der Ulster-Zyklus wurde wahrscheinlich zuerst in den Klöstern des Ulster-Territoriums im Nordosten, wie Bangor, Druim Snechta, Louth und anderen, redigiert. Die Uí Néill gewannen an Bedeutung und in der Folge verblieb die spätere Entwicklung und Erhaltung des Materials in der Hand von Klöstern im Shannon-Becken wie Clonmacnoise, die von den Uí Néill gefördert wurden, um Stammesstrukturen zu zerstören. Und so wurde eben zusätzlich das Thema unfähiger Regentschaft in die Niederschrift aufgenommen, denn damit hatten sie einen legitimen Anspruch auf das höchste Königsamt, das Erbkönigtum und Feudalisierung.

Auf einer anderen Ebene reflektiert der Mythos überdies den Zerfall der frühen irischen Gesellschaft: der Beziehungen zwischen Gastgeber und Gast, zwischen Verwandten, zwischen Pflegebrüdern, zwischen Frauen und Männern, zwischen der Menschenwelt und den Göttern. Hinter der immensen Vitalität, dem Humor und der Fantasie des Ulster-Zyklus verbirgt sich ein Bild einer in sich zusammenbrechenden Gesellschaft. Die alte Ordnung als überlebt darzustellen, war natürlich im Interesse der Mönche und ihrer Zahlmeister. Aber die Gesellschaft war auch tatsächlich geschwächt nach den Einfällen der Wikinger, der Normannen und durch christliche Zerstörung26. Dieser politische Kampf beherrschte den gesamten Zeitraum der ersten Niederschriften des Rinderraubs.

Der Rinderraub als Literatur

Der Rinderraub ist Literatur. Was auch immer der Hintergrund der Erzählungen, existieren sie seit über tausend Jahren in Form von Literatur. Von einem Ursprung in der mündlichen Überlieferung ist mit Sicherheit auszugehen. Der Text ist Literatur, weil die Figuren und Handlungen lebendig und einprägsam sind und in unserer Vorstellung ebenso wie in schriftlich festgehaltener, wenn auch in kulturell veränderter Form, über tausend Jahre überlebt haben. Besonders einprägsam sind unter anderem zwei Stellen: das Erscheinen und die Prophezeiung von Fedelm, sowie die Totenklage Cú Chhulainns für Ferdia.

Fedelm wird als außergewöhnliche Erscheinung beschrieben. Die Bewegung des Textes von Prosa zur Versform unterstreicht den Moment der Prophezeiung und macht deren Nichtbeachtung durch Medb außerordentlich verstörend.

Hoch ragt er auf dem Feld der Schlacht
in Brustharnisch und Mantel rot,
Über dem düsteren Wagenrad
bringt der Verzerrte jedem Tod,
die schöne Gestalt, die ich erst sah,
verzerrt zu einer Ungestalt.

Ich seh ihn ziehen in die Schlacht:
ich warne euch, seid auf der Hut,
Cúchulainn, Sualdams Sohn!
Ich sehe ihn, er sucht den Kampf.

Ganze Heere wird er schlagen,
er richtet euch ein Blutbad an,
zu Tausenden fallen eure Köpfe.
Ich bin Fedelm, ich verhehle nichts.

Das Blut spritzt aus Kriegerwunden,
todgeweiht, wen er berührt:
tot eure Krieger, und die Krieger
von Deda mac Sin gehen um;
zerhackte Leiber, Frauen klagen
seinetwegen, des Hunds des Schmieds.27

Eindringlich ist ebenfalls der ausgedehnte Zweikampf zwischen Cú Chulainn und Ferdia, seinem einstigen Pflegebruder. Diese Tradition wird von Medb missachtet, als sie Ferdia gegen Cú Chulainn in den Kampf zwingt. Cú Chulainn bemüht sich im Verlaufe des Kampfes beharrlich, einschließlich Mahnung an ihre Pflegebrüderschaft, Ferdia zu einem Abbruch des Kampfes zu überreden, dem er ansonsten zum Opfer fallen würde. Ferdia verweigert dieses Angebot immer wieder aufs Neue. Nach seinem unweigerlichen Tod bricht Cú Chulainn in eine Totenklage aus, was sonst in der irischen Tradition den Frauen vorbehalten war und größtenteils mündlich überliefert ist. Totenklagen sind ein Genre mit eigenen Konventionen, die dann individualisiert werden. In einem ungeheuren Bruch mit dieser Tradition beklagt hier der größte irische Krieger Cú Chulainn den toten Freund:

Unsre hehre Pflegemutter
schloss den Bund der Blutsfreundschaft,
so dass niemals Zorn entzweie
die zwei Freunde im schönen Elga.

Trauriger, elender Tag,
der Ferdias Kraft am Ende sah
und eines Freundes Sturz gebracht:
Ich gab ihm rotes Blut zu trinken!

Hätte dich der Tod ereilt
im Kampf mit Recken Griechenlands,
ich hätte dich nicht überdauert,
neben dir wäre ich gefallen.

Leid ist über uns gekommen,
Scáthachs28 beide Pflegesöhne
gebrochen ich und rot von Blut,
leer steht dein Streitwagen.

Leid ist über uns gekommen,
Scáthachs beide Pflegesöhne
gebrochen ich und blutig rot,
du liegst tot und starr.

Leid ist über uns gekommen,
Scáthachs beide Pflegesöhne
du tot und ich lebendig.
Kühnheit ist ein Wahn der Schlacht!

Zum Fortbestehen des Mythos in Literatur und Kultur

Im 19. Jahrhundert übertrug Augusta Gregory, Vertraute von W. B. Yeats und Mitbegründerin der Renaissance der irischen Literatur, diese Mythen in ein modernes Englisch, gleichwohl sie ebenfalls inhaltlich eingriff, dem viktorianischen Geschmack unliebsame Aspekte herunterspielte oder gar ganz unterdrückte. Der bedeutende irische zeitgenössische Dichter Thomas Kinsella kehrte in seiner jetzt als Standardtext angesehenen Übertragung zu den mittelalterlichen Manuskripten zurück und versuchte, modernen Lesern einen unmittelbaren Zugang zu den Legenden zu geben. Diese Arbeit ermutigte die irisch-amerikanische Schriftstellerin Morgan Llywelyn zweifellos, mehrere Geschichten aus dem Ulster-Zyklus in ihrem 1989 erschienenen Roman Red Branch über das Leben von Cú Chulainn neu zu beschreiben. Deutsche Keltologen hatten ebenfalls ein großes Interesse an diesem irischen Text und übersetzten ihn Anfang des 20. Jahrhunderts ins Deutsche. 1969 übertrug Susanne Schaup dieses Epos in eine ausgezeichnete deutsche Fassung basierend auf der gut recherchierten englischen Nachdichtung Thomas Kinsellas.

Zeugnisse anderer Art für das Fortbestehen des Mythos im Volksbewusstsein, doch mindestens ebenso lebendig, sind die Wandbemalungen in Nordirland. Sowohl Katholiken als auch Protestanten beanspruchen als ihre Tradition die Verteidigung Ulsters durch Cú Chulainn, besonders seinen Tod, der in einer der »Nachgeschichten« erzählt wird, wo er an einen Felsen gebunden aufrecht stehend stirbt.

1 Deutsch nach der englischen Übertragung von Thomas Kinsella (1969), Schaup, Susanne (1976), Der Rinderraub. Altirisches Epos, München: Heimeran Verlag.

2 Gesprochen: rewschkela.

3 Gesprochen: toin boh kuhlje.

4 Der tatsächliche Ursprungsmythos ist das Lebor Gabála Érenn, das allerdings weithin in der Bevölkerung unbekannt ist.

5 Gesprochen: ku (kurzes U) Chulinn (wieder kurzes U).

6 Gesprochen: kruachan.

7 Gesprochen: konnacht – eine westliche der fünf großen Provinzen Irlands.

8 Gesprochen: meew.

9 Gesprochen: allil.

10 In der uns überlieferten Version werden die beiden als Königspaar beschrieben, doch gab es in der Eisenzeit natürlich keine feudalen Erbkönige, sondern gewählte [militärische Demokratie der Stammesgesellschaft] Herrscher über jeweils eine von fünf großen Provinzen. Medb selbst galt zu jener Zeit als Souveränitätsgöttin. Die Mönche machten aus diesen Häuptlingen und heidnischen Göttinnen Könige und Königinnen.

11 Gesprochen: finnwennach.

12 Gesprochen: dahre mac fiachna.

13 Gesprochen: kruchur.

14 Die nördliche der fünf großen irischen Provinzen.

15 Diese sexuelle Freizügigkeit samt ihrer verschiedenen Ehemänner muss im Kontext ihres Status als Souveränitätsgöttin verstanden werden. Natürlich ›heiratete‹ jeder neue ›König‹ des Landes sie als Ausdruck seiner Loyalität gegenüber dem Territorium. Somit beinhaltet ein solches Versprechen zudem die Möglichkeit auf den Herrschertitel. Auch gab es vor dem Christentum keine Monogamie. Engels schreibt in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats: »Was aber die walisischen Quellen, und mit ihnen die irischen, direkt beweisen, ist, daß bei den Kelten die Paarungsehe im 11. Jahrhundert noch keineswegs durch die Monogamie verdrängt war.« URL: http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_127.htm.

16 Gesprochen: felim.

17 Gesprochen: macha.

18 Angemerkt sei hier, welch hohen Ruf die Dichter dieser Kultur genossen. Außer dieser Prophetin erscheint im weiteren Verlauf der Geschichte ein Satiriker, der ebenfalls ein hochangesehener und gefürchteter Dichter an den Herrscherhöfen war. Im Rinderraub droht er Cú Chulainn mit Rufmord.

19 Gesprochen: finnuhr.

20 Gesprochen: garech.

21 Gesprochen: ilcharach.

22 Gesprochen: muil wirre (das W wie im Englischen water).

23 Gesprochen: ljauer na hiere.

24 Gesprochen: nass.

25 Gesprochen: ie nehl.

26 Die filí wurden von der irischen Elite teilweise verboten und gejagt – in Connacht bis ca. 1000. Die Geschichten von King Lír und Suibhne zeigen die Zerstörung heidnischer Kulturgüter durch die Christen.

27 Cú Chulainn – der Name bedeutet Hund des Schmieds.

28 Gesprochen: sko/ach (kurzes O, wie in Rock).

Jonathan Swift
Ein bescheidener Vorschlag

Jonathan Swift, weltberühmt als Verfasser von Gullivers Reisen (1726) und Ein bescheidener Vorschlag (1729), Satiriker, Dekan der St. Patricks Kathedrale Dublin und politischer Pamphletist, wurde am 30. November 1667 in Dublin geboren, sieben Monate nach dem Tod seines Vaters. Dieser Tod hatte die völlige Verarmung der Familie zur Folge, die nun auf die Hilfe von Verwandten angewiesen war. Jonathan wurde zu seinem Onkel Godwin Swift geschickt, der ihm die bestmögliche Ausbildung angedeihen ließ.

Swift besuchte von 1674 bis 1682 das Gymnasium in Kilkenny und studierte Klassik an der damals einzigen Universität Irlands, dem Trinity College in Dublin. Auf Grund der politischen Unruhen während der (Zurücknahme der) englischen Revolution von 1688 verließ Swift Irland. Nach seinem Umzug nach England nahm Swift eine Stelle als Sekretär von Sir William Temple, einem pensionierten Diplomaten, an. In dessen Haus wurde Swift mit einer Reihe politisch einflussreicher Personen bekannt. Sir William Temple verhalf Swift auch zur Aufnahme an der Universität Oxford. 1692 schloss Swift sein Studium mit einem Magister ab.

Trotz der für seine Zeit ungewöhnlichen Bedenken, der Kirche »nur der Unterstützung halber«1 beizutreten, kehrte Swift nach Irland zurück und wurde Ende 1694 Diakon und im Januar 1695 Priester. Er festigte seine Position langsam innerhalb der Church of Ireland, dem irischen Zweig der anglikanischen Kirche. 1701 erwarb er am Trinity College Dublin den Doktortitel in Theologie und 1713 wurde er zum Dekan der Dubliner St. Patricks Kathedrale ernannt.

Ab 1720 wandte sich Swift an ein irisches Lesepublikum. Das irische Parlament wurde vom Parlament in Westminster regiert, was u. a. Handelsbeschränkungen mit sich brachte. Swift veröffentlichte 1720 ein anonymes Pamphlet mit dem Titel Ein Vorschlag, allgemein in Kleidung, Hauseinrichtung usw. nur irische Erzeugnisse zu benutzen und alles Tragbare, was aus England kommt, unbedingt abzulehnen und zu verleugnen2. Erbost bot die Kolonialmacht jedem eine Belohnung, der den Autor identifizieren würde. Obwohl Swifts Urheberschaft in Dublin ein offenes Geheimnis war, wurde er nicht verraten und stattdessen kam der Drucker Edward Waters wegen aufrührerischer Verleumdung vor den Richter. Die Geschworenen erklärten Waters für »nicht schuldig«; dennoch konnte nur durch Swifts privates Eingreifen Waters Verurteilung abgewendet werden. In einer weiteren Schrift, den Tuchhändlerbriefen3 (1724/25), forderte er Iren auf, die neue englische Münze »Wood’s Halfpence« aus moralischem, politischem sowie aus wirtschaftlichem Interesse zu verweigern. Erneut setzte die Regierung erfolglos einen Kopflohn für die Preisgabe des anonymen Autors aus, doch das Woods Patent musste letztlich zurückgezogen werden.

So wurde Swift zum Nationalhelden zumindest innerhalb seiner eigenen Klasse, der protestantischen Aszendenz, die die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft in Irland als Vertreter der britischen Kolonialmacht innehatte, doch auch eigene Interessen in Irland verfolgte. 1726 veröffentlichte Swift Gullivers Reisen4, in dem er u. a. Britanniens Kolonialisierung Irlands aufs Korn nimmt, sowie die Möglichkeit eines irischen Aufstandes voraussagt, 60 Jahre bevor er durch die United Irishmen Wirklichkeit wurde. Diese in Teilen III (Kapitel 3) und IV (Kapitel 12) enthaltenen radikalen Auffassungen wurden vielfach unterdrückt.5 1729 folgte Ein Bescheidener Vorschlag6.

Gegen Ende seines Lebens litt Swift zunehmend an Krankheit und befürchtete, den Verstand zu verlieren. In den letzten Lebensjahren erlag er einer senilen Demenz und wurde in die Obhut eines Vormunds gegeben. Zuvor hatte sich Swift jedoch der Not psychisch Kranker zugewandt und hinterließ in seinem Testament Geld für eine Nervenheilanstalt, die auf humanen Behandlungsmethoden basieren sollte. Dieses Krankenhaus war das St. Patricks Hospital in Dublin, das 1759 eröffnet wurde und noch heute Betroffene behandelt.

Jonathan Swift starb 1745 im Alter von 78 Jahren in seiner Geburtsstadt und ist in der St. Patricks Kathedrale beigesetzt. Lange vor seinem Tod hatte er sein eigenes lateinisches Epitaph geschrieben, das heute in der Kathedrale zu sehen ist. Fast zwei Jahrhunderte später wurde es von W. B. Yeats ins Englische übertragen:

Swift has sailed into his rest;
Savage indignation there
Cannot lacerate his breast.
Imitate him if you dare,
World-besotted traveller; he
Served human liberty.

Swift segelte in die Ruh;
Wilde Erbitterung dort
Nicht zerreißen kann sein Herz.
Wagen Sie’s ihm nachzutun,
Weltvernarrter Reisender; er
Diente der Menschen Freiheit.7

Wie Thomas Metscher feststellte, steht Swift am Anfang der modernen irischen Literatur in englischer Sprache. Es ist sein irischer Standpunkt, seine Sorge um Irland, insbesondere um den kolonialen Status Irlands und die irische Befreiung, die Swifts literarischen Radikalismus definieren.8

Die dominante Kultur im Irland des 18. Jahrhunderts – die der anglo-irischen herrschenden Klasse, der Swift angehörte – war eine von Britannien bestimmte Kultur, deren Funktion es war, die britische Hegemonie in Irland zu sichern.

Swifts Engagement für die Sache der irischen Befreiung entwickelte sich erst, nachdem er nach Dublin zurückgekehrt war und im Juni 1713 Dekan der St. Patricks Kathedrale wurde. Zunehmend wurde er zum Fürsprecher des einfachen Volkes. Der unvergesslichste Ausdruck dieser Parteinahme ist Ein bescheidener Vorschlag.

Ein bescheidener Vorschlag

Zum Kontext des Werks, außer der oben angeführten politischen Lage in der Kolonie Irlands, ist es wichtig, dass wir es hier mit der Zeit der Aufklärung zu tun haben. Genau an diesen Aufklärungsgeist wendet sich Swift und ironisiert ihn zugleich auf das Heftigste.

Der Titel selbst ist zutiefst ironisch, verstärkt durch den Zusatz »wie man die Kinder der Armen hindern kann, ihren Eltern oder dem Lande zur Last zu fallen, und wie sie vielmehr eine Wohltat für die Öffentlichkeit werden können«9. Jeder uneingeweihte Leser erwartet zunächst einmal das wissenschaftlich-ökonomische Traktat eines Philanthropen.

Dies wird auch im Eröffnungsabsatz unterstrichen, der die desolate Lage der Armen Irlands für irische Leser (noch heute) sofort erkennbar beschreibt: »… wenn sie die Gassen, Straßen und Türen der Hütten voller Bettlerinnen sehn, hinter denen sich drei, vier oder sechs Kinder drängen, die, alle in Lumpen, jeden Vorübergehenden um ein Almosen belästigen.«10

Meisterhaft beginnt Swift sofort mit der schrittweisen Vorbereitung der Leser auf den zu unterbreitenden Vorschlag, indem er wirtschaftliche Überlegungen zur Behebung des Übels anführt: »… eine gute, billige und leichte Methode«11 zu finden, diese Kinder zu nützlichen Mitgliedern des Reiches zu machen. Bereits hier kündigt Swift an, dass der Vorschlag sich bei weitem nicht auf »die Kinder berufsmäßiger Bettler«12 beschränkt, sondern will »die volle Zahl der Kinder eines bestimmten Alters umfassen, wie sie von Eltern geboren werden, die in Wirklichkeit nicht besser imstande sind, sie zu erhalten als jene, die in den Straßen um Almosen betteln.«13 Schon hier wird angedeutet, dass das nahezu die Gesamtheit der katholischen irischen Bevölkerung bedeutet. Die Spannung der Leser erhöht sich, als der Erzähler nun behauptet, mit seiner Lösung für »die Kinder in einer Weise zu sorgen, dass sie, statt ihren Eltern oder der Gemeinde zur Last zu fallen, und statt für den Rest ihres Lebens an Nahrung und Kleidung Mangel zu leiden, vielmehr zu der Ernährung und teilweise auch der Kleidung vieler Tausender beitragen werden.«14 Es folgt eine ausführliche statistische Erhebung, die noch vor dem »Vorschlag« an die aufklärerische Vernunft der Leser appelliert und die Zahl der Betroffenen quantifiziert. Als Subtext erfahren wir immer mehr über die abgrundlose Armut der einheimischen Bevölkerung.

Im ersten Viertel des Textes wird eine Erwartungshaltung aufgebaut. Dann folgt der Vorschlag, nachdem der Ich-Erzähler diesen vorerst noch qualifiziert, wie er es noch mehrmals wiederholen wird: »Ich werde also jetzt demütigst meine eignen Gedanken darlegen, die, wie ich hoffe, nicht dem geringsten Einwand begegnen können.«15 Der »Vorschlag« stammt nicht vom Erzähler selbst, wie er sagt, sondern »von einem sehr unterrichteten Amerikaner«16 und besteht darin,

dass ein junges, gesundes, gutgenährtes, einjähriges Kind eine sehr wohlschmeckende, nahrhafte und bekömmliche Speise ist, … (und) dass von den hundertundzwanzigtausend bereits berechneten Kindern zwanzigtausend für die Zucht zurückbehalten werden; von ihnen soll nur ein Viertel aus Knaben bestehn, was immerhin schon mehr ist als wir bei Schafen, Hornvieh oder Schweinen erlauben.17

Von hier an entwickelt Swift ein kolonial-faschistisches Programm, das seines Gleichen eigentlich nur in der Wirklichkeit findet. Die wirtschaftlichen Vorteile werden immer wieder betont, derweil die Leser zunehmend aus der Fassung geraten. Gleichzeitig beginnt Swift mit der Andeutung, dass es sich hier nicht allein um das buchstäbliche Aufessen von Kindern handelt, sondern durchaus auch metaphorisch verstanden werden muss: »… da die Gutsherrn bereits die meisten Eltern gefressen haben«18. Da dies zeitlich vor dem nun vorgelegten Vorschlag war, bedeutet dieses »Auffressen« die Zerstörung der Lebensgrundlage der katholischen Pächter. Als zusätzlichen Vorteil preist dieser »Nationalökonom« der Aszendenz auch an, dass sein »Vorschlag noch einen Nebenvorteil mit sich bringen [wird], indem er die Zahl der papistischen Kinder verringert«19. Um diese Feindseligkeit der Herrschenden gegen die irische Bevölkerung ironisch noch zu verstärken, schreibt Swift ganz entsprechend der Auffassung dieser Klasse, die er damit rückhaltlos aufs Korn nimmt und gleichzeitig ihren Ängsten vor einer katholischen Invasion Ausdruck verleiht:

… die Zahl der Papisten, von denen wir alljährlich überrannt werden, bedeutend verringern; sie sind zugleich die kinderreichsten Leute der Nation und unsre gefährlichsten Feinde, und sie bleiben eigens im Lande, um das Königreich dem Prätendenten auszuliefern.20

In einer weiteren grauenhaften Tangente erläutert der Erzähler, wie auch die Haut der Kinder verwendet werden kann. Das verstärkt nicht allein ein Thema dieses Textes, die Gleichsetzung und Gleichbehandlung von Iren mit Tieren, sondern erinnert nicht nur deutsche Leser an die Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts.

All diese Einzelheiten des »Vorschlags« hatte der Erzähler bereits mit dem amerikanischen Freund besprochen, der offenkundig bereits Erfahrung auf diesem Gebiet hat. Hierbei handelt es sich um die Sklaverei, die ebenfalls halb metaphorisch, halb real mit der Zerstörung von Menschenleben gleichgesetzt wird.

Nach weiterer Anpreisung seines Plans, weiterhin rational-wirtschaftlich argumentierend, beteuert der Erzähler, »dass gegen diesen Vorschlag ein einziger Einwand zu erheben wäre«21 und verkündet dann – als die unmögliche Alternative – die eigentliche Lösung:

Deshalb komme mir niemand mit andern Auskunftsmitteln: mit einer Steuer von fünfundzwanzig Prozent ihres Einkommens, die die in England lebenden Irländer zu zahlen hätten; damit, dass wir weder Kleider noch Hausrat brauchen dürften, die nicht in Rohstoff und Verarbeitung aus unserm Lande stammen; damit, dass wir Materialien und Werkzeuge, die ausländischen Luxus fördern, streng ablehnen müssen; damit, dass es gilt, unsre Frauen von den teuren Vergnügungen des Stolzes, der Eitelkeit, des Müßiggangs und Spiels abzubringen; damit, dass wir den Hang zur Sparsamkeit, Vorsicht und Mäßigung stärken sollen; damit, dass wir unser Land lieben lernen müssen (…) dass wir vorsichtig sein sollten, nicht unser Land und unser Gewissen um ein Nichts zu verkaufen; damit, dass wir die Gutsherrn lehren müssen, ihren Bauern gegenüber wenigstens eine Spur von Erbarmen zu zeigen; und schließlich damit, dass wir den Geist der Ehrlichkeit, Betriebsamkeit und Gewandtheit in unsre Ladenbesitzer pflanzen sollen, die sich, wenn man jetzt den Beschluss fasste, nur noch unsre einheimischen Waren zu kaufen, sofort verbünden würden, um uns zu betrügen und uns im Preis, im Maß und in der Güte der Waren zu übervorteilen, wie sie denn auch bisher noch niemals dazu zu bringen waren, dass sie sich ein einziges Mal erboten hätten, hinfort ehrlich zu verfahren, obwohl man sie oft und ernsthaft dazu aufgefordert hat.

Deshalb wiederhole ich, es rede mir niemand von diesen und ähnlichen Auskunftsmitteln, bevor er nicht wenigstens einen Schimmer von Hoffnung hat, dass jemals ein kräftiger und aufrichtiger Versuch gemacht wird, sie in die Wirklichkeit zu übertragen.22

Nach dieser zutiefst ironischen Einbettung der eigentlichen Lösung des eingangs dargelegten Problems der beispiellosen Armut der Iren, kommt Swift zum Schluss, indem er die Vorteile seines »Vorschlags« noch einmal betont und festhält:

Ich möchte, dass die Politiker, denen mein Vorschlag missfällt und die vielleicht verwegen genug sind, eine Erwiderung zu versuchen, zunächst einmal die Eltern dieser Sterblichen fragen, ob sie es nicht heute für ein großes Glück halten würden, wenn sie auf die beschriebene Weise im Alter von einem Jahr als Nahrungsmittel verkauft worden wären, so dass ihnen die ewige Straße des Elends erspart geblieben wäre, die sie seither durch die Unterdrückung der Gutsherrn, durch die Unmöglichkeit, ohne Geld und Gewerbe Pacht zu zahlen, durch den Mangel an der alltäglichen Notdurft, ohne Haus und Kleider, die sie vor der Unbill des Wetters schützen könnten, und in der unvermeidlichen Aussicht, auf ewig ihrer Nachkommenschaft das gleiche oder auch noch größeres Elend zu vermachen, gezogen sind.23

Hier kommt Swift zu dem erschütternden Schluss, dass die Iren, die zu ihrem allergrößten Teil in unsäglicher Armut leben, besser tot als lebendig seien.

Mit Ein bescheidener Vorschlag wird Swift unverrückbar zum Fürsprecher des irischen Volkes, indem er die herrschende Klasse ganz offen als Kannibalen enthüllt.

1 Stephen, Leslie (1882), Swift, London: Macmillan, S. 22, URL: https://www.gutenberg.org/files/41532/41532-h/41532-h.htm#f_6.

2 A Proposal for the Universal Use of Irish Manufacture.

3 Drapier’s Letters.

4 Gulliver’s Travels.

5 Siehe hierzu ausführlich Metscher, Thomas (2016), The Radicalism of Swift, Dublin: Connolly Books.

6 A Modest Proposal.

7 Deutsch Jenny Farrell, Reimschema nicht erhalten.

8 Metscher (2016).

9 Swift, Jonathan (1729), Ein bescheidener Vorschlag, in: Hoffmann, André (2014): Gesammelte Werke Jonathan Swifts, Dinslaken: asklepiosmedia. E-Book S. 373.

10 Ebd.

11 Ebd., S. 374.

12 Ebd.

13 Ebd.

14 Ebd., S. 375.

15 Ebd., S. 377.

16 Ebd.

17 Ebd.

18 Ebd., S. 378.

19 Ebd., S. 379.

20 Ebd., S. 383.

21 Ebd., S. 386.

22 Ebd., S. 386–388.

23 Ebd., S. 389 f.

Eibhlín Dubh Ní Chonaill1
»Die Totenklage für Art Ó Laoghaire«2

Die Stimme einer Frau

Die legendärsten und gefeiertsten irischen filí3 (Dichter) sind Männer. Die Gründe hierfür liegen eindeutig in der patriarchalischen Klassengesellschaft, die mit dem Christentum nach Irland kam. Ein Grund mehr, den weiblichen Vertretern dieser Berufung nachzuspüren, die in der vorchristlichen irischen Zeit mit seherischen Fähigkeiten assoziiert wurde, denn das irische Wort filí leitet sich genau von dieser Bedeutung ab.

Die älteste erhaltene Prosa, die uns überliefert ist, Der Rinderraub, wenn auch durch die Brille frühchristlicher Mönche, feiert mächtige Frauen, darunter auch eine solche Prophetin, die Dichterin Fedelm. Dieser Beruf wurde in einer vorliterarischen Gesellschaft mündlich ausgeübt und das blieb in den Personen der nicht am Hofe etablierten Geschichtenerzähler im Volk lange erhalten. Manche Arten poetischen Ausdrucks waren vorwiegend Frauen vorbehalten. Am bemerkenswertesten ist vielleicht die der Totenklägerin. Eibhlín Dubh Ní Chonaills »Caoineadh Airt Uí Laoghaire«4 (1773, Die Totenklage für Art Ó Laoghaire5) ist eine der wichtigsten und längsten Totenklagen in der irischsprachigen Literatur.

»Die Totenklage für Art Ó Laoghaire«

Das ex tempore verfasste Gedicht war ein spontan der Totenklagetradition entsprechender Sprechgesang über den Toten und folgt den rhythmischen und gesellschaftlichen Konventionen, die mit der traditionellen irischen Totenwache verbunden sind. Wie so viele uns erhalten gebliebene Dokumente aus der mündlichen Tradition, wurde auch diese Totenklage erst später aufgeschrieben und übersetzt.

In diesem Gedicht beschreibt Eibhlín Dubh Ní Chonaill die Umstände der Ermordung ihres Ehemannes Art in Carriginima (Carraig an Ime6), in der Grafschaft Cork, auf Geheiß des britischen Beamten Abraham Morris.

Gleichzeitig spricht die Klage, wie noch deutlich werden wird, im Namen der unterdrückten katholischen irischen Bevölkerung Irlands, die unter der britischen Kolonialherrschaft leidet. Speziell geht es um die Auflehnung gegen die Strafgesetze (penal laws), die Ende des 17. Jahrhunderts eingeführt wurden und sich gegen die einheimische katholische Bevölkerung richteten. Unter anderem verbaten diese Gesetze den Schulbesuch für katholische Kinder, beschränkten das Recht auf Besitz, zum Beispiel eines Pferdes, das mehr als fünf Pfund wert war, Heirat zwischen Personen verschiedener Konfessionen, Zugang zu höherer Bildung und Berufen usw. Art Ó Laoghaire wurde geächtet, weil er sich weigerte, Morris sein Pferd, das er aus seinem Dienst in der österreichisch-ungarischen Armee mitgebracht hatte, für fünf Pfund zu verkaufen und wurde zum Freiwild erklärt.

Art und Eibhlín entstammten bedeutenden Familien der irischen Aristokratie, deren mächtigste Fürsten im frühen 17. Jahrhundert infolge kriegerischer Niederlagen aus Irland auf den europäischen Kontinent geflohen waren, was den völligen Zusammenbruch der traditionellen Gesellschaftsstrukturen zur Folge hatte. Art war Teil des überlebenden katholischen Adels, war auf dem Kontinent ausgebildet und diente als Offizier in der österreichischen Armee.

Die Totenklage ist in fünf Teile gegliedert. Der erste Teil wurde wahrscheinlich über den Leichnam ihres Mannes in Carraig an Ime (Carriginima) gesprochen.

Die Klage7 beginnt mit einem kurzen Bericht, wie sich die Liebenden kennenlernten und entgegen den Wünschen ihrer Familien davonliefen und heirateten:

Standhafte Lieb!
Als ich dich eines Tages sah
an des Markthauses Giebel
mein Aug gab einen Blick
Mein Herz erstrahlte
Ich floh mit dir fern
von Freunden und Heim.8

Im Folgenden berichtet Eibhlín davon, wie gut sie es als Frau von Art hatte:

Und nie reute ich es:
Salons ließest du streichen
Räume ausschmücken
der Ofen feuerrot
Brotlaibe bereitet
Braten am Spieß
und Rinder geschlachtet;
Schlief in Entendaun
bis Mittag kam,
später, gefiel’s mir.9

Die Klagende spricht Art wiederholt persönlich an – als Freund und Partner. Im Folgenden beschreibt sie die Ehrfurcht und Angst, die Art durch seine imposante, die Strafgesetze völlig missachtende Gestalt einflößte. Er trägt ein wertvolles Schwert, prachtvolle Kleidung und führt das weißgesichtige Pferd. Insbesondere die Engländer sind eingeschüchtert:

Standhafter Freund!
Mir kommt in den Sinn
der Frühlingstag
wie stand dir der Hut
mit dem Goldband,
das Schwertheft silbern,
Hand fein und kühn,
bedrohlicher Schritt,
und ängstliches Beben
verräterischer Feinde.
Du würdest reiten
dein schlank-weißes Ross
die Sachsen verneigten
sich tief vor dir,
nicht aus Kulanz
sondern aus Angst
– doch durch ihre Hand tot,
meiner Seele Lieb …10

Sie evoziert auch Arts Liebe zu seinen Söhnen. Danach spricht sie von dem Moment, an dem ihr Arts Tod bewusst wurde, als sein Pferd reiterlos an ihren Hof zurückkam. An dieser Stelle werden Eibhlíns Entschlossenheit und Mut deutlich, die bereits mit ihrer Heirat Arts entgegen den Wünschen der Familie angedeutet wurde. Mit drei Sätzen springt sie an die Tür, an das Tor und in den Sattel und galoppiert zum Tatort. Hier findet sie Arts leblosen Körper:

Dich dort tot zu sehn
am niedren Ginster
weder Papst noch Bischof,
Kleriker, Priester
einen Psalm dir zu lesen
nur ein schwach altes Weib
ihr Manteleck erstreckt
wo dein Blut aus dir floss,
hielt nicht, es zu baden.
Trank es aus meiner Hand.11

Diese etwas unerwartete Handlung des Bluttrinkens entspricht der Tradition der Totenklage.12 Am bemerkenswertesten ist hier jedoch die berichtete Tatsache, dass niemand anders zugegen ist als eine alte Frau, die zweifellos das alte Irland verkörpert. Das wird unter anderem darin deutlich, dass sie ihren Mantel an die Stelle legt, wo Arts Blut ausströmt. Bezeichnend ist auch, dass sich kein katholischer Klerus eingefunden hatte. Eibhlín wird mit dieser Frau allein gelassen. Es ist ein desolates Bild über den Zustand des Landes und seine vergessene Loyalität.

Ebenfalls Bestandteil der Tradition ist die Aufforderung an den Toten aufzustehen, Eibhlín will Art so eine erneute Hochzeit ausrichten.

Im zweiten Teil wird ein Streit zwischen Arts Schwester und Eibhlín wiedergegeben, in dem ihre Schwägerin Eibhlín vorwirft, im Bett gelegen zu haben, als sie aus Cork an den Hof kam. Es ist wahrscheinlich ein Kommentar über den Unfrieden zwischen den beiden namhaften Familien und in einem größeren Kontext auch über den Zerfall des Zusammenhalts der verschwindenden irischen Ordnung, der schon durch die Einfälle der Wikinger ab Ende des 8. Jahrhunderts und die christlichen Zerstörungen vorangetrieben worden war, doch nun immer eklatanter wird.

Angesichts der sehr öffentlichen Hochschätzung Arts im dritten Teil, wurde der Aufruf wieder aufzustehen wahrscheinlich von Eibhlín geäußert, nachdem der Leichnam für die Beerdigung vorbereitet worden war.

Mein Freund und mein Schatz!
Welch elende Kluft für einen Krieger:
ein Sarg und der Hut
auf dem großherz’gen Reiter,
der fischte in Flüssen
und trank in Hallen
mit weißbrüst’gen Frauen.
Fühl tausend Verwirrnis,
Hab deinen Nutzen verlorn.
Ruin und Verderben dir,
übler Ketzer Morris,
den Mann meines Hauses nahmst
und Vater meiner Kinder
– ein Paar geht durchs Haus
das dritte im Leib,
und ich werd’s kaum ertragen.13

In diesem Teil werden auch Arts letzte Worte an sie zitiert sowie in Bildern aus der Natur angedeutet, dass Art der wahre Herrscher des Landes war, auch wenn das unter der Bevölkerung in Vergessenheit geraten ist.

Nimm den schmalen Weg östlich,
wo die Büsche sich dir neigen
Und der Bach sich verjüngt dir,
Mann und Weib sich verbeugen,
wenn sie den Anstand haben
– doch zweifele ich jetzt daran …14

In jeden Teil dieses Klageliedes wird der Widerstand Eibhlíns gegen die Fremdherrschaft und die Unterdrückung ihres Volkes geschrieben. Das ist engstens mit der Person Arts verbunden.

Im vierten Teil spricht noch einmal Eibhlíns Schwägerin und erklärt, wie Krankheit und Tod sie an einem früheren Erscheinen hinderten. Hier ist es wieder denkbar, dass eine metaphorische Dimension enthalten ist – der Zerfall der alten Ordnung.

Eibhlín selbst erklärt in diesem Teil ihre Entschlossenheit, den Mord zu sühnen. Sie wird keine Möglichkeit ungenutzt lassen, um Gerechtigkeit zu erlangen:

Jesus Christ weiß wohl
keine Kopfbedeckung
noch Hemd an meinem Körper
noch Schuh an meiner Sohle
noch Möbel in meinem Haus
noch Zügel brauner Stute
spar ich, gib’s dem Gesetz;
überquere den Ozean
mit dem König zu streiten,
und wenn er mir kein Gehör schenkt,
dass ich wiederkomme.
zum schwarzblütigen Wilden
der mir den Schatz nahm.15

Eibhlíns Vorsatz alles zu tun, um Gerechtigkeit zu erkämpfen, ist eine Steigerung ihrer vorangegangenen Kühnheit in ihrer Partnerwahl und in ihrem Ritt zum Ort des Verbrechens. Auch hierin sieht man eine Progression vom Verkauf aller Habe, um Anwälte zu bezahlen, den englischen König persönlich aufzusuchen, bis hin zur eigenen Rache, sollten sich diese Wege als ergebnislos erweisen. Diese Möglichkeit sieht sie sehr realistisch. Zunehmend entwickelt sich Eibhlín zu der Frau, die nicht tatenlos zusehen wird, wie der Tod des Mannes, der Irlands heimische Tradition und Ordnung vertrat, ungesühnt bleibt.

Der letzte, fünfte Teil reflektiert einen größeren Abstand zum Toten und wurde wahrscheinlich erst anlässlich der zweiten Bestattung hinzugefügt. Aufgrund einiger rechtlicher Hindernisse wurde der Leichnam von Art Ó Laoghaire nicht auf dem Ahnenfriedhof beigesetzt, und der Leichnam wurde vermutlich erst einige Monate später dorthin in das Kloster von Kilcrea, County Cork, überführt.

Noch einmal wird Arts Großzügigkeit evoziert und Eibhlín berichtet, dass sie den Hof erfolgreich weiterführt, dass das Korn und das Vieh trotz ihrer großen Trauer gut gedeihen.

Bemerkenswerterweise wird in dieser ganzen Klage keine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod geäußert, man kann sogar sagen, dass der abwesende Klerus am Tatort diesen von seiner Rolle in der Befreiung des Landes disqualifiziert hat. Eibhlín kann sich allein auf sich selbst verlassen – unterstützt von der alten Frau, dem alten Irland.

In mehrfacher Hinsicht hat Eibhlín Arts Erbe angetreten. Es wird keine Notwendigkeit eines neuen Mannes erwähnt. Eibhlín wird den Hof führen, die Kinder erziehen, Art nie vergessen und ihn rächen. Entgegen der Erwartungshaltung in der Aisling-Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts, die eines männlichen Erretters harrt, nimmt Eibhlín ihr Geschick in die eigenen Hände. Sie, wie nur wenige Jahre später Aoibheal in Brian Merrimans Mitternachtsgericht, tritt die Nachfolge der starken irischen Frauen an und wird Irland vom Joch der Fremdherrschaft befreien.

1 Gesprochen: eilien duw nie chonnill.

2 Diese große Totenklage ist leider nicht in deutscher Übersetzung vorhanden. Die Textauszüge sind von mir übersetzt.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung meines Beitrages in englischer Sprache in Culture Matters, am 24.02.2020, URL: https://www.culturematters.org.uk/index.php/arts/poetry/item/3271-international-women-s-day-2020-a-grieving-woman-resolves-to-liberate-ireland.

3 Gesprochen: fillie.

4 Gesprochen: kiene art ie liere.

5 Die unterschiedliche Schreibweise zum Irischen ergibt sich daraus, dass der Name Art Ó Laoghaire im irischen Titel im Genitiv ist (Airt Uí Laoghaire).

6 Gesprochen: kahrig an imme.

7 Deutsch von Jenny Farrell. Die englische Übertragung des irischen Originals ist von Thomas Kinsella, URL: https://www.irishcultureandcustoms.com/Poetry/NiChonaill.html.

8 My steadfast love!/When I saw you one day/by the market-house gable/my eye gave a look/my heart shone out/I fled with you far/from friends and home.

9 And never was sorry:/you had parlours painted/rooms decked out/the oven reddened/and loaves made up/roasts on spits/and cattle slaughtered;/I slept in duck-down/till noontime came/or later if I liked.

10 My steadfast friend!/it comes to my mind/that fine Spring day/how well your hat looked/with the drawn/gold band,/the sword silver-hilted/your fine brave hand/and menacing prance,/and the fearful tremble/of treacherous enemies./You were set to ride/your slim white-faced steed/and Saxons saluted/down to the ground,/not from good will/but by dint of fear/– though you died at their hands,/my soul’s beloved …

11 to find you there dead/by a low furze-bush/with no Pope or bishop/or clergy or priest/to read a psalm over you/but a spent old woman/who spread her cloak corner/where your blood streamed from you,/and I didn’t stop to clean it/but drank it from my palms.

12 Conrad, Kathryn (2008), »Keening the Nation: The Bean Chaointe, the Sean Bhean Bhocht, and Women’s Lament in Irish Nationalist Literature«, Carysfort Press.
Blut spielt bei den Kelten eine wichtige Rolle. Auch Cú Chulainn spricht von »Blutsfreundschaft« in seiner Totenklage und sagt »Ich gab ihm rotes Blut zu trinken«.

13 My friend and my treasure trove!/An ugly outfit for a warrior:/a coffin and a cap/on that great-hearted horseman/who fished in the rivers/and drank in the halls/with white-breasted women./My thousand confusions/I have lost the use of you./Ruin and bad cess to you,/ugly traitor Morris,/who took the man of my house/and father of my young ones/– a pair walking the house/and the third in my womb,/and I doubt that I’ll bear it.

14 Take the narrow road Eastward/where the bushes bend before you/and the stream will narrow for you/and men and women will bow/if they have their proper manners/– as I doubt they have at present…

15 Jesus Christ well knows/there’s no cap upon my skull/nor shift next to my body/nor shoe upon my foot-sole/nor furniture in my house/nor reins on the brown mare/but I’ll spend it on the law;/that I’ll go across the ocean/to argue with the King,/and if he won’t pay attention/that I’ll come back again/to the black-blooded savage/that took my treasure.

Brian Merriman
Das Mitternachtsgericht1

Brian Merriman verkündet ein neues Zeitalter

Der Dichter, Bauer und Lehrer Brian Merriman wurde um 1747, mündlicher Überlieferung zufolge unehelich, in Ennistymon geboren. Kurz nach seiner Geburt heiratete seine Mutter einen Steinmetz und zog darauf nach Lough Graney, in der Nähe von Feakle, wo Brian seine Kindheit verbrachte. Wahrscheinlich besuchte er hier eine sogenannte ›Heckenschule‹, die Anfang des 18. Jahrhunderts als Folge der antikatholischen Strafgesetze entstanden und Kindern katholischen Glaubens Schulunterricht ermöglichten. Auch der Gebrauch der irischen Sprache wurde strafrechtlich verfolgt. Heckenschulen waren demnach abgelegen, an geheim gehaltenen Orten. Er unterrichtete etwa zwanzig Jahre lang als Mathematiklehrer an verschiedenen Heckenschulen und heiratete 1787 eine Frau aus Feakle, mit der er zwei Töchter hatte. Um 1802 zog Merriman mit seiner Familie nach Limerick City, wo er bis zu seinem Tod am 27. Juli 1805 unterrichtete. Er ist auf dem Friedhof in Feakle begraben. Es sei daran erinnert, dass Merrimans Leben mit der Zeit der Revolutionen in den USA (1775–1783), Frankreich (1789) und Haiti (1791–1804) zusammenfällt, und er auch den Aufstand der United Irishmen, der Vereinigten Iren, von 1790 erlebte. Das satirische Meisterwerk, um das es hier gehen soll, dichtete er jedoch im unmittelbaren Vorfeld dieser Umwälzungen. Allein die Amerikanische Revolution hatte bereits stattgefunden. Doch lag Revolution in der Luft.

Das Mitternachtsgericht

Das berühmte, über tausend Zeilen lange, um 1780 in irischer Sprache verfasste, komisch-dramatische Gedicht, Cúirt An Mheán Oíche2 (The Midnight Court/Das Mitternachtsgericht), wurde nie von seinem Autor niedergeschrieben und wurde, wie viele irische Gedichte, in der mündlichen Tradition überliefert und bewahrt. Erst 1850 wurde es erstmals veröffentlicht. Im 20. Jahrhundert entstanden eine Reihe von Übersetzungen, von denen Frank O’Connors Übersetzung, die vielleicht populärste, 1946 von der Zensurbehörde Irlands wegen der sexuellen Freizügigkeit des Inhalts verboten wurde. Im noch weit unzüchtigeren irischen Original wurde es hingegen nie auf den Index gesetzt.

Der Prolog des Gedichts setzt mit einer offensichtlichen Parodie der seit dem späten 17. Jahrhundert in der irischsprachigen Dichtung verbreiteten Aisling3-Konvention ein: Ein Dichter hat im Halbschlaf die Vision einer überirdischen Frau (irisch: Spéirbhean4 – Himmelsfrau), die Mutter Irland verkörpert, ihr Los beklagt und ihre »Söhne« zur Rebellion gegen ausländische Tyrannei aufruft. Mit anderen Worten erwartet eine passive Frau den männlichen Befreier aus ihrer Knechtschaft. Sie selbst unternimmt nichts. Von der alten irischen Welt ist hier wenig übrig. Merriman verändert diese Konvention auf zutiefst satirische Weise.

Im ersten Teil des Gedichts erscheint dem dösenden Dichter am Ufer des Lough Greany ein Riesenweib, das ihn zum Gerichtshof der zuständigen Souveränitätsgöttin der Provinz Munster, Aoibheal5, schleppt. Wie im englischen Text steht: »Dieses Gericht ist auf einer zivilisierten Basis aufgebaut/Dem Gericht der Schwachen mit einem weiblichen Gesicht«. Hier, wie auf die gesamte Nachdichtung zutreffend, soll angemerkt sein, dass sie sehr frei ist und das Original oftmals stark abschwächt, bzw. vielfach auch wesentlich ändert.6

Nicht eines von jenen Unrechts-Gerichten ist es,
an denen Füchse über Gänse das Urteil sprechen.
Dieses Gericht haben die Feen eingesetzt,
als Kammer, da Klage erheben können
die Getretenen und die Frauen.

Die Rechte der Königin wurden verletzt,
die ihres freundlichen Volkes.
Auch die Feen sind ohne Land, ohne Freiheit,
ohne Recht, ohne Besitz, ohne Hoffnung.
Das Land liegt darnieder,
überall Unkraut und Schmutz.

Doch statt eines direkten politischen Generalangriffs geht es in dieser Verhandlung um ein spezielles Thema – die Lage irischer Frauen und Männer in diesen neuen Zeiten sowie englische Jurisprudenz und Vorherrschaft bis in die Moden hinein. Selbst in den angehörten Klagen ist das Verhältnis zwischen Frauen und Männern nicht mehr das der alten irischen Ordnung, die dem Brehon-Gesetz7 folgt, sondern eine Kombination aus Unterwerfung unter englische Herrschaft/Moden und katholischer Kontrolle. Hier geht es also um etwas grundsätzlich anderes als um die traditionelle Aisling Dichtung. Hier treten Frauen aus Fleisch und Blut auf, die die Lage Irlands auf eine ganz neue Weise beklagen.

Aoibheal führt den Vorsitz bei einem Frauengericht – es werden Beschwerden von Männern und Frauen über den traurigen Stand der sexuellen Angelegenheiten in Irland gehört, was zum Teil sehr lustig anmutet. Es handelt sich also in jeder Hinsicht um ein unkonventionelles Gericht. Unterwegs hört der Dichter, dass es bei der Verhandlung

insbesondere »wider die Männer« geht,
deren Herrschaft es dahin gebracht hat.
Verklagt werden sie
von den Frauen Irlands,
weil sie nicht heiraten wollen.

Das Land ist erschöpft, ausgesaugt,
im Elend durch Hunger und Seuchen,
durch den Hochmut des Königs.
Und keiner ist mehr bereit, für Nachwuchs zu sorgen.

Aoibheals Verfahren beruht – doppelt subversiv, da auch auf Irisch – auf dem Brehon-Gesetz und nimmt die Form einer dreiteiligen Verhandlung. Unter den Brehon-Gesetzen hatten Frauen mehr Freiheit, Unabhängigkeit und Eigentumsrechte als in anderen europäischen Gesellschaften dieser Zeit und sogar teilweise heute. Männer und Frauen hielten ihr Eigentum getrennt. Beide Partner konnten sich scheiden lassen.8 Im ersten Teil der Dichtung fordert eine junge Frau Aoibheal auf, ihren Fall zu hören. Sie beklagt, dass trotz der immer verzweifelteren Versuche, einen Ehemann durch intensiven Flirt zu erobern, die jungen Männer sie zugunsten von »ranzigen Fräulein,/alt und grau schon«, doch mit »Sparstrumpf«, übergehen. Die übrigbleibenden Männer sind nutzlos »und ihr Dinglein gibt in der Nacht/nicht mehr als eine tröpfelnde Nase.« In den vorgebrachten Klagen wird deutlich, dass das Verhältnis zwischen Frauen und Männern nicht mehr das der alten irischen Brehon-Ordnung ist. Stattdessen ist das Volk der kombinierten Macht von England und Kirche unterworfen. Die junge Frau beschreibt, wie sie sich ergebnislos nach der neuesten englischen Mode kleidet und auch abergläubischen Ritualen frönt, um ihr Ziel zu erreichen.

Ich zieh’ mich nett an, die Haube gestärkt,
Rüschen und Bänder am Kleid.
Mein Unterrock ist aus feinster Seide,
raschelnd lockt er wie frisches Gras den Bock
auf die Weide.
Auf meine Schürze habe ich
eigenhändig bunte Blumen gestickt,
als Verweis darauf, was sich darunter zu pflücken lohnt.
Auch beim Schuhwerk habe ich nicht gespart.
Es kommt vom teuersten Meister.
Ich hörte nach Mondzauber mich um.
Dreimal wusch ich im Fluss meine Höschen
zu günstiger Stunde.
Ich nahm Horn von Finger und Fuß
und streut’ es ins Feuer,
hieb mich mit Weidenruten auf meinen Hintern,
trank das Gelbe
von fauligen Eiern.
Ich kreuzigte eine Fledermaus,
selbst das brachte mir keine Freier ins Haus.

Im zweiten Teil prangert ein alter Mann zunächst das zuchtlose Benehmen der ledigen Frauen an und enthüllt dann die große Armut und den Schmutz, aus denen die erste Klägerin stammt.

Der Vater besaß keinen Penny und keinen Freund.
Ein Nichts und Niemand war er,
ein Narr wie ein grauer Stein,
ohne Sinn und Verstand, aber mit desto mehr Durst.

Glaubt mir Leute:
verkaufte man seinesgleichen
auf einem Jahrmarkt zum Lebendgewicht,
man würde für den Erlös nicht einmal ein Glas
gutes Ale bekommen.

Danach wendet er sich der Untreue seiner eigenen jungen Frau zu. Sie war bereits schwanger zum Zeitpunkt der Hochzeit. Doch erklärt er in einer unerwarteten Wendung seiner Ansprache, dass an unehelichen Kindern nichts auszusetzen sei. Er drängt Aoibheall, die Ehegesetze abzuschaffen und die Fortpflanzung auf natürliche Weise zu ermöglichen, da solche Kinder viel gesünder seien: Die freie Liebe würde zu einem neuen heroischen Zeitalter führen. Den Sohn seiner Frau führt er als Beispiel vor und fordert von der Richterin die Abschaffung der Monogamie, wenn nicht gar der Eheschließung. Leider ist diese ungeheure Herausforderung nicht in der deutschen Übertragung erhalten. Stattdessen wird in dieser für eine allgemeine Aufhebung der Klassenschranken im Verkehr der Geschlechter plädiert:

Also beschwör ich Euch, Richterin,
wollt ihr etwas tun
für die Fruchtbarkeit Irlands,
hebt die Schranken auf zwischen niedrig und hoch
wenigstens in der Liebe.
Möge die Kuhmagd sich mit dem Grafen begatten,
soll doch der Tramp bei der Gräfin liegen derweilen.
Der Kesselflicker, er flicke den Kessel der Bürgerfrau.
Verkündet das Gesetz freier Liebe,
und bald werden wir alle Söhne aufwachsen sehn,
stärker als Samson.

Im dritten Teil erwidert die nun völlig erboste junge Frau, droht ihm sogar mit Faustschlägen. Sie beleuchtet die andere Seite dieser Ehe, verspottet seine Unfähigkeit, die Bedürfnisse seiner jungen Frau zu erfüllen. Dann fragt sie: »Warum besteht nur die Kirche darauf,/dass alle Priester weiberlos bleiben?« und verkündet:

Wo Durst ist, wird er gestillt, wenn man Wasser sieht.
Meint ihr etwa, irgendein Tier würde nach Nahrung suchen
dort, wo nichts mehr wächst?
Und wer Hunger hat, der befriedigt ihn selbstverständlich,
wenn man ihm einen Teller mit köstlichen Speisen hinstellt

Warum besteht nur die Kirche darauf,
dass alle Priester weiberlos bleiben?
Der Männermangel ist eine große Plage.
Und gerade jetzt, da die Männer so rar sind wie selten zuvor,
schließt man die Besten von ihnen davon aus,
uns zu beglücken.
Die Pille ist schwer zu schlucken.
Eine wie ich kriegt keinen Mann,
derweil diese Herren stramm und stark
in vollem Saft und mit noch viel Mark im Rücken,
mit Gelüsten scharf wie das Messer vor der Rasur,

So manche Frau macht erst wieder ein frohes Gesicht,
seit ein Priester nachhalf,
als es darum ging, sie zu schwängern.

Wie rasch würde man Irland bevölkern,
fiele dieses Verbot.

Im abschließenden Teil verkündet Aoibheal das Urteil, das mehrere Verfügungen enthält, darunter, dass jeder 21-jährige Junggeselle Hiebe auf den nackten Leib erhält. Alte Männer können gefoltert und ermordet werden, und niemand müsse sich schämen, wenn sich seine junge Frau einen Liebhaber nimmt oder außereheliche Kinder bekommt. Aoibheall will damit das Brehon-Gesetz wiederherstellen, denn das bestehende Rechtssystem fördert nachweislich Unehrlichkeit und Zynismus.

Dass die Abschaffung des priesterlichen Zölibats eine reine Frage des Abwartens sei und nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, erklärt sie ebenfalls. Sie beklagt ferner, dass die Erbinnen selbstbewusster Frauen aus irischer Zeit, wie Orla, Maura and Meave (letztere ist uns bereits als von den mittelalterlichen Mönchen degradierte Medb und Souveränitätsgöttin aus dem Rinderraub bekannt), in jämmerlichem Zustand sind und verweist damit deutlich auf die weit bessere Lage der Frauen unter dem Brehon-Gesetz in frühen irischen Zeiten.

Bitter kommt es mich an,
wie Orla und Maeve, Muriel und Janet darben.
Ein Pfui auf die Männer,
welche die Frauen
verkommen lassen,
unfruchtbar,
sie unterdrücken.

Es ist sehr zu bedauern, dass die Intentionen des Originals hier zunichte gemacht werden. Muriel und Jane sind englische Namen, während im Original die großen Frauen der irischen Zeit evoziert werden und beklagt wird, dass ihre Nachkommen zu »hinterhältigen und rückgratlosen Kreaturen, und armen Almosenempfängern« verkommen sind.

Hier kehrt die irische Souveränitätsfrau deutlich zurück. Starke Frauen werden vorgestellt: Aoibheal, angewidert von der Lage der Frauen (und der Männer) in Irland, hat als einzig rechtmäßige Richterin die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit auf sich genommen. »Dieses Gericht ist auf einer zivilisierten Basis aufgebaut/Das Gericht der Schwachen mit einem weiblichen Gesicht«. Sie führt den Vorsitz in einem Gerichtsverfahren nach dem traditionellen Brehon-Gesetz. Sie erlässt das Urteil zu einer Rückkehr zu den alten Gesetzen, die der Würde der Frau mehr Achtung zollten. In diesen frühen Zeiten hatten Priester das Recht zu heiraten und es gab kein Stigma der Illegitimität. Diese rein zivile Gesetzgebung, das möglicherweise älteste erhaltene kodifizierte Rechtssystem in Westeuropa, kam bereits im Zuge der normannischen Eroberung unter Druck und wurde durch die Einführung der englischen Jurisprudenz im frühen 17. Jahrhundert völlig verboten. Im späten 17. Jahrhundert galt es als schwere Straftat, im Besitz eines alten irischen Gesetzbuches zu sein und wurde auf das Härteste bestraft. Dass diese Brehonsche Rechtsprechung also in dieser Dichtung als die einzig rechtmäßige gilt, ist von größter Bedeutung und darf nicht als Scherz abgetan werden, es handelt sich um weit mehr.

Außerdem erklärt sie dieses Jahr 1780 auf Grund ihres Urteils als den Anbruch einer neuen Zeit – samt einer neuen Zeitrechnung. Sie nennt dieses Jahr das Jahr 1. Es ist bemerkenswert, dass Brian Merriman den neuen Kalender der Französischen Revolution vorwegnimmt, der zwölf Jahre später den Aufbruch in die neue Zeit als das Jahr 0 feierte. Wieder vermittelt die Nachdichtung kaum einen Schimmer der Kraft des Originals und, was besonders bedauerlich ist, verkleinert diesen ungeheuren Aufbruch zu einer roten Anstreichung im »Frauenkalender«!

Dieses Statut, von Aevil verfügt, ist goldrichtig.
Selten habe ich ein so weises Urteil vernommen.
Der Tag, an dem es erlassen, gehört
rot angestrichen in Frauenkalendern.

Im englischen Text9 heißt es:

Die neue Gesetzgebung ist solch ein Knall,
das Jahr dieses Urteils soll nicht verfalln.
Eintausend minus hundert und zehn –
bleiben achthundertneunzig, die Zahl, die
verdoppelt ergibt das Jahr Siebzehn Achtzig
das Jahr Eins unserer neuen Geschichte.10

Es handelt sich um einen Neuanfang für alle.

Es ist frappierend, dass Das Mitternachtsgericht allgemeinhin ›nur‹ als komisch-satirische Dichtung eingestuft wird, ohne auf den historischen Kontext seiner Entstehungszeit hinzuweisen. Dieses Meisterwerk ist weit mehr als das. Der Hintergrund einer revolutionären Entstehungszeit lässt sich an dieser Dichtung deutlich klarmachen. Die Welt ist aus den Fugen, in der neu gegründeten USA wird verkündet, dass alle Menschen gleich sind und ein gleiches Recht auf Glücklichsein haben (mit Ausnahme der Sklaven und der Urbevölkerung, die ausdrücklich nicht diese Rechte zugesprochen bekamen). Plötzlich scheint alles denkbar – jeder Umsturz althergebrachter Ungerechtigkeit. Hier ist die Revolution in Hinblick auf eine Rückkehr zu der sexuellen Freizügigkeit der irischen Zeit gedacht, befreit vom Doppeljoch englischen Rechts und christlicher Zwänge. Diese grundlegende Veränderung dringt bis in die privateste Sphäre. Das Recht wird bei der Souveränitätsgöttin Aoibheal eingefordert und sie verkündet es. Das Gericht findet nicht umsonst um Mitternacht statt: Ein neuer Tag, eine neue Zeit bricht an.

Abgesehen von so offenkundigen widerständischen Aspekten wie das Abfassen eines langen satirischen Werkes in irischer Sprache und der Wiedereinsetzung Brehonscher Rechtsprechung fällt der Unterwanderung des Aisling-Genres enorme metaphorische Bedeutung zu. Bedenkt man, dass in jenem Genre die Frau, die Mutter Irland verkörperte, eines männlichen Befreiers harrte, ist hier nun mit aller Deutlichkeit gesagt, dass Irland in Gestalt der Frau sich selbst befreien kann und muss. Die Welt kann auf den Kopf gestellt werden. Das ist eine revolutionäre Aussage in einer revolutionären Zeit. Es blieben nur noch zehn Jahre bis zum antikolonialen Aufstand der United Irishmen, der auf die Unabhängigkeit Irlands abzielte. Das nimmt Brian Merriman im Subtext dieser großen Satire vorweg.

1 Deutsche Übertragung von Kirsch, Hans-Christian (1986), Das Mitternachtsgericht, Mainz: Hempel Verlag. Die veraltete, aber gute Übersetzung von Stern, Ludwig Christian (1904), Cuirt An Mheadhoin Oidhghe: Ein Komisches Epos In Vulgaririscher Sprache, wurde 2010 als Faksimile-Ausgabe neu aufgelegt: Kessinger Publishing.

2 Gesprochen: kuhrt an wjan iehe.

3 Gesprochen: aschling.

4 Gesprochen: speerwahn (SP getrennt sprechen).

5 Gesprochen: Iewal.

6 Es ist angeraten, den Text auf Englisch zu lesen – auf Grund der starken Abänderung der deutschen Version waren keine Rückübersetzungen ins Englische möglich. Es gibt viele Übersetzungen ins Englische, eine hiervon online: http://abitoblarney.com/themidnightcourt.htm.

7 Das Brehon-Gesetz ist das mittelalterliche irische Recht, das zum Abschluss der englischen Eroberung Irlands Anfang des 17. Jahrhunderts gültig war. Die Gesetze wurden erstmals im 7. Jahrhundert auf Pergament niedergeschrieben und nach wandernden Anwälten, den Brehons, benannt. Zur Zeit Elisabeth I. wurden die Brehon-Gesetze als unzüchtig und unvernünftig verboten und im Zuge der Eroberung durch englische Gesetzgebung ersetzt.

8 Hierzu auch Engels (1884), »Die Gens bei den Kelten und Deutschen« in: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, URL: http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_127.htm.

9 Es handelt sich beim englischen Text um eine spätere Übersetzung des irischen Originals, das weit unzüchtiger und radikaler ist. URL: http://abitoblarney.com/themidnightcourt.htm.

10 Deutsch von Jenny Farrell. Der englische Text lautet: This new legislation is such a blast/We have to record the year it was passed: –/Figure: one thousand less one hundred and ten/Leaves eight hundred and ninety which when/Doubled gives the year Seventeen Eighty/From which we’ll date Year One of our history.

Die Literatur der United Irishmen1

Die politische Revolution in Irland von 1798 beinhaltet nicht allein den eigentlichen Aufstand der United Irishmen, sondern auch deren literarische und theoretische Arbeit, die dem Aufstand vorausging, und die ein Teil einer internationalen »Revolution in Form von Gedanken« war. Die United Irishmen gehörten zur radikalen europäischen Aufklärung, der Zeit des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sowie der Französischen Revolution.

Sie verfochten das oberste Prinzip der unveräußerlichen Rechte, die jedem Menschen »von Geburt an« gegeben sind, wie Freiheit, Eigentum, persönliche Sicherheit. Ein zweiter Schlüsselbegriff in ihrem Denken war der Begriff der Freiheit, verbunden mit Befreiung, Emanzipation, der Abschaffung aller Unterdrückung, wozu gleichfalls die Souveränität des Volkes sowie das Recht auf Widerstand gehören.

Ausgehend vom Prinzip der Gleichheit aller Menschen, vertraten sie selbstverständlich die Rechte der Frau. So schenkten sie Mary Wollstonecrafts Antwort auf Thomas Paines Schrift The Rights of Man, A Vindication of the Rights of Woman, große Beachtung, wobei sie ebenfalls u. a. das Konzept der Politikerin förderten.

Ebenfalls integraler Bestandteil ihres Programms war selbstverständlich die volle Emanzipation der Katholiken, deren Lage sie mit allen Unterdrückten einschließlich Sklaven verglichen. Gegen Sklaverei sprachen sie sich in ihrer Presse aus, organisierten Boykotte gegen den Konsum von Tee, Rum und Zucker. In ihrem Begreifen des internationalen Zusammenhangs der Repression von Völkern wie auch Volksgruppen sowie in ihrem aktiven Kampf dagegen, waren die United Irishmen zutiefst internationalistisch und agierten gemeinsam mit Gleichgesinnten im Ausland. Innerhalb Irlands setzten sie sich ebenfalls für die kulturelle Einheit des Landes ein, zu der u. a. die Anerkennung der irischsprachigen Kultur gehörte. Zu guter Letzt gehörte zu ihrem Denken das Schlüsselkonzept des Friedens als das höchste Gut der Menschheit, wie der Northern Star 1795 schrieb: »Es sollte ein festes Axiom in der Politik sein, dass ein Krieg nicht gerechtfertigt werden kann, es sei denn, er entspringt den Prinzipien der Selbstverteidigung und nachdem alle Mittel vergeblich eingesetzt wurden, um ihn zu vermeiden.«

Der Aufstand der United Irishmen (Vereinte Iren) von 1798 war ein Kampf für den Sturz der britischen Herrschaft in Irland und die Gründung einer unabhängigen irischen Republik. Der mehrmonatige Aufstand endete mit dem Tod von Zehntausenden. Der Bund hatte zu dieser Zeit fast 300.000 eingeschworene Mitglieder. Im 17. Jahrhundert wurde in Irland die Auslöschung des irischen Gesellschaftssystems blutig durchgesetzt. Die Schlacht von Kinsale (1601/02) besiegelte das Ende der Hegemonie irischer sozialer Normen, Politik, Kultur und letztendlich auch der irischen Sprache. Nach Cromwells Invasion Irlands (1649–1653) wurde die Eroberung Irlands durch englische Kolonisierung forciert, die 1691 im Vertrag von Limerick gipfelte. Die katholische Bevölkerung wurde nun systematisch durch »Strafgesetze« verfolgt.

Kaum neunzig Jahre später führte der amerikanische Unabhängigkeitskrieg zur Bildung der so genannten Irish Volunteers (Freiwillige), die die von Irland nach Amerika entsandten britischen Truppen ersetzen sollten. Mit den Volunteers entstand ein entscheidender neuer Faktor in der irischen Politik. Der Radikalismus der 1790er Jahre begann in dieser Freiwilligenbewegung der 1780er Jahre. Sie vertrat bereits die Interessen der aufstrebenden irischen Mittelschicht gegen britische Hegemonie in Handel, Industrie sowie Politik. Sowohl die protestantische als auch die katholische Mittelschicht war von einer Regierungsbeteiligung ausgeschlossen und konnte somit nicht in die wirtschaftliche Entwicklung eingreifen. Die Volunteer-Bewegung forderte eine Parlamentsreform wie auch die Emanzipation der Katholiken. Die Französische Revolution akzelerierte die Politisierung. Die in der Bewegung aktiven Dissenter aus dem Norden Irlands traten ebenfalls für diese Forderungen ein. Sie schufen damit die Grundlage für die Gesellschaft der United Irishmen, die im November 1791 von Wolf Tone, James Napper Tandy und Thomas Russell in Belfast gegründet wurde.

Diese Gesellschaft setzte sich zunächst aus Teilen der irischen Bourgeoisie sowie bald auch aus dem aufstrebenden Proletariat zusammen. Ihre Mitglieder lehnten bewusst jedes konfessionelle Sektierertum ab. Die große Stärke dieser Bewegung bestand in ihrer Zusammensetzung aus anglo-irischen Protestanten, presbyterianischen Schotten wie auch irischen Katholiken. Ihr Ziel einer gleichberechtigten Gesellschaft aller schloss auch Frauen ein. In der Forderung nach Abschaffung der Sklaverei bewies sich ihr Internationalismus.

Der erste Koalitionskrieg, in den Britannien 1793 gegen das revolutionäre Frankreich eintrat, führte zu brutaler Unterdrückung der Opposition. Der zutiefst sektiererische Oranierorden, der die protestantische Vorherrschaft in Irland angesichts zunehmender Bestrebung nach katholischer Emanzipation verteidigte, entstand 1795. Das Kriegsrecht tat noch das seine zur Isolation der Opposition. Die Führung der United Irishmen wurde eingesperrt, die Organisation in den Untergrund gezwungen. Die Gesellschaft setzte sich nun größtenteils aus radikalem Kleinbürgertum, dem entstehenden Proletariat sowie der Bauernschaft zusammen.

Diese Mitglieder hielten am Ziel einer unabhängigen irischen Republik fest und waren nun auch bereit Gewalt einzusetzen. Waffen wurden ins Land geschmuggelt, Mitglieder militärisch geschult. Es kam zu lokalen bewaffneten Aufständen und schließlich zur landesweiten Rebellion von 1798, die alle letztlich an der Übermacht des Gegners sowie auch an Verrat scheiterten. Die Aufständischen wurden verhaftet, hingerichtet oder des Landes verwiesen.

Politischer Journalismus in der Zeit der Revolution

Die United Irishmen riefen die radikale Presse in Irland ins Leben. Sie verfügten über drei Presseorgane landesweit: den Belfaster Northern Star (Nordstern), die Dubliner Press und die Corker Harp of Erin (Harfe Irlands). Neben politischen Artikeln veröffentlichten diese Zeitungen auch satirische Geschichten, Essays, Gedichte, Lieder sowie weitere politisch-satirische literarische Schriften, die zusätzlich auch auf Flugblättern sowie in eigenen Pamphleten Verbreitung fanden.

Ein wichtiges Genre der United Irishmen waren ihre Aufsätze, allen voran die von Wolf Tone, mit ihrem zentralen Anliegen katholischer Emanzipation und Aspekte der irischen Nationalbewegung schon ab den frühen 1790er Jahren. Thomas Russell wurde nach Veröffentlichung seines Essays »Letter to the people of Ireland« (Brief and die Menschen Irlands) ohne Gerichtsverfahren eingekerkert.

Die Autoren bedienten sich viel und gern der Satire, deren Wirksamkeit gegen die herrschende Klasse sich bereits mit Swift etwa 70 Jahre zuvor bewiesen hatte. Vor allem wendete sich diese Satire gegen den britischen Premier William Pitt und den berüchtigt in Dublin geborenen Abgeordneten Edmund Burke, beispielsweise in »Mustapha’s Adoration of the sublime Sultan Pittander the Omnipotent«, in der Pitt aus der Perspektive seines ihn anbetenden Sklaven Mustapha beschrieben wird. Eine weitere Satire, in der Pitts Herz nach seinem Ableben untersucht wird, und die stark an Lears Mutmaßungen über das Herz seiner brutalen Tochter Regan erinnert, wird festgestellt, dass Pitt bis ins Innerste von Gewalt beherrscht ist. Andere Satiren nehmen Informanten, unterwürfige Priester sowie Adlige aufs Korn, wobei auch immer wieder Visionen einer besseren, gerechten und menschlichen Zukunft entwickelt werden. Swifts Gullivers Reisen bilden bei einigen Satiren deutlich den Hintergrund.

Die Lyrik schloss volkstümliche Formen ein, nicht zuletzt das Lied. Man wollte Lesern neues Selbstvertrauen geben und die Möglichkeit, über Gegner zu lachen. Balladen erzählten zumeist von Aufständen, Heldentaten, Einzelschicksalen. Deutlich politische Inhalte galten als gefährlich:

Nicht länger in der Schatten Nacht,
Wir jüngst in Ketten lagen;
Der Sonne helles Licht verlacht,
Zerstreut auch Trübsalsschwaden.
Fordert Freiheit allen!
Trotz Königsbund
Kühn unsre Rund
Bis die Tyrannen fallen.2

Viele Gedichte handeln vom Leid Einzelner, stellvertretend für die große Mehrheit des Volkes. Sie sind von Menschlichkeit wie auch sozialem Realismus geprägt.

Ihr Internationalismus richtet sich besonders gegen Sklaverei, hier »Klage des Schwarzen«:

Zitternd, nackt, verwundet, seufzend,
Auf Flügelhaus ich steh;
Mit dem armen Schwarzen fliegend
Weit vom Heimatlande geh.
(…)
Schreckenswasser schäumen um mich
Seltsam Anblick aller Seits
Eile, Lärm, Geschrei beirrn mich
Wenn ich suche Schwarzenland.
Alles, was ich seh’ erschrickt mich;
Nichts begreif ich mit Verstand:
Weiße Männer peitschen auf mich,
Weine ich fürs Schwarzenland.3

Die literarischen Schriften der United Irishmen sind Teil der internationalen und demokratischen Befreiungsliteratur. Die Ideale, für die sie kämpften, sind noch immer nicht verwirklicht.

1 Dieser Artikel fußt auf Rüdebusch, Eckhardt (1989), Irland im Zeitalter der Revolution: Politik und Publizistik der United Irishmen, 1791–1798, P. Lang, sowie auf Metscher, Thomas (1989), »Between 1789 and 1798: the ›Revolution in the Form of Thought‹ in Ireland«, in: Études irlandaises, n° 14–1, pp. 139–146.

2 Deutsch von Jenny Farrell. Im Original zitiert (Rüdebusch [1989]), S. 234. No longer lost in shades of night/Where late in chains we lay;/The sun arises, and her light/Dispels our gloom away./Demanding Freedom all!/While kings combine/We boldly join,/Nor cease till tyrants fall.

3 Deutsch von Jenny Farrell. Im Original zitiert (Rüdebusch [1989]), S. 244. Trembling, naked, wounded, sighing,/On this winged house I stand;/Which, with poor black man is flying/Far away from his own land./(…)/Fearful waters all around me;/Strange the sights on every hand;/Hurry, noise, and shouts confound me,/When I look for Negro land.//Every thing I see affrights me;/Nothing I can understand:/With their scourges, white men fight me,/If I weep for Negro land.

Ethel Voynich
Die Stechfliege – ein Roman über Revolutionäre1

Im Gedenken an Ethel Voynich anlässlich ihres 60. Todestages

Liam Mellows las diesen Roman vor seiner Hinrichtung, zusammen mit anderen Verurteilten und Genossen, die vom irischen Freistaat während des Bürgerkrieges (1922/23) inhaftiert worden waren, weil sie sich dem Vertrag widersetzten, der Irland den Status eines selbstverwaltenden Dominions innerhalb des Britischen Empire verlieh, anstatt eine unabhängige Irische Republik zu errichten. Sein Mitgefangener, Peadar O’Donnell, schrieb:

Es ist eine erstaunliche Tatsache, an die sich viele der Mountjoy-Gefangenen sicher unschwer erinnern, dass Die Stechfliege zu jener Zeit im C-Flügel sehr gelesen wurde; es ist eine Geschichte der italienischen Revolution mit einer grässlichen Hinrichtungsszene. (…) MacKelvey … mit dem Buch in der Hand … wiederholte: ›Gott, ich hoffe, sie behandeln keinen unserer Jungs so.‹ MacKelvey sollte sich am nächsten Morgen an Die Stechfliege erinnern.

Was war das für ein Buch, das seinerzeit von den Kämpfern für eine unabhängige irische Republik und von der Arbeiterbewegung in Großbritannien so viel gelesen wurde?

Dieser Revolutionsroman wurde 1897 in New York und einige Monate später, zwei Jahre nach seiner Fertigstellung, in London veröffentlicht. Er erlangte in der UdSSR und in China Kultstatus und verkaufte sich millionenfach. In der UdSSR entstanden zwei Verfilmungen, eine Stummfilmversion (1928), die weitere (1955) mit der Musik von Dmitri Schostakowitsch. Die Autorin, die in Irland geborene Ethel Voynich, war eng mit revolutionären Kreisen in London, Berlin und Russland verbunden.

Ethel Lilian Boole wurde am 11. Mai 1864 in Co. Cork als jüngste von fünf Töchtern des renommierten Mathematikers Professor George Boole und der Psychologin und Philosophin Mary Boole geboren. Ethels Vater starb kurz nach ihrer Geburt, und ihre Mutter nahm die Familie mit nach London. Ethel kehrte während ihrer Kindheit regelmäßig nach Irland zurück. Bei einem dieser Besuche in Irland las sie zum ersten Mal von Giuseppe Mazzini, dem Anführer der italienischen Risorgimento-Bewegung.

Mit 18 Jahren ging sie für drei Jahre (1882–1885) nach Berlin, um dort Musik zu studieren. Hier lernte sie russische Revolutionäre kennen und als sie nach London zurückkehrte, erlernte sie Russisch bei dem im Exil lebenden Revolutionär Stepniak (Sergej Kravchinski), der nach seiner Ermordung des Chefs der zaristischen Geheimpolizei aus Russland geflohen war. Später reiste sie nach Russland und blieb zwei Jahre lang (1887–1889) bei Stepniaks Schwägerin Preskovia Karauloff in St. Petersburg. Preskovia war Ärztin, deren Mann politischer Gefangener war. Ethel half Preskovia bei der medizinischen Versorgung verarmter Bauern. Sie gab auch Musikunterricht und befreundete sich mit Familien von politischen Gefangenen, die sie durch Preskovia kennenlernte. Nach London zurückgekehrt, lernte Ethel einen polnischen politischen Exilanten kennen, der kurz zuvor aus Sibirien geflohen war und seinen Namen zu Wilfred Michael Voynich anglisiert hatte. Er war wegen seiner Teilnahme an der polnischen Befreiungsbewegung gegen das zaristische Regime inhaftiert und nach Sibirien verbannt, von wo aus er über Umwege 1890 nach England floh. Ethel und Wilfred arbeiteten mit ­Stepniak zusammen, druckten revolutionäre Literatur und verbotene Bücher und schmuggelten sie nach Russland, darunter auch Übersetzungen der Schriften von Marx und Engels. Zusammen mit anderen Revolutionären gründeten sie den Russian Free Press Fund, und Ethel selbst unternahm eine illegale Reise nach L’vov in der Ukraine, um den Schmuggel illegaler Publikationen nach Russland zu organisieren. Zu diesen Emigrantenkreisen gehörte der russische Exilant und Agent Sigmund Rosenblum, alias Sidney Reilly, der 1925 wegen seiner Rolle bei einem Staatsstreich gegen Lenin und die UdSSR hingerichtet wurde. Einer Legende zufolge hatten er und Ethel eine Affäre in Italien.

Aus diesen Erfahrungen und diesem Freundeskreis schöpfte Voynich den Stoff des Romans. Er spielt im Italien der 1840er Jahre, zur Zeit des Volksaufstandes gegen die österreichische Fremdherrschaft, dem Risorgimento.

Die Hauptfiguren des Romans gehören Mazzinis Untergrundpartei Junges Italien an; sie sind aktiv in der nationalen Befreiungsbewegung. Eine spannende Handlung verbindet die Sympathie der Leser mit der eindeutigen Haltung der Autorin. Es ist klar, wie dieses Buch jene Leser anspricht, die sich mit Bewegungen gegen Fremdherrschaft und Unterdrückung identifizieren. »Mehrere von ihnen gehörten der Mazzini-Partei an und erstrebten nichts Geringeres als eine demokratische Republik und ein vereinigtes Italien.«2 Es ist offenkundig, warum sich die während des Bürgerkriegs in Irland Gefangenen, die ebenjenes Ziel verfolgten, mit den Figuren im Buch identifizierten.

Der Roman beschreibt die historischen Zusammenhänge und kritisiert scharf die aktive Opposition der katholischen Kirche gegen die Bewegung für ein vereintes Italien. Dieser Konflikt zwischen Italienern auf der einen Seite, die bereit sind, ihr Leben für die Freiheit zu opfern, und dem italienischen Klerus auf der anderen Seite, der sie verrät, steht im Mittelpunkt der Handlung. Die Tatsache, dass es dabei um Vater und Sohn geht, vertieft die Wirkung: ein Italiener, der widerwillig bereit ist, seinen Sohn und die Sache der Freiheit und die Zukunft Italiens um der Religion willen zu opfern. Die Autorin lässt keinen Zweifel an ihrer eigenen Haltung. Ihr erklärter Atheismus im Roman wird zweifellos dazu beigetragen haben, dass der Roman 1947 vom irischen Staat verboten wurde. Auch in der DDR gab es eine Diskussion über die Zulassung des Films aufgrund einer Beschwerde der Katholischen Kirche. Der Film wurde dennoch gezeigt.

Der Geist der Revolution ist nicht allein auf die Mitglieder der Bewegung Junges Italien beschränkt. Er findet in der gesamten Bevölkerung verdeckte Unterstützung, was in vielen Szenen des Romans zum Ausdruck kommt. Gewöhnliche Menschen helfen der Bewegung, Waffen über die Grenzen zu schmuggeln, ihnen persönlich zu Hilfe zu kommen, sogar Gefängniswärter stehen hinter ihnen. Selbst das Erschießungskommando versucht in der von MacKelvey erwähnten Szene, ihren heimlichen Helden zu schützen. Mit diesem Buch entwickelt sich also Ende des 19. Jahrhunderts ein neuer Typus im englischen Roman, einer, dessen Held und Heldin Revolutionäre und Teil einer revolutionären Befreiungsbewegung sind.

In einer Zeit großer Kämpfe für das Frauenwahlrecht geschrieben, ist die zentrale Frauengestalt, Gemma Warren, von der Bewegung hoch geachtet. Sie ist nicht allein von Voynichs eigenen Erfahrungen inspiriert, sondern auch von anderen Revolutionärinnen im Umfeld der Autorin. Gemma ist nicht nur eine emanzipierte Frau; sie ist auch eine revolutionäre Frau, die im Zentrum der Bewegung steht. Auf diese Weise geht sie über die literarischen Heldinnen des späten 19. Jahrhunderts hinaus und nimmt die proletarischen Frauen vorweg, über die Gorki schreiben wird. Voynich schreibt:

Menschen, die sie nur von ihrer politischen Tätigkeit her kannten, sahen in ihr eine hervorragend ausgebildete, disziplinierte Verschwörerin, zuverlässig, mutig, ein in jeder Beziehung wertvolles Mitglied der Partei, aber irgendwie unlebendig und unpersönlich. ›Sie ist eine geborene Verschwörerin, die es mit einem Dutzend von uns aufnehmen kann; aber weiter ist sie auch nichts‹, hatte Galli von ihr behauptet.3

Voynich bringt nicht nur die revolutionäre Gruppe als zentrale Figur in die Romanhandlung ein, sondern auch einen neuen Frauentypus als wichtigen Teil dieser Gruppe.

Angesichts Voynichs Internationalismus und Erfahrung ist es aus heutiger Sicht unverständlich, in diesem Buch rassistische Ansichten gegenüber Südamerikanern und Schwarzen zu finden. Dieser Rassismusvorwurf erstreckt sich auch auf die Darstellung nicht-weißer Frauen. Voynichs Roman hat, vermutlich aus diesem Grund, unter den heldenhaften Befreiungskämpfern weder in Kuba, in anderen lateinamerikanischen Ländern noch in Afrika viel Resonanz gefunden. Überraschenderweise wird dieser Aspekt von Kritikern nie kommentiert. Wenn der Roman die Ungnade der Kritiker erweckt, dann liegt das vielmehr an seinem für seine Zeit so ungewöhnlich offenen Atheismus oder an seiner Parteinahme für eine revolutionäre Bewegung.

Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs engagierte sich Wilfred Voynich in der Society of Friends of Russian Freedom. Er betrieb einen Laden für rare Bücher in Soho, den er auch zur Geldwäsche und zum Schmuggel revolutionärer/marxistischer Literatur nach Russland nutzte. Auch hier arbeitete Ethel häufig als Kurier für die Organisation.

Wilfreds größter Ruhm ist mit einem Renaissance-Manuskript verbunden, das er 1912 entdeckte. Später brachte er es mit nach New York, wohin er 1915 umzog und weiter im Buchgeschäft tätig war. Das Dokument wurde als ›Voynich-Manuskript‹ bekannt, das in einem Code geschrieben wurde, der bis heute nicht entschlüsselt werden konnte. Das Manuskript ist geheimnisumwoben und es besteht auch die Möglichkeit, dass es sich um einen ausgeklügelten Schwindel handelt, hergestellt von dem studierten Chemiker Voynich selbst.

Ethel begann Vollzeit zu schreiben und verfasste drei weitere Romane: Jack Raymond (1901), Olive Latham (1904) und An Interrupted Friendship (1910, Eine unterbrochene Freundschaft). Sie übersetzte auch einige Gedichte von Schewtschenko und Lermontow ins Englische, die 1911 veröffentlicht wurden.

Während des Krieges arbeitete Ethel mit den Quäkern als Sozialarbeiterin im Londoner East End und verließ Großbritannien endgültig um 1920, als sie sich Wilfred in New York anschloss. Es gibt keine weiteren Informationen über aktive politische Arbeit. Wilfred starb 1930. Ethel kehrte zur Musik zurück und veröffentlichte musikalische Werke, darunter das »Epitaph in Balladenform«, das dem irischen Revolutionär Roger Casement gewidmet war, der am 3. August 1916 im Gefängnis von Pentonville, London, gehenkt wurde. Sie übersetzte auch die Briefe Chopins ins Englische. Sie schrieb einige weitere Romane, obwohl keiner von ihnen die Qualität oder den Ruhm von Die Stechfliege erreichte.

Sowjetische Literaten entdeckten 1955, dass Ethel im Alter von 91 Jahren noch in New York lebte. Diese Nachricht erregte in der UdSSR großes Aufsehen und führte zur Zahlung von Tantiemen. Ethel lebte weiterhin ruhig mit Anne Nill zusammen, die einst Wilfreds New Yorker Buchgeschäft geleitet hatte. Ethel Voynich starb vor sechzig Jahren, am 27. Juli 1960, im Alter von 96 Jahren.

Details

Seiten
235
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (ePUB)
9783961703760
ISBN (PDF)
9783961706761
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Juli)
Schlagworte
widerstand befreiung essays literatur

Autor

  • Jenny Farrell (Autor:in)

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Titel: Widerstand und Befreiung