Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Wer sich heute auch als junger Mensch mal aus marxistischer Sicht mit der Liebe und Erich Fromms Theorie derselben auseinandersetzen möchte, wird nicht auf Anhieb an Beate Landefeld als Autorin denken. Aber im Archiv der Marxistischen Blättern1 einen fundierten, streitbaren Artikel dazu finden, der auch aktuell an Orientierungspotenzial nichts verloren hat. Gleiches gilt für andere Themen, mit denen sich Beate Landefeld in früheren Jahren als Autorin der Marxistischen Blätter ab 1979 befasst hat: Jugendbewegung und »alternative Lebensformen«, »soziale Verteidigung«, »Neofeminismus«, »Frauenbilder in Frauenzeitschriften« oder »Meinungspluralismus und Kommunistische Partei« Auch aus zeitlicher Distanz lohnt es sich noch, diese Artikel zu lesen, die wir aus Anlass des 80. Geburtstages von Beate Landefeld in diesen Sammelband aufgenommen haben. Als Geschenk für sie, für ihre ›Community‹ und Nachgeborene.
Dieses »Best of Beate« umfasst alle ihre Artikel aus den Marxistischen Blättern, – die jüngsten am Anfang, die älteren zum Schluss. Eine Auswahl fiel schwer: Weil Beate Landefeld keine extrovertierte Vielschreiberin ist, – zumal ihre monatliche UZ-Kolumne, ihr eigener Blog und ihr Facebook-Freundeskreis seit Jahren ihre volle Aufmerksamkeit genießen. Hier wie dort zeigt sich, dass sie einen Sinn dafür hat, relevante (!) Fragestellungen konkret (!) aufzugreifen und zum richtigen Zeitpunkt (!) kompetent (!) zu bearbeiten, will heißen: vor dem Schreiben viel zu lesen und zu durchdenken. Das zeichnet die Qualität ihrer Beiträge aus, – neben ihrer Fähigkeit, eine wissenschaftsbasierte Weltsicht besonders für Nicht-Akademiker:innen verständlich rüberzubringen. Hier zeigen sich Spuren ihrer Herkunft und Sozialisation – nicht zuletzt ihrer Zusammenarbeit mit Robert Steigerwald, Willi Gerns und Kurt Steinhaus im Herausgeberkreis der Marxistischen Blätter ab 1986 und in der Abteilung »Marxistische Theorie und Bildung« des Parteivorstandes der DKP bis 1989/90. Sie hatte das Zeug, deren Nachfolgerin zu werden.
Beate Landefeld, Jahrgang 1944, das älteste von vier Kindern einer hessischen Bauernfamilie entzog sich bei Kälte und Regen gerne harter Feldarbeit und »täuschte Hausaufgaben vor«, wie sie selbst schreibt. »Während die anderen schufteten, las ich alles, was ich zuhause fand, die Landwirtschaftszeitung, Kitsch- und Schundromane meiner Oma, aber auch ein Dutzend Reclam-Heftchen mit Dramen von Kleist, Goethe, Schiller und anderen Klassikern, die mein Vater als Soldat irgendwo aus einem ausgebombten Haus mitgenommen hatte.« (Mit den »Klassikern« der kommunistischen Bewegung befasste sie sich dann intensiv 1980 im Studienjahr an der internationalen Moskauer Lenin-Schule.)
Wie aus diesem wissensdurstigen und lesehungrigen Kind über die Berufsausbildung als Hotelfachfrau, das Abendgymnasium, das Studium der Soziologie und Literaturwissenschaft, die Aktivität in der Jugend- und Studentenbewegung der 1960er/1970er Jahre die Vorsitzende des MSB-Spartakus, eine überzeugte Marxistin und diskussionsfreudige Kommunistin wurde, die auch nach der Zäsur von 1989/90 und dem damit verbundenen Bruch in der eigenen Biografie im anhaltenden gesellschaftlichen Gegenwind bei der Stange bzw. der roten Fahne blieb, kann man in ihrem Selbstzeugnis am Ende dieses Buches nachlesen, detailliert und schnörkellos. So wie auch ihre Artikel sind.
In diesem Selbstzeugnis werden viele ihrer Generation sich und eigene Entwicklungsetappen prototypisch wiederfinden. Und die Nachgeborenen bekommen einen lebendigen Einblick in eine andere Zeit und den Lebensweg einer kämpferischen Persönlichkeit, die sich als Intellektuelle nicht erst der arbeitenden Klasse annähern musste, weil sie aus ihr kommt und aus ihr heraus zur Intellektuellen wurde. Solche Lebensläufe waren im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat DDR der Normalfall, – in der kapitalistischen BRD nur in einem kurzen Zeitfenster möglich. Welchen Stellenwert die Teilnahme an den Kämpfen der arbeitenden Klasse für eine auf Emanzipation abzielende Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen hat, kann man in dem Beitrag »Klassenkampf und Persönlichkeitsentwicklung« nachlesen, mit dem Beate Landefeld ihre Publikationstätigkeit in den Marxistischen Blättern begann und mit dem dieses Buch endet.
Selbst, wer Beate Landefeld lange kennt, mit ihr zusammengearbeitet hat oder sie bei einem Vortrag erleben durfte, wird beim Lesen noch die eine oder andere überraschende Facette ihrer Persönlichkeit und ihres Wirkens als Autorin und Mitherausgeberin der Marxistischen Blätter entdecken. Aber vor allem viel von der Welt erkennen, in der wir leben und die es gemeinsam zu verändern gilt.
Lothar Geisler/ Herbert Lederer
im Namen des Herausgeberkreises der Marxistischen Blätter2
2 Ein großer Dank geht an den Kreisvorstand der DKP-Recklinghausen, der dieses Buch mit einem Zuschuss ermöglicht hat.
Deutsche Spaltung und Europastrategie des deutschen Kapitals
Marxistische Blätter 1_2024, S. 59–66
Kapital muss expandieren, um in der Konkurrenz zu bestehen. Nationale Grenzen wurden dabei von Beginn an überschritten. Englands Rolle als Großmacht beruhte auf seinen Kolonien. Schon 1841, Jahrzehnte vor der Reichsgründung, beschäftigte sich Friedrich List, der erste bedeutende Ökonom des deutschen Bürgertums, mit der »Mitteleuropaidee«. Ausgehend von der geografischen Lage und Größe Deutschlands, bildet sie bis heute den Kern der Europastrategien des deutschen Kapitals. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass Wirtschaftsgroßräume günstigere ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten bieten als kleine Länder.
1. Traditionen deutscher Europastrategie
Um den Abstand zum ökonomisch führenden England zu verringern, empfahl List, Holland mitsamt seinen Kolonien »zum Anschluss an den Zollverein zu zwingen«.1 Anzustreben sei eine »Continental-Allianz«, in der später auch England gegen die künftige »amerikanische Übermacht« Schutz suchen könne. Auch riet List zur Steuerung der deutschen Auswanderung: »[W]ir haben Hinterland (blackwoods) so gut wie die Amerikaner – die Länder an der untern Donau und am Schwarzen Meer – die ganze Türkei – der ganze Südosten jenseits Ungarn ist unser Hinterland.«2 Statt nach Nordamerika auszuwandern, sei es sinnvoller, wenn deutsche Auswanderer »in Brüderschaft mit Ungarn« Südosteuropa bis zum Schwarzen Meer kolonisierten.
1904 gründeten Volkswirte, Industrielle und Verbände den »Mitteleuropäischen Wirtschaftstag« mit Filialen in Österreich und Ungarn. Neben diese eher »liberale« Tradition bürgerlicher Europastrategien trat im Übergang zum Monopolkapitalismus eine reaktionäre, sozialdarwinistische, nach innen und außen aggressivere Linie, gefördert von Kreisen der Schwerindustrie und des Junkertums. Ihre Ideologen sammelten sich im Alldeutschen Verband (1891–1939). Ziele waren deutsche Weltmachtgeltung, der Anschluss deutscher Teile Österreichs und der Schweiz ans Reich und Kolonialbesitz. Militarismus, Chauvinismus, Antisemitismus, Rassismus wurden gefördert.
Nach Beginn des ersten Weltkriegs griffen Großeigentümer und Konzernvertreter beider Richtungen rege in die Kriegszieldiskussion ein, mit Denkschriften, deren Inhalte zum Teil in Reichskanzler Bethmann-Hollwegs »September-Programm« eingingen.3 Der Schwerindustrie ging es dabei primär um die Eroberung lothringischer und französischer Eisenerzgebiete. Die »Mitteleuropäer« legten besonderen Wert auf die Südostexpansion. Einer von ihnen, Paul Rohrbach, empfahl, das Russische Reich in seine »natürlichen, geschichtlichen und ethnischen Bestandteile zu zerlegen« (»Orangentheorie«). Im Kriegsverlauf verschmolzen die Ziele beider Gruppen und harmonisierten umso mehr miteinander, »je größer die Siegesaussichten erschienen.«4
Kriegsniederlage und Novemberrevolution führten im staatsmonopolistischen Machtkartell zur Dominanz der »liberalen« Variante imperialistischer Politik. Ihre Träger waren die »neuen« Industrien der Elektro- und Chemiebranche. Innenpolitisch setzten sie auf Einbeziehung der SPD in die Regierung. 1931 kam es unter Kanzler Brüning zur Zollunion mit Österreich. Gustav Stolper, prominenter »Mitteleuropäer« aus Österreich, enger Freund von Theodor Heuss und Kurt Riezler, lobte sie enthusiastisch als »Aufrollung des herrschenden europäischen Systems von der ökonomischen Seite her.«5 Frankreich, das den Anschluss Österreichs und eine Hegemonierolle Deutschlands in Mitteleuropa fürchtete, brachte die Zollunion zu Fall.
Hitlers Machtübernahme billigten beide Gruppen. Im Machtkartell wurde nach 1933 die Gruppe der Schwerindustriellen und Großagrarier dominant. 1936 gewann, angesichts eines Roh- und Werkstoffmangels in der Rüstungsproduktion, die Gruppe der Chemieindustrie erneut die Oberhand.6 Nach Kriegsbeginn bedienten sich beide Kapitalgruppen im Zuge der »Arisierungen« in annektierten und besetzten Ländern. Wie im ersten Weltkrieg schmolzen ihre Kriegszieldifferenzen in Phasen militärischer Erfolge dahin. Zudem beschleunigte der Faschismus ihre Verflechtung untereinander.7 Die nunmehr forcierte »Großraumpolitik« schloss, über die traditionelle Südostrichtung hinaus, die »Germanisierung« von Gebieten und Versklavung von Völkern der Sowjetunion bis zum Ural ein.8
Als sich 1944 die deutsche Kriegsniederlage abzeichnete, gingen Versuche, mit den Westmächten zu einem Separatfrieden zu kommen, noch einmal von den »neuen Industrien« aus, im Vorgriff auf die dann die Nachkriegszeit prägenden Europastrategien der gesamten deutschen Monopolbourgeoisie. Sie setzte nach 1945 auf die gemeinsame Frontstellung mit den Eliten der Westmächte gegen die UdSSR. An die Idee des europäischen Wirtschaftsgroßraums ließ sich dabei nahezu nahtlos anknüpfen. Das Beispiel des Aufsichtsratsvorsitzenden der (zur IG Farben gehörenden) Donau-Chemie Richard Riedl zeigt den Formwechsel, dem die Europaidee dabei unterlag. Riedl verfasste 1943 die Denkschrift »Wege zur Entbolschewisierung und Entrussifizierung des Ostraums«. 1944 schrieb er die Denkschrift »Wege nach Europa«. In ihr warb er für ein freiwilliges Wirtschaftsbündnis europäischer Staaten mit gemeinsamer »Europabank« und einem gemeinsamen »Europagulden«.9
Westintegration und Restauration Hand in Hand
Die Niederlage Nazideutschlands veränderte die internationalen Kräfteverhältnisse tiefgehend. Die USA etablierten sich als stärkste Macht des Kapitalismus. Im Befreiungskampf der europäischen Völker, dessen Hauptlast die UdSSR trug, waren überall antifaschistische Kräfte und kommunistische Parteien erstarkt. Sie leiteten in vielen Ländern revolutionäre Umwälzungen ein. Deutschland wurde in vier Besatzungszonen geteilt. Die Anti-Hitler-Koalition hatte sich 1945 in Potsdam auf die Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Demokratisierung und Dezentralisierung ökonomischer und politischer Macht im Zuge der Neuordnung Deutschlands geeinigt. Das entsprach der Stimmung der Völker. In der deutschen Bourgeoisie löste es Panik aus.
Der 1933 nach New York emigrierte »Mitteleuropäer« Gustav Stolper klagte, die amerikanische Besatzungsmacht halte 1947 »noch Tausende von Menschen gefangen, deren einziges bewiesenes Verbrechen war, dass sie leitende Stellungen im deutschen Industrie- und Bankwesen bekleidet hatten.«10 1947 gehörte er zur Hoover-Kommission, die Präsident Truman beim deutschen Wirtschaftsaufbau beriet. Stolpers früherer DDP-Parteifreund Reinhold Maier, erster Ministerpräsident Baden-Württembergs, beschrieb die Hoffnungen, die die deutsche Bourgeoisie mit Stolper verband: »Wir unterdrückten Freudeäußerungen. Nur wenn die Objektivität dieses Mannes unangetastet blieb, vermochte er sachlich zu unserem Vorteil zu wirken.«11
1947 gingen die USA zur Politik des Kalten Krieges, der Eindämmung und des Rollback des Sozialismus über. In den Besatzungszonen der Westmächte wurden nicht mehr nur unbelastete bürgerliche Emigranten wie Stolper, sondern immer ungenierter frühere Militaristen und Nazis als »Fachleute« unter dem Vorwand der »Linderung der wirtschaftlichen Not« wieder eingesetzt. Unternehmerverbände reorganisierten sich unter neuem Namen, um Einfluss zu nehmen. Arbeiterparteien und Antifaschisten bekämpften die Restauration der Kapitalmacht und die Rückkehr ehemaliger Nazis in Wirtschaft und Verwaltung. Sie verwiesen auf gegenläufige Entwicklungen in der SBZ. Dem begegnete die deutsche Bourgeoisie, unterstützt von den westlichen Besatzungsmächten, mit wachsender antikommunistischer Hetze.
Ab 1948 flossen auf Basis des European Recovery Program (Marshall-Plan) Gelder der USA an 16 westeuropäische Länder, die Türkei und die Westzonen Deutschlands. Die Empfängerländer bildeten die Organization for European Economic Cooperation (OEEC) in Paris. Sie sollte die ERP-Mittel verteilen, Handelsbeschränkungen abbauen, »die Wirtschaftspolitik der teilnehmenden Länder koordinieren und die wirtschaftliche Integration in Westeuropa fördern«.12 Die USA wollten mit dem Marshall-Plan einer Ausbreitung des Kommunismus in Europa vorbeugen. Zudem schuf er Nachfrage für Waren der USA und half, ihre Kriegswirtschaft auf Friedenswirtschaft umzustellen. Vor Gründung der BRD etablierte sich mit der OEEC ein gemeinsamer (west)europäischer Wirtschaftsraum.
Im gleichen Jahr sorgte die separate Währungsreform in den Westzonen und Westberlin, die die Besitzer von Sachwerten begünstigte, für Umverteilung von unten nach oben und den Abbau von Preiskontrollen. Gegen Preiserhöhungen kam es Ende 1948 zu Massenaktionen der Gewerkschaften bis zum Generalstreik. Die KPD forderte die Entmachtung von Kriegsverbrechern und aktiven Nazis, die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, Mitbestimmung von Betriebsräten und Gewerkschaften in der Sozialpolitik, in Planung, Verwaltung, Erzeugung und Verteilung, Auflösung der alten Wirtschaftsverbände.13 Auf die illegale Einbeziehung Westberlins in die Währungsreform reagierte die UdSSR mit der Berlin-Blockade. Das nutzten die bürgerlichen Medien im Westen, um hysterischen Antikommunismus zu entfesseln und den »Frontstadt«-Mythos Westberlins zu begründen.
Die Besatzungsmächte hatten vereinbart, das Ruhrgebiet als »Waffenschmiede des Deutschen Reichs« zu entmilitarisieren. Trotz Demontagen übertraf 1948 die Stahlproduktion der Bizone die von Frankreich. 1949 bildeten Frankreich, Großbritannien, die USA und die Beneluxstaaten die »Internationale Ruhrbehörde« zur Kontrolle der Produktion des Ruhrgebiets an Kohle, Koks und Stahl. Das auch von der SPD damals noch verfolgte Ziel der Sozialisierung der Schwerindustrie unter Mitbestimmung der Gewerkschaften war damit ausgehebelt. Stattdessen kam es zur kapitalistischen »Entflechtung« durch Ausgliederungen, Tausch und Verkauf von Aktienpaketen. Auf ähnliche Weise wurde die Chemieindustrie »entflochten«.
Das Ruhrstatut wurde 1951 durch die »Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (Montanunion) abgelöst, einem Kartell der Konzerne der Montanindustrie Frankreichs, der BRD, der Beneluxländer und Italiens. Frankreich erhoffte sich damit Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Schwerindustrie. Die junge BRD wollte sich vom Besatzungsstatus lösen.14 Die EGKS war die Keimzelle der EWG/EU.
Kalter Krieg und Westintegration
Ökonomische Spaltungsschritte und Westintegration gingen der politischen Spaltung in Form der Gründung der BRD 1949 voraus. Die Spaltung war weder zwangsläufig noch alternativlos. Sie war von der deutschen Großbourgeoisie gewollt, die darin ihre Chance sah, einer Entwicklung zu entgehen, die die bürgerliche Geschichtsschreibung als »Sowjetisierung« bezeichnet: einer antifaschistisch-demokratischen Erneuerung, die, bei entsprechenden Kräfteverhältnissen, im Sozialismus münden kann. Diesem Risiko zog die deutsche Bourgeoisie die Option vor, ihre Macht unter den Fittichen der USA zu restaurieren, Akzeptanz und Wiederaufstieg im Schoß der Eliten des »freien Westens« zu suchen. »Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb,« beschrieb Adenauer die Entscheidung 1953.
Was mit dem Label »Sowjetisierung« als erzwungene Fremdsteuerung dargestellt wird, waren demokratisch-antifaschistische Bestrebungen der Bevölkerung, die es nach 1945 in ganz Deutschland gab. In der SBZ wurden sie von der Besatzungsmacht gefördert, in den Westzonen behindert oder verboten. Die Kräfteverhältnisse im Klassenkampf führten zur Bildung des Separatstaates BRD und zur deutschen Spaltung. In diese Kräfteverhältnisse ging die Politik der Besatzungsmächte als eine Komponente mit ein.15
In der SBZ war das Kräfteverhältnis für antifaschistische Umwälzungen vor allem auch deshalb günstiger, da KPD und SPD sich 1946 als Konsequenz aus der Niederlage der Arbeiterbewegung 1933 zu einer einheitlichen Arbeiterpartei, der SED, zusammenschlossen. Im Westen unterband die SPD-Führung unter Kurt Schumacher, unterstützt von den Westmächten, alle Vereinigungsbestrebungen. Die Spaltung der Arbeiterklasse schwächte ihre Rolle im Kampf gegen die Restauration.
Die im Osten verlorenen Gebiete gab die deutsche Bourgeoisie mit Gründung der BRD keinesfalls auf. Die Präambel des Grundgesetzes proklamierte dessen Geltung für »das ganze deutsche Volk« und das Ziel des »vereinten Europa«. Dabei umfasste der Begriff »deutsch« auch die unter polnischer und sowjetischer Verwaltung stehenden Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze. »Dreigeteilt – niemals!« war eine bekannte Losung nationalistischer Kräfte und starker Vertriebenenverbände.
Mit der Berlin-Krise verschwanden in den bürgerlichen Parteien die 1945 verbreiteten pazifistischen Bekenntnisse und ertönten Rufe nach Wiederbewaffnung. 1949 entstand die NATO als US-geführtes Militärbündnis gegen den Sozialismus. Die Einbeziehung Westdeutschlands in den Militärpakt stand für die USA von vornherein fest, war für sie sogar ein Beweggrund für die Gründung der BRD. Wegen ihrer Gebietsansprüche im Osten und des Viermächte-Status Berlins eignete sich die BRD ideal als Spannungsherd und Rammbock gegen den Osten. Der Rollback-Politiker John Foster Dulles schrieb über Westdeutschland: »Indem es Ostdeutschland in den Machtbereich des Westens zieht, kann es eine vorgeschobene strategische Position in Mitteleuropa gewinnen, welche die sowjetischen militärischen und politischen Positionen in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn und anderen angrenzenden Ländern unterminiert.«16
Gegen die Remilitarisierung gab es in der Bundesrepublik eine starke Bewegung. Die KPD war ein Teil davon. Sie umfasste auch Sozialdemokraten, Gewerkschafter und antimilitaristische Kreise des Bürgertums. Die Bundesregierung reagierte mit Repression. Sie verbot 1951 die Volksbefragung gegen die Militarisierung. Im gleichen Jahr folgte das Verbot der FDJ und die Einleitung des Verbotsverfahrens gegen die KPD. Trotz aufgepeitschtem Antikommunismus, Verhaftungen und Verfolgung stimmten bis zum Verbot der Volksbefragung fast zehn Millionen gegen die Remilitarisierung. 1955 kam es zum NATO-Beitritt und zur Bundeswehrgründung, 1956 zum KPD-Verbot.
Gustav Heinemann, Bundesminister des Inneren in der ersten Regierung Adenauer, der aus Protest gegen die Wiederbewaffnung zurücktrat, beschrieb 1959 die expansionistische Grundlinie der Adenauer-Ära wie folgt: »An die Politik der Zurückrollung des Kommunismus Anschluss zu gewinnen und sich für sie durch Aufrüstung und Kalten Krieg, insbesondere von Westberlin aus, zur Verfügung zu stellen, wurde Leitgedanke der Bonner Politik. Die Sowjetunion sollte zur Räumung Deutschlands gezwungen werden, um damit Platz für eine Ausdehnung alles dessen zu schaffen, was sich unter Dr. Adenauer in schmählicher Verleugnung des Ahlener Programms von 1947 an wiederbelebter alter Gesellschaftsordnung in Westdeutschland entwickelte. Den Weg dorthin sollte die engste Anlehnung an den ›stärksten Bundesgenossen aller Zeiten‹, die USA, bahnen. Diese enge Anlehnung an Amerika wurde als Voraussetzung für ein Auftreten gegenüber dem Osten aus einer ›Position der Stärke‹, für eine ›Befreiung der besetzten deutschen Gebiete‹, ja sogar für eine Neuordnung der Verhältnisse in Osteuropa propagiert.«17
Entspannungsphase und zweiter Kalter Krieg
Bis in die 1960er Jahre schrieb man den Namen des zweiten deutschen Staates, der DDR, in Gänsefüßchen. Nach der »Hallstein-Doktrin« stufte die Bundesregierung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR durch Drittstaaten als »unfreundlichen Akt« ein. Im Fall Jugoslawiens und Kubas brach sie die Beziehungen ab. Doch im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialsystems entstanden immer mehr Länder, die die DDR anerkannten. Zudem gingen nach der Kuba-Krise 1962 US-Präsident John F. Kennedy und der Staatschef der UdSSR Nikita Chruschtschow zur Politik der Entspannung über. Die BRD lief Gefahr, sich international zu isolieren.
Im Bonner Bundestag begriff zuerst die SPD den Geist der neuen Zeit, während die Hauptpartei des Monopolkapitals CDU/CSU an der Politik der Stärke festhielt. Erst 1972 passte sich, unter dem Druck der Friedensbewegung, nach heftigen Auseinandersetzungen bis hin zum Misstrauensantrag gegen die Brandt/Scheel-Regierung, der Bundestag den Realitäten an und es kam zur Anerkennung der Grenzen zu Polen und zur DDR. Die Entspannungspolitik hob die kapitalistische Expansionstendenz Richtung Osten nicht auf, unterzog sie aber einem Formwandel: statt Rückeroberung, »Wandel durch Annäherung« (Egon Bahr).
Mit der Auflösung der UdSSR 1991 und dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus sah sich der Westen als Sieger im Kalten Krieg. In den USA sprachen die Ideologen der Neocons vom »Sieg der liberalen Demokratie«, vom »Ende der Geschichte« und vom »neuen amerikanischen Jahrhundert«. Heute bezeichnet man diese Phase als »unipolaren Moment«. Sie dauerte bis zur Krise 2008 ff. Um die Krise zu bewältigen, musste China in die globale Regulierung einbezogen werden. China hatte auf dem Hintergrund der Spaltung des Kommunismus seit 1971 seine Beziehungen zu den USA verbessert und 1978 die »Politik der Öffnung und Reform« eingeleitet, in deren Verlauf das Land zum begehrten Investitionsstandort der Großkonzerne der USA und anderer kapitalistischer Länder wurde. China bewahrte seine Wirtschaftssouveränität als Voraussetzung für die Organisierung eines Technologietransfers mittels des Aufstiegs von der Low-End zur High-End-Produktion innerhalb der Wertschöpfungsketten internationaler Konzerne.
Der deutsche Imperialismus profitierte vom »unipolaren Moment« besonders stark. Die Einverleibung der DDR stärkte seine Dominanz in der EU. Die Ostexpansion von EU und NATO ermöglichte eine weitgehende Realisierung alter Träume vom »europäischen Wirtschaftsgroßraum«. Die Ostexpansion erfolgte aus einer Position der Stärke, die es erlaubte, Russlands Sicherheitsinteressen zu ignorieren. Die Expansion verlief keineswegs nur »friedlich«. Sie schloss Konfrontationen, Kriege und Regime Changes ein, vom Jugoslawienkrieg, über Belarus, bis zur Ukraine.
Während des unipolaren Moments überwog in der Politik des Westens gegenüber Russland und China zunächst eine Strategie der Integration in das US-geführte, imperialistische Weltsystem. Russland war die Rolle eines Rohstofflieferanten und Absatzmarkts für westliche Waren zugedacht. Auf Chinas großem Markt mussten Kapitalisten präsent sein. Sie setzten auf weitere »Liberalisierung«. Nach 2000 bremste Putin den Ausverkauf russischer Ressourcen an westliches Finanzkapital. Putins Verteidigung der Souveränität der Russischen Föderation und Chinas Aufstieg bewirkten den Strategiewechsel der USA von einer Strategie der Integration zu einer erneuten Strategie der Eindämmung und des Rollback, zu einem neuen Kalten Krieg. Die politische Klasse der BRD zog 2013 mit der Studie »Neue Macht – neue Verantwortung« des German Marshall Fund und der Stiftung Wissenschaft und Politik nach.
Der Ukrainekrieg ab 2014 und erneut seit 2022 zielt seitens NATO und EU auf die Fortsetzung ungehinderter Ostexpansion. Mitte 2022, als man die ukrainische Bandera-Armee auf der Siegerstraße wähnte, kursierten in transatlantischen Außenpolitik-Magazinen und auf einer illustren Konferenz im EU-Gebäude in Brüssel erneut Pläne zur Aufteilung Russlands nach Putins Sturz.18 Das Muster blieb Rohrbachs Orangen-Theorie aus dem ersten Weltkrieg. Ende 2023 zeichnet sich die Niederlage der NATO-Proxy-Armee in der Ukraine ab. Zwar reagiert EU-Chefin von der Leyen mit beschleunigten Beitrittsverhandlungen der Ukraine und einiger Balkanländer und kündigt Bundeskanzler Scholz die Verdoppelung der deutschen Militärhilfe in einem langen Krieg an, aber der Ukraine gehen die Soldaten und die Munition aus.
Russland scheint die Ostexpansion – wieder einmal – gestoppt zu haben. Die USA sind nicht mehr der »stärkste Bundesgenosse aller Zeiten«, von dem Gustav Heinemann 1959 sprach, seine Bonner CDU-Kollegen ironisch zitierend.
1 Friedrich List, Das nationale System der Politischen Ökonomie (1841), in Reinhard Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945, 1994. S. 52. [Abkürzung: Europastrategien]
2 Friedrich List, Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung (1842), in: Europastrategien, S. 61.
3 Denkschrift Hermann Röchlings betr. französische Erzgebiete, Kriegszieldenkschrift Walther Rathenaus an Bethmann-Hollweg, Kriegsziel-Richtlinien Bethmann-Hollwegs, Denkschrift von August Thyssen, u. a., in Europastrategien, S. 211 ff.
4 Reinhard Opitz, Einleitung zu Europastrategien, S. 31 f.
5 Reinhard Opitz, Einleitung zu Europastrategien, S. 35.
6 Eberhard Czichon, Der Primat der Industrie im Kartell der nationalsozialistischen Macht, in: Das Argument 47 (1968), S. 173 ff.
7 Reinhard Opitz, Einleitung zu Europastrategien, S. 38.
8 Vgl. Dokumente ab Juli 1941 zur Neuordnung des Ostens, in: Europastrategien, S. 812 ff.
9 Europastrategien, S. 948 ff., S. 990 ff.
10 Gustav Stolper, German Realities (1948), in: Europastrategien, S. 1018 f.
11 Reinhold Maier, Ein Grundstein wird gelegt. Die Jahre 1945–1947 (1964), in: Europastrategien, S. 1014. Maier war 1957–1960 FDP-Bundesvorsitzender.
12 Gerd Hardach, Der Marshall-Plan, 1994, S. 101.
13 Max Reimann, Entscheidungen 1945–1956, 1973, S. 114.
14 Andreas Wehr, Die Europäische Union, 2012, S. 18 ff.
15 Rolf Badstübner/Siegfried Thomas, Entstehung und Entwicklung der BRD, Restauration und Spaltung 1945–1955, S. 217 ff. und S. 317 ff.
16 John Foster Dulles, Krieg oder Frieden, 1950, S. 163.
17 Gustav Heinemann, Stimme der Gemeinde 15.4.1959, S. 153.
18 Casey Michel, Decolonize Russia, in: The Atlantic vom 27. Mai 2022.
Kräfteverhältnisse und Formen der Ostexpansion
Marxistische Blätter 3_2023, S. 98–105
Dem Kapitalismus wohnt die Tendenz zur Expansion inne. Ihre Formen wechseln unter dem Einfluss von Kräfteverhältnissen. Es gibt verschiedene Ebenen von Kräfteverhältnissen, die sich nicht gleichmäßig entwickeln müssen: ökonomische, politische, ideologisch-kulturelle, militärische. Letztlich zentral sind die ökonomischen Kräfteverhältnisse, da sie für die anderen Ebenen die Ressourcen bereitstellen. Innere (nationale) und äußere (internationale) Kräfteverhältnisse hängen zusammen.
Nach 1945 gab es in der Entwicklung der internationalen Kräfteverhältnisse mehrere Wendepunkte, die jeweils den Beginn einer neuen, durch bestimmte Merkmale geprägten Etappe geopolitischer und gesellschaftspolitischer Entwicklungen markierten.
Die USA gingen aus dem 2. Weltkrieg als Gläubiger der europäischen Staaten der Anti-Hitler-Koalition hervor. Sie etablierten sich als Führungsmacht des Kapitalismus. Nach Kriegsende erwirtschafteten sie die Hälfte des Welt-Bruttosozialprodukts, einen Anteil, den sie später nie wieder erreichten.1 Im Osten Deutschlands und in den von der Sowjetarmee befreiten Ländern Osteuropas entstanden nach Revolutionen sozialistische Staaten. In Afrika, Asien, Lateinamerika führte der antikoloniale Befreiungskampf bis Mitte der 1970er Jahre zum Zusammenbruch des Kolonialsystems.
Systemkonkurrenz und 30 goldene Jahre (1945 bis 1974/75)
Baron Hastings Ismay, der erste NATO-Generalsekretär, definierte 1952 als Funktion der NATO, »to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down«.2 Während des Kalten Kriegs fungierte die Bundesrepublik, deren Eliten die Grenzen von 1937 zurückhaben wollten, als aggressiver Frontstaat gegen den Warschauer Pakt. Der Mauerbau 1961, die Kuba-Krise 1962 zeigten der imperialistischen Expansion Schranken. Danach gingen Kennedy und Chruschtschow zur Entspannung über. Als immer mehr kolonial befreite Staaten die DDR anerkannten, passte sich, unter dem Druck der Friedensbewegung und nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen SPD/FDP und CDU/CSU, der Bonner Bundestag den Realitäten an. Die Entspannungspolitik hob die kapitalistische Expansionstendenz nicht auf, unterzog sie aber einem Formwandel: statt »Rückeroberung« »Wandel durch Annäherung« (Egon Bahr). Damit außenpolitische Annäherung nicht mit mehr Akzeptanz von Kommunisten im Inneren einherging, führte man 1972 die Berufsverbote ein. Ebenfalls 1972 gründete Willi Brandt mit US-Partnern den German Marshall Fund (GMF). Die transatlantische Erziehung von Führungskräften sollte damit geboostert werden.3
Die Phase von 1945 bis zur Krise 1974/75 war einerseits geprägt durch den Kalten Krieg, den der Westen unter Führung der USA mit dem Ziel der »Eindämmung« und des Rollback gegen das sozialistische Lager führte. Im Inneren der kapitalistischen Länder hieß das Antikommunismus, Kommunistenhatz, Verdächtigung kritischen Denkens. Andererseits setzte die Systemkonkurrenz die im Kapitalismus herrschenden Klassen unter einen gewissen Anpassungszwang. Sie machten soziale Zugeständnisse, um härtere Klassenauseinandersetzungen zu vermeiden. Das war ein für den Kampf der Lohnabhängigen relativ günstiges Kräfteverhältnis.
Auch der antikoloniale Befreiungskampf zog Nutzen aus der Systemkonkurrenz. 1961 bildete sich die Bewegung der Blockfreien. Die Länder gehörten keinem der beiden Militärbündnisse an, traten für friedliche Koexistenz, Abrüstung, eine gerechte Weltwirtschaftsordnung ein. Die Blockfreien umfassten Länder unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, von China bis Zypern. Die Bipolarität bot ihnen Spielraum, Hilfe von beiden Polen zu erhalten. Manche probierten den »nichtkapitalistischen Entwicklungsweg« mit Hilfe des sozialistischen Lagers. Andere wurden durch Sabotage und Blockade des Westens dem Realsozialismus in die Arme getrieben.
Bei aller Widersprüchlichkeit bestimmten 1945 bis 1975 die Kräfte des Fortschritts die Richtung der Entwicklung: Der reale Sozialismus erstarkte. Im Kapitalismus erreichten die Lohnabhängigen Zugeständnisse, so dass heute von »30 goldenen Jahren des Kapitalismus« die Rede ist. Der antikoloniale Befreiungskampf inspirierte die aufgewecktesten Teile der Jugend auch im Kapitalismus. Fidel Castro, Che Guevara, Ho Chi Minh wurden Idole. Am Ende der 1960er Jahre kam es in fast allen kapitalistischen Ländern zu starken linken Protestbewegungen.
Neoliberalismus und Kollaps des Sozialismus (1974/75 bis 1990)
Die Weltwirtschaftskrise 1974/75 leitete die Wende nach rechts ein. Sie war nicht nur eine zyklische Krise, sondern eine »Große Krise«, in der sich Überakkumulation und politische Krisenerscheinungen des imperialistischen Weltsystems verbanden. Der Nachkriegsboom war zu Ende. Der Vietnamkrieg führte zur Überdehnung des US-Imperialismus. 1971 hob US-Präsident Nixon die Goldbindung des Dollars auf. Die BRD und Japan wurden Gläubigernationen der USA. Ölpreiserhöhungen infolge Verknappung durch die OPEC und Lohnkämpfe der Arbeiterklasse bewirkten eine Profitklemme, Investitionsrückgang und Stagflation in den kapitalistischen Hauptländern.
Zwecks Regulierung der Krise gründeten sich die späteren G7. Beginnend mit Thatcher und Reagan setzten die Bourgeoisien im Klassenkampf von oben nach und nach den neoliberalen Ausweg aus der Krise durch. Sie verbesserten ihre Profitbedingungen durch Deregulierung, Privatisierung, Prekarisierung und Umverteilung von unten nach oben. Damit schufen sie Voraussetzungen, dass die Kapitalakkumulation wieder in Gang kam. In den Jahrzehnten danach machte der neoliberale Umbau die Reichen immer reicher, die Lage der Lohnabhängigen immer prekärer.
Doch auch im Sozialismus nahmen in den 1970er Jahren Krisenphänomene zu. In der Arbeitsproduktivität vergrößerte sich die Lücke zum Kapitalismus. Der Übergang von der extensiv erweiterten zur intensiv erweiterten Produktion im Zuge der wissenschaftlich-technischen Revolution gelang nur in einzelnen Bereichen, nicht auf breiter Front. In den 1980er Jahren verfolgte zudem US-Präsident Reagan die Strategie des »Totrüstens« der Sowjetunion. Äußerer Druck und inneres Versagen mündeten Ende der 1980er Jahre im Kollaps des europäischen Sozialismus.
China hatte mit der »Ping-Pong-Diplomatie« der 1970er Jahre sein Verhältnis zu den USA verbessert.4 Deng Hsiao Pings »Politik der Öffnung und Reform« ermunterte ab 1978 US- und europäische Konzerne, in der Volksrepublik zu investieren. Gestützt auf eigene Potentiale und bei Wahrung seiner politischen und wirtschaftlichen Souveränität war China fähig, ausländische Direktinvestitionen für die Entwicklung des eigenen Landes zu nutzen. Mit der Zeit gelang der Aufstieg von der low-end- zur high-end-Produktion in den internationalen Wertschöpfungsketten.
Der »unipolare Moment« (1991 bis zur Krise 2008 ff.)
Die Weichenstellung zugunsten des neoliberalen Akkumulationsregimes im Kapitalismus und der Kollaps des Sozialismus in Europa veränderten die Kräfteverhältnisse gravierend zugunsten der herrschenden Klassen. Die Kräfte des Fortschritts erlitten eine Niederlage. Die Lage der Lohnabhängigen wurde prekärer, ihre Kampfbedingungen schlechter. Zugeständnisse der Herrschenden, die über Symbolismus hinausgehen, sind seither nur im härtesten Klassenkampf erreichbar. In der Dritten Welt waren viele kolonial befreite Länder den USA, der EU und den von ihnen dominierten Institutionen IWF und Weltbank zunächst wieder alternativlos ausgeliefert.
Als »unipolarer Moment« gelten die knapp zwei Jahrzehnte zwischen der Auflösung der UdSSR bis zur Krise 2008 ff. Der kapitalistische Westen hatte im Kalten Krieg gesiegt. Francis Fukuyama deutete das als Sieg der »liberalen Demokratie«, mit dem die Geschichte am Ziel und Ende sei. US-Stratege Brzeziński riet 1997 zur zügigen Ostexpansion von NATO und EU, um die Vormacht der USA auf dem eurasischen Kontinent und damit in der Welt zu sichern – ohne Mitsprache Russlands.5 Fukuyama und Brzeziński waren Ideengeber der Neocons, einer Strömung, die sich in den 1990er Jahren in Politik, Thinktanks und Medien der USA etablierte und die für die US-Außenpolitik bestimmend wurde. Sie sind die »Falken« der Gegenwart.
Die Neocons propagieren als Ideologen, Narrativbildner und Politiker das unipolare, US-geführte Weltimperium.6 Sie stützen sich auf große Teile des Militär-Industrie-Komplexes, der Geheimdienste und der mit ihnen kooperierenden Internetkonzerne. Auf das Konto der Neocons gehen 30 Jahre »Global war on Terror«, die auf Neuordnung zielten und Chaos hinterließen. NATO-Armeen wurden zu global agierenden Interventionskräften umgebaut. Seit 1999 trieben die Neocons die Osterweiterung der NATO gegen Russlands Einwände voran. Sie ging mit der EU-Ostexpansion einher. Die deutsche Finanzoligarchie gehörte zu den Profiteuren der Umwälzungen. Die Einverleibung der DDR, der neoliberale Umbau verhalfen ihr zur Dominanz in Europa. Deutsche Regierungen trugen aktiv zum Zerfall Jugoslawiens bei und nahmen am NATO-Krieg gegen Belgrad teil. Im Zuge der EU- und NATO-Ostexpansion erreichte der deutsche Imperialismus sein altes Ziel des europäischen Wirtschaftsgroßraums.7 Olaf Scholz verklärt die Ostexpansion als »europäische Friedensordnung«. Real war sie die Ausnutzung der Schwäche Russlands nach dem Abzug seiner Truppen. Keineswegs verlief die Expansion nur »friedlich«. Sie ging mit Kriegen und Regime-Change-Versuchen einher, wie in Jugoslawien, Ukraine oder Belarus.
Während des unipolaren Moments überwog in der Politik des Westens gegenüber Russland und China eine Strategie der Integration in das US-geführte, »regelbasierte« imperialistische Weltsystem. Russland durfte am Katzentisch der G7 (G8) sitzen. Ihm war die Rolle eines Rohstofflieferanten und Absatzmarkts für westliche Waren zugedacht. China war ein großer Markt, auf dem Kapitalisten präsent sein mussten. Sie setzten auf »Liberalisierung«. Den Sozialismus sahen sie als Auslaufmodell.
Strategiewechsel nach dem »unipolaren Moment«
Die VR China entwickelte sich nicht gemäß westlichen Erwartungen, sondern folgte eigenen Bedürfnissen. In der Krise 2008 ff. wirkten Chinas Konjunkturprogramme als Stabilisator der Weltwirtschaft. Die G20 etablierten sich als Format der weltweiten Regulierung, in das auch die größten Schwellenländer einbezogen sind. Nach der Krise verkündete China das Ziel, sich von der Werkbank der Welt zur High-Tech-Nation zu entwickeln. 2014 lag sein BIP nach Kaufkraftparität vor dem der USA.
Zwischen 2002 und 2022 stieg Chinas Anteil am Welt-BIP von 8,1 Prozent auf 18,8 Prozent. Der Anteil der USA sank im gleichen Zeitraum von 19,8 Prozent auf 15,8 Prozent. Der Anteil der EU schrumpfte von 19,9 auf 14,8 Prozent.8 2001 entstand die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. 2009 gründeten sich die BRICS. Mit eigener Entwicklungsbank und Reservefonds bieten sie Alternativen zu den vom Westen beherrschten Gremien IWF und Weltbank und deren neoliberalen Schocktherapien. 2013 startete China die Belt & Road-Initiative. 2021 nahmen an diesem Projekt des Ausbaus der gemeinsamen Infrastruktur und einer gemeinsamen Konnektivität 140 Länder Asiens, Afrikas, Europas und Lateinamerikas teil.
Auch Russland entwickelte sich nach 2000 unter Putin anders als in den 1990er Jahren unter Jelzin. Putin bremste den Ausverkauf russischer Ressourcen an westliches Finanzkapital – für die westlichen Eliten eine Regelverletzung. Chinas Aufstieg und Gestaltungswillen sowie Putins Beharren auf der Souveränität der Russischen Föderation werden im Westen als »Aggressivität« und Bedrohung wahrgenommen.
Mit dem »Pivot to Asia« 2011 leitete Obama gegenüber Russland und China einen Strategiewechsel von der Integrationsstrategie zu einer Strategie der Konfrontation und Eindämmung ein. Trump attackierte die Firmen Huawei und ZTE. Die politische Klasse der BRD vollzog den US-Strategiewechsel 2013 in der Studie »Neue Macht – neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Fund nach. China und Russland wurden erneut Feindbilder. Der Strategiewechsel war nicht die Folge der Krim-Sezession. Er ging dem Maidan in Kiew voraus.
Von der »europäischen Autonomie« zur »Führungspartnerschaft«
EU und NATO sind heute die wichtigsten Formen der Unterordnung europäischer Staaten unter ein zentrales Kommando, wobei in der EU der deutsche Imperialismus und in der NATO der US-Imperialismus das Sagen hat. Daraus entstand eine tiefgehende Verflechtung widersprüchlicher Interessen. Sie lässt sich nicht auf ökonomische Aspekte reduzieren, sondern hat auch historische und geopolitische Wurzeln. US-Geostratege Brzeziński beschrieb sie 1997 so: »Für Deutschland bedeutet Erlösung + Sicherheit = Europa + Amerika«. Das kann wie folgt erläutert werden: »Erlösung = Europa« besagt: Als EU kann Deutschland Großmacht spielen, ohne aggressiv zu erscheinen. »Sicherheit = Amerika« heißt: Militärmacht wird Deutschland nur in und mit der NATO. Das mache Deutschland »zu Europas Musterknaben und zum stärkeren Anhänger Amerikas in Europa« [im Vergleich zu Frankreich, BL].9
Für die deutsche Bourgeoisie ist die EU von zentraler Bedeutung, um weltweit mitzureden. Die EU ist ein starker Wirtschaftsraum, mit dem sich Macht ausüben lässt, aktuell, indem man die eigene »Sanktionsfähigkeit« demonstriert. So will man zu den USA aufschließen, »Augenhöhe« erreichen oder das, was Baerbock »Führungspartnerschaft« nennt. Habeck schwafelt von Deutschlands »dienender Führungsrolle«.10
Zeitweise war, angestoßen durch Frankreichs Macron und das »orangene Biest« im Oval Office, »europäische strategische Autonomie« hoch im Kurs. 2020 belehrte Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den Franzosen: »Die Illusion einer europäischen strategischen Autonomie muss ein Ende haben. Die Europäer können die entscheidende Rolle der USA als Garant für Sicherheit nicht ersetzen.«11 Als deutsch-französische Gemeinsamkeit blieb der Wille zur strafferen Zentralisierung der EU durch Abschaffung des Konsensprinzips. So werde sie »politikfähiger«. Gemeinsam will man die europäische Rüstungsindustrie ausbauen und die EU weiter militarisieren – aber nur im Konsens mit der NATO, nicht gegen sie. Die EU-NATO-Verkettung wurde im Zuge der Ostexpansion verstärkt durch das »neue Europa«. So nannte Donald Rumsfeld, US-Kriegsminister während des Irakkriegs, Polen und die baltischen Staaten. Sie stellten, anders als Deutschland und Frankreich, Truppen im Irakkrieg. Die Russophobie der reaktionären Eliten dieser Länder garantiert, dass sie jede dauerhafte Kooperation zwischen Deutschland und Russland vereiteln. Sie fungieren als U-Boote der US-Politik in der EU. »Einheit der EU« ist so nur auf russlandfeindlicher Grundlage möglich.12
Objektive Interessenwidersprüche
Die nationalen Interessen der Bundesrepublik Deutschland sind nicht identisch mit denen der USA. Die Bundesrepublik ist als mittelgroßes Land auf Austausch und Verflechtung mit der Weltwirtschaft angewiesen. Im nationalen Interesse ihrer Bevölkerung liegen friedliche Koexistenz und gleichberechtigte Kooperation mit allen Nationen. Die BRD ist rohstoffarm. Ihr besonderes Interesse an Kooperation mit Russland beruht auf geografischer Nähe, beiderseitigem Interesse am Austausch von Technologie gegen Rohstoffe und Energie und der gemeinsamen Geschichte.
Die deutsche Finanzoligarchie ist am russischen Markt und an preiswerter Energie aus Gründen ihrer Wettbewerbsfähigkeit interessiert. Dieses Interesse spornte immer wieder Projekte ökonomischer Kooperation zwischen der kapitalistischen BRD und der UdSSR oder RF an, selbst im Kalten Krieg. Es lag dem Erdgas-Röhren-Geschäft der 1970er Jahre zugrunde wie auch den Nordstream-Pipelines der Ära Schröder-Merkel. US-Investigativ-Journalist Seymour Hersh nimmt an, Präsident Biden ließ Nordstream sprengen, weil er Scholz misstraute.13 Scholz hatte Nordstream nur »auf Eis gelegt«. Später half er Biden beim Vernebeln der Täterschaft.
Dem Misstrauen der US-Finanzoligarchie liegen Unterschiede in den objektiven, geopolitischen und ökonomischen Interessen zugrunde. Die USA bekämpften schon das Erdgas-Röhren-Geschäft der 1970er Jahre.
»Die Aufrechterhaltung eines starken Keils zwischen Deutschland und Russland ist für die USA von überwältigendem Interesse,« formulierte STRATFOR-Chef George Friedman 2015.14 In der Ökonomie sind die USA binnenmarktorientiert. Sie leisten sich ein großes schuldenfinanziertes Defizit. Ihre extraordinäre Kreditwürdigkeit stützt sich auf ihre Rolle als Hegemonialmacht. Hinzu kommt aktuell das Interesse, Fracking-Gas in die EU zu liefern.
Die Sanktionspolitik der EU gegen Russland trugen die Großkonzerne der Bundesrepublik mit, nicht begeistert, aber dem »Primat der Politik« folgend. Infolge der Sanktionen nach der Krim-Sezession war das Handelsvolumen 2012 bis 2021 schon um ein Viertel gesunken. 2022 sanken die Exporte um weitere 40 Prozent, die Importe stiegen nur im Preis.15 Deutsche Konzerne zogen Investitionen ab oder froren sie ein. Der Vorsitzende des BDI-Ostausschusses Oliver Hermes trat zurück. Der Manager Klaus Mangold gab den Titel des russischen Honorarkonsuls zurück. Wer als Russland-Freund gilt, steht unter Medienbeschuss oder wie Gerhard Schröder unter Korruptionsverdacht. Die Schuld am eingetretenen Schaden sehen alle bei Putin.
Im Fall Chinas betont der BDI den Interessenunterschied zur US-Position. Während die US-Bourgeoisie seit Trump über die »Entkoppelung« von Chinas Wirtschaft diskutiert, will der BDI zwar mehr Diversität, lehnt eine »Entkoppelung« von China aber ab. Er wendet sich gegen die Fragmentierung des Welthandels. Aktuell gehe es »um die Koexistenz von verschiedenen Systemen, die miteinander im Wettbewerb stehen, aber auch kooperieren müssen. Globale Herausforderungen wie Klima- und Umweltschutz oder Armutsbekämpfung erfordern Kooperation – auch zwischen unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen.«16
Der BDI erstrebt zugleich mehr Freihandelsabkommen mit »Wertepartnern«. Oberwertepartner Biden praktiziert zurzeit mit dem »inflation reduction act« gnadenlose Konkurrenz. Bidens Anreize plus die hohen Energiepreise der EU lenken Investitionen aus der EU in die USA. Die IG BCE warnt vor der Deindustrialisierung Deutschlands. Für deutsche Konzerne sind die USA wichtigstes Zielland ihrer Direktinvestitionen außerhalb der EU. Als Handelspartner hat aber China die USA überflügelt.17
Gefährliche Kluft zwischen Anspruch und Realität
Siebenmal verwendete der Sprecher des Weißen Hauses John Kirby auf seiner Pressekonferenz am 20.3.2023, dem Tag des Treffens von Putin und Xi Yinping, die Floskel von der »U. S. leadership around the world«.18 Es wirkte wie eine Beschwörungsformel. Zwar werden die Apparate internationaler Organisationen und Institutionen immer noch von den USA und der EU dominiert, oft auch finanziert.19 Trotz relativem ökonomischen Abstieg beanspruchen die USA, für den Rest der Welt die Regeln zu bestimmen, die sie zum eigenen Nutzen setzen und willkürlich auslegen. Doch die Kluft zwischen dem Anspruch und seiner Realisierung wächst.
Gegenwärtig zeigt sich diese Kluft wie in einem Brennglas in den Fehleinschätzungen, auf denen das Handeln der G7- und NATO-Länder im Ukrainekrieg basiert:
Ökonomisch wollten USA und EU mit nie dagewesenen Sanktionen Russland destabilisieren. Russland verkraftet sie. Die Welt unterstützt sie mehrheitlich nicht. Sie schaden primär der EU, fördern die Inflation, schwächen Dollar und Euro als Reservewährungen. Auf Dauer überfordert die Finanzierung der Ukraine den Westen.
Politisch setzte man auf internationale Isolierung und Regime-Change in Moskau. Das erwies sich als Illusion. Putin sitzt fest im Sattel.20 International war Russlands Isolierung nur im Westen erfolgreich, nicht in Asien, Afrika und Lateinamerika.
Militärisch bestätigte sich Obamas Hinweis, Russland verfüge in der Ukraine über »Eskalationsdominanz«. Die ukrainische Armee ist überdehnt. Sie verbraucht mehr Waffen als die NATO-Länder herstellen können. Diesen fehlt nach 30 Jahren Neoliberalismus und »War on Terror« die industrielle Basis für einen Abnutzungskrieg.
Auch ideologisch sind die Kräfteverhältnisse nicht statisch: Zwar dominiert im Westen klar die NATO-Propaganda, aber in Asien, Afrika und Lateinamerika wächst die Kritik an westlichen Doppelstandards und wird offener artikuliert als zuvor.
Die Kluft zwischen Anspruch und Realität verleitet die Regierungen der NATO-Länder zu einer abenteuerlichen Politik. Vor allem die Neocons der USA, deren Parteigänger auch in den Medien der BRD dominieren, lassen sich von »magischem Denken« leiten. Mal wollen sie den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen, mal durch Regime-Change in Moskau. Misserfolge lösen kein Nachdenken aus, sondern die Erhöhung des Einsatzes. Realistische Stimmen, die vor der Atomkriegsgefahr warnen, sind unter den herrschenden Klassen und Eliten bisher marginalisiert.
In der Bevölkerung sind Friedens- und Entspannungswille aber existent und artikulieren sich in der langsam wiederauflebenden Friedensbewegung. Zugleich drängt der globale Süden auf eine Verhandlungslösung. Arabische Länder vermittelten bei bisherigen Abkommen. Brasiliens Lula drängt auf eine Verhandlungslösung. China legte Vorschläge zur Lösung der Ukrainekrise vor. »Die USA fürchten, eine kriegsmüde Welt könnte Chinas Friedensvorschlag aufgreifen«, war bei Bloomberg zu lesen.21
Nach Kaufkraftparität haben die BRICS inzwischen einen Anteil am Welt-BIP von 31,5 Prozent, die G7 einen Anteil von 30,7 Prozent.22 Die BRICS haben die G7 ökonomisch überholt. Sie sind dabei, den Westen auch in politischer Lösungskompetenz zu überholen. Dies und der Druck der Bevölkerungen, die die Lasten schultern sollen, könnte die herrschenden Klassen im Westen zur Koexistenz zwingen.
1 Jörg Nagler, USA – Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Kalter Krieg von 1945–1989, Informationen zur politischen Bildung der Bundeszentrale für politische Bildung bpb, 20.3.2014.
2 Zitiert nach: Josef Joffe, NATO: Soldiering On, in: TIME 19.3.2009.
3 Aus der Ampelkoalition absolvierten ein Leadership-Programm des GMF: Annalena Baerbock, Cem Özdemir, Nils Annen, Eva Högl. Baerbock ist zugleich Young Leader des WEF.
4 Kontakte von Tischtennisspielern der USA und Chinas gingen dem Treffen von Zhou Enlai und Henry Kissinger 1971 sowie Richard Nixons Besuch in Peking 1972 voraus.
5 Zbigniew Brzeziński, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, 2001, S. 53 ff.
6 Zu den Neocons gehören u. a.: Donald Rumsfeld, John Bolton, George W. Bush, Dick Cheney, Madeleine Albright, Hillary Clinton, Paul Wolfowitz, Norman Podhoretz, Richard Perle, Robert Kagan, Viktoria Nuland, Joe Biden, Antony Blinken, Jake Sullivan.
7 Vgl. Reinhard Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945, 2. Aufl., 1994.
8 https://de.statista.com/infografik/27680/anteil-am-kaufkraftbereinigten-globalen-bruttoinlands-produkt/.
9 Brzezński, S. 89 ff.
11 Kramp-Karrenbauers Grundsatzrede – Keine Sicherheit ohne die USA, tagesschau.de, 17.11.2020.
12 Vgl. Beate Landefeld, Das Biden-Putin-Treffen und die EU, Unsere Zeit 9.7.2021.
13 Interview der Berliner Zeitung mit Seymour Hersh, BZ 14.2.2023.
14 Zitiert nach: Phillipp Fess, »Die Aufrechterhaltung eines starken Keils …«, Telepolis, 22.10.2022. https://www.youtube.com/watch?v=iLwNcix31dg&t=3s.
15 Destatis, Fakten zum Außenhandel mit Russland 24.2.2022; Pressemitteilung Nr. 054, 10.2.2023.
16 BDI-Papier »Neues Momentum für die Globalisierung« vom Januar 2023, S. 12.
17 2021 war das Handelsvolumen mit den USA 194,2 Mrd. Euro, mit China 245,1 Mrd. Euro (Destatis).
18 Caitlin Johnstone, US Officials Really Want You to Know The US Is The World’s »Leader«, caityjohn-stone.medium.com, 23.3.2023.
19 Vgl. US- und EU-Einfluss in UNO, IWF, Weltbank, WTO, OECD, OSZE, IEA, ICC.
20 Laut Umfragen des regimekritischen Lewada Center stimmen knapp 80 Prozent Putins Politik zu.
21 Iain Marlow, US Fears a War-Weary World May Embrace China’s Ukraine Peace Bid, bloomberg.com 23.3.2023.
22 Scott Ritter, BRICS surpasses G7 in PPP-adjusted Global GDP, consortiumnews.com, 22.3.2023.
Parteien in der marxistischen Theorie
Marxistische Blätter 3_2022, S. 25–34
»Die politischen Parteien sind der Reflex und die Nomenklatur der Gesellschaftsklassen. Sie entstehen, entwickeln sich, lösen sich auf, erneuern sich, je nachdem, ob die einzelnen Schichten der kämpfenden Gesellschaftsklassen Verschiebungen von wirklich geschichtlicher Tragweite unterliegen, ihre Existenz- und Entwicklungsbedingungen radikal verändert sehen, eine größere und klarere Bewusstheit ihrer selbst und der eigenen vitalen Interessen erwerben.«1 Gramsci schrieb dies 1920 in einer Phase großer Umbrüche im Parteiensystem Italiens. Bürgerliche Parteien zersetzten sich. Kampfbünde entstanden. Es gab Zeichen für den kommenden Übergang der konstitutionell-parlamentarischen Monarchie zur Diktatur. Die italienische Kommunistische Partei war dabei, sich aus der Sozialistischen Partei heraus zu formieren.
Schon Marx charakterisierte in seinen politischen Schriften die Parteien anhand der sozialen Klassen und Schichten, aus denen sie hervorgingen und die sie vertraten. Seine Schrift Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte über die Phasen der 1848er Revolution in Frankreich ist auch eine Studie über die Parteien der Zweiten Französischen Republik. Sie bildeten sich aus den Elementen, »die die Revolution vorbereitet oder bestimmt hatten, dynastische Opposition, republikanische Bourgeoisie, demokratisch-republikanisches Kleinbürgertum, sozialdemokratisches Arbeitertum«. Alle fanden ihren »provisorischen Platz in der Februar-Regierung«.2
Parteien der dynastischen Opposition waren Legitimisten und Orleanisten. Erstere wollten die Bourbonen an der Spitze einer konstitutionellen Monarchie sehen. Die Orleanisten waren Anhänger des Hauses Orleans, aus dem der gestürzte »Bürgerkönig« Louis Philippe kam. Marx sah in ihnen zwei Fraktionen der Bourgeoisie. Die Legitimisten vertraten das vollständig verbürgerlichte große Grundeigentum »mit seinen Pfaffen und Lakaien«, die Orleanisten die hohe Finanz, Großindustrie und Großhandel, laut Marx »das Kapital mit seinem Gefolge von Advokaten, Professoren und Schönrednern«. An der Stelle merkte Marx zur Methode der Analyse an:
»Was also diese Fraktionen auseinanderhielt, es waren keine sogenannten Prinzipien, es waren ihre materiellen Existenzbedingungen, zwei verschiedene Arten des Eigentums […], die Rivalität zwischen Kapital und Grundeigentum. Daß gleichzeitig alte Erinnerungen, persönliche Feindschaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurteile und Illusionen, Sympathien und Antipathien, Überzeugungen, Glaubensartikel und Prinzipien sie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es? Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe […] seines Handelns bilden. […] Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem was er wirklich ist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden.«3
Die dritte Bourgeois-Fraktion waren die republikanischen Bourgeois. Innerhalb der Bourgeoisie, deren Masse royalistisch eingestellt war, waren sie eine Minderheit. Ihre Zeitschrift National spielte in der Oppositionsbewegung gegen den »Bürgerkönig« vor 1848 eine wichtige Rolle. Laut Marx waren sie aber »keine durch große gemeinsame Interessen zusammengehaltene und durch eigentümliche Produktionsbedingungen abgegrenzte Fraktion der Bourgeoisie«, sondern eine Clique aus »republikanisch gesinnten Bourgeois, Schriftstellern, Advokaten, Offizieren und Beamten«, die die Antipathien gegen Louis-Philippe, positive Erinnerungen an die alte Republik und vor allem nationalistische und imperialistische Stimmungen zu nutzen verstanden.4
Die Arbeiterschaft war in der Provisorischen Regierung durch Louis Blanc und Alexandre-Albert Martin vertreten. Die Arbeiter spielten bei der Durchsetzung der Revolution eine treibende Rolle. Ihre Ziele waren die Republik, allgemeines Wahlrecht und eine neue »Organisation der Arbeit«. Doch das Pariser Proletariat suchte, so Marx, »sein Interesse neben dem bürgerlichen durchzusetzen, statt es als das revolutionäre Interesse der Gesellschaft selbst zur Geltung zu bringen«.5 Im Juni 1848 wurde ein Arbeiteraufstand gegen die Schließung der Nationalwerkstätten im Blut erstickt. Danach wurden die Arbeiterführer verfolgt, in die Illegalität oder Emigration gedrängt.
Die Partei des demokratischen Kleinbürgertums nannte sich Montagnards (Bergpartei) nach dem Vorbild der Jakobiner. Der sozialen Basis nach waren sie »Caféwirte, Restauranten, marchands de vins, kleine Kaufleute, Krämer, Professionisten usw.« Nach der Juni-Niederlage der Arbeiter sah sich die Masse der Kleineigentümer den Drohbriefen der Kreditgeber ausgesetzt: »Verfallener Wechsel! Verfallener Hauszins! Verfallender Schuldbrief! Verfallene Boutique! Verfallener Boutiquier!«6 Prozesse der Prekarisierung im Kleinbürgertum, die »brutale Geltendmachung der Bourgeoisinteressen« bewirkten 1849 die Annäherung und Vereinigung der sozialen und demokratischen Partei, zur »sozialdemokratischen Partei, d. h. zur roten Partei«.7
Charakteristisch für diese Sozialdemokraten war nach Marx, »daß demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln.« Sie wollten »die Umänderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums.« Zum Verhältnis zwischen materiellen Interessen und politisch-ideologischen Vorstellungen schrieb Marx, man solle nicht die bornierte Vorstellung hegen, »als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, daß die besonderen Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann. Man muß sich ebenso wenig vorstellen, dass die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers sind […] Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben […] Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.«8
Die große Masse der französischen Bevölkerung lebte zu der Zeit als Parzellenbauern auf dem Lande. Marx beschrieb sie als »einfache Addition gleichnamiger Größen«. Ihre Produktionsweise isoliere sie voneinander. Sofern ihre gleichen Interessen »keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen« erzeugten, kam es auch zu keiner Klassenbildung und Geltendmachung von Klasseninteressen. Stattdessen wählte die Masse der konservativen Bauern im Dezember 1848 Napoleon Bonaparte, aufgrund sentimentaler Erinnerungen an Napoleons Onkel, aus nationalistischer Schwärmerei sowie aus Verachtung für Finanzkapital, Parlament und Bürokratie.9
Auch Rosa Luxemburg beurteilte die Parteien nach ihrem Klassencharakter. 1912 kritisierte sie Illusionen der SPD-Führung, ein Wahlabkommen mit der Fortschrittspartei könne den »schwarz-blauen Block« aus Konservativen, Nationalliberalen und Zentrum »sprengen« und eine »linke Mehrheit« im Reichstag bewirken. Der schwarz-blaue Block, so Luxemburg, sei nicht nur eine gewisse Zahl von Abgeordneten. Er sei ein »politisches System«, das »in den wirtschaftlichen Verhältnissen, in der bestimmten Entwicklung der deutschen Bourgeoisie, in der Übermacht des Junkertums, in der Zusammenballung des Großkapitals der schweren Industrie«, im »Haß und der Angst vor der wachsenden Macht des Proletariats« und in der internationalen imperialistischen Entwicklung fest verankert sei.10 Nicht mehr Parlamentssitze, nur die »gewaltige Machtentfaltung des Klassenkampfs« könne die Reaktion besiegen.
In den russischen Revolutionen 1905 bis 1921 analysierte Lenin den Klassencharakter der gegnerischen Parteien wie auch potentieller Verbündeter in jeder Phase. In ›Was tun?‹ thematisierte er 1902 Herausforderungen, denen sich die revolutionäre Arbeiterpartei stellen musste. Er bekämpfte den Ökonomismus, die Beschränkung auf vermeintliche »Arbeiterpolitik«, und plädierte für eine Arbeiterpartei, die das Proletariat befähige, in der bevorstehenden demokratischen Revolution die hegemoniale Rolle einzunehmen. Überließe man die Hegemonie der liberalen Bourgeoisie, werde die Revolution scheitern. Die Arbeiterklasse müsse die Führung übernehmen und im Bündnis mit den Bauern, die die Mehrheit stellten, eine neue Ordnung begründen.
Berühmt ist Lenins Charakterisierung der Doppelherrschaft nach der Februarrevolution 1917. Die Provisorische Regierung, gebildet aus den Kadetten, dem Oktobristen Gutschkow und dem Trudowiki Kerenski, war die Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten.11 Ihr stand der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten gegenüber, in dem Menschewiki und Sozialrevolutionäre dominierten. Die Sowjets waren die Keimform einer echten Volksregierung. Klassenbasis war ›das Proletariat und die (in den Soldatenrock gesteckte) Bauernschaft‹. Doch sie hatten ihre Macht freiwillig an die Regierung der Bourgeoisie abgetreten. Lenin sah den Grund im zu geringen Bewusstseins- und Organisationsniveau der Proletarier und Bauern.
Der »Fehler« ihrer Führer war ihr kleinbürgerlicher Standpunkt, ihre Förderung kleinbürgerlicher Illusionen, die die Massen nicht vom Einfluss der Bourgeoisie befreiten. Daher war es nötig, in den Organen der Sowjets um Mehrheiten zu kämpfen und zugleich zu fordern, dass die Sowjets die ganze Macht im Staat übernehmen.12 Bis zum Herbst gelang es, die Arbeiter- und Bauernmassen zu überzeugen, dass die größten Probleme (Beendigung des Krieges, Agrarreform, Überwindung des Hungers) nur auf dem Weg der Bolschewiki zu lösen waren. Das soziale Bündnis der klassenbewussten Arbeiter mit den armen Bauern reflektierte sich auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress in der Mehrheit für Bolschewisten und linke Sozialrevolutionäre.
Die Frage, wie Parteien entstehen und im Staat um die Hegemonie kämpfen, untersuchte auch Antonio Gramsci. In seinen Gefängnisheften unterschied er drei Ebenen oder Momente von Kräfteverhältnissen: (1) Die gesellschaftliche Ebene der Kräfteverhältnisse ist eng an die ökonomische Basis [Struktur] gebunden. Sie betrifft die Klassenverhältnisse auf der Basis des Entwicklungsgrads der Produktivkräfte. Dazu gehört der Stand der Industrialisierung, die Verteilung der Bevölkerung zwischen Stadt und Land, die Größe wichtiger Berufsgruppen und sozialer Schichten, etc.
(2.) Das zweite Moment, die politischen Kräfteverhältnisse, reflektiert sich im Grad »an Homogenität, Selbstbewußtsein und Organisation, den die gesellschaftlichen Gruppen erreicht haben.« Das hierbei erreichte Niveau kann sich auf die Vertretung berufsständischer, ökonomischer oder anderer kollektiver Partikularinteressen beschränken, aber auch das Bewusstsein einschließen, »daß die eigenen korporativen Interessen in ihrer gegenwärtigen und künftigen Entwicklung den […] Umkreis einer bloß ökonomischen Gruppe überschreiten und zu Interessen anderer untergeordneter Gruppen werden können und müssen.« Erst dann werden, so Gramsci, keimhafte Ideologien zur »Partei« und entbrennt der Kampf um Hegemonie.
Eine Partei oder Kombination von Parteien, die im Kampf um Hegemonie das Übergewicht erlangen und halten will, wird den Staat als ihrer eigenen Expansion dienlichen Organismus betrachten, aber sie wird ihr eigenes Interesse als das allgemeine oder nationale Interesse ausgeben und mit den Interessen der untergeordneten Gruppen stets aufs Neue abstimmen, so dass es zu einem ständigen »Sich-Bilden und Überwunden-Werden instabiler Gleichgewichte« zwischen den Interessen der herrschenden und denen der untergeordneten Gruppen kommt, »Gleichgewichte, in denen die Interessen der grundlegenden Gruppe überwiegen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, also nicht bis zum nackten korporativ-ökonomischen Interesse.«13
Als dritte Ebene der Kräfteverhältnisse sah Gramsci das militärische Moment, »das jedes Mal unmittelbar entscheidend ist.« Es enthält eine militärisch-technische und eine militärisch-politische Komponente. Die zweite kann die Effektivität der ersten schwächen oder stärken. Laut Gramsci schwankt die Geschichte stets zwischen dem ersten und dritten Moment der Kräfteverhältnisse, während das zweite zwischen beiden vermittelt. Entwicklungen der gesellschaftlichen Struktur bringen also widersprüchliche Gruppierungen hervor, deren Kämpfe um Hegemonie am Ende durch das militärische Moment für eine relativ dauerhafte Periode entschieden werden.
Die politische Herrschaft einer Klasse funktioniert laut Gramsci mittels »Hegemonie gepanzert mit Zwang«. Bekannt ist die Formel: Staat = Hegemonie + Zwang. Das Verhältnis zwischen beiden Polen variiert. In stabilen Phasen überwiege die Hegemonie den Zwang, in Krisen verhalte es sich umgekehrt. Jedenfalls herrsche eine Klasse nie allein durch Zwang, sondern immer auch mittels eines mehr oder weniger großen Konsenses der Beherrschten. Den Konsens zu organisieren, obliege den Intellektuellen. Unter Intellektuellen ist in diesem Kontext nicht eine soziale Schicht mit akademischen Titeln zu verstehen. Gramsci unterschied zwei große Gruppen von Intellektuellen, die organischen Intellektuellen und die traditionellen Intellektuellen.
Jede gesellschaftliche Klasse, die aufgrund einer wesentlichen Funktion in der Produktion entstehe, schaffe sich »zugleich organisch eine oder mehrere Schichten von Intellektuellen, die ihr Homogenität und Bewußtheit […] nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich geben«. Zentrales Element sind dabei die Parteien. Die Behauptung, alle Mitglieder einer Partei seien Intellektuelle, löse Spott aus. Doch sei nichts richtiger. Es komme auf die Funktion an, und diese sei in Parteien eine der Führung und der Organisation, also eine erzieherische und intellektuelle. »Geschichtlich bedeutet das Selbstbewußtsein die Hervorbringung einer Avantgarde von Intellektuellen: eine ›Masse‹ unterscheidet sich nicht und wird nicht ›unabhängig‹, ohne sich zu organisieren und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, das heißt ohne Organisatoren und Führer.«14
Als traditionelle Intellektuelle bezeichnete Gramsci gebildete Vertreter überlieferter Einrichtungen aus früheren Gesellschaftsstrukturen. Als Beispiel nannte er die »Kirchenmänner«, die ursprünglich die organischen Intellektuellen der grundbesitzenden Aristokratie gewesen und mit der Kontinuität der Kirche in der bürgerlichen Gesellschaft weiterhin wirksam seien. Ebenso zählte er gewisse Formen von Amtsträgern und Spezialisten zu dieser Intellektuellenkategorie. Ein Merkmal historisch aufsteigender sozialer Klassen sei ihr Kampf um die Assimilierung und ideologische Eroberung der traditionellen Intellektuellen, die umso wirksamer sei, »je mehr die gegebene Gruppe gleichzeitig ihre eigenen organischen Intellektuellen heranbildet«.15
Gramsci prägte den Begriff des integralen Staats. Er umfasst die Staatsapparate im engeren Sinne (Verwaltung, Justiz, Polizei, Heer, etc.) und zugleich Einrichtungen und Organisationen der Zivilgesellschaft (Kirchen, Familien, Schule, Universität, Vereine, Parteien, Denkfabriken, etc.) In den Staatsapparaten wie auch in der Zivilgesellschaft seien Intellektuelle »die ›Gehilfen‹ der herrschenden Gruppe bei der Ausübung der subalternen Funktionen der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung, nämlich: (1) des ›spontanen‹ Konsenses, den die großen Massen der Bevölkerung der von der herrschenden grundlegenden Gruppe geprägten Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens geben […]; (2) des staatlichen Zwangsapparats, der ›legal‹ die Disziplin derjenigen Gruppen gewährleistet, die weder aktiv noch passiv zustimmen, der aber für die gesamte Gesellschaft in der Voraussicht von Krisenmomenten […], in denen der spontane Konsens schwindet, eingerichtet ist.«16
Die vielfältigen Institutionen der Zivilgesellschaft, über die der integrale Staat zu Gramscis Zeit schon verfügte und die es ihm ermöglichten, genügend große Teile der Bevölkerung in das bestehende Herrschaftssystem zu integrieren, bezeichnete Gramsci als »massive Struktur«, die den Schützengräben und Befestigungsanlagen der Front im Stellungskrieg ähnlich sei. Eine verändernde, nach neuen Hegemonie- und Machtverhältnissen strebende Kraft müsse diese Befestigungen Zug um Zug einnehmen. Daher werde »das Moment der Bewegung, das vorher der ganze Krieg war, zu einem partiellen«. Im Stellungskrieg formiere sich Gegenmacht:
»Was läßt sich vonseiten einer erneuernden Klasse diesem phantastischen Komplex von Schützengräben und Befestigungen der herrschenden Klasse entgegensetzen? Der Geist der Abspaltung, das heißt der fortschreitende Erwerb des Bewußtseins der eigenen geschichtlichen Persönlichkeit, ein Geist der Abspaltung, der bestrebt sein muß, sich von der protagonistischen Klasse auf die potentiellen verbündeten Klassen auszuweiten: all das verlangt eine komplexe ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die genaue Kenntnis des Feldes ist, das leergemacht werden muß von seinem menschlichen Massenelement.«17
Die Versuche der Subalternen, zu eigenständigem Bewusstsein zu kommen, durchlaufen zahlreiche Stadien der Abgrenzung vom herrschenden Bewusstsein. Sie reichen von spontaner Wahrnehmung eigener Interessen, über Versuche der Reformierung bestehender Parteien bis zur Bildung eigener Parteien und deren Ausdehnung. Entscheidend sei in jeder Situation »die dauerhaft organisierte und von langer Hand vorbereitete Kraft, die man vorrücken lassen kann, wenn man eine Situation als günstig einschätzt (und günstig ist sie nur, sofern eine solche Kraft vorhanden und von kämpferischem Feuer erfüllt ist); deshalb ist die wesentliche Aufgabe, systematisch und geduldig darauf zu achten, diese Kraft zu formieren, zu entwickeln, sie immer homogener, kompakter, selbstbewußter zu machen.«18
Bewusstheit und Organisiertheit der Massen entstehen im Kampf um ihre Rechte. In ihm verschieben sich die Kräfteverhältnisse und befähigen sich die Massen, ihre Geschichte zu gestalten. Die Hegemonie einer Klasse setzt sich in dem Maße durch, in dem sie, über die eigenen korporativen Interessen hinausgehend, einen mehrheitsfähigen Block der Veränderung anführt. Erlangt sie die Macht, muss sie auch danach nicht nur herrschen, sondern zugleich führen. Sie muss Missstände von vornherein vermeiden, objektiv notwendige Veränderungen rechtzeitig selbst vornehmen, dazu auch Forderungen der Subalternen aufgreifen und sich Ideen der Gegenseite einverleiben. Je größer das Ausmaß an Konsens, desto stabiler die Herrschaft. Zieht man möglichst viele Kritiker und Oppositionelle auf die eigene Seite, gibt ihnen Gestaltungsspielräume innerhalb des Systems, kann ein Großteil der Subalternen eingebunden werden und die Bildung von Gegenmacht bleibt schwach. Ähnliches bewirken Spaltungen und das gegeneinander Ausspielen der Volksklassen.
Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus macht Reformen und die Erneuerung von Teilbereichen regelmäßig erforderlich. Gramsci unterschied »gelegenheitsbedingte«, konjunkturelle Krisen von »großen« oder »organischen Krisen«, die die Grundlagen des Systems berühren. Welche Auswege gefunden werden, hängt von den politischen Kräfteverhältnissen ab. Kommt ein Bündnis von unten, eine »Volksinitiative« nicht zustande oder bleibt sie schwach, dann behält die herrschende Klasse Zeit und Spielraum, die Krise von oben zu bearbeiten, unter Umständen mittels einer »passiven Revolution«, die das System auf reaktionäre Weise neuen Erfordernissen anpasst, ohne die Klassenmacht zu ändern. Gramsci nannte das auch Revolution/Restauration.19
Gramsci gewann seine politikwissenschaftlichen Einsichten durch das Studium bestimmter Abschnitte der Geschichte. Er befasste sich mit der Geschichte norditalienischer Stadtstaaten des 15./16. Jahrhunderts und den Schriften Machiavellis. Er untersuchte die vorantreibende Rolle der Jakobinerpartei während der Französischen Revolution. Er studierte das unterschiedliche, sich ergänzende Agieren der Parteien des italienischen Risorgimento, der Partei der Moderati und der Aktionspartei, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gegenstand seines Interesses waren nicht nur verschiedene historische Phasen der Formierung bürgerlicher Parteien, sondern auch der Fordismus und der Faschismus als verschiedene Varianten einer passiven Revolution im modernen, »gelenkten« Kapitalismus.
Im bürgerlichen Parlamentarismus der Bundesrepublik Deutschland hat sich nach 1945 ein im Vergleich zu anderen großen kapitalistischen Ländern relativ stabiles Parteiensystem etabliert. Die CDU unter Adenauer restaurierte im Verein mit den westlichen Besatzungsmächten die Macht des Monopolkapitals und erreichte die Aufnahme der BRD in das transatlantische Bündnis. Die KPD wurde verboten. Die SPD bekannte sich 1959 in Godesberg zum Kapitalismus und zur NATO. Links von ihr entstand eine starke außerparlamentarische Bewegung. Sie erkämpfte das vorläufige Ende der CDU-Ära, die Anerkennung der Ostgrenzen und eine Bildungsreform. Nach der Krise 1974/75 setzte unter Kanzler Helmut Schmidt wieder eine Rechtsentwicklung ein, die später schubweise in den Neoliberalismus überging. Die CDU/CSU gründete sich als bürgerliche »Volkspartei«. Mit christlichem und sozialem Anstrich verschaffte sie dem Monopolkapital eine Massenbasis bei Mittelständlern und »Arbeitnehmern«. Die kleinere bürgerliche FDP agierte dagegen oft »marktradikal«, ohne sozialpolitische Rücksichten. Ihr kam und kommt die Rolle zu, Mehrheiten für Regierungswechsel zu beschaffen und einen auf verbesserte Profitbedingungen gerichteten Kurs auch durch Koalitionsbeteiligungen zu sichern. Im Lauf der Zeit wandelte sich die FDP-Wählerbasis. Bis in die 1960er Jahre wählten protestantische Mittelständler, Landwirte und Bildungsbürger die FDP, später überwogen Angestellte, Akademiker, Jungunternehmer, Globalisierungsgewinner, sogenannte »Leistungsträger«. 1982 förderte die FDP den Kanzlerwechsel zu Helmut Kohl.
Prägend für die 1980er Jahre waren der Kampf für die 35-Stunden-Woche, der mit einem Kompromiss endete, die großen Friedensdemonstrationen gegen die Raketenstationierung und das Aufkommen der »neuen sozialen Bewegungen« gegen AKWs, für Frauenemanzipation und Minderheitenrechte. Ende der 1980er-Jahre erfolgte der Crash der DDR. Ihre Deindustrialisierung wurde für massive Wellen der Prekarisierung genutzt. Die Regierung Schröder/Fischer beteiligte sich am Krieg gegen Jugoslawien, womit auch die Grünen in der NATO ankamen. 2003 beschlossen SPD und Grüne die Agenda 2010 als zentrales Projekt des neoliberalen Umbaus des Sozialsystems. Die SPD verlor in der Folge den Status einer »Volkspartei«.
Die Grünen etablierten sich hingegen. Sie wurden zur Partei der rasch wachsenden gebildeten Mittelschichten. In den Großstädten gruben SPD und Grüne der CDU und CSU das Wasser ab. Die CDU unter Merkel wirkte dem mit dem Schwenk zum AKW-Ausstieg und mit dem Aufgreifen bestimmter Forderungen der neuen sozialen Bewegungen entgegen. Damit verlor die Merkel-CDU jedoch an Bindekraft nach rechts. In der Eurokrise 2008 ff. und der Flüchtlingskrise 2015 formierte sich mit der AfD eine Partei rechts von der CDU. Das schmälerte den »Volkspartei«-Status der CDU. Inhaltlich wurden CDU/CSU, FDP, Grüne und SPD immer ähnlicher. Sie bezeichnen sich gegenseitig als »regierungsfähig« und miteinander koalitionsfähig. Das Parteiensystem der Bundesrepublik ist somit auch ohne große »Volksparteien«, die im Wechsel die Regierung anführen, relativ stabil und im Interesse des Monopolkapitals voll funktionsfähig. Die vier »Regierungsfähigen« vermögen einen ausreichend großen Teil der Bevölkerung auch während anhaltender ökonomischer, sozialer und geopolitischer Krisen einzubinden, teilweise sogar für ihre Zwecke zu mobilisieren. Zudem existiert mit der AfD eine weitere neoliberale Aufrüstungspartei in Reserve, die Protestpotential ableiten und neutralisieren kann. Die Partei Die Linke ist stark geschwächt. Ein Teil tendiert zur Anpassung an die »Regierungsfähigen«.
So wenig wie zu den Zeiten Rosa Luxemburgs, als es eine starke Arbeiterbewegung gab, lässt sich das heutige Kartell neoliberaler NATO-Parteien allein durch Wahlen und Sitzverschiebungen aufbrechen. Ein besseres Leben für die Lohnabhängigen erfordert immer noch eine »gewaltige Machtentfaltung des Klassenkampfs«.
1 Antonio Gramsci, Die kommunistische Partei, 1920, aus: Christian Riechers (Hg.), Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, 1967, S. 80 ff.
2 Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 120.
3 MEW 8, S. 139.
4 MEW 8, S. 124.
5 Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1851, MEW 7, S. 20.
6 MEW 7, S. 37 f.
7 MEW 7, S. 60.
8 MEW 8, S. 141 f. Hervorhebung B. L.
9 MEW 8, S. 198 ff.
10 Rosa Luxemburg, Unsere Stichwahltaktik. »Leipziger Volkszeitung« 29.2., 1.3., 2.3. und 4.3.1912, zitiert aus Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, 1973, S. 119.
11 Die liberale Partei der Konstitutionellen Demokraten (abgekürzt KD) bildete sich 1905. Die Partei der Oktobristen bildete sich 1905 aus Befürwortern des Oktobermanifests des Zaren. Die Trudowiki waren eine aus der Volkstümlerbewegung hervorgegangene Intellektuellen- und Bauernpartei.
12 W. I. Lenin, Über Doppelherrschaft (1917), LW 24, S. 20–23.
13 Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bände 1–10, 1991–2002. Im folgenden Text angegeben als GH, danach Nr. des Bandes: GH 7, S. 1558 ff. (Heft 13, § 17).
14 GH 5, S. 1036 (Heft 8, § 169).
15 GH 7, S. 1497–1516 (Heft 12, § 1).
16 GH 7, S. 1501 f. (Heft 12, § 1).
17 GH 2, S. 374 (Heft 3, § 49).
18 GH 7, S. 1565 (Heft 13, § 17).
19 GH 6, S. 1329 f. (Heft 10, § 41).
Zur Gründung des MSB Spartakus (1971–1990)
Marxistische Blätter 3_2021, S. 99–105
Am 20./21. Mai 1971 gründeten in Bonn 218 Delegierte aus 45 Gruppen mit 1000 Mitgliedern an Hoch- und Fachhochschulen der Bundesrepublik den Marxistischen Studentenbund Spartakus. Er bestand bis Juni 1990. In den zwei Jahrzehnten seines Wirkens gewann er beachtlichen Einfluss in der Studentenschaft. In den 1970er Jahren hatte er bis zu 6500 Mitglieder und Gruppen an allen größeren Hochschulen. Er nahm im Bündnis mit dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) Einfluss auf Fachschaftsräte, Studentenparlamente, Allgemeine Studentenausschüsse und den Dachverband VDS. Mit seinem Namen stellte sich der Spartakus in die Tradition der KPD/DKP. In der Geschichte der BRD war er die erste und bisher letzte mit der kommunistischen Partei verbundene Studentenorganisation.
Vorgänger waren die sogenannten »Traditionalisten« im SDS.1 Der SPD-Studentenverband bekämpfte den Kurs der SPD-Führung auf Remilitarisierung und Westbindung, blieb kapitalismuskritisch und antiimperialistisch und wurde daher 1960 aus der SPD hinausgeworfen. Danach orientierte sich ein Teil der SDS-Führung an der Neuen Linken Englands und Frankreichs. Der SDS war Teil der außerparlamentarischen Opposition gegen Remilitarisierung und Atomwaffen, gegen Kolonialismus, den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze, gegen NPD und Große Koalition. Neben linken Sozialdemokraten und Sozialisten gab es im SDS in kleiner Anzahl auch KPD-nahe Studenten. Nach dem 2. Juni 1967 überwogen die »Antiautoritären«. Sie spielten auf dem Höhepunkt der 1968er Studentenbewegung die führende Rolle.
Die Antiautoritären verstanden es, handelnd voranzugehen, zu mobilisieren, den repressiven Charakter des Systems zu entlarven und Reformillusionen zu zerschlagen. Das zog auch Schüler und Arbeiterjugendliche an. Die CDU-Presse, vor allem der Springer-Konzern, hetzte gegen die angeblich privilegierten Studenten. Manche bürgerlichen Medien waren aber von den Aktionen angetan. Ein Teil des Monopolkapitals wollte den Schwung der Bewegung nutzen, um den Reformstau aus zwanzig Jahren CDU-Regierungen aufzulösen und das System zu effektivieren. Die Reform und quantitative Ausweitung des Bildungswesens waren überfällig, zumal nach dem Bau der Mauer der Brain Drain aus der DDR versiegte. Unhaltbar war auch die revanchistische Außenpolitik. Mit der Nichtanerkennung der Ostgrenzen geriet die BRD zunehmend international in die Isolierung.
Nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze durch die Große Koalition 1968 ebbte die außerparlamentarische Bewegung ab. Für die Studentenbewegung lag jetzt der Fokus auf der Abwehr der technokratischen Hochschulreform, die auf Expansion des Hochschulwesens und die stärkere Anpassung seiner Verwaltung an die Bedürfnisse des Monopolkapitals zielte. Neue, je nach Land mehr oder weniger reaktionäre Länderhochschulgesetze beseitigten die Alleinherrschaft der Ordinarien und stärkten den Einfluss von Staat und Wirtschaft. Studenten, Dozenten und Personal durften in Maßen mitbestimmen. In der akademischen Selbstverwaltung konnten die Professoren zeitweilig überstimmt werden. Zwar zog der konservative »Bund Freiheit der Wissenschaft« dagegen zu Felde und erreichte ein teilweises Rollback, doch die Lage hatte sich verändert. Die Konzepte und Strategien der Antiautoritären hatten sich erschöpft. Immer mehr Studenten schwante, dass eine grundlegende Gesellschaftsveränderung ohne aktives Eingreifen der Arbeiterklasse nicht erreichbar war. Studienzirkel zur »Klassenanalyse der Intelligenz«, Kapital-Schulungen, Projektgruppen zur »revolutionären Berufspraxis« etc. bekamen massenhaften Zulauf.
In den Fachbereichen stand die Studienreform auf der Tagesordnung. Teile des demokratischen Potentials der Hochschulen, auch viele Studenten, brannten darauf, schon erarbeitete Alternativen einzubringen. Es gab Reformillusionen. Sinnvoll war Gremienarbeit, wenn sie sich auf den Massenkampf stützen konnte. Zugleich galt es, die Studentenschaft zur Abwehr staatlicher Bestrebungen reaktionärer Formierung, wie Numerus Clausus, Prüfungsordnungen, Kurzstudiengänge, Ordnungsrecht und Angriffen auf die Verfasste Studentenschaft, immer wieder zu mobilisieren. Nötig war die Beherrschung der Dialektik von Reform und Revolution. Zudem war der Hauptstoß gegen die Rechtskräfte zu richten, die selbst kleinste Zugeständnisse zurückrollten. Fast jede konkrete Forderung löste auf Versammlungen Grundsatzdiskussionen aus.
Situation einer Umstellung und Umgruppierung
Mitten in dieser Umstellung formierte sich der MSB Spartakus. 1969 bildeten SDS-Gruppen vorwiegend aus NRW in Westhofen die Assoziation Marxistischer Studenten (AMS) – Spartakus. Ihre Grundsatzerklärung stellte fest, die Studentenbewegung habe einen Punkt erreicht, an dem eine Reihe von theoretischen Differenzen »unmittelbar praxisrelevant« geworden seien. Dabei gehe es um die folgenden Fragen:
- Gibt es heute noch eine revolutionäre Klasse?
- Braucht man heute noch zum Kampf eine revolutionäre Partei der Arbeiterklasse, eine kommunistische Partei?
- Nach welchen Kriterien wählen wir die Mittel im Kampf gegen die Herrschenden?
- Welches ist das Verhältnis von theoretischem und praktischem Kampf?
- In welchem Verhältnis steht der Kampf der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern zum Kampf der nationalen Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt« und zur Rolle der sozialistischen Länder?
Die Grundsatzerklärung der AMS nahm die Positionen der Antiautoritären zu diesen Fragen in knapper Form auseinander und begründete die eigenen. Sie sah in der Arbeiterklasse die Hauptkraft, in den sozialistischen Ländern eine wichtige Stütze im Kampf um Fortschritt. Die existierende Studentenbewegung schätzte sie als »in ihrem Grundcharakter antiimperialistisch« ein, auch wenn sie in einigen der obigen Fragen falsche oder unklare Positionen vertrete. Umso wichtiger sei das eigenständige Wirken der Marxisten in dieser Bewegung, um weiterführende Positionen zu fördern. Es gelte, Teile der Intelligenz als sozialistische Kader zur Unterstützung der Arbeiterbewegung zu gewinnen. Zudem sei Interessenvertretung der Intelligenz umso notwendiger, je mehr diese nicht mehr nur Bündnispartner der Arbeiterklasse sei, sondern zu einem Teil der Arbeiterklasse werde, der in und mit der Arbeiterbewegung seine spezifischen Interessen zu formulieren und zu vertreten habe.2
Seit 1965 gab der SDS Köln die Zeitschrift Facit heraus, in der über die Produktivkraft Wissenschaft, die wissenschaftlich-technische Revolution, die Klassenlage der Intelligenz und daraus folgende Probleme der Studentenbewegung diskutiert wurde. Dort schrieben u. a. Gerhard und Elisabeth Bessau, Anne Nigbuhr, H. J. v. Heiseler, Johanna Hundt, Herbert Lederer, Gunnar Matthiessen, Christof Kievenheim, André Leisewitz, Lothar Peter, Kurt Steinhaus, Michael Maercks, Fred Schmidt, Gerhard Bauß, Karlheinz Heinemann, Jan Priewe, Dirk Krüger, Rolf Geffken, Claus Proft. Facit bereitete die Programmdiskussionen der AMS und des späteren MSB vor.
Im März 1970 verkündete der SDS auf Bundesebene seine Auflösung. Zu den letzten »Taten« des SDS-Bundesvorstands gehörte der Versuch, den Verband deutscher Studentenschaften zu liquidieren. Auf der 21. Mitgliederversammlung des VDS im November 1969 erklärten SDS-Führer die Umwandlung des VDS zur sozialistischen Kampforganisation für gescheitert. SDS-dominierte ASten traten aus dem Dachverband aus. SHB-ASten, unterstützt durch Spartakus – AMS, kritisierten die Liquidierung als Hilfsdienst für die Pläne der Reaktion, die Verfasste Studentenschaft abzuschaffen und sorgten für einen Notvorstand.3 In der Folgezeit entwickelten SHB und Spartakus im VDS die Politik der gewerkschaftlichen Orientierung.
Grundlage war die Einschätzung, dass mit der wissenschaftlich-technischen Revolution die soziale Lage des größten Teils der Angehörigen der Intelligenz sich an die Lage der Arbeiterklasse annäherte. Schon im Studium müsse die Masse der Studierenden ihre eigenen Interessen an der Seite der Arbeiterklasse und der Gewerkschaften gegen das Großkapital durchsetzen. Die Organe der Verfassten Studentenschaft seien zu gewerkschaftsähnlichen Instrumenten des studentischen Massenkampfs zu entwickeln, ihr politisches Mandat zu verteidigen. Dasselbe Monopolkapital, das die reaktionäre Hochschulformierung antrieb, war auch Motor und Hauptprofiteur des Imperialismus und Neokolonialismus. Die Veränderung der Kräfteverhältnisse mit dem Ziel der Einschränkung und letztlichen Überwindung der Macht des Monopolkapitals war das gemeinsame Interesse aller Emanzipationsbewegungen.
In der Aktionseinheit, die, wenn möglich, auf weitere progressive Gruppen ausgeweitet wurde, gewannen die gewerkschaftlich orientierten Verbände rasch an Masseneinfluss. Als 1971 der MSB Spartakus sich gründete, war er schon vielerorts in der Studentenschaft verankert. Das reflektierten auch die bürgerlichen Medien. »Die SPARTAKISTEN haben gute Chancen, schon in kurzer Zeit eine Volksfrontpolitik an den Hochschulen durchzusetzen«, warnte die Süddeutsche Zeitung (26.5.1971) und Springers Welt klagte:
»SPARTAKUS, das Satellitengeschwader der DKP, hat in diesem Sommersemester einen stürmischen Aufschwung genommen. Er ist in 40 Hochschulen eingeflogen, stellt an vier Hochschulen den AStA-Chef, praktiziert an acht weiteren die kleine Volksfront mit dem Sozialdemokratischen Hochschulbund, über den die große Mutterpartei geflissentlich hinwegsieht.« (15.7.1971)
»Volksfronten an den Hochschulen«
CDU/CSU, Springerpresse und Bund Freiheit der Wissenschaft liefen Sturm gegen die Aktionseinheit. Zugleich nahmen sie die SPD wegen der Ostpolitik unter Beschuss. Direkt nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags durch die Regierung Brandt leitete der Hamburger Senat mit dem berüchtigten »Radikalenerlass« offiziell die Politik der Berufsverbote ein. Im Januar 1972 übernahm eine Innenministerkonferenz den Beschluss. Die SPD hielt es für nötig, »zu dokumentieren, dass außenpolitische Realpolitik, d. h., Verständigung mit dem Osten, keinesfalls identisch mit einem besseren inneren Verhältnis zu Kommunisten sei«, interpretierte der Politikwissenschaftler Thränhardt.4 Dazu passte, dass die SPD seit 1971 auch dem SHB jede finanzielle Unterstützung verweigerte und ihm 1972 verbot, sich »sozialdemokratisch« zu nennen. Der SHB teilte das Schicksal seines Vorgängers SDS.
Gegen die Berufsverbote entstand bald eine Bewegung im In- und Ausland. In Frankreich sprachen sich Konservative wie Alfred Grosser gegen sie aus. Nachdem Kommunisten und Sozialisten Frankreichs 1972 ein gemeinsames Programm vorgelegt hatten, wurde François Mitterand 1976 Mitbegründer des französischen Komitees gegen die Berufsverbote in der BRD. Organisationen der Résistance protestierten jahrzehntelang. In der Bundesrepublik gab es zentrale und dezentrale Aktionen gegen die Berufsverbote, die sich meist an Fällen entzündeten und manchmal Erfolg hatten. Ab 1985 bröckelte die Front der Länderregierungen. Erst 1991 stellte Bayern die Regelanfrage beim Verfassungsschutz ein.
Für Rehabilitation und Entschädigung kämpfen viele Betroffene bis heute.5
Im VDS setzten sich die gewerkschaftlich orientierten Verbände für eine politische Plattform zur Kooperation mit den JuSo-Hochschulgruppen, dem Liberalen Hochschulverband und der (in sich heterogenen) Basisgruppenfraktion ein. Das war ein konfliktreicher Prozess. So blockierte auf der 24. VDS-MV im März 1972 ein buntscheckiges Bündnis aus JuSo-Asten (Saarbrücken, Köln), dem rechten AStA der TU Clausthal, dem FDP-AStA der PH Münster, vom SHB abgespaltenen SHB/SF-ASten und der von Vorläufergruppen des KBW dominierten Basisgruppenfraktion die Einigung auf eine politische Plattform. Die Forderung nach Ratifizierung der Ostverträge lehnten sie ab. Die MV wurde durch den Auszug der SHB/MSB-ASten abgebrochen.
Die von der Regierung Brandt/Scheel geschlossenen Verträge zur Anerkennung der Ostgrenzen stießen auf heftige Ablehnung der CDU/CSU und revanchistischer Vertriebenenverbände. Vor der Ratifizierung im Bundestag liefen Abgeordnete der FDP und ein Vertriebenenfunktionär der SPD zur CDU-Fraktion über oder erklärten, bei einem Misstrauensantrag für den Sturz der Regierung zu stimmen. Am 24. April 1972, dem Tag der Abstimmung, herrschte in der Bevölkerung, die mit großer Mehrheit für bessere Nachbarschaft mit dem Osten war, gespannte Aufmerksamkeit.
Fortschrittliche Kräfte bereiteten Aktionen gegen den Sturz der Regierung und für die Ratifizierung der Verträge vor. So beschlossen in Hamburg parallele Versammlungen von Studenten und Hafenarbeitern, gemeinsam zu demonstrieren. 20.000 nahmen teil. Auf der Kundgebung sprachen der Betriebsratsvorsitzende des Hafens und der Unipräsident.
In anderen Städten lief es ähnlich. Es war einer der wenigen Momente, in denen sich das proklamierte Bündnis von Arbeiterklasse und Studenten einmal materialisierte. Das gab auch der Aktionseinheit im VDS einen Schub. Die im März abgebrochene 24. VDS-MV ging im Mai weiter. Eine politische Plattform mit den JuSos, die den Friedenskampf nicht mehr hintanstellen wollten, kam zustande.
Die kurze »Reformära« unter Willy Brandt Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, von der viele Sozialdemokraten heute nostalgisch träumen, war zugleich reformistisch und repressiv. Konsequent linke Kräfte wurden mit Berufsverboten und anderen Mitteln bedroht. Zugleich legte die Regierung Konzepte vor, die sich heute wie konkrete Utopien lesen, wie etwa das Ziel eines einheitlichen, durchlässigen Bildungswesens von der Vorschule, über die Gesamtschule bis zur Gesamthochschule, das Arbeiterkindern durch besondere Förderung Chancen bieten sollte, mit Kindern aus den traditionellen Bildungsschichten mitzuhalten. Die Aufbruchsstimmung währte nicht lange. In den Ländern verteidigte die CDU/CSU das Bildungsprivileg mit Zähnen und Klauen, um die traditionellen Mittelschichten bei der Stange zu halten.
Die Krise 1974/75
Die Krise 1974/75 veränderte die Kampfbedingungen grundlegend. Der materielle Spielraum für Zugeständnisse wurde enger. Im Bildungsbereich regierte der Rotstift. Die Studentenzahlen verdreifachten sich von 1970 bis 1983, aber es sollte möglichst wenig kosten. Für die Studentenbewegung trat die Abwehr von Verschlechterungen in den Vordergrund. 1974 und 1975 nahmen Zehntausende an Sternmärschen gegen BAföG-Kürzungen teil. 120.000 stimmten in einer Urabstimmung zur Zusammenlegung von VDS und SVI (Studentenverband der Ingenieurstudenten) für die gesetzliche Verankerung der Verfassten Studentenschaft mit politischem Mandat. In einem Klima der Unsicherheit und Skepsis verliefen Mobilisierungen zäh. Im VDS-Vorstand gab es Streit. Die JuSo-Hochschulgruppen wollten ein »Semester des Nachdenkens« einlegen. Bürgerliche Medien riefen eine »Tendenzwende« aus.
Doch ein neuer Aufschwung stand bevor. Im Wintersemester 1975/76 riefen die (aus SVI und altem VDS) Vereinigten deutschen Studentenschaften zu bundesweiten Aktionstagen gegen die Hochschulformierung auf. 1976 gab es landesweite Streiks gegen das Hochschulrahmengesetz. Am geplanten Zweitstudienverbot im HRG entzündete sich ein bundesweiter Streik der Fachhochschüler. Dem folgte 1977/78 der erste nationale Studentenstreik. Zehn Jahre nach 1967 sprachen bürgerliche Medien von einer »neuen Studentenbewegung«. Doch anders als 1967 gab es in der Bourgeoisie diesmal keine Fraktion, die die Bewegung für einen technokratischen »Reformschub« im eigenen Interesse nutzen wollte. Die Forderungen wurden ignoriert. Universitäten wurden gar der »Nähe zum Terrorismus« verdächtigt.6
1982 verlangte Kohl eine »geistig-moralische Wende«, um den Geist von 1968 zu vertreiben. Zugleich thematisierten die »neuen sozialen Bewegungen« die ökologische Krise, die AKW-Frage, die Frauenunterdrückung und Minderheitenrechte. Viele diagnostizierten eine Krise des Marxismus, der diese Fragen bisher vernachlässigt habe. In den akademischen Mittelschichten galt die »alte soziale Frage«, der ungelöste Gegensatz von Arbeit und Kapital, zunehmend als obsolet. Die Arbeiterbewegung kämpfte noch um die 35-StundenWoche. Der erreichte Kompromiss brachte zwar Arbeitszeitverkürzung, öffnete aber zugleich das Tor für Flexibilisierungen. Der Zusammenbruch der UdSSR und des Sozialismus in Europa schwächte alle Linken nachhaltig. Die herrschende Klasse nutzte die Abwicklung und Deindustrialisierung der DDR für eine massive Welle der Prekarisierung. Die sozialen Spaltungen unter Lohnabhängigen wurden tiefer. Kulturelle Spaltungen kamen dazu.
Neue Studentengenerationen, die ihr Studium nach der Krise 1974/1975 aufnahmen, kannten nicht die Erfahrung der 1968er, dass Veränderungen meist ungleichmäßig und manchmal sprunghaft verlaufen. Sie kannten nur Abwehrkämpfe gegen stets neue Schübe der Rechtsentwicklung. Die Hoffnung auf die gesellschaftsverändernde Rolle der Arbeiterklasse schwand zunehmend, da die Arbeiterbewegung selbst eine Niederlage nach der anderen einsteckte. Im Strukturwandel verlor sie kämpferische Sektoren, z. B. mit dem Abbau der Stahlindustrie. Vielen erschienen jetzt die Grünen attraktiver, die in den 1980er Jahren als links galten und bei Wahlen auf Anhieb an der DKP vorbeizogen. Der Hamburger Parteitag der DKP im April 1986, wenige Tage nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, zeigte erstmals einen tiefen Riss in der Partei. Von da an nahmen Stagnation, Austritte und Abspaltungen ihren Lauf.
Der Abwärtssog traf alle marxistischen Kräfte. Einen Studentenverband wie den MSB, dessen Mitglieder wegen der Studiendauer ohnehin stark wechseln, traf es besonders hart. Mitgliederschwund und Überalterung setzten ein. Das Einschwenken auf den Gorbatschowismus, der sich als Ideologie der Selbstauflösung des Kommunismus entpuppte, rettete den MSB nicht, sondern beschleunigte den Zerfall. Die Perestroika scheiterte noch vor der Auflösung des MSB. Letztere beschloss ein Bundeskongress im Juni 1990. Bei 41 anwesenden von 57 gewählten Delegierten, die noch ungefähr 500 Mitglieder aus 16 Orten repräsentierten, stimmten 34 für die Auflösung, 4 dagegen, 3 enthielten sich. Trotz jahrelangen, schleichenden Schwunds hält sich das amtliche Narrativ, der MSB Spartakus habe sich aufgelöst, weil nach dem Zusammenbruch der DDR von dort kein Geld mehr geflossen sei.
Zum Verschwinden des MSB Spartakus
Ergiebiger erscheint ein Vergleich des Untergangs des MSB Spartakus mit dem Zerfall des SDS. Die These vom »relativen gesellschaftlichen Charakter« der Studentenbewegung, die der frühere Berliner SDS-ler Wolfgang Lefèvre in dem Buch Der 2. Juni 1967 und die Studentenbewegung heute (1977) formulierte, ist dabei hilfreich. Laut Lefèvre ist keines der konkreten Probleme, um die es der Studentenbewegung geht, durch die Studentenbewegung allein lösbar. Demokratische Anliegen der Studenten sind in der Regel nur durchsetzbar auf der Basis eines für die Arbeiterklasse günstigen Kräfteverhältnisses. Als objektiv entscheidende antikapitalistische Kraft vermag die Arbeiterklasse dieses Kräfteverhältnis direkt zu ändern. Von der Studentenbewegung können hierfür nur Impulse ausgehen.
Da sich die Bewegung der Arbeiterklasse »nicht nach den jeweiligen Erfordernissen des studentischen Kampfes richtet«, ist der »relative gesellschaftliche Charakter« der Studentenbewegung, so Lefèvre, deren Kernproblem. »Resignation oder Ignorierung dieses objektiven Problems und entsprechende Versuche, die studentische Bewegung als autonomen Inhalt aufzufassen, liegen nur zu nahe.«7 Mit diesem Problem sei die Studentenbewegung 1968/69 nicht fertig geworden. Als sie ins Stocken kam, »gewannen Kompensationsstrategien die Oberhand«. Als solche Strategien sieht er sowohl die »Organisation der eigenen Bedürfnisse« als auch Versuche, »die Revolution auf eigene Faust zu machen«, sei es durch Gründung von K-Gruppen, sei es auf dem Wege der RAF. Autonome Selbstorganisation und kaderförmige Sekte seien dabei zwei Seiten einer Medaille und könnten ineinander umschlagen.
Scheiterte auch der MSB letztlich an der Lösung dieses Kernproblems des »relativen gesellschaftlichen Charakters« der Studentenbewegung? Es erklärt zumindest, warum der MSB für eine Selbstauflösung anfälliger war als DKP und SDAJ. Auch diese Organisationen haben bessere Zeiten gesehen und tun sich heute schwer, aber sie blieben am Leben und können halbwegs organisiert wirken. Ein »nach links verschobenes Kräfteverhältnis an den Hochschulen«, das Meinungsforscher noch für die 1980er Jahre konstatierten, ließ sich offenbar auf Dauer nicht gegen eine gesamtgesellschaftliche Rechtsentwicklung aufrechterhalten. Auch entsteht aus der Annäherung der Lage großer Teile der Intelligenz an die der Arbeiterklasse keine spontane Tendenz nach links. Linksentwicklung setzt in der Arbeiterklasse wie in der Intelligenz das aktive praktische und theoretische Wirken von Marxisten voraus.
Frühere MSB-Spartakus-Mitglieder stellen in der DKP heute einen beachtlichen Teil der »älteren Generation«. Viele Ehemalige des MSB arbeiten in der Partei Die Linke mit. Andere sind in der Friedensbewegung, in Gewerkschaften, in progressiven Wissenschaftlerverbänden oder außerparlamentarischen Bewegungen aktiv. Viele haben sich aus dem politischen Leben zurückgezogen oder verarbeiten ihr eigenes noch. Wenige liefen zu bürgerlichen Parteien über. Das Abrackern über Jahrzehnte war nicht vergeblich. Ohne das oft frustrierende Abrackern wäre das demokratische Potential unseres Landes heute schwächer. Zur Realität gehört aber, dass in der sozialen Schicht der Intelligenz und in den neuen lohnabhängigen Mittelschichten heute die Grünen hegemonial sind, die inzwischen zu einer neoliberalen NATO-Partei wurden und dabei sind, Mehrheitsbeschafferin und Juniorpartner der von der Hauptpartei des Monopolkapitals CDU/CSU geführten, nächsten Bundesregierung zu werden.
1 Fremdbezeichnung durch jene, die sich selbst die Antiautoritären nannten.
2 Grundsatzerklärung des Spartakus – AMS, in: Facit 17–1969, S. 26 ff.
4 Dietrich Tränhardt: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1949–1990. edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, S. 205 f.
5 Vgl.: https://dkp.de/partei/theorie-und-bildung/zehntausende-mitglieder-ueber-1-000-berufsverbote/.
6 Vgl.: B. Landefeld/H. Lederer/S. Lehndorff, Der Streik – Lehren aus dem ersten nationalen Studentenstreik Wintersemester 1977/78, Dortmund 1978, S. 28 f.
7 W. Lefèvre, Wird die »neue« Studentenbewegung die alte sein? In: G. Amendt/H. Lederer/W. Lefèvre/S. Lehndorff u. a., Der 2. Juni 1967 und die Studentenbewegung heute, 1977, S. 14.
Marx, Engels, Lenin und Deng – auf Umwegen zum Sozialismus?
Marxistische Blätter 6_2020, S. 40–47
Marx und Engels leiteten aus den inneren Widersprüchen des Kapitalismus seine Vergänglichkeit ab. Aus der Lösung der grundlegenden Widersprüche des kapitalistischen Systems ergeben sich die allgemeinen Merkmale der künftigen, kommunistischen Gesellschaft. Der Widerspruch zwischen der Vergesellschaftung der Produktion und der privaten Aneignung ihrer Ergebnisse ist durch die Überführung der entscheidenden Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum lösbar. Die Interessenlage der von ihren Produktionsmitteln getrennten, ausgebeuteten Arbeiterklasse verleiht dieser die Potenz, die politische Macht zu erringen, um der Bourgeoisie »nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren«.1 An die Stelle der Anarchie des Marktes tritt die bewusste Planung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Menschen. Im Verlauf der ökonomischen Umwälzung werden Ware, Wert, Handel und Geld überflüssig und irgendwann verschwinden.
Die allgemeinen Merkmale des Sozialismus, (1) gesellschaftliches Eigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln, (2) politische Macht der Arbeiterklasse (Diktatur des Proletariats), (3) gesamtgesellschaftliche Planung, entsprechen der Logik einer auf die Lösung der kapitalistischen Widersprüche gerichteten Entwicklung. Marx unterschied in seiner Kritik des Gothaer Programms 1874 zudem zwischen zwei Phasen der künftigen Gesellschaft: In der ersten gelte noch bürgerliches Recht und das Prinzip der Verteilung nach der Leistung, gemessen in Arbeitszeit. In der höheren Phase, wenn »alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«, gelte das Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«2 Für die beiden Phasen setzten sich die Begriffe Sozialismus/Kommunismus durch. Der Entwicklungslogik des Sozialismus/Kommunismus entsprechen weitere Veränderungen, wie das Verschwinden der Klassenunterschiede, des Unterschieds zwischen Stadt und Land, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. Zudem verliert mit der Zeit »die öffentliche Gewalt den politischen Charakter«3 und stirbt der Staat als Instrument der Klassenherrschaft allmählich ab.
Hohes Niveau der Produktivkräfte
Die Umwälzungen betreffen die politischen Herrschaftsverhältnisse wie auch die Eigentumsverhältnisse und gehen von einem hohen Entwicklungsniveau der Produktivkräfte aus. Das schließt die kulturell-geistigen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Qualifikationen der Menschen ein, die sich zusammen mit der materiell-technischen Basis der Gesellschaft bilden. Die Maßregeln zur Gestaltung der künftigen Gesellschaft, die das Manifest der Kommunistischen Partei 1848 formulierte, galten ausdrücklich »für die fortgeschrittensten Länder«. Das waren damals Länder wie England, Frankreich und Deutschland, in denen die Widersprüche am ausgereiftesten waren und die Formen ihrer Lösung sich abzeichneten. Marx und Engels nahmen an, dass diese Länder die Ersten sein würden, in denen es zu Revolutionen kommen werde. Die siegreiche Arbeiterklasse der reichen Länder werde den Völkern armer Länder dann helfen, ihre Rückstände im Produktivkräfte-Niveau aufzuholen.
In einem Briefwechsel mit der russischen Narodniki Wera Sassulitsch antwortete Marx 1881 auf die Frage, ob sich die in Russland damals noch verbreitete Bauerngemeinde, in der es archaisches Gemeineigentum gab, in den Sozialismus »überführen« lasse, ohne dass das Gemeineigentum zunächst einer kapitalistischen Entwicklung Russlands zum Opfer falle. In seiner knappen Antwort hielt Marx das Hinüberretten der Bauerngemeinde für möglich, vorausgesetzt, man würde »zuerst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen, beseitigen«.4 In Entwürfen zu seiner Antwort reflektierte er Entwicklungsmöglichkeiten der russischen Bauerngemeinde: »Das Gemeineigentum an Grund und Boden bietet ihr die natürliche Basis der kollektiven Aneignung und ihr historisches Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion, bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollektiven Arbeit. Sie kann sich also die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften aneignen, ohne dessen Kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen.«5
Friedrich Engels beschrieb 1895 die russische Bauerngemeinde als antriebslos und unfähig, aus sich selbst heraus »eine höhere Form des Gemeineigentums zu entwickeln«. Dass die Frage danach überhaupt gestellt werde, sei nur dem Umstand geschuldet, dass sie sich in einem europäischen Land so lange gehalten habe, bis bereits »die kapitalistische Produktion, in Westeuropa in Widerspruch geraten ist mit den von ihr selbst erzeugten Produktivkräften, […] sich unfähig beweist, diese Kräfte fernerhin zu leiten, und […] an diesen innern Widersprüchen und den ihnen entsprechenden Klassenkonflikten zugrunde geht«. Die Initiative zu einer sozialistischen Umgestaltung der russischen Gemeinde könne nicht von ihr selbst ausgehen, »sondern einzig von den industriellen Proletariern des Westens. Der Sieg des westeuropäischen Proletariats über die Bourgeoisie, die damit verknüpfte Ersetzung der kapitalistischen Produktion durch die gesellschaftlich geleitete, das ist die notwendige Vorbedingung einer Erhebung der russischen Gemeinde auf dieselbe Stufe.«6 Die Klassiker hielten es für möglich, dass ein zurückgebliebenes Land mit vorkapitalistischen Produktionsweisen sich sozialistisch orientiert, ohne die Stufe des Kapitalismus zu durchlaufen. Bedingung war seine Fähigkeit, sich die Errungenschaften der Technik und Kultur aus den fortgeschrittensten Ländern anzueignen, um sie für die Schaffung der materiell-technischen Basis des Sozialismus zu nutzen. Ein solcher Transfer setzte normalerweise voraus, dass in den fortgeschrittensten Ländern das Proletariat schon herrschte, wie Engels 1895 klipp und klar formulierte. Engels nahm an, dass eine demokratische Revolution in Russland ein wichtiger Anstoß für die Proletarier des Westens sein könne, die sozialistische Umwälzung zu beginnen. Darauf setzten auch Lenin und die Bolschewiki in den Revolutionen 1905 und 1917. Bis 1917 hatten sich in Russland schon Elemente des staatsmonopolistischen Kapitalismus durchgesetzt, wenn auch ungleichmäßig. Trägerin der Oktoberrevolution war die Arbeiterklasse im Bündnis mit der gesamten Bauernschaft.
Nach der Oktoberrevolution gingen die Industriearbeiter relativ schnell zur Verstaatlichung von Fabriken über, während es auf dem Lande zunächst zu einer demokratischen Bodenreform kam. Der Boden wurde nationalisiert und zur Nutzung an die Bauern verteilt. Erst zu Beginn des Bürgerkriegs 1918 formierte sich das Bündnis von Arbeiterklasse und Dorfarmut gegen die Kulaken und für sozialistische Umgestaltungen.7 Der Staat förderte die Kollektivierung. Die zentrale Planung war eingeführt. Im ›Kriegskommunismus‹ herrschte in der Praxis eine zentralistische Kommandowirtschaft vor. Überschüsse der Bauern wurden requiriert. Es gab Arbeitspflicht für alle und Lebensmittelrationierungen. Teils war der Handel durch direkte Verteilung und Naturalaustausch abgelöst. Die Abschaffung des Geldes und eine egalitäre Gesellschaft schienen nahe. Die Lage erzwang diese Maßregeln einer Kriegswirtschaft. Es gab jedoch die Neigung, sie als Schritte zum Kommunismus zu idealisieren.
1921, am 4. Jahrestag der Oktoberrevolution, schrieb Lenin rückblickend: »Wir rechneten darauf – vielleicht wäre es richtiger zu sagen: Wir nahmen an, ohne genügend zu rechnen –, daß wir durch unmittelbare Befehle des proletarischen Staates die staatliche Produktion und die staatliche Verteilung der Güter in einem kleinbäuerlichen Land kommunistisch regeln könnten. Das Leben hat unseren Fehler gezeigt. Es bedarf einer Reihe von Übergangsstufen: Staatskapitalismus und Sozialismus, um den Übergang zum Kommunismus vorzubereiten, ihn durch die Arbeit einer langen Reihe von Jahren vorzubereiten.« Neben revolutionärem Enthusiasmus sei das Bemühen nötig, »auf Grund des persönlichen Interesses, der persönlichen Interessiertheit, der wirtschaftlichen Rechnungsführung […] zuerst feste Stege zu bauen, die in einem kleinbäuerlichen Land über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führen«.8
Die NÖP
Im März 1921 hatte der 10. Parteitag der KP Russlands die Neue Ökonomische Politik (NÖP) eingeleitet. Kennzeichnend für sie war der Einsatz ökonomischer Stimuli anstelle administrativen Zwangs. So ersetzte eine niedrigere Naturalsteuer die Requirierungen. Was die Bauern nach Steuern übrig hatten, konnten sie verkaufen. Der Reform war eine die Sowjetmacht gefährdende, politische Krise mit Arbeiter- und Bauernaufständen vorausgegangen. Die NÖP erneuerte das Bündnis mit den Bauern. Sie diente dem Wiederaufbau und der Reindustrialisierung nach 7 Jahren schwerer Kriegsverheerungen, durch die viele Fabrikanlagen zerstört und die Arbeiterklasse dezimiert war. Konzessionen an das Auslandskapital sollten den Aufbau einer Großindustrie mit modernen Maschinen beschleunigen. Internationale Handelsverträge, Förderung des privaten Handwerks und der Hausindustrie sollten den inneren Markt beleben. Der Sinn der NÖP war aber nicht nur die Beseitigung von Kriegsschäden. Sie war auch ein Programm zur Schaffung der materiell-technischen Basis des Sozialismus in einem rückständigen Land, nachdem die Revolution im Westen immer noch ausblieb. Gemessen an den allgemeinen Merkmalen des Sozialismus war die NÖP ein Rückzug, ein Übergang »vom Sturmangriff zur Belagerung«, der unter Linken im In- und Ausland höchst umstritten war. Lenin konstatierte nüchtern, die damalige ›Sozialistische Sowjetrepublik‹ (SSR) sei ein Land, das entschlossen sei, zum Sozialismus überzugehen, keineswegs aber könnten, »die jetzigen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet« werden. Er listete fünf Typen ökonomischer Wirtschaftsstruktur auf, die nach 1918 in Russland nebeneinander existierten: (1) die patriarchalische Bauernwirtschaft, die in hohem Grade Naturalwirtschaft ist, (2) die kleine Warenproduktion, wozu die Mehrzahl der Bauern zählte, (3) der privatwirtschaftliche Kapitalismus, (4) der Staatskapitalismus, (5) der Sozialismus. Zahlenmäßig überwogen die kleinen privaten Warenproduzenten, deren zersplitterte Produktionsmittel das niedrigste Niveau der unmittelbaren Vergesellschaftung der Produktion aufwiesen.9
Der eigenartige Verlauf der Geschichte habe »im Jahre 1918 zwei getrennte Hälften des Sozialismus« geboren, erklärte Lenin in seinem Referat ›Über die Naturalsteuer‹. »Deutschland und Rußland verkörpern 1918 am anschaulichsten die materielle Verwirklichung einerseits der ökonomischen, produktionstechnischen, sozialwirtschaftlichen Bedingungen und andererseits der politischen Bedingungen des Sozialismus.« Sozialismus sei nicht denkbar ohne Großproduktion nach dem letzten Wort modernster Wissenschaft, wie in Deutschland, aber auch nicht ohne die Herrschaft des Proletariats im Staat, wie in Russland. »Wenn in Deutschland die Revolution mit ihrer ›Geburt‹ säumt«, sei es Aufgabe der Bolschewiki, den »Staatskapitalismus … mit aller Kraft zu übernehmen«. Russland habe im materiellen, ökonomischen, produktionstechnischen Sinn »noch nicht die ›Vorstufe‹ des Sozialismus erreicht.«
Kapitalismus sei ein Übel gegenüber dem Sozialismus, aber ein Segen gegenüber dem Mittelalter und der zersplitterten Kleinproduktion. Sofern ein unmittelbarer Übergang der Kleinproduktion zum Sozialismus nicht organisierbar sei, sei der Kapitalismus in gewissem Maße unvermeidlich als elementares Produkt der Kleinproduktion und des Austauschs. Man müsse ihn sich zunutze machen »als vermittelndes Kettenglied zwischen der Kleinproduktion und dem Sozialismus, als Mittel, Weg, Behelf, Methode zur Steigerung der Produktivkräfte«, indem man ihn »in das Fahrwasser des Staatskapitalismus« lenke. Staatskapitalismus bedeute »allgemeine Rechnungsführung und Kontrolle« und stehe »unvergleichlich höher als unsere jetzige Wirtschaftsweise«. Staatskapitalismus unter dem Kapitalismus sei nicht dasselbe wie Staatskapitalismus unter dem Kommunismus. Setze man an die Stelle des bürgerlichen, imperialistischen Staats einen Staat von anderem sozialem Typus, einen proletarischen Staat, erhalte man »die ganze Summe der Bedingungen …, die den Sozialismus ergibt«.10
Ein Jahr nach Einführung der NÖP konnte Lenin dem 11. Parteitag melden, sie habe den Zusammenschluss mit den Bauern gefördert. Einige gemischte Betriebe mit Beteiligung ausländischer Kapitalisten waren entstanden. Bei der Konferenz in Genua ging es um die Ausdehnung des Handels. Der Rückzug sei beendet. Die wichtigsten Methoden seien festgelegt, Muster vorhanden. Es gelte, sie zu vermehren und in einem qualifizierten Wettbewerb des Staates mit den Privatkapitalisten die Bauern zu überzeugen. Lenin plädierte für die Qualifizierung der Kader für die Umsetzung der NÖP.11 1927 wurde sie beendet. Bestimmte Elemente, wie Warenproduktion und Rechnungsführung oder die Nutzung ausländischer Investitionen, wurden in die folgende zentralistische Planwirtschaft eingebaut. Das zentralistische Wirtschaftsmodell ermöglichte die rasche Industrialisierung des Landes, eine Bedingung für den Sieg über den Hitlerfaschismus. Nach 1945 wurde ein relativ hohes Bildungs- und Lebensniveau der Bevölkerung erreicht. Mit dem Übergang vom extensiven zum innovations- und technologiegetriebenen, intensiven Wachstum geriet dieses Modell in den 1970er-Jahren an seine Grenzen. Beim technologischen Fortschritt und in der Arbeitsproduktivität wurde der Abstand zu den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern immer größer. Das trug zu deren Sieg in der Systemkonkurrenz bei.
Eine Anfangsphase von 100 Jahren
Zwischen der NÖP und der »sozialistischen Marktwirtschaft« im heutigen China oder den Marktöffnungen in Vietnam und in Kuba liegen Welten. Im Stellen und Lösen gewisser Probleme gibt es dennoch Ähnlichkeiten. Dies gilt vor allem für die Frage, wie einzelne am Sozialismus orientierte Länder im Umfeld einer kapitalistisch dominierten Weltwirtschaft sich Zugang zu den weltweit fortgeschrittensten Errungenschaften der Wissenschaft und Produktionstechnik verschaffen können. 1964 bildete sich im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialsystems die UNCTAD, die in ihren jährlichen World Investment Reports Zugänge zum Fortschritt für die Entwicklungsländer erkundet. Ein möglicher Zugang zur modernen Produktion ist der Aufstieg in den internationalen Wertschöpfungsketten der Konzerne. Andere Wege des Aufstiegs von der Low-End zur High-End-Produktion sind rar.12 Gerade sozialistische Länder brauchen diesen Zugang, um ihre Arbeitsproduktivität zu erhöhen und immer besser in der Befriedigung der sich ändernden Bedürfnisse der Menschen zu werden. Sozialistische Länder sind gezwungen, sich in gewissem Maße mit der kapitalistischen Weltwirtschaft zu verlinken, solange diese beim technologischen Fortschritt mitredet.
Lenins Hinweis auf die Vielfalt der teils vorkapitalistischen, teils kapitalistischen, teils sozialistischen Wirtschaftsformen in Sowjetrussland und die dadurch nötige Suche nach geeigneten, die Vergesellschaftung der Produktion voranbringenden Übergängen und Vermittlungsgliedern hat ebenfalls nichts an Bedeutung verloren. Dazu können auch Teilrückzüge in den Eigentumsverhältnissen zählen, wenn sie die Vergesellschaftung insgesamt schneller voranbringen. So konnte China nicht wenige marode Staatsbetriebe mittels Umwandlung in Aktiengesellschaften, an denen der Staat die Mehrheit hält, zu modernen globalen Branchenführern machen.13 Auslandsinvestitionen in China unterliegen strengen Regeln. Sofern der Staat die Kontrolle über die Entwicklungsrichtung nicht verliert und die Schlüsselsektoren in der Hand behält, gefährdet Privateigentum noch nicht eine sozialistische Entwicklung. Die historischen Formationen existierten nie »rein« nacheinander oder nebeneinander. Jede war von Elementen der anderen, vorhergehenden oder parallelen, durchdrungen.
Kritiker des Sozialismus chinesischer Prägung blicken oft nur auf die ökonomische Politik der Öffnung und Reform und schließen aus deren widersprüchlichen Folgen auf den Charakter der politischen Macht und des Systems. Die Politik ist aber heute noch weniger als früher der bloße, unmittelbare Ausfluss der Ökonomie. Nimmt nicht bei fortschreitender Vergesellschaftung der Produktion die Rolle des Überbaus zu und mit ihr die relative Selbstständigkeit des Staates, der zugleich für den Reproduktionsprozess immer unentbehrlicher wird? Das gilt sogar im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Es gilt erst recht im Sozialismus. Umso wichtiger ist es, den Charakter der Staatsmacht, die Staatsziele, das Programm der führenden Partei in die Beurteilung einzubeziehen. Der Öffnungspolitik ging eine gesellschaftswissenschaftliche Debatte voraus, in der sich eine Einschätzung durchsetzte, die heute zum Programm der KPCh gehört. Danach befinde sich der chinesische Sozialismus in seiner Anfangsphase, die mindestens bis 2049 (bis zum 100. Gründungsjahr der VR) dauere. Der Hauptwiderspruch dieser Phase sei der Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion. Es gelte, das Niveau der Produktivkräfte massiv zu steigern und ein im globalen Vergleich hohes Einkommen der Menschen zu erreichen.
Dazu seien alle Eigentumsformen zu nutzen. Eine gewisse Ungleichmäßigkeit und soziale Polarisierung werden als Auswüchse dieser Phase in Kauf genommen und für beherrschbar gehalten. Laut Deng Xiaoping (1978) müsse verhindert werden, dass die Bourgeoisie sich zu einer zusammenhängenden und als solche auftretenden Klasse formiert. Sie soll politisch eingebunden werden. Es gebe aber weiterhin Klassenkampf, der auch durch die Hegemonie des weltweiten Imperialismus in Gang gehalten werde. An »Vier Grundprinzipien«, die den politischen Rahmen des Reformprozesses abstecken, soll eisern festgehalten werden: (1) Aufrechterhaltung des sozialistischen Entwicklungswegs, (2) Aufrechterhaltung der demokratischen Diktatur des Volkes, (3) Aufrechterhaltung der führenden Rolle der Kommunistischen Partei, (4) Aufrechterhaltung der Mao-Zedong-Gedanken und des Marxismus-Leninismus.14 2011 wurde das Ziel gesetzt, bis 2025 Weltmarktführer im Hinblick auf fortgeschrittene Technologien, wie künstliche Intelligenz, Elektromobilität, digitale Städte zu werden. Der 19. Parteitag 2017 legte zwei Etappen innerhalb der Anfangsphase fest: (1) Bis 2020 soll die Armut im Lande vollständig beseitigt werden. Eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand soll entstehen. Quantitatives soll durch qualitativ hochwertiges, intensives Wachstum abgelöst werden. (2) Bis 2035 will China weltgrößte Wirtschaftsmacht sein, die grundlegende Modernisierung sichergestellt und die Umweltprobleme im Zuge der »Schaffung einer ökologischen Zivilisation« gelöst haben.
Die bisherige Praxis spricht dafür, dass es realistische Ziele sind, vorausgesetzt, die Störmanöver der imperialistischen Mächte lassen sich begrenzen. Die KP Chinas verfügt mit dem »Sozialismus chinesischer Prägung« über eine die eigene Bevölkerung mobilisierende Vision. Das zeigen schon erreichte, nicht zu leugnende Fortschritte.
1 MEW 4, S. 481.
2 MEW 19, S. 21.
3 MEW 4, S. 482.
4 MEW 19, S. 243 f.
5 MEW 19, S. 405.
6 MEW 22, S. 426 f.
7 »Wer die Dinge kennt und im Dorfe war, sagt, daß unser Dorf erst im Sommer und Herbst 1918 die ›Oktoberrevolution‹ (d. h. die proletarische Revolution) selbst durchmacht.« LW 28, S. 303.
8 LW 33, S. 38.
9 LW 32, S. 342 f.
10 LW 32, S. 346 ff.
11 Vgl. UNCTAD, WIR 2020; Siehe auch: Michael R. Krätke, Globale Wertschöpfungsketten in und nach der Großen Krise, spw 4–2013, S. 13 ff.
12 Beim Rückzug einer Armee müsse die Disziplin viel bewusster sein als bei einem Angriff, und sie sei »hundertmal nötiger«, damit der Rückzug nicht in eine »regellose Flucht« ausarte. LW 33, S. 268 f.
13 Von den 97 chinesischen unter den 500 weltgrößten Konzernen 2015 waren 82 Staatskonzerne. Vgl. Marcel Kunzmann, Theorie, System & Praxis des Sozialismus in China, 2. Aufl., Berlin, 2018, S. 67 ff.
14 Vgl. Kunzmann, S. 32 ff.
Lenin zur Arbeitsmigration und die Migration heute
Marxistische Blätter 1_2020, S. 29–39
Lenin schrieb 1913 den Artikel ›Kapitalismus und Arbeiterimmigration‹. An den Anfang stellte er die Wahrnehmung, der Kapitalismus habe »eine besondere Art der Völkerwanderung« entwickelt. Höhere Löhne in den entwickelten Ländern lockten Arbeiter aus zurückgebliebenen Ländern an, die auf diese Weise in ferne Länder verschlagen und gewaltsam in den Kreislauf des fortgeschrittenen Kapitalismus hineingerissen würden. Dann bewertete Lenin die Migration auf folgende Weise:
»Es besteht kein Zweifel, daß nur äußerstes Elend die Menschen veranlaßt, die Heimat zu verlassen, und daß die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands, usw. miteinander vereinigt.«1
Im Anschluss beschrieb Lenin das Migrationsgeschehen vor dem ersten Weltkrieg. Haupteinwanderungsland waren die USA mit jährlich über 1 Million Immigranten, deren Zusammensetzung sich nach 1880 von westeuropäische auf ost- und südeuropäische Arbeiter verschob. Der amerikanische Kapitalismus entriss damit Millionen von Arbeitern aus dem zurückgebliebenen Osteuropa (darunter Russland) ihren halb mittelalterlichen Verhältnissen. Auf diese Weise werde, so Lenin, »den zurückgebliebensten Ländern der Alten Welt, die in ihrer ganzen Lebensordnung die meisten Überreste der Leibeigenschaft bewahrt haben, sozusagen gewaltsam Zivilisation beigebracht.« Zugleich zitierte er nicht ohne Stolz die Studie eines Migrationsforschers, dem zufolge die nach der Revolution 1905 aus Russland emigrierten Arbeiter »den Geist kühnerer, offensiver Massenstreiks auch nach Amerika getragen« hätten.2
Eine andere Verschiebung betraf Deutschland, das sich vom Auswanderungsland (in die USA) in ein Land verwandelt hatte, »das fremde Arbeiter heranzieht«. 1911/12 waren es vor allem Russen und Österreicher.
Erstere arbeiteten überwiegend in der Landwirtschaft, letztere in der Industrie. Je zurückgebliebener ein Land, desto mehr ungelernte, landwirtschaftliche Arbeiter liefere es, kommentierte Lenin. »Die fortgeschrittenen Nationen reißen sozusagen die besten Verdienstmöglichkeiten an sich und überlassen die schlechteren den wenig zivilisierten Ländern.« Russland müsse so überall und in jeder Hinsicht für seine Rückständigkeit büßen.3 Doch die Arbeiter würden der Rückständigkeit bald ein Ende bereiten. Lenin schloss mit den Worten:
»Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der andern auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewußten Arbeiter, die begreifen, daß die Zerstörung aller nationalen Schranken durch den Kapitalismus unumgänglich und fortschrittlich ist, bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen.«4
Indem Lenin die Migration – trotz ihrer negativen Aspekte – dem objektiv fortschrittlichen Prozess der weltweiten Vergesellschaftung der Produktion zuordnete, knüpfte er an Marx und Engels an. Auch sie beschrieben Migration als eine Folge des Kapitalismus. Zum einen, weil die Arbeitskraft im Kapitalismus eine Ware ist. Zum anderen fördert der Kapitalismus die Nationsbildung, enthält aber zugleich die Tendenz zur Internationalisierung. Beides beschrieben sie im ›Manifest‹. Der Zentralisation der Produktionsmittel sei die politische Zentralisation gefolgt, das Zusammendrängen von Provinzen »in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie«. Zugleich habe die Bourgeoisie »zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen«. An die Stelle lokaler und nationaler Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit sei »allseitiger Verkehr«, »allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander« getreten.5
Zu den Bedingungen des Kapitalismus gehört der doppelt freie Lohnarbeiter: frei von Leibeigenschaft, Hörigkeit, Zunftzwang und frei von eigenen Produktionsmitteln. Als Klassen sind Kapitalisten und Lohnarbeiter, wie Marx im ›Kapital‹ zeigte, »das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen …«6 Der ursprünglichen Akkumulation von Kapital in den Händen weniger entsprach auf der Gegenseite die Mobilisierung von Lohnarbeitern durch ihre Freisetzung, durch die Trennung überwiegend bäuerlicher, kleiner Produzenten von ihren Produktions- und Subsistenzmitteln. Das verlief alles andere als idyllisch. Kirchenländer wurden verkauft, Gemeindeeigentum privatisiert, Menschen von Grundstücken vertrieben, ihrer gewohnten Existenzgrundlagen beraubt und zur Lohnarbeit gezwungen. Dem entsprach die Migration vom Land in die Städte. Trotz brutalem Verlauf war die ursprüngliche Akkumulation der objektiv revolutionäre Prozess des Übergangs von vorkapitalistischen Produktionsweisen zum Kapitalismus. Unter dem Kommando des Kapitals wurden zuvor zersplitterte Arbeiten kleiner Produzenten vergesellschaftet, ökonomische Stagnation überwunden, bedeutende Teile der Bevölkerung dem »Idiotismus des Landlebens entrissen«.7 Die Lage der arbeitenden Klassen war durch Elend geprägt, aber sie gewannen als Proletarier die Potenz, eine organisierte Kraft zu werden und im Klassenkampf im Laufe der Zeit beachtliche Erfolge zu erringen.
Produktion der relativen Übervölkerung
Nicht nur die ursprüngliche Akkumulation bewirkte massenhafte Freisetzung. Permanente wechselweise Abstoßung und Anziehung von Arbeitskräften kennzeichnen den krisenförmigen Verlauf der kapitalistischen Akkumulation überhaupt. Konjunkturkrisen, die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit mit relativ immer weniger Arbeitern, sprunghaft verlaufende Veränderungen in der Produktivkräfte- und Branchenstruktur sind nur möglich, wenn eine jederzeit mobilisierbare Arbeitskräftereserve existiert. Gegen die Bevölkerungstheorie von Malthus polemisierend, zeigte Marx, dass der Kapitalismus die relative Übervölkerung produziert. Als verschiedene Existenzformen der Übervölkerung sah er: die fließende (sich ablösende Arbeitergenerationen), die latente (noch nicht mobilisierte Landbewohner), die stockende Übervölkerung (Hausarbeit, unregelmäßige, prekäre Beschäftigung) und den Pauperismus.
Die großen Unterschiede in Entlohnung und Status zwischen diesen Segmenten des Arbeitsmarkts nutzten die Kapitalisten immer, um die Konkurrenz der Arbeiter untereinander zu steigern und die Löhne zu drücken. Nicht wenige der Überzähligen, meist Männer, suchten, wie Marx im ›Kapital‹ beschrieb, den Ausweg in der Migration. Er schilderte, wie die Kapitalisierung der irischen Landwirtschaft durch englische Landlords die latente Übervölkerung in Irland freisetzte. Millionen Überzählige wanderten in die USA aus. Auch an England lieferte Irland neben »Korn, Wolle, Vieh, industrielle und militärische Rekruten«8. Als Funktionär der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) unterstützte Marx den Befreiungskampf Irlands. In England wirkte er für die Überwindung des »Antagonismus« zwischen englischen und irischen Arbeitern, den die Bourgeoisie, um ihrer Herrschaft willen, künstlich schüre.9
Marx sah Irland als »Bollwerk des englischen Landlordismus. Wenn er in Irland fiele, so fiele er auch in England.« In Irland falle er leichter, »weil sich der ökonomische Kampf dort (…) auf den Grundbesitz konzentriert, weil dieser Kampf dort gleichzeitig ein nationaler ist und weil das Volk dort revolutionärer und erbitterter ist als in England.« Irland diene der englischen Regierung als Vorwand, eine große stehende Armee zu unterhalten, welche im Bedarfsfalle auf die englische Arbeiterklasse losgelassen werde. Es wiederhole sich, was schon das alte Rom gezeigt habe: »Das Volk, das ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten.«10 Der Klassenkampf im eigenen Land war am gemeinsamen Emanzipationsinteresse der internationalen Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker auszurichten.
Zweck der IAA war neben der Entwicklung internationalistischer Politik die Koordinierung ökonomischer Kämpfe, um ein gegeneinander Ausspielen der Arbeiter verschiedener Nationen zu vereiteln. Bekämpft wurden »Intrigen der Kapitalisten, die … bei Arbeitseinstellungen und Aussperrungen die Arbeiter fremder Länder als Werkzeuge gegen die Arbeiter ihrer eigenen Länder« missbrauchten und die, »sowohl fremde Arbeiter kommen, als auch die Waren dort anfertigen« ließen, »wo die Arbeitslöhne billiger« waren. Ziel der IAA war, »daß die Arbeiter der verschiedenen Länder sich nicht nur als Brüder und Kameraden der Emanzipationsarmee fühlen, sondern auch als solche handeln.«11 Dazu sprachen die nationalen Sektionen sich ab. Koordinierte Streiks, Aktionen französischer und deutscher Arbeiter gegen den Krieg 1870/71, die Solidarität mit der Kommune zeigten die internationale Handlungsfähigkeit der IAA.
Die Linken der Zweiten Internationale orientierten sich an Marx, Engels und der IAA. Auf dem Stuttgarter Sozialistenkongress 1907, der über die Kolonialfrage, den Militarismus, das Verhältnis Partei-Gewerkschaften, die Arbeitsmigration und das Frauenwahlrecht beriet, setzten die Linken marxistische Positionen in der Migrationsfrage durch. Die Stuttgarter Resolution zur Ein- und Auswanderung stellte einleitend fest:
»Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Unterkonsum der Arbeiter. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der Arbeiter an der Arbeitsproduktion herabzusetzen und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgungen anormale Dimensionen an.«
Mittel der Gegenwehr gegen die der Arbeiterklasse aus der Einwanderung drohenden Folgen sah die Resolution keinesfalls »in Ausnahmemaßregeln … insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit«. Die Pflicht der organisierten Arbeiterschaft sei, »sich gegen die im Gefolge des Massenimportes unorganisierter Arbeiter vielfach eintretende Herabdrückung ihrer Lebenshaltung zu wehren«: im Kampf um Arbeitszeitverkürzung, um Minimallöhne, um die »Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren, um weitestgehende Erleichterung der Naturalisation.« Aufgaben für das Land der Einwanderung und das der Auswanderung wurden formuliert, darunter auch die Forderung nach mehr Sicherheit der Reisewege, die durch Inspektoren aus den Reihen der Gewerkschaften zu kontrollieren seien.12
Lenin zufolge entsprach die Stuttgarter Resolution zur Ein- und Auswanderung »durchaus den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie«. Der »Geist des Aristokratismus unter den Proletariern einiger ›zivilisierter‹ Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen«, habe in der Kommission noch eine Rolle gespielt, aber keinen Eingang in die Resolution gefunden, schrieb er in einem Artikel über den Sozialistenkongress.13 Auch Clara Zetkin assoziierte in der Frauenzeitschrift ›Die Gleichheit‹ die Befürworter von Einwanderungsbeschränkungen mit dem Begriff der Arbeiteraristokratie. Doch der Kongress habe »die Solidarität der Klasse als eines großen Weltbundes des Proletariats aller Rassen und Nationen hochgehalten, wie er in der Kolonialfrage den großen Weltbund der gleichen und verbrüderten Menschheit aller Kulturstufen und Weltteile zum Triumph geführt« habe.14
›Geist des Aristokratismus‹ versus internationale Klassensolidarität
Im ersten Weltkrieg lief die Mehrheit der sozialdemokratischen Parlamentarier mit der Bewilligung von Kriegskrediten ins Lager der bürgerlichen ›Vaterlandsverteidiger‹ über. Dies ging mit dem Abrücken vom Internationalismus in der Kolonial- und in der Einwanderungsfrage einher. Nur die Linken, später die Kommunisten, blieben bei den von Marx, Engels, der IAA und dem Stuttgarter Kongress zur Arbeitsmigration entwickelten Positionen. Die Spaltung der Arbeiterbewegung vertiefte sich auf dem Boden der sozialen Spaltung der Arbeiterklasse, in der Lenin eine Erscheinung des Imperialismus sah, ermöglicht durch die Monopolprofite des Finanzkapitals der imperialistischen Großmächte, aus denen für die Oberschicht der Arbeiterklasse etwas abfiel. Die Oberschicht bildete »die Mitgliedermasse der Genossenschaften und Gewerkschaften, der Sportvereine und der zahllosen religiösen Sekten.«