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Realismus – Steinbruch: »Mir san a mir«

Über Realismus in der Bildenden Kunst

von Peter Wilke (Autor:in)
©2024 69 Seiten

Zusammenfassung

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Peter Wilke

»Mir san a mir«

Über Realismus in der Bildenden Kunst1

Ein Versuch

Die Verständigung darüber, was realistische (»widerständige«) Kunst ausmacht, ist auch unter Marxisten nicht einfach, hin und wieder gar heftig umstritten. Realistische Kunst, die »zu uns« gehört, ist dabei wesentlich vielfältiger, als es auf den »ersten Blick« erscheinen mag. Es wäre leichtfertig, das einfach wegzuwischen.

Vielfältig sind andererseits die Methoden der herrschenden Kräfte, entweder realistische Kunst »einzuhegen« oder solchermaßen in den bürgerlichen Alltag zu integrieren, daß für den Kapitalismus keine »Verdauungsstörungen« zu befürchten sind. Diese Fähigkeiten sind nicht gering – es wäre leichtsinnig, sie zu unterschätzen.

In kapitalistischen Ländern, besonders in Deutschland, sorgen Kunstwissenschaft, Kunstkritik, Museen, Kunstschulen etc. und nicht zuletzt der ganz und gar auf Umsatz gepolte Kunstmarkt vor allem für Verwirrung: unter anderem indem Fachleute allen möglichen Gestaltungsformen derzeit inflationär Realismus zuschreiben, selbst wenn das aus den jeweiligen Werken nicht oder nur durch gewalttätige Interpretation herauslesbar ist. Genau besehen handelt es sich dabei um die alte, allerdings inzwischen »unzeitgemäße« bürgerliche Losung »L’art pour l’art« – also Kunst nur um der Kunst willen, oder um es präziser auszudrücken: Kunst vor allem für schon »Eingeweihte«, also für ein zahlenmäßig eher kleines, exklusives Publikum. Bleibt sich die Botschaft schon gleich, verweht so aber der Hauch des Exklusiven. Zugleich werden andererseits »fröhliche Experimente« (nichts dagegen, solange sie nicht zynisch sind!), die gewollt »populär« daherkommen, gerne gehätschelt, um die Menschen bei Laune zu halten.

Im scheinbaren Gegensatz dazu wird zumeist realistische Kunst, die nicht dem Mainstream gehorcht, von denselben Spezialisten einigermaßen aufwendig uminterpretiert (siehe Abschnitt »Dogmen oder Erkenntnis?«), oder als »altbacken« abgetan oder auf andere Weise denunziert. Wie etwa alleine deshalb, weil realistische Kunst in der DDR, in Gestalt des sozialistischen Realismus, »Staatsraison« gewesen sei. Ich komme darauf zurück.

Auch schlichtes Ignorieren widerständiger Kunst ist eine beliebte Methode (ich nenne sie »stille Zensur«); es ist etwa das, was Diether Dehm »gewaltsam wegschweigen« am Beispiel der großartigen Liedermacher Franz Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp nennt, um ihre Werke einem größeren Publikum vorzuenthalten (uz 19.05.23). Zudem, wenn möglich, weil trotz allem Gewinn bringend, werden auch realistische Kunstwerke, soweit sie nicht offensichtlich das System in Frage stellen, durch den Kunstmarkt (siehe dort) gerne »verwurstet«.

Was ist nun für realistische Kunst aus marxistischer Sicht charakteristisch? Vor allem die reflektierte Befragung der (vielfältigen) Wirklichkeit, sowie ihre adäquate ästhetische Umsetzung im Kunstwerk, die Erkenntnisse vermittelt. Auf diese allgemeine Formel können »wir uns« vielleicht rasch einigen. Aber in der Praxis wird es meist strittig: helfen abstrakte Kriterien bei dieser »Befragung«? Schon möglich – aber welche wären das? Etwa ein Begriff wie »Ästhetik der Herrschaft«, als Merkmal für nicht realistische Kunst? So immerhin der Sozialwissenschaftler und Marxist Werner Seppmann (1950–2021) in einem Beitrag der Marxistischen Blätter (5–06), dem ich schon damals im Folgeheft widersprach.

Denn bei näherem Hinsehen kommen wir da leicht ins »Schleudern«; weil es Herrschaft auch gibt, wenn der Sozialismus herrscht. Das wollen wir doch, oder etwa nicht? Was sagt uns dann dieser Begriff? Diese Dimension fehlt hier bei Seppmann, er verhandelt fast nur künstlerisch extreme Negativbeispiele der »kapitalistischen Herrschaft«, die man als »Krawallkunst« bezeichnen könnte. Wobei – selbst dann ist eine gründliche Bewertung gefragt. Schießlich sind unter den herrschenden Verhältnissen Künstlerinnen und Künstler einem Bündel von Zwängen und »Anfechtungen«, ausgeliefert (sowohl finanziell, als auch »bekannt werden wollen«), denen sie nur schwerlich entkommen, selbst wenn sie es wollten. Vor allem wenn wie hier und heute kaum, jedenfalls viel zu wenige, starke politische und soziale, gar antikapitalistische Kräfte wirksam sind, die ihnen den nötigen Rückhalt gäben. Diese zentrale Bedingung aber wird von Seppmann in nur einem Satz abgehandelt. Ansonsten werden die Künstler alleine für ihre Produktionen haftbar gemacht, wodurch der fatale Eindruck einer unproduktiven Künstlerschelte entsteht. Ja und dann gibt es bei Seppmann noch den nicht näher definierten Begriff »kulturbürokratischer Komplex«, der in dieser apodiktischen Form in der BRD nie zutraf – da muß man exakter herangehen und klarstellen, wer und wie wirklich das Sagen hat.

Neben zahlreichen bemerkenswerten Hinweisen, z. B. über Modetrends in der aktuellem Kunstszene, ist mir bei der Weiterführung dieser Kunstdiskussion in den Marxistischen Blättern im Jahre 2009, Nr. 4 (Hefttitel), 5 und 6, sowie 2010_1, einiges »aufgestoßen«: zum einen eine bisweilen fast verkrampft wirkende, humorlose Schreibe, bis hin zu gnadenloser Polemik; dann ein ziemlich fruchtloser Streit über »schön« und/oder »häßlich« in der Kunst, sowie der eklatante Mangel an Poesie, denn sie hat auch in den bildnerischen Bereichen einen unverzichtbaren Rang. Außerdem: nicht daß ich etwas gegen Polemik hätte, denn sie kann sehr wohl Erkenntnisse fördern; allerdings nur, wenn die Fakten stimmen – da halte ich mich an das Diktum von Anatoli Lunatscharski, selbst ein begnadeter Polemiker.

Also nochmal: Befragung der Wirklichkeit und möglichst viel von dem, was sie formt sowie geformt hat. Befragung in doppelter Hinsicht: einerseits durch Künstler, die selbst unter den heutigen Bedingungen realistisch arbeiten, wobei eine Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten zu beachten ist; andererseits ihrer Arbeiten durch Kunstkritik und Publikum. Vermitteln solche Werke Erkenntnisse, fördern sie humane Haltungen, wie sind sie gestaltet, haben sie »Unterhaltungswert«, etc, etc? Nicht zuletzt: wie werden sie vom hiesigen Kunstbetrieb behandelt? Ich plädiere also für eine »praktische« (realistische) Herangehensweise, die im Prinzip aus Künstler-Sicht hinschaut, argumentiert, bewertet; zumal, da Kunstproduzenten nicht entlang abstrakter Kriterien arbeiten.

»Freiheit der Kunst?«

Um konkret zu werden, möchte ich einen Vorgang im Kunstbereich des Jahres 2022 skizzieren, der ein grelles Licht darauf wirft, in welch perfider Weise im Zweifelsfall realistische Kunst zuerst denunziert und dann beseitigt werden kann. Die »Freiheit der Kunst«, obwohl im Grundgesetz beschworen, wurde in diesem Fall – schier hysterisch aufgeladen – der Zensur geopfert, wenn auch notgedrungen differenzierter als das noch im 19. Jahrhundert der Fall war. Das mußten im gloriosen Jahr einer merkwürdigen »Zeitenwende« die Macher der »documenta-fifteen« erleben. Was war passiert?

Die documenta-Leitung hatte die Ausführung der international namhaften Schau, mit der sich Deutschland so gerne schmückt (»Weltkunst«), einem indonesischen Team übertragen, um Kunst aus dem »globalen Süden« – bisher sträflich vernachlässigt – einem internationalen Publikum zu präsentieren. Dieses documenta-Team wiederum hatte neben vielen anderen Künstlerinnen und Künstlern das indonesische Künstler-Kollektiv Taring Padi mit seinem »Banner«, einer sehr großen Bildwand, betitelt »People’s Justice«, also »Gerechtigkeit für das Volk« (von 2003), eingeladen. Das Banner war seit fast 20 Jahren in einer Reihe von Städten – u. a. in Paris – und auf mehreren Kontinenten gezeigt und nie zensiert worden. Es setzt sich erkennbar teils rabiat und mittels »visuellen Vokabeln« wie die Künstler es selbst bezeichnen, etwa auch karikaturhaften Elementen, mit dem brutalen Regime des über drei Jahrzehnte regierenden Suharto (bis 1998) auseinander, in dem viele hunderttausende Menschen ermordet wurden (MBl. 2_23, S. 99 ff.).

Taring Padi leistet mit seinem Banner zweierlei: erstens befördert es ein neues, demokratisches Selbstverständnis der indonesischen Bevölkerung, zweitens – indem sie das Banner international präsentieren, wird deutlich, daß das blutige Regime Suharto nicht nur ein innenpolitisches Thema war und ist. Diese Umstände bezeugen, daß es sich um ein Werk handelt, das sich aufklärend und konkret mit einer finsteren Epoche Indonesiens auseinandersetzt.

Zudem ist die Bundesrepublik auch direkt betroffen, wie der SPD-Politiker Hans Eichel in einer hr-Dokumentation zur Auseinandersetzung um das Banner (19.01.2023) betonte: eigentlich sei eine Entschuldigung der Bundesrepublik bei den Menschen in Indonesien angebracht, da die BRD das Suharto-Regime einst mit Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe massiv unterstützte.

Doch kaum war das Bild in Kassel enthüllt, wurde sofort auf breiter Front medial Stimmung gemacht: es sei antisemitisch und deshalb zu beseitigen. Aufhänger waren für die »Scharfrichter« Details in dem riesigen Bild: die knüppelnden Büttel des Diktators und des Kapitals haben auf ihren Helmen Namen von Geheimdiensten – auch (unter anderen) des israelischen Mossad; die Büttel sind als Tiergestalten, entsprechend indonesischer Tradition (Taring Padi), dargestellt. Der »Mossad-Büttel« trägt am Halstuch einen Davidstern und ein Bonze mit scharfkantig blitzenden Zähnen im Hintergrund zeigt jüdische Merkmale.

Nun sind – freundlich ausgedrückt – ungesetzliche Methoden von Geheimdiensten hinlänglich bekannt. Deshalb ist sinnigerweise auf weiteren Helmen der Schläger etwa zu lesen »007« für Großbritannien, »KGB« für Russland, »CIA« für die USA, usw. Auffallend, daß dieser Umstand von denen, die hysterisch sofort das gesamte realistische Werk als antisemitisch (nicht etwa als »antiamerikanisch«!) bezeichneten, offenbar bewußt nicht thematisiert wurde, denn das könnte ja »eine deutsche Debatte« stören, wie ein kundiger Kommentator meint. Wie das?

»Was ist denn an diesem Antisemitismus, der ja in diesem Bild nicht so eklatant ist, dass er die Deutschen immer so in Aufwallung bringt?«, fragt Moshe Zuckermann, israelisch-deutscher Soziologe und Historiker in einem Online-Interview. Und er fragt weiter, weshalb nicht allgemein über Rassismus oder etwa über ethnisch Unterprivilegierte und Verfolgte gesprochen wird. Und insistiert: »Warum wird an dem Bild auch nicht diskutiert, was es eigentlich aussagen will, dass eine Welt dem Kolonialismus und Imperialismus ausgesetzt war?« Ob nun gut oder schlecht dargestellt, so Zuckermann, rechtfertige nicht, das Bild auf »Antisemitismus« zu reduzieren. »Daß sie (die Künstler, PW) damit umgegangen sind, wie sie umgegangen sind, ist keine Frage, die für mich in irgendeiner Weise die Zensur, die dann sofort eingesetzt hat, rechtfertigt«, betont Zuckermann (uz v. 1. Juli 22).

Es dürfen also kunstfeindliche politische Gründe für die rasche Beseitigung des gesamten Werkes angenommen werden, die mit Antisemitismus nur entfernt zu tun haben; der wird hier als Vorwand mißbraucht: da kommen durchaus problematische Details, die zudem selektiv herausgepickt werden, gerade recht, um zu zensieren. Die documenta-Leitung hat versagt, indem sie dem sehr massiven politisch-medialen Druck, der schier täglich zu registrieren war, umgehend folgte. Frau Roth (Grüne) hat als Staatsministerin für Kultur versagt, indem sie – Freiheit der Kunst hin oder her – ergebenst rasch einknickte. Die Besucher der documenta wurden betrogen, indem sie von politischen und medialen »Meinungsmachern« bevormundet wurden, statt selbst die Möglichkeit zu haben, sich ein Urteil zu bilden: etwa – wie in dem Bild gezeigt – über eine langjährige Komplizenschaft des Wertewestens mit einem blutrünstigen Diktator. Wenn schon ist das der eigentliche documenta-Skandal im »Wendejahr« 2022!

Nachtrag: die künstlerische, also formale Qualität des Banners hat mich nur teilweise überzeugt, was andererseits seinen realistischen Gehalt nicht etwa zunichte macht; weitere Diskussionen darüber scheinen angebracht, wozu das Banner allerdings wieder aufzurichten wäre und man die Künstler an der Debatte beteiligen müßte! Dies bislang ein eklatantes Versäumnis.

Auffallend ist andererseits, daß die Frage der künstlerischen Qualität in der aufgeheizten Debatte keine Rolle spielte. Denn in ähnlichen Fällen stehen bürgerliche Kunstexperten gerne »Gewehr bei Fuß«, um ein Kunstwerk »ästhetisch« niederzumachen; doch hier ließen sie ihre Pfeile im Köcher – den Vorwurf »Antisemitismus« hätten sie eh nicht toppen können, also warum Zeit und Kraft verschwenden?

Hiermit widerspreche ich auch dem namhaften Kunsttheoretiker Bazon Brock. Er beklagt laut einem nd-Artikel vom 25./26.06.22 den Einzug des »Kulturalismus« in die Kasseler documenta. Was steckt hinter dieser kryptischen Aussage? Der Autor des nd-Artikels meint dazu, Brock kritisiere, wie im Geiste »kultureller Kollektividentitäten der Gehalt von Kunst als Ausdruck und Einspruch des Individuums« zerstört werde. Und er ergänzt: »Vom Kulturalismus ist es Brock zufolge dann nur ein Katzensprung zum Antisemitismus«. Falls der nd-Autor nicht schummelt, immerhin ist sein Artikel von Haß auf das realistische Banner »People’s Justice« der Künstlergruppe Taring Padi geprägt, also falls er Brock richtig wiedergibt, beginne ich, an Brock, den ich sonst wegen seiner Sachkunde schätze, selbst zu zweifeln. Warum? Wenn er wirklich behauptet, Künstlerkollektive zerstörten nicht nur den Gehalt von (realistischer?) Kunst, sondern wären auch potentielle Antisemiten, kann ich nur sagen: in dieser Allgemeinheit ist das kurzschlüssiger Unsinn! Wobei. Wenn es denn so ist, hat sich Bazon Brock, entgegen eigenen Grund-Sätzen, von dem »Antisemitismus-Hype« gegen die documenta einschüchtern lassen.

Kunst, ob realistisch oder nicht, ist so oder so »politisch«, weil immer auch an der Prägung der Gesellschaft teilhabend. Und: ohne Künstlerkollektive fehlten uns heute zahlreiche, über viele Jahrhunderte entstandene großartige, meist realistische Kunstwerke. Was also spräche heute gegen Künstler-Kollektive? Kurzum: der Begriff »Kulturalismus« denunziert offenbar Kunst und Künstler, die sich bildnerisch oder in Aktionen etc. erkennbar kritisch zur herrschenden Politik äußern. Das wird hier vordergründig Künstler-Kollektiven angehängt, trifft aber alle fortschrittlichen Künstler.

Kunst, die sich explizit zu Vorgängen kritisch-politisch und in der Regel realistisch äußert, ist auf der documenta nichts Neues, allerdings auch schon seit einiger Zeit »in der Kritik« seitens derer, die sich vor allem »ungestört« gute Geschäfte mit Werken von aktuellen und ehemaligen documenta-Teilnehmern versprechen. Je weniger die documenta in dieses Kunstmarkt-Schema paßt, desto lauter werden die Stimmen »so kann es nicht weitergehen«. Siehe dazu auch Ulrich Schneider (Kassel), Historiker und Generalsekretär der F. I. R. (Internationale Antifaschisten) in Marxistische Blätter 4_2022.

»Zwei Kulturen«

Lenin hat 1913 zur Frage der Kultur zweierlei herausgearbeitet. Erstens daß es »in jeder nationalen Kultur … Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur« gibt und »seien es auch unterentwickelte«. Und zweitens: »In jeder Nation gibt es aber auch eine bürgerliche Kultur, und zwar nicht nur in Form von Elementen, sondern als herrschende Kultur« (vgl. H. H. Holz, uz 16.05.2008). Und letztere ist heute im Kunstbereich bei uns zweifellos prägend, wenn auch die »beiden Kulturen« nicht durch eine starre Grenze voneinander getrennt sind – da spielen jeweils die konkreten gesellschaftlichen Machtverhältnisse eine zentrale Rolle. Wie also wirken sich die hiesigen Bedingungen auf die »zwei Kulturen« aus?

Zunächst zur »herrschenden bürgerlichen«. Da möchte ich vorab auf der umfassenden Losung der DKP bestehen: »Kultur ist wie der ganze Mensch lebt«; denn diese Feststellung, die alle Lebensbereiche umfaßt, gilt – unabhängig von deren Charakter – für jede Gesellschaftsordnung. Die verschiedenen Künste sind jeweils integraler Bestandteil der Kultur. Welche konkrete Ausprägung und welches Gewicht sie jedoch darin haben, hängt von meist sehr unterschiedlichen, aktuellen, territorialen und historischen Faktoren ab.

In unserer Kunstlandschaft sind seit einigen Jahrzehnten vor allem rasch wechselnde und zugleich hochgelobte Modetrends sowie der sehr einflußreiche, wenn auch etwas »scheue« bürgerliche Kunstmarkt prägend. Die ideologischen Vertreter von Modetrends und Kunstmarkt in Publizistik und Politik sind zwar im Detail öfter unterschiedlicher Meinung, im Mainstream dagegen verdächtig konform – sie sind sich ihres Auftrages bewußt, tun sich auch gegenseitig nicht wirklich weh.

Einschlägiges Beispiel dafür ist der oben skizzierte Fall »documenta fifteen«. Wobei die »offene Zensur« – zumindest auf »höchster Ebene« – die seltene Ausnahme ist, weil sie keinen guten Eindruck macht, zuviel Aufwand erfordert, sowie in der Regel auch unliebsamen Widerspruch auslöst. Die Methoden sind feiner, raffinierter, gebärden sich vornehmlich »ganz demokratisch« (Meinungsfreiheit), selbst wenn – wie ein noch gar nicht so alter historischer Fall belegt – dabei die Meinungsfreiheit zur Verunglimpfung mißbraucht wird.

In der frühen Bundesrepublik verbindet sich mit der damals hochgelobten abstrakten Kunst ein übler Vorgang, der zeigt, wie »der Hase läuft«. Das Beispiel charakterisiert dabei eine der perfiden Methoden des Kunstbetriebs bis heute, wenn auch seit langem nicht mehr auf abstrakte Kunst beschränkt.

Da ist zum einen die 1951 erfolgte Gründung des Kulturkreises des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie). Dessen erster Vorsitzender war der Chef des Haniel-Konzerns Hermann Reusch, vormals Hitler treu ergeben, nach dem Krieg in Jugoslawien zum Kriegsverbrecher erklärt. Zum anderen der »Hofer-Streit«, von dem heute nur noch Wenige etwas wissen möchten. Ein Drittes folgte daraus.

Der BDI-Kulturkreis war bemüht, mit »freundlicher« Unterstützung der damals tonangebenden Kunstkritik, sich von den faschistischen Verbrechen, an denen namhafte Großkapitalisten beteiligt waren, mithilfe von Kunst und Künstlern »reinzuwaschen«. Im Ausstellungskatalog 1952 träumte der Kulturkreis noch von einer beschönigenden, gegenständlichen (»naturalistischen«) Kunst, die die Arbeitswelt verklärend in seinem Sinne darstellt. Doch das änderte sich rasch: figurative Kunst, so die damals maßgeblichen Kritiker, ähnele zu sehr der Nazi-Kunst, außerdem galt es, sich von der Kunst in der jungen DDR abzugrenzen. Also wurde konsequent auf abstrakte Kunst gesetzt, zu jener Zeit gepriesen als »Symbol westlicher Freiheit«. Um Schlagworte war man nie verlegen.

Damit hat auch der Streit zwischen dem weithin anerkannten realistischen Maler Carl Hofer und dem damaligen »Kunstpapst« Will Grohmann zu tun. Während Hofer nach dem großen Krieg als Direktor der Kunsthochschule Berlin (seit 1945) auch abstrakte Künstler förderte, sie aber zugleich von seinem Standpunkt aus kritisierte, polemisierte Grohmann gegen Hofer auf schäbigste Weise. Das war 1955 und der »Siegeszug« der Abstrakten quasi schon vollzogen, aber die Autorität Hofers, der einmal bemerkte, er habe auch abstrakt gemalt und festgestellt, daß dies eine Sackgasse sei, war »Papst« Grohmann ein Dorn im Auge, störte enorm das von ihm einträglich betriebene Geschäft mit Kunsthandel, Verlagen, Teilen der Industrie und Publizistik. Ausgang der Fehde: der 77-jährige Hofer erlitt 1955 einen tödlichen Herzinfarkt. Fazit: »Eine große Zahl bildender Künstler, die vorher noch gezögert hatten, wechselten ihren Stil …« – dies das Dritte. (Siegfried Schenkel, Peter Wilke zu Kulturkreis des BDI, in: Arbeitstagung der DKP zu Fragen der Bildenden Kunst 1973, kürbiskern, tendenzen). Kurzum: ein zum Dogma geronnenes Kunst-Diktat mit bitteren Folgen!

Kunstmarkt oder Realismus?

Während bis Ende der 1960er Jahre »Kunstpäpste« wie Grohmann die Kunstszene beherrschten, wandelte sich das etwa im Laufe eines Jahrzehnts sozusagen parallel mit der »Machtübernahme« des Neoliberalismus und dessen Propagierung des »freien Marktes«: obwohl etwas scheu in Sachen Öffentlichkeit, dafür aber äußerst effektiv, übernahm der Kunstmarkt das Szepter. Er entscheidet letztlich, wer im Kunstbetrieb »geadelt« wird und wer nicht: maßgeblich ist dabei, welche Namen etc. das meiste Geld bringen. Nach und nach degradierte das Kunstkritiker zu überwiegend »nützlichen Zuarbeitern«, die vor allem für Hinweise auf gut zu vermarktende Leute, auch auf »neue, frische Künstlerware«, sowie die »fachkundige« Kommentierung von profitablen Versteigerungen zuständig sind. Das ist das Eine. Andererseits sollen sie sich möglichst aus dem spekulativen Sumpf des großen Geschäfts mit Kunst heraushalten. Einige Hinweise mögen das Gesagte präzisieren.

Einer der mit »Fotorealismus«, was vor Jahrzehnten sehr in Mode war, im Kunstmarkt ganz nach oben kam, ist der Maler Gerhard Richter. Obwohl Richter heute ziemlich anders arbeitet, gehört er zu den lebenden Künstlern, deren Werke auf dem internationalen Kunstmarkt sehr hohe Preise erzielen. Seine fotorealistischen Arbeiten, etwa den bekannten »Düsenjäger«, 2007 in New York für 7,7 Mill. Euro versteigert (NRZ 6.12.2007), habe ich früher gerne mal als »kapitalistischen Realismus« glossiert. Indes: erstens der Maler kann was, zweitens kam er schon früh aus der DDR, drittens kritisierte er vor Jahren anläßlich einer Ausstellung den ihm wohl gesonnenen Kunstmarkt: »Es geht nur noch um Geld und nicht mehr um die Kunst als solche« und sagte, er selbst würde die Preise seiner eigenen Bilder keinesfalls bezahlen (nd 19./20.01.2008). Letzteres hat ihn mir nahezu sympathisch gemacht.

Denn das Geschehen auf dem Kunstmarkt hat mit dem realen Wert von Kunstwerken, wie immer der nachvollziehbar zu ermitteln ist, nichts zu tun. Dieser Markt ist heute nur mit irren Spekulationen an der Börse vergleichbar. So ging beispielsweise im Frühjahr 2022 Warhols (eher kleinformatiges) poppiges Porträt »Marilyn« für schlappe 185 Millionen Euro »über die Theke«. Trotzdem spekulieren finanziell potente Käufer jeweils auf weitere »Wertsteigerungen«, was zwar bekanntlich auch schiefgehen kann – aber das macht ja unter anderem, vorausgesetzt man hat das nötige Kleingeld, den Reiz des Spekulierens aus. Dabei kommen auch die eingangs erwähnten Modetrends, denen oft zu Unrecht Realismus bescheinigt wird, gerade recht.

Freilich werden auf diesem Markt – wie schon angedeutet – auch realistische Werke verhökert, doch deren realistische Qualität zählt dabei, zugespitzt gesagt, gleich Null – »es geht nur noch um Geld«, wie Richter trefflich bemerkte. Was dagegen zählt sind Namen der Künstler (falls schon tot: umso profitträchtiger) und »gesicherte Originale«.

Kunst wird dadurch doppelt »entwertet«. Zum einen gerinnt sie zum bloßen Spekulations- Objekt, zum anderen wird sie (in aller Regel), weil sündhaft teuer, in »sicheren Safes« versenkt, oder nur einem »erlauchten Kreis« stolz vorgeführt und so der eigentlichen Öffentlichkeit entzogen, was sie flugs zur »Unkunst« macht, denn Kunst »lebt« letztlich durch das Publikum. Museen und andere Aussteller oder Sammler können bei diesem Poker finanziell nicht mithalten. Insofern birgt der bürgerliche Kunstmarkt ein enormes Vernichtungspotential für die Kunstlandschaft insgesamt, nicht nur für realistische Kunst, wie am Beispiel Hofer skizziert.

Eine markante Erscheinung entblößt schließlich den wahren Kern des Kunstmarktes: gemeint sind Fälschungen (genauer gesagt: »Erfindungen«) von Gemälden, Plastiken, Grafiken, Zeichnungen etc, von namhaften »alten« oder »neueren« Künstlern, deren Werke dafür bekannt sind, sehr hohe Markt-Preise zu erzielen. Werden solche Werke als Fälschungen enttarnt, sind ihre absurden Preise allerdings sofort futsch und die Werke werden zumeist verpönt, selbst wenn sie von Originalen der tatsächlichen Meisterhand qualitativ nicht zu unterscheiden sind. Schwerwiegende Folge: ob es sich dabei um realistische, also »sprechende« Werke handelt oder nicht, ist völlig nebensächlich, sie geraten allesamt ins Zwielicht des bürgerlichen Kunstmarktes: seine finanzgetriebene Orientierung auf Künstlername und Original, die parallel zum wesensgleichen Kapitalismus aufkam, beherrscht, wie angedeutet, die gesamte Szene.

Details

Seiten
69
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (ePUB)
9783961703791
ISBN (PDF)
9783961706792
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Juli)
Schlagworte
realismus steinbruch über bildenden kunst

Autor

  • Peter Wilke (Autor:in)

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Titel: Realismus – Steinbruch: »Mir san a mir«