Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die in diesem Band gesammelten Texte bewegen sich im Spielraum zwischen Interpretation und theoretischem Entwurf. Diese Mischung ist nicht zufällig zustande gekommen, noch ist sie der Ausdruck einer Verlegenheit. Sie ist vielmehr der Einsicht geschuldet, dass das Eine des Anderen bedarf. Die Interpretation bedarf eines theoretischen Zusammenhangs, will sie nicht im Einzelnen stecken bleiben, und der theoretische Entwurf bedarf der Konkretion des Einzelnen, will er sich nicht in der Abstraktion verlieren. Diese Einsicht wird von beiden Personen vertreten, die dieses Buch verfassten, und keine hätte es ohne Hilfe der anderen in der vorliegenden Form schreiben können.
Das zentrale Thema dieses Buchs ist das Verhältnis von Kunst und Revolution. Dieses Konzept und die mit ihm verbundenen Fragestellungen gehen weit über das hinaus, was man gemeinhin mit dem genannten Problemfeld verbindet. Nicht nur schließt das hier vertretene Konzept an den ›weiten‹ Revolutionsbegriff an, wie er von dem Historiker Eric Hobsbawm entwickelt wurde, der im Begriff der Doppelrevolution die politische Revolution Frankreichs und die ökonomische (›industrielle‹) Revolution Englands als zusammenhängende Einheit fasste und auf dieser Grundlage von einem ›Zeitalter der Revolutionen‹ (›Age of Revolution‹) spricht, in das selbstverständlich die Künste einbezogen sind.
Das hier vorgestellte Konzept geht, bei allem Respekt vor der historischen Forschung, über solche Konstruktionen hinaus, indem es, im Anschluss an Hegels Begriff von der ›Revolution in der Form des Gedankens‹, von der ›Revolution in der Form der Künste‹ spricht und damit die Kunst selbst, in der Dialektik von Inhalt und Form, zum Ort revolutionärer Reflexion und Gestaltung macht, die in den Werken und Arten der Kunst sehr unterschiedlich ausfallen kann.1 Damit ist die ›alte‹ Fragestellung von Kunst im Verhältnis zu revolutionären Entwicklungen und sozialen Brüchen ihrer Zeit in keiner Weise abgeschafft, doch ist sie erweitert und vermag auch formale Transformationen als revolutionär zu identifizieren, die dem Anschein nach und von Außen gesehen gar nichts mit Revolutionen im üblichen Wortsinn zu tun haben. Damit wird Kunst in die Nähe und als Teil revolutionärer Prozesse gestellt, die der konventionellen Betrachtung entgeht.
›Kunst und Revolution‹, wie das zentrale Konzept hier genannt wird, könnte auch heißen: ›Kunst im Umbruch der Zeiten‹, wobei hier ein formationsgeschichtlicher Epochenbegriff zugrunde gelegt wird. Dieser fasst die Geschichte der neuzeitlichen Gesellschaft als Einheit, die im Imperialismus als der kapitalistischen Form der Gegenwart kulminiert. Der Revolutionsbegriff selbst wird, wie es marxistisch anders gar nicht möglich ist, kritisch verwendet. Die Revolutionen in der europäischen Geschichte waren, bis zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution, bürgerliche Revolutionen; meist blutige Sachverhalte, an denen es wenig zu bewundern gibt. Die ›Unteren‹, wie Brecht die plebejischen Volksschichten nennt, hatten ihre Zeit und durften ihre Rolle spielen, wurden dann aber, als die Bourgeoisie an die Macht kam, in der Regel ausgeschaltet oder, wie Gerard Winstanley und die Diggers, physisch vernichtet. Der Vorgang ist aus der Tragödie bekannt: hat der Mohr seine Schuldigkeit getan, so kann er gehen. Die Pariser Kommunarden, die eine sozialistische Gesellschaft innerhalb der bürgerlichen zu errichten suchten, können ein Lied dazu singen. Noch nach der Niederlage ihres Aufstands wurden in Paris dreißigtausend Gefangene liquidiert. Die herrschende Klasse kannte und kennt kein Pardon.2 Dennoch sind mit Revolutionen, auch und gerade den bürgerlichen, große Hoffnungen verbunden. Selten wurden sie eingelöst, und wenn, dann in entstellter Form. Gerade aber die Künste sind der Ort solcher Hoffnungen, wie sie der Ort der Klage und Anklage sind, Ort der Kritik und des Kenntlichmachens der Verräter – Orte also auch der Erinnerung, und nach dieser soll ein Buch wie das hier geschriebene dann auch fragen.
Damit rückt solche Kunst in den Blickpunkt der Betrachtung, die sich diese Aufgaben gestellt hat, und das ist die Kunst des Realismus und der Aufklärung. Sie steht bereits am Beginn dessen, was in der europäischen Überlieferung ›Kunst‹ heißt: die Homerschen Epen und die frühe Tragödie, und sie steht am Beginn dessen, was eine spätere Zeit ›Aufklärung‹ nennt: das Licht meinend, das das Dunkel des Unwissens und der Untaten sichtbar und erkennbar macht. Zum konzeptiven Mittelpunkt dieses Buchs gehört damit die Apologie der Aufklärung als unabgeschlossenes Projekt. Das hier Geschriebene wendet sich damit bewusst und provokativ gegen den Verrat der Aufklärung, den Adorno und Horkheimer mit ihrer vielzitierten Schrift Dialektik der Aufklärung begangen haben – nicht zuletzt auch gegen die Beliebigkeit, mit der hier mit dem Dialektik-Begriff umgegangen wird.
Die ästhetische Relation des theoretischen Aufklärungsbegriffs ist, wie gesagt, der Realismus, d. i. der notwendige Wirklichkeitsbezug von Kunst – des Einzelwerks wie des Kunstganzen. Kunst im Sinne von Aufklärung ist wirklichkeitserhellende wie wirklichkeitserklärende Kunst, im variablen Sinn von Einzelwerk, Kunstart und Kunstgattung. Aus diesem Grund soll auch der hierzulande geradezu perhorreszierte Begriff des sozialistischen Realismus eine Aufwertung erfahren: als realistische Kunst mit sozialistischer Perspektive.
Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt im Zeitraum der Doppelrevolution und des Übergangs des Kapitalismus zu den »finsteren Zeiten« des Imperialismus. Teil dieses Schwerpunkts ist das Verhältnis der deutschen Klassik zur europäischen Romantik, das bisher kaum untersucht ist und auch im Klassik-Verständnis eines Peter Hacks und seiner Jünger seinen Ort bislang nicht gefunden hat. Solche Korrekturen sind Teil dieses Buchs – wie dieses auch im Zeitraum der jüngeren Zeit bewusst auf Autoren und Autorinnen zu sprechen kommt, die hierzulande kaum bekannt sind. Aus diesem Grund wird es nötig sein, insbesondere im Hinblick auf lyrische Dichtung fremdsprachiger Literaturen, in Deutschland wenig oder unbekannte Texte ausführlicher darzustellen (im Original wie in der Übersetzung) als es in wissenschaftlichen Kommentaren üblich ist. Das betrifft vor allem die englische und schottische Romantik, doch auch einen hierzulande kaum bekannten Autor wie Jura Soyfer und einige hochbrisante Textteile der klassischen Dichtung.
Klassik, Romantik und die Revolution in der Form der Kunst1
A. Die Revolution in der Form der Kunst: deutsche Klassik und europäische Romantik
Über die Begriffe der Klassik und des Klassischen herrscht in den Kunstwissenschaften, nicht zuletzt auch in den materialistisch-kritisch orientierten alles andere als Einigkeit. Sind die Begriffe den einen Orientierungspunkt einer dialektischen, zugleich humanistischen Kunstauffassung, so den anderen eine bloße Legende und Ideologie. Der Begriff der »Klassik-Legende« (Grimm/Hermand) wurde für eine Generation linker Germanistinnen und Germanisten zum Stichwort, dem außerhalb der DDR nur von wenigen widersprochen wurde. In der DDR freilich galt die Klassik (zumindest über einen langen Zeitraum hinweg) als normatives Erbe deutscher Kultur, als das Beste, das diese Kultur hervorgebracht hat – »mit dem Schweiß und oft auch mit dem Blut vieler Generationen bezahlte Schönheiten und Kampfeswerte«2; ja Peter Hacks hat bekanntlich von einer ›sozialistischen Klassik‹ als normativem Ziel sozialistischer Kunst gesprochen. Der Streit dauert an. So verteidigte Hans Heinz Holz im Klassik-Heft von TOPOS den Klassik-Begriff als »Stilbegriff«, dem ein bestimmtes »Formbewusstsein« zugehört: das »Bewusstsein der Einheit von Individuellem und Allgemeinem – als Einheit der Gegensätze«3; eine Auffassung, die der von Hacks sehr nahe steht. Dagegen läuft Reinhard Krüger Sturm. Die »›Klassik‹«, sagt er in seiner kritischen Replik, »ist kein in Deutschland, Europa oder der Welt umgehendes Gespenst von irgendwelcher Bedeutung, Bedrohlichkeit oder wirklicher Wichtigkeit«. Aus der Perspektive einer »revolutionären Ästhetik und Poetik« sei sie »nur noch ein Zombie«,4 bloße Ideologie und »Herrschaftswissen«.
Ohne dass wir uns hier auf solche Argumentation (die über den Behauptungsstatus kaum hinauskommt) näher einlassen, soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, einem historisch-normativen Begriff des Klassischen das Wort zu reden und diesem in europäischer Perspektive den Begriff des Romantischen an die Seite zu stellen; in Identität und Differenz; einem Begriffspaar also, das sich nicht zeitlos-kanonisch, sondern konsequent historisch versteht, das zugleich an keine bestimmte Formgestalt gebunden, sondern in einer Vielzahl ästhetischer Formen möglich ist; eine Vielfalt, die sich aus wechselnden historisch-kulturellen Konstellationen ergibt. Wir befinden uns hier durchaus im Widerspruch zu Holz wie auch zu Hacks, die den Begriff der Klassik an bestimmte normative Formvorstellungen binden. Goethe, nicht Shakespeare, befindet Holz, gehöre der Klassik an, obwohl dieser durchaus auch ›Klassiker‹ sei.5 In der Tat findet sich in Shakespeares Dramen eine »eigenartige[…] Mischung des Erhabenen und des Niedrigen, des Schrecklichen und des Lächerlichen, des Heroischen und des Burlesken«, wie schon Marx erkennt,6 die einem bestimmten Begriff des Klassischen, sofern dieser an ›Klassizismus‹ gebunden ist, widerstreitet, wie dann auch Shakespeare in Frankreich, dem Land von Rationalismus und Revolution, lange keine Gnade fand. Voltaire hat ihn bekanntlich einen Barbaren genannt. Ein Klassizismus im strengen Begriffssinn aber war Schillers Sache. Goethe macht nur eingeschränkt von ihm Gebrauch (in den Römischen Elegien, den Helena-Szenen in Faust II, dem Italienlied Mignons im Wilhelm Meister), und über Schiller ist Gleiches zu sagen. Weder Don Carlos, noch Wallenstein noch Tell, Schillers wohl bedeutendste Dramen, sind klassizistisch konstruiert, vom Frühwerk ganz zu schweigen. Wollen wir am Begriff deutsche Klassik festhalten (und strategisch ist er sinnvoll), so wird ein Begriff des Klassischen gefordert sein, der den klassizistischen Formbegriff überschreitet, der Form vielmehr als Ausdruck des behandelten Gegenstands, also radikal historisch versteht, durchaus im Sinne dessen, was der junge Friedrich Schlegel, mit ›Romantik‹ im Sinne moderner Kunst meint. »Die romantische Poesie«, schreibt dieser, also moderne Dichtung,
ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen.
Und:
Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.7
Es sind Vorstellungen, die eingeschränkt für Schiller, im vollen Umfang aber dem Faust entsprechen, wollen wir die beiden Teile als Einheit sehen. Ja, sie entsprechen dem ganzen Faust, den Goethe erst in seinen letzten Lebenstagen vollendete und in einem Kästchen versiegelt der Nachwelt übergab; der dann auch erst posthum bei Cotta erschien. Von den Reflexionen über Romantik und Klassik ist hier keine Spur mehr geblieben. Das fertige Werk gehört einem neuen Zeitalter an.
Festgehalten sei, dass der junge Schlegel mit dem Begriff der romantischen Universalpoesie eine Kunst verstand, welche die Trennung der Gattungen hinter sich lässt wie auch die Trennung von Prosa und Poesie, von Philosophie und Dichtung, von der Sprache des Alltags und der Sprache der Kunst. Episches Theater, von der klassizistischen Doktrin her ein Ding der Unmöglichkeit, wird denkbar im Sinne der Schlegelschen Theorie. Wollen wir am Begriff deutscher Klassik festhalten, so allein im Sinne eines Kunstbegriffs, der dem Konzept einer romantischen Universalpoesie, wie Schlegel ihn fasst, vielleicht näher steht, als es Goethe selbst bewusst war.
Doch unterschätzen wir Goethe nicht. Nicht nur exponiert er als junger Mann den Prometheus als Gegner der weltlichen und göttlichen Herren, verfasst ein Werk wie den Egmont, an dessen Ende die Vision eines Volksaufstands steht, das ihn über Byron mit der romantischen Avantgarde Europas verbindet – und wo Byron ist, ist auch Shelley nicht fern, der entschiedenste Gegner der romantischen Reaktion. Es ist dies ein anderer Goethe als der klassische Autor der Deutschen Goethegesellschaft und ihrer Auguren – ein Goethe, der als letzte Tat seines Alters den fertigen Faust für die Nachwelt bewahren, doch selbst seinen »würdigsten Freunden« nicht zeigen will (so in seinem letzten Brief, geschrieben an Wilhelm von Humboldt, vom 17. März 1832). Die Zeit scheint ihm nicht reif für ein Verständnis seiner Dichtung.8
Nur ein bestimmter Begriff des Klassischen ist es, an dem wir festhalten wollen: Klassik als Form eines symbolischen Realismus; realistisch im Sinne von weltorientiert, der Natur-Wirklichkeit und realen Geschichte zugewandt – wie es Faust in allen Teilen ist. Über 2.000 Jahre spiele der Zweite Teil, hat Goethe einmal gesagt, »von Trojas Fall bis zu Einnahme von Missolunghi«, ja in der Klassischen Walpurgisnacht geht sie in symbolischer Handlung auf die Entstehung des Menschen zurück. Nicht nur in der Zeit, auch im Raum hat sie weltgeschichtliche Dimension, ist Chronotopos in Shakespeares Sinne (der erläutert werden soll), setzt sich über die drei Einheiten klassizistischer Dramaturgie – Handlung, Raum und Zeit – souverän hinweg. Ihre Formgestalt schließt Odyssee, und Orestie, das euripideische Drama, Vergils Vierte Ekloge, Dantes Commedia und sehr viel Shakespeare ein, integriert Lyrik in Form von Liedern und in der Musikalität des Verses. Wenn mit Blick auf Faust von einer dramaturgischen Grundform gesprochen werden kann, so ist es die Form epischen Theaters (der Verbindung von Epos und Drama) in verschiedenen Varianten, nicht zuletzt in einer Gestalt, die an Dantes Commedia erinnert, doch variabler in der Struktur und der Vorstellung diviner Mächte. Die Grundform solcher Dichtung lässt eine unabgeschlossene, sich historisch wandelnde Pluralität von Werkformen zu. Die strukturelle Offenheit ist mit einem Begriff des Klassischen kompatibel, dessen kategoriales Kriterium kein Stil, auch keine besondere Form, sondern dialektische Synthesis (Einheit von Widersprüchen) und ästhetische Qualität sind, und diese sind unabhängig von jeder partikularen Formgestalt. Klassik ist das Ergebnis der Dialektik von Inhalt und Form, wie Goethe sie verstand: in der der Inhalt (oder Gehalt) das genetisch bestimmende Moment ist – in genetischer Hinsicht der Inhalt die Form bestimmt. So notiert Goethe in den »Paralipomena« zu Faust: »Gehalt bringt die Form mit / Form ist nie ohne Gehalt«. Von diesem Gedanken her ist dann auch eine realistische Klassik wechselnder Inhalte konzipierbar, wobei wechselnde Inhalte und damit wechselnde historische Situationen den Wechsel der Formen bedingen. Nehmen wir den Faust, wie auch von Wolfgang Heise vorgeschlagen, als Gipfel der Klassik in Deutschland, und ist diese Teil der mit ›Klassik und Romantik‹ bezeichneten Periode moderner Kunst, die nicht nur Deutschland, sondern Europa umfasst, so ist Goethes Dichtung kein nur nationales, sondern ein europäisches, ja ein potentiell weltliterarisches Ereignis, das angemessen, allein in Kontext erfasst erden kann. Ein solcher, letztlich potentiell weltliterarisch fundierter Klassikbegriff findet in Sätzen Bestätigung, die Dieter Kraft an das Ende seiner treffenden Replik auf Krügers Kritik des Klassikbewusstseins stellt:
Aber es geht bei der ›Klassik‹-Frage gar nicht um ›kanonische‹ oder ›nicht-kanonische Künstler‹, und es geht auch nicht primär um die ›Form‹ – es geht um die Rezeption eines inhaltlich bestimmten Kunstverständnisses, das sich an Menschlichkeit und Universalität und heute allein schon damit an der Affirmation des Revolutionären ausgerichtet weiß (Kraft 2011, 146).
Der Begriff, der in der Erläuterung des Faust als Commedia und Synthesis der literarischen Gattungen (die Goethe ›Naturformen‹ nennt) zu verwenden ist, ist der eines symbolischen Realismus. Sein Gegenbegriff ist auf der einen Seite der Naturalismus, der Wirklichkeit bloß kopiert, auf der anderen Seite, die einen bestimmten Begriff von Wirklichkeit kopiert. Hier folgen wir Goethe in der Erläuterung des Gedankens. Die ›Symbolik‹, sagt er, »verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, dass die Idee im Bild unendlich wirksam und unerreichbar bleibt«, die Allegorie dagegen gibt das Bild einer Erscheinung in aller Begrenztheit wieder (Maximen und Reflexionen). Worüber er nicht handelt, ist, dass das Gesamt von Bildern, über die das symbolische Kunstwerk verfügt, in der Eindeutigkeit eines allegorischen Bildes gar nicht darstellbar ist. Faust dagegen enthält alle Strukturelemente, über die nach Aristoteles jedes ordentliche Drama verstanden, als Mimesis von Praxis, verfügt: mythos (strukturierte Handlung, Fabel), ethos (Charaktere), lexis (Sprache), dianoia (gedanklicher Gehalt), opsis (Sichtbarkeit), melopoia (Musik). Sichtbarkeit bezieht sich auf die handelnden Personen auf einer Bühne, die Schauspieler, das Bühnenbild, Musik im Fall des Faust auf die Lieder und die kompositorischer Gestaltung im Sinn eines Musiktheaters, am eindrucksvollsten in Robert Schumanns Szenen aus Goethes ›Faust‹. Zur Melopoia gehört auch die Musikalität wechselnder Sprachformen, die interne Musikalität der Sprache. Goethe selbst empfand hier einen Mangel, deshalb der Wunsch, Mozart hätte die Musik zu Faust schreiben sollen, »und zwar in der Art des Don Giovanni«, wie er hinzufügte – ein bekanntes Zitat und fraglos ein berechtigter Wunsch, der jedoch unerfüllbar war. Auf der gedanklichen Höhe des Texts bewegen sich allein Schumanns fragmentarische »Szenen«, das Ganze war ihm unerreichbar. Verständlich auch, dass Richard Wagners Idee des Gesamtkunstwerks aus der Lektüre des Faust geboren wurde. Wagner wollte Goethe fortsetzen, wenn nicht übertreffen. An dieser Stelle zumindest erlischt, was als Klassik-Romantik-Syndrom die deutsche Germanistik für mehr als ein Jahrhundert beherrscht hat.
B. Kunst als ›Äußerung des Selbstbewusstseins der Menschheit‹
Kunst, nach Lukács, ist die »angemessenste und höchste Äußerungsweise des Selbstbewusstseins der Menschheit« (Lukács 1963, I, 616). Wie immer über eine solche Auffassung kunstphilosophisch entschieden werden mag, gelten dürfte, dass in höchsten Formen der Kunst soziale Individualität auf einen Horizont historischer Universalität bezogen ist und diese im Begriff des menschlichen Selbstbewusstseins ihr Zentrum hat. Selbstbewusstsein der Menschheit freilich ist immer historisches Bewusstsein und existiert nur als Selbstbewusstsein von Klassen, Gruppen und Individuen in einer besonderen geschichtlichen Zeit.
Als kunstphilosophische Kategorie und begriffliches Instrument für die Beschreibung klassischer Kunst in diesem Sinn, der in gesamteuropäischer, ja weltliterarischer Perspektive romantische Kunst einschließt, meint ›Selbstbewusstsein‹ künstlerische Werke, in denen gesellschaftlich Partikulares in den Horizont des Geschichtlich-Allgemeinen, letztlich Menschheitsgeschichtlichen tritt. Kunst, in diesem Sinn, ist ein Reflexionszusammenhang, in dem individuelle und soziale Erfahrungen, die vielfältigsten historisch-gesellschaftlichen Themen und Gegenstände den Menschen bewusst, Teil ihres Selbst- und Weltbewusstseins werden. Nur im Zusammenspiel des Einzelnen und Allgemeinen, in der ästhetischen Synthesis von Individuum und Gattung – mit Lukács: in der Kategorie der Besonderheit – konstituiert sich geschichtliches Selbstbewusstsein im Bereich der Künste. Wie dies erfolgt und welche Gestalt ein solches Bewusstsein besitzt, welch spezifischen Inhalts es ist, wechselt von Werk zu Werk, oft auch innerhalb des Œuvres eines Autors. Aus der historischen Bestimmung der Kategorie des Selbstbewusstseins folgt, dass die ästhetischen Werkgestalten, in denen es seinen Ausdruck findet, hochgradig different sind – so different wie die geschichtlichen Konstellationen, aus denen die Werke hervorgehen. Dabei ist zu beachten: die individuelle Bewusstseinsgestalt eines Kunstwerks – seine besondere intelligible Physiognomie – hängt nicht zuletzt von der Besonderheit des Gegenstands ab, der dem Werk zugrunde liegt, den es bearbeitet, dessen mimetische Reproduktion es ist.
Thesen zum Begriff klassischer und klassisch-romantischer Kunst
Die folgenden Thesen exponieren einen Begriff des Klassischen in der Kunst, der deutsche Klassik und europäische Romantik umschließt. Das Klassische, in diesem Sinn, ist ein Begriff ästhetischer Qualität und ist auf beide: die deutsche Klassik wie die europäische Romantik zu beziehen.
1. Klassisch ist nicht der Begriff einer besonderen Form. Die Formen klassischer Kunst ergeben sich aus den besonderen Inhalten, deren Ausdruck und Medien sie sind. Klassische Kunst ist so in einer Vielfalt von Formen möglich. Ihnen gemeinsam ist die Identität von Gehalt und Form in Goethes Sinn. Entscheidend ist die Qualität des Gehalts, dem die Qualität der Form entspricht. Der Begriff romantische Kunst ist nur dann ein Gegensatz zu klassischer Kunst, wenn er, wie in der späteren deutschen Romantik und auch in Teilen der europäischen geschehen, den Frieden schließt mit den Mächten des alten Europa und dem Projekt der Aufklärung eine Absage erteilt. Dies ist sicher bei Hardenberg/Novalis der Fall. Die Hymnen an die Nacht sind gegen die Aufklärung gerichtet, gegen Goethe wie gegen Schiller und Hölderlin, Die Christenheit oder Europa gegen Aufklärung und Revolution. Hardenbergs vielzitierte Kritik Goethes ist genau in diesem Kontext zu sehen. Die Qualität klassischer Kunst orientiert sich an einem Begriff des Menschen und menschlicher Selbstwerdung, auch wo diese in der Tragödie ihr Ende findet. Sie ist als Commedia (Tragikomödie), Tragödie und Komödie möglich, immer aber steht in ihrem Mittelpunkt der Mensch, der auch im Untergang seine Würde behält. Für den Autor der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung ist die Idylle die höchste Form der Dichtung, weil sie den Zweck verfolgt, den Menschen »in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst und von außen darzustellen«. Und zum Verhältnis von Tragödie und Komödie stehen bei Schiller die Sätze:
Wenn also die Tragödie von einem wichtigern Punkt ausgeht, so muß man auf der anderen Seite gestehen, daß die Komödie einem wichtigern Ziel entgegengeht, und sie würde, wenn sie es erreichte, alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen. Ihr Ziel ist einerlei mit dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen hat. (Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung)
Dies gilt durchaus auch für Schillers selbst und seine großen Tragödien – Don Carlos, Wallenstein und Tell – und schließt eindeutig das Geschichtlich-Politische ein.
2. In der gelungenen Form besitzt das klassisch-romantische Werk die Charaktere des Meisterwerks. Der Begriff des Klassisch-Romantischen im hier gemeinten Sinn ist ein Begriff ästhetischer Qualität als der Einheit von Form und Inhalt, deren Dialektik von der Priorität des Inhalts – der ästhetisch entwickelten Weltanschauung – bestimmt ist. Der Begriff dieser Einheit bezeichnet die gelungene Identität von Gegenstand und ästhetischer Form, wobei ›Gegenstand‹ eine Bestimmung des Inhalts ist. Er benennt das Wirklichkeitssegment, das ein Kunstwerk mimetisch nachbildet; Mimesis hier verstanden im Sinne des Aristoteles: als Darstellung, Ausdruck und Nachahmung (Hermann Koller). ›Stoff‹ und ›Thema‹ sind weitere Bestimmungen, die Stufen des kategorialen Aufbaus der mimetischen Form bezeichnen. Sie sind Teile der Dialektik von Inhalt und Form, die den künstlerischen Produktionsprozess im Ganzen strukturiert. Dieser Dialektik zufolge sind auch ›offene‹ oder synthetische Formen im Sinn klassischer Werke möglich, und zwar auf allen Stufen der europäischen Geschichte, wie uns die Beispiele von Euripides, Shakespeare, Goethe und Brecht belehren.9 Hier lässt sich vom Modellcharakter bestimmter Formtypen sprechen, die historisch höchst variabel sind. Bereits innerhalb der antiken Welt ist von dem euripideischen Modell der Tragödie im Unterschied zum sophokleischen und aischyleischen zu sprechen. Auch die Verbindung von Epik und Theater geht auf die griechische Tragödie zurück, hat mit Shakespeare und den Spaniern, dann mit Goethe einen weiteren Höhepunkt. Brechts Theater ist anders als die genannten im Sinn seines ideellen und politischen Gehalts, doch nicht bezogen auf die Grundlagen der dramatischen Form. Klassische Werke sind so wenig auf geschlossene Formen beschränkt wie die der Romantik auf offene, wenn man Romantik nicht nur auf Deutschland, sondern auf die europäische Entwicklung bezieht. Ja, im programmatischen Sinn ist mit Blick auf das »Zeitalter der Revolutionen« (Eric Hobsbawm) von revolutionärer Romantik wie von revolutionärer Klassik zu sprechen, insbesondere dann, wenn man die Entwicklung von Musik und Musiktheater hinzu nimmt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts zerbricht das klassische Modell, der geschlossenen Form, und die Kunst entwickelt synthetische, ja offene Formen, die im 20. Jahrhundert im epischen Theater Brechts kulminieren. Festzuhalten ist, dass gerade Faust innerhalb der Commedia-Form eine Vielfalt diverser Modelle vereint und zugleich neue Formen entwickelt.
3. Die Formfrage wird damit zum Grundproblem der Künste. Dies ist charakteristisch für ein Zeitalter, das im Sinne Hobsbawms ein ›Zeitalter der Revolutionen‹ ist. Dieser Sachverhalt gilt für den gesamten Zeitraum dieses Begriffs, erhält in der Phase des Übergangs vom traditionellen Kapitalismus, zum Imperialismus als der modernen Form des Kapitalismus eine neue Qualität. Ein Bild wie Munchs Schrei, der hier gedeutet werden wird, erhält damit einen Sinn, der von dem konventionell gegebenen abweicht. Denn in dieser Schrift handelt es sich um mehr als ›Expressionismus‹. Munchs Bild erfasst den Schrei des Entsetzens vor einer neuen, erbarmungslosen Zeit, die Kriege und Zerstörung von bislang unbekanntem Ausmaß in ihrem Schoß trägt. Die hier sich abzeichnende Transformation von Form und Bedeutung erfasst alle Künste der Zeit, und sie gilt gleichfalls für die Wissenschaft und Philosophie, ja, für Formen der Ideologie, und des alltäglichen Bewusstseins. Dominant wird ein Denken, das die überkommenen Bilder des Menschen ablöst und an deren Stelle tritt ein machtbesessener Anti-Rationalismus, der von der Zerstörung der Vernunft (um Lukács’ kritischen Begriff aufzunehmen) und einem programmatischen Anti-Humanismus getragen wird. Ein verdeckter oder offener Nihilismus wird zur fundamentalen Ideologie der imperialistischen Moderne – an die Stelle Gottes, tritt das Nichts und der Weg zu Hitler, und anderen faschistischen ›Lösungen‹ wird freigemacht. Diese existieren im Untergrund der regelbasierten Ordnung, wie sich der bürgerliche Staat mittlerweile selbst zu bezeichnen pflegt, und zersetzen mittlerweile auch die sich demokratisch nennenden Parteien. Der Widerstand ist vorhanden, doch sind seine Kräfte schwach und zerschlagen. Es sind die »finsteren Zeiten«, in denen wir leben und von denen Brechts An die Nachgeborenen spricht.
4. Mit dem Wechsel der historischen Lage treten auch neue Anforderungen an die Künste, sofern sie nicht willens sind, sich der neuen Lage anzupassen. Auch bedeutende Kunst passt sich dieser Lage an: hier sei auf Kafka und Beckett verwiesen, die sich bei höchster Begabung zwanghaft der finsteren Zeit unterwerfen. Ihre Anpassung hat zwanghafte Züge und ist von individueller Tragik nicht frei. Benn, der bekennende Nihilist, überlebt mir einigen späten Gedichten, Rilke mit einem Zyklus von Sonetten, die den Namen Orpheus tragen, opfert aber seine Begabung dem Gott der Ideologie, dem einzigen Gott, der bürgerliche Literatur noch gestattet. Klassisch-geschlossene Formen werden obsolet, wenn auch Meister wie der späte Eliot und Hacks auf sie zurückgreifen. Sie werden zum Problem nicht zuletzt, weil sie auch in faschistischer Kunst Verwendung finden. Die Zentrale Kategorie der ästhetischen Geschichtlichkeit tritt hier hervor. Die Künste haben neue Formen zu finden, wollen sie sich nicht unterwerfen, sondern auf ihrem Terrain den Kampf um eine humane Welt fortsetzen. Die neuen Formen sind strukturell geschichtlich zu denken auch dort zu verändern, wo sie an bewährte Überlieferungen anknüpfen. Eine solche Überlieferung ist der konstitutive Wirklichkeitsbezug der Kunst, ein Realismus, der in vielen Formen möglich ist, ohne an eine besondere Form gebunden zu sein. Will man Namen nennen, so seien unter den bekannten hier Thomas und Heinrich Mann, Joyce, Woolfe, Pound und Eliot, Yeats, Neruda, Brecht, O’Casey, Feuchtwanger, Seghers, Weiss, Timm, Faulkner, Doctorow, Scholochow, Simonow, Aitmatow, Saramago, Grandes, Machfuss, Picasso, Kollwitz, Mahler, Schönberg. Janacek, Schostakowitsch, Prokovief als Beispiele genannt, auch der magische Realismus Lateinamerikas, der neue afrikanische Roman und die neue Lyrik Afrikas, die bildende Kunst der DDR; unter den weniger oder unbekannten Hugh MacDiarmid, Hamish Henderson, Jura Soyfer, Hans Meier, Rudolph Bauer, Robert Steigerwald.10 In solcher Kunst ist der künstlerische Gegenstand selbst ein Element geschichtlicher Erfahrung – die der Kunstproduktion voraus liegt und sie begleitet, die in der Kunstproduktion bearbeitet, im rezeptiven Akt kathartisch oder verfremdend erfahren wird. Bedeutende Kunst, lässt sich sagen, wird zum Teil und Ausdruck erfahrener Geschichte. Zu diesen gehören auch die Metaphern begriffener Zukunft. Damit ist die Utopie als Dimension realistischer Kunst wieder möglich geworden, möglich geworden ist zugleich aber auch die Dimension der Apokalypse. Ästhetik heute, sofern es sie noch gibt, hat sich diesem Widerspruch zu stellen. Sie ist Teil des Widerstands, zu der alle Kunst, die noch zählt, die Gegenwart und Zukunft hat, in der Epoche des Imperialismus geworden ist.
In diesem Sinne wird auch in der heutigen Kunst das klassische Werk noch möglich sein. »Die Behandlung ist klassisch, wenn die Form des Dargestellten ganz identisch ist mit der Idee des Darzustellenden« (Heine 1976, 29). Klassik ist hier ein dialektischer Begriff, also ein solcher der ästhetischen Qualität, nicht des Stils oder der Form. So erfordern unterschiedliche Gegenstände und die Ideen derselben, unterschiedliche Formen der Darstellung. Der komplexe Gegenstand benötigt eine entsprechende Komplexität der Form, wenn er adäquat (entsprechend seiner Idee) behandelt werden soll. Shakespeares Drama ist klassisch, weil es mit der Idee des Darzustellenden »ganz identisch« ist, das Drama Kleists ist es nicht, weil hier Ideologie das Darzustellende überfrachtet. Das Grundproblem des Faust schreibt schon Schiller in der Korrespondenz mit Goethe besteht darin, für eine »Totalität der Materie« den »poetischen Reif« zu finden, »der sie zusammenhält« (Brief vom 26. Juni 1797). Er benennt damit das Hauptproblem von Goethes Produktion, wobei er den Zweiten Teil noch gar nicht kennen konnte. Goethe antwortet mit dem Entwurf eines synthetischen Dramas eigener Erfindung, das ein Totum überlieferter Formgestalten aufnimmt und in eine neue Form integriert. Denn ›Totalität der Materie‹, in Schillers Sinn, bedeutete nicht nur stoffliche Vielfalt (dies selbstverständlich auch), sondern Ganzheit und Zusammenhang der natürlich-geschichtlichen Welt, die im Faust, im Material der überlieferten Formenwelt, zum Gegenstand der Dichtung wird.
5. Klassik ist Formbegriff nur insofern, als ein bedeutender Inhalt – ein »großer Gegenstand«, wie Goethe und Schiller ihn nannten –, in künstlerisch adäquater Form kompositorischen Ausdruck findet. Ein ›großer Gegenstand‹ ist ein solcher, der, wie Bloch es nennt, an der »historischen Front der Zeit« steht, in dem ein Inhalt von epochaler Bedeutung verhandelt wird. In diesem Sinn wird der Begriff klassische Kunst identisch mit dem der künstlerischen Avantgarde – Kunst, die in Gehalt und Form an der historischen Front der Zeit steht, ja, die ihrer Zeit voraus sein kann, wie es Dante und Shakespeare waren, Mozart, Goethe, Schiller, Beethoven für die ihre, die Klassiker des 20. Jahrhunderts für unsere Zeit. Ja, das klassische Werk vermag noch in späteren Zeiten seine Wirksamkeit zu entfalten – in andere Kulturen hinein.
Grundkriterium klassischer Kunst, lässt sich zusammenfassend sagen, ist kein anderes als die formale Adäquanz von Werk und Gegenstand. Im klassischen Werk ist der Inhalt vollständig von der Form erfasst, ist in ihr quasi aufgesogen. Er ist identisch mit ihr. Nur solche Werke überdauern ihre Zeit, haben das Zeug, zur »Erinnerung der Menschheit« zu werden wie Shakespeare es im 55. Sonnet beschreibt.
C. ›Die Revolution in der Form des Gedankens‹ – ›die Revolution in der Form der Kunst‹
Die Revolution in der Form des Gedankens
In Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie stehen die Sätze:
Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen (…). An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte (…) haben nur diese zwei Völker teilgenommen, das deutsche und das französische Volk (…). In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt (Hegel 1970, Bd. 20, 314).
Vollzog sich die Revolution in Frankreich auf der Ebene der Praxis, so vollzog sie sich in Deutschland auf der Ebene des Begriffs.
Die Französische Revolution, sagt Hegel in der Philosophie der Geschichte, sei »von der Philosophie ausgegangen«. Man habe diese nicht ohne Grund »Weltweisheit genannt, denn sie ist nicht nur die Wahrheit an und für sich, als reine Wesenheit, sondern auch die Wahrheit, insofern sie in der Weltlichkeit lebendig wird« (Hegel 1970, Bd. 12, 572 f.). Hegel denkt hier an die Aufklärung, in der der »Gedanke des Rechts« theoretisch formuliert und seine Einlösung in der Praxis gefordert worden war. Die Revolution ist, so gesehen, die Wirklichkeit gewordene Aufklärung, die in der Wirklichkeit wirkende Philosophie. Die Einheit von Aufklärung und Revolution wird erkannt und gerechtfertigt.
Hegel erkennt nicht nur die weltgeschichtlich universelle Bedeutung der Revolution Frankreichs. Er begreift auch ihre philosophische wie historische Singularität. Diese besteht für ihn darin, dass sich in der Revolution zum ersten Mal in der Geschichte der Gedanke des Rechts Wirklichkeit verschafft habe, im Unternehmen, die Wirklichkeit auf der Basis dieses Gedankens aufzubauen, in der Konstruktion also von Wirklichkeit, durch das vernunftbestimmte Handeln der Menschen selbst. Die Revolution ist für ihn der Umbau und Aufbau geschichtlich-gesellschaftlicher Welt nach Prinzipien der Vernunft, auf dem Boden von für alle Menschen geltenden, also universal gültigen, als wahr erkannten Menschenrechten. Hegel ist in der Formulierung entschieden genug. Sie ist unverkennbar vom Geist eines – von ihm oft belächelten – Enthusiasmus geprägt. »Der Gedanke, der Begriff des Rechts«, heißt es in der Philosophie der Geschichte weiter,
machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, dass der νοũς (nous) die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt erst gekommen (ebd., 529).
Die Worte Hegels sind im Rückblick gesprochen: in Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, die der 1818 auf den vakanten Lehrstuhl Fichtes berufene Hegel zwischen 1822/23 und 1830/31 an der neugegründeten Berliner Universität hielt. Sie erinnern an den Beginn und die Prinzipien der Revolution, denen auch der alte, vermeintlich ›konservativ‹ gewordene Hegel die Treue hielt; aus dem Herz Preußens sprechend, nach Napoleon, Wiener Kongress und europäischer Reaktion. Es ist das Urteil über ein Ereignis, das mehr als dreißig Jahre zurück lag. Der Text lässt keinen Zweifel zu: An der konzeptiven welthistorischen Singularität der Revolution wird unbeirrt festgehalten. Ihre Bedeutung, ihre Größe, ihre Würde ist: dass sich der Mensch auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Als Wirklichkeit gewordener Gedanke des Rechts ist die Revolution Bestätigung menschlicher Autonomie, Akt der Selbstbestimmung, der tatsächliche »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, als den bereits Kant die Aufklärung begriff.
Hegels Auffassung der Revolution als eines epochalen und universalen Ereignisses, d. h. eines solchen, das die gesamte menschliche Kultur, gesellschaftliche wie intellektuelle Formen, mithin auch die Philosophie – und gerade diese – umfasst, findet sich im Denken der Zeit auch anderen Orts. So nennt Friedrich Schlegel Goethes Wilhelm Meister und Fichtes Wissenschaftslehre zusammen mit der Französischen Revolution in einem Satz und Atemzug als »größte Tendenzen des Zeitalters« (Athenäumsfragmente), und bereits Kant spricht davon, dass seine Philosophie eine »Revolution der Denkart« vollziehe (Vorrede zur zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft): ein Wort, das bei Fichte, Friedrich Schlegel, im Ältesten Systemfragment des deutschen Idealismus sein Echo findet.
Das Wort von der ›Revolution in der Form des Gedankens‹ gilt nicht nur für die von Hegel genannten Denker. Er gilt gleichfalls für Herder, für Schiller als Dramatiker und Philosophen und natürlich für Hegel selbst. Der entscheidende Gesichtspunkt dabei ist, dass hier eine geistige Transformation, eine ›Revolution der Denkart‹ als strukturell eigengesetzliches theoretisches Pendant eines politischen Ereignisses begriffen wird. Politik, Philosophie und schließlich auch die Kunst erscheinen so als differente, doch aufeinander bezogene, sich ergänzende Formen der gleichen Sache, in der historischen Bedeutung eigenständig und nicht aufeinander reduzierbar.
Diese Auffassung hat Folgen. Heine nennt Kant hintersinnig einen »Robespierre im Reiche der Gedanken« (er fügt aphoristisch spitz hinzu: an »Terrorismus« hätte der Königsberger Philosoph den französischen Politiker noch übertroffen) und vergleicht das in den drei großen Kritiken vollzogene »Niederreißen des alten Dogmatismus« mit der Erstürmung der Bastille (Heine 1968, Bd. 4, 124, 133). Für den jungen Marx ist Kants Philosophie »die deutsche Theorie der französischen Revolution« (MEW 1, 80), und in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung schreibt er – hier mit kritischer Akzentsetzung –: die Deutschen seien allein »philosophische Zeitgenossen der Gegenwart«. Sie »haben in der Politik gedacht, was die anderen Völker getan haben« (ebd., 383, 385).
Die Revolution in der Form der Kunst
In dem hier vorgestellten Konzept wird, im Anschluss an Hegels Wort von der »Revolution in der Form des Gedankens«, die Entwicklung der Künste in Europa zwischen 1760 und 1830/48 (dies sind die Eckdaten)11 als eine Revolution in der Form der Kunst verstanden. Betroffen davon sind alle Künste, ihr gesamtes geschichtlich entstandenes System. Der Gedanke ist nicht an einem bestimmten Formtyp orientiert. Seine Geltung wird für alle Formen behauptet.
Die These klingt fremd und ungewöhnlich. Wird hier nicht die Revolution unzulässig verallgemeinert – ein politisches Muster auf die Kunst übertragen?12 An dieser Stelle sind viele Missverständnisse möglich. Es wird unumgänglich sein, sehr genau zu sagen, was mit dem Wort ›Revolution in der Form der Kunst‹ gemeint ist.
›Revolution in der Form der Kunst‹ heißt zunächst nichts anderes als: Revolution im Modus der Kunst, in den Formen der Kunst, Revolution der Formenwelt der Künste. Behauptet wird, dass sich in dem genannten Zeitraum eine qualitative Transformation in der Formenwelt der Künste vollzieht, bis in die Konstitution der Einzelwerke hinein, eine Inhalt und Form betreffende Umgestaltung von Werkstrukturen. Diese Transformation schließt einen fundamentalen Wandel der künstlerischen Produktionsbedingungen und künstlerischen Funktion, ja der gesamten Kunstverhältnisse ein. Sie ist Bestandteil eines gesellschaftlichen Umgestaltungsprozesses, der sich in dem genannten Zeitraum in Europa (in Ansätzen bereits außerhalb Europas: in den europäischen Kolonien) vollzieht, aus dem die Moderne als Formation, schließlich unsere eigene Gegenwart hervorgeht.
Philosophie und Künste sind Artikulationsmedien dieses epochalen Umbruchs, geistige Verarbeitungsformen eines Zeitalters, das als Ganzes, im Gesamt des Kulturprozesses, bis in Individualitätsformen, in subjektiv-psychische Strukturen hinein, noch in den Weisen individuellen körperlichen und emotionalen Erlebens durch Prozesse fundamentaler Transformation gezeichnet ist. Sie sind Verarbeitungsformen in menschheitsgeschichtlicher Perspektive. Epochenumbruch und Transformation meinen in diesem Zusammenhang hochkomplexe und in sich differenzierte Prozesse struktureller Veränderung. Sie umschließen die Momente von Abbruch und Zusammenbruch ebenso wie Umbruch, Aufbruch und Neubeginn.
Behauptet wird dabei der strukturell eigenständige Charakter des Prozesses der künstlerischen Transformation. Das heißt, revolutionäre Veränderungen in den Künsten vollziehen sich in spezifischer, eigengesetzlicher, nicht auf Anderes reduzierbarer (in diesem Sinn ›autonomer‹) Gestalt: als Prägung, Umprägung und Neuprägung des gegebenen künstlerischen Materials, der überlieferten Formenwelt, tradierter Produktionsbedingungen, Kunstfunktionen und Rezeptionsweisen.
Die Feststellung, dass sich in den Künsten im Zeitraum zwischen 1760 und 1830/48 ein Prozess qualitativer Umgestaltung, eine Kunstrevolution höchster Intensität und Breite vollzieht, wird vom historischen Material her kaum zu bestreiten sein. Er spielt sich gesamteuropäisch ab, ja, geht in seinen Dimensionen und Wirkungen über die Grenzen Europas hinaus. Er ist weltkulturell dimensioniert. Er betrifft alle Kunstarten, Gattungen und Formen. Man nehme allein Literatur und Theater und vergleiche den ›Stand‹ um 1760 mit dem um 1830, gar 1848. Gleiches gilt für die Musik und für die Malerei. In der Geschichte der Künste sind in der Neuzeit sind diesen Kriterien zufolge vier Phasen revolutionärer Transformation zu unterscheiden, die in vergleichbarer Dichte und Intensität – quantitativ und qualitativ – die ästhetischen Materialien, Formenwelten, Produktionsbedingungen, Funktionen und Wahrnehmungs- wie Rezeptionsweisen verändert haben:
- die Phase der frühen Neuzeit – zwischen Dante (also um ca. 1300) und dem beginnenden 17. Jahrhundert (der Tod Shakespeares kann als zäsurierendes Datum gelten);
- die Epoche der Doppelrevolution 1760 – 1830/48;
- die Revolution in den Künsten, die sich mit dem Beginn des Imperialismus, intensiviert im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, vollzog;
- die Phase des entwickelten Imperialismus; mit ihr die Epoche der Gegenwart.
D. Strukturelle Transformation. Formwandel und Weltanschauungsentwurf: Veränderungen in Philosophie und Kunst
Genauer gefragt: wie reagieren die Künste auf die Herausforderung des formationsgeschichtlichen epochalen Umbruchs? In welcher Weise vollzieht sich in ihnen der Prozess der revolutionären Umgestaltung im Zeitraum zwischen 1760 und 1830/48? Was heißt es, auf die einzelnen Künste, Gattungen, Formen und Werke hin gefragt, wenn von der Revolution in der Form der Künste gesprochen wird?
Halten wir fest: es handelt sich nicht allein und in der Mehrzahl der Fälle, auch nicht in erster Hinsicht, um eine thematische Spiegelung. Vielmehr handelt es sich um einen Transformationsprozess der künstlerischen Formenwelt, eine Dialektik des ästhetischen Materials, und zwar im Sinne einer hochkomplexen Form-Inhalt-Dialektik. Das bedeutet zunächst: es handelt sich um Prozesse der internen ästhetischen Konstitution der Werkwelten, in den spezifischen Unterschieden der Kunstarten, -gattungen und -formen. Diese Transformation ist deshalb auch in formen- und werkgeschichtlichen Analysen, letztlich in der Interpretation (dem close reading) von Einzelwerken festzumachen; die generalisierende These muss in der individuellen Werkinterpretationen überprüft und nachgewiesen werden. Wie die Philosophie reagieren die Künste in zweifacher, miteinander verbundener Weise – formal durch eine strukturelle Transformation, inhaltlich durch umfassende Weltanschauungsentwürfe.
Strukturelle Transformation heißt für die Philosophie: neue Wege der Begründung und Argumentation, eine grundlegende Umkehr in methodologischer, epistemologischer, erkenntnistheoretischer und ontologischer Hinsicht (Kants »kopernikanische Wende«), schließlich auch die Entdeckung der Dialektik als logisch-ontologische Grundkategorie und ihre Anwendung als Methode der Systemkonstruktion (Hegel). Strukturelle Transformation heißt für die Künste: qualitative Weiterentwicklung der ästhetischen Produktivkräfte, Umbau und Neuorganisation der künstlerischen Formenwelt. Eines jedenfalls dürfte feststehen: Nur wo die Formfrage in den Mittelpunkt gestellt wurde, vermochten die Künste die geschichtliche Herausforderung aufzunehmen und ästhetisch zu verarbeiten. Revolutionen in der Kunst vollziehen sich stets in der Weise der Reorganisation, Umgestaltung und Neugestaltung des ästhetischen Formmaterials – der ästhetischen Werkwelten. Dabei ist ›Form‹ nie ohne Inhalt zu denken. Form ist zu denken als Dialektik von Inhalt und Form. Dies war nicht zuletzt auch die Grundeinsicht der führenden Kunsttheorie der Epoche.
Eine solche Transformation vollzieht sich – wenn auch in hochgradig unterschiedlicher Intensität und in variablem zeitlichen Verlauf – in allen Künsten und in sämtlichen Gattungen und Formen der Künste, und sie vollzieht sich gesamteuropäisch. Der Prozess der Umgestaltung ist so umfassend, dass gesagt werden kann: In der Zeit zwischen 1760 und 1830/48 vollzieht sich im europäischen Raum die nach der frühen Neuzeit zweite große Stufe einer strukturellen Transformation der Formenwelt der Künste in Europa. Womit nicht geleugnet werden soll, dass es auch außerhalb der genannten Zeitstufen Entwicklungen in den Künsten gibt. Benannt werden sollen allein die historischen Stufen, an denen sich solche Transformationen mit auffallender Dichte und in hochgradiger Beschleunigung vollzogen.
Weltanschauungsentwurf bedeutet für die Philosophie von Kant und Fichte bis Feuerbach, Engels und Marx umfassende Sinndeutung menschlich-geschichtlichen Daseins und systematische Konzeption des Zusammenhangs der ›ganzen Geschichte‹, tendenziell der gesamten natürlichen und historisch-gesellschaftlichen Welt, der Stellung des Menschen in Natur und Geschichte, bedeutet neue Konzepte von Wirklichkeitserkenntnis und -veränderung, der Begründung und Legitimation geschichtlichen Handelns, schließt ein, was eine epistemologische Revolution (eine Revolution des Wissens) genannt werden kann. Weiter ist in Rechnung zu stellen, dass die Entwicklung des Kapitalismus von einer epistemologischen Revolution (einer Entwicklung von Wissen und Wissenschaft) begleitet wird, die weltgeschichtlich einmalig ist und in der »hochtechnologischen Produktionsweise« (W. F. Haug) der Gegenwart, der Erfindung der sog. Künstlichen Intelligenz kulminiert und heute keineswegs abgeschlossen ist. Dies wurde philosophisch von der analytischen Philosophie einerseits, dann aber auch vom Marxismus aufgenommen, sofern sich dieser selbst als wissenschaftliche Weltanschauung versteht. Für die Philosophie ist dies bekannt (wenn auch in seiner vollen Bedeutung keineswegs erkannt), dürfte auf der Ebene solcher Allgemeinheit auch kaum strittig sein. Weniger bekannt ist die Einsicht, dass in den Künsten – und zwar im gesamten System der Künste – ein ähnlicher, ja in vielem analoger Prozess struktureller Transformation stattfindet. Auch in den Künsten vollzieht sich in dem gesamten Zeitraum moderner Kunstentwicklung ein Prozess der Weltanschauungsartikulation und Weltdeutung, der an Qualität und Umfang durchaus dem entspricht, was kunst- und literaturgeschichtlich am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit geschah. Wenn für diese Zeiträume von ›Weltanschauungsentwurf‹ gesprochen wird, bedeutet dies nicht die bloß poetische Umsetzung oder gar Illustration vorformulierter theoretischer Inhalte, sondern: ästhetische Artikulation – Artikulation im spezifischen Formmedium der einzelnen Künste (poetisch, visuell, theatral, musikalisch) – von Weltbildern, Sinndeutungen und Wirklichkeitskonzepten, die in ihrem totalen Gehalt nicht auf außertheoretische (auch nicht auf wissenschaftliche) Kategorien reduzierbar sind. Sie umfassen Kognition und Begriff ebenso wie Emotion und Sinnlichkeit. Sie betreffen den ganzen Menschen und seine Stellung in der Welt, liegen also jenseits dessen, was Wissenschaft in welcher Form auch immer leisten kann.
Was für ein Revolutionsbegriff liegt dem hier vorgestellten Konzept zugrunde?
›Zeitalter der Revolution‹ als Epochenbegriff
Im Sinne des hier gebrauchten, an Marx orientierten, dialektisch-materialistischen Revolutionsbegriffs meint Revolution mehr als ein isoliertes Ereignis politischer Machtergreifung, mehr auch als den durch dieses Ereignis bewirkten Wechsel der Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. Ein solcher Wechsel mag fraglos revolutionären Charakter haben, ›Revolution‹ aber ist mehr als dies. Revolution heißt Bruch, Umbruch und Neuformung einer ganzen gesellschaftlichen Formation, darin eingeschlossen: der ganzen Lebensweise, nicht zuletzt der Denk- und Gefühlsweisen der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen.
Revolution bezieht sich, auf den Begriff gebracht, auf den Wechsel politisch-kultureller Weltverhältnisse, einer differenzierten Totalität: den strukturellen Zusammenhang von Ökonomie, Politik und Recht, Alltag und Lebensweise, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion. Dabei ist nicht an ein Modell hierarchischer Schichten gedacht, sondern an ein vermitteltes, strukturiertes, in sich differenziertes, sich prozessual bewegendes Ganzes, in dem die Produktionsweise nicht mehr als die Funktion einer Determinante letzter Instanz besitzt: einer zwar fundierenden, doch nicht die Entwicklung des Ganzen im Einzelnen determinierenden Struktur. In diesem Sinn allein kann von Einheit und Ganzheit einer ökonomischen Gesellschaftsformation gesprochen werden.
Die den dialektischen Revolutionsbegriff auszeichnende Qualität von Bruch, Umbruch und Neuformierung ist dabei als prozessual, oft als Prozess in langen Zeiträumen zu denken. So bezieht sich Marx’ revolutionstheoretischer Grundbegriff einer Epoche sozialer Revolution (MEW 13, 9) auf die qualitative Umgestaltung des gesellschaftlichen Ganzen als langfristigen geschichtlichen Prozess. Umgestaltung, in diesem Revolutionsbegriff, ist also konsequent als prozessual gedacht – anders ist die Entwicklung in den Künsten, auch in der Philosophie, gar nicht zu begreifen. Sie verläuft in hochgradig unterschiedlichen Zeitstrukturen. Phasen längerer Kontinuität (einer kontinuierlichen Entwicklung) können von solchen des Stillstands oder der Regression ebenso abgelöst werden wie durch Perioden rapider Beschleunigung, von Schüben, Eruptionen und Explosionen einer Formen- und Gedankenwelt.
Im Sinne des formationsgeschichtlichen Revolutionsbegriffs heißt Revolution nicht zuletzt qualitative Umgestaltung einer ›ganzen Gesellschaft‹, und zwar sämtlicher Bereiche des gesellschaftlichen Ganzen; eine Transformation gleichwohl, die die Formen individuellen Lebens erfasst, ja noch die Weisen intimster körperlicher, seelischer und geistiger Erfahrung ergreifen kann.
Die Revolution in der Form der Philosophie wie in der Form der Kunst kann also auf keinen Fall bedeuten, philosophische und ästhetische Transformationen als bloßes Epiphänomen oder einfachen Ausdruck einer als ›primär‹ gesetzten ökonomischen, sozialen oder auch politischen ›Basis‹ aufzufassen. So verstanden, wird der Überbaugedanke falsch.13 Zwar gibt es in Überbauten und ideologische Formen jeder Art Strukturen, die der bloße Reflex ihrer Basis sind, doch erfassen sie nicht das Wesentliche dessen, was mit dem dialektischen Revolutionsbegriff gemeint ist. Dieser versteht die philosophische und ästhetische Transformation als eigenständige, ja eigengesetzliche Gestalt, in der revolutionäre Umbruchsprozesse in den verschiedenen Sphären gesellschaftlichen Seins vonstatten gehen. Revolutionen vollziehen sich auf verschiedenen Ebenen, und diese Ebenen bilden einen Zusammenhang, doch keine Abhängigkeit im Sinne einer festgelegten ontologischen Determination.
Nicht anders als in der Philosophie, ja vielleicht stärker noch als diese, besitzen die Vorgänge künstlerischer Transformation einen strukturell eigenständigen Charakter, der nicht aus Anderem ableitbar ist. Künstlerische Transformationen vollziehen sich in eigengesetzlicher Gestalt: als Prägung, Umprägung und Neuprägung eines gegebenen ästhetischen Materials, der überlieferten Formenwelt, tradierter Produktionsbedingungen, Kunstfunktionen und Rezeptionsweisen.
Von diesem Gesichtspunkt her ist das, was wir ›deutsche Klassik‹ nennen, alles andere als ein epigonaler Klassizismus oder ein sonstwie beschaffener toter Hund. Eher an das Gegenteil ist zu denken: die Revolution in der Form der Kunst in Deutschland, also eine ästhetischen Avantgarde, die außerhalb Deutschlands den Namen revolutionäre Romantik trägt. Klassizismus im präzisen Wortsinn spielt sicher in der revolutionären Kunst Frankreichs eine Rolle, und auch in der deutschen Klassik ist er zu finden (an Goethes Römische Dichtungen etwa sei hier gedacht), doch ist er kaum mehr als eine gebrauchte Formenwelt ohne determinierenden ästhetische Kraft. Als ästhetische Avantgarde, nicht als Klassizismus, ist dann auch die deutsche Klassik, sind Schiller und Goethe außerhalb Deutschlands rezipiert worden.
E. Die europäische Avantgarde der Künste
An diesem Ort sei also mit Nachdruck festgehalten, dass die Klassik in ihrer Zeit als die in Deutschland avancierteste Gestalt einer Emanzipationsliteratur von europäischem – und in Europa normativem – Format Geltung hatte. In dieser Funktion und nicht im Sinne eines normativen Konservatismus ist sie in der progressiven europäischen Literatur aufgenommen worden. Die deutsche Klassik ist also integraler Bestandteil einer europäischen Avantgarde der Künste. Wie auch die avanciertesten Künste im übrigen Europa, entsteht die Klassik als Antwort auf die im epochalen Sinn revolutionäre Situation, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts in Europa, an der Front des Weltprozesses, herausgebildet hatte (um eine Bestimmung Blochs aufzunehmen). Sie war eine Antwort, und sie war Teil, selbsttätiges Glied an der vordersten Linie des geschichtlichen Prozesses. Der Begriff der künstlerischen Avantgarde meint genau dies: die Position der Künste an der Front des geschichtlichen Prozesses, »am vordersten Seinsabschnitt der bewegten, utopisch offenen Materie« (Bloch 1959, 230). Wenn ich von einer Avantgarde der Künste spreche, so sind alle Künste gemeint, wenn auch der Schwerpunkt bei Literatur, Theater, Malerei und Musik liegt.
Die Gemeinsamkeit, die diese Einheit konstituiert, ist keine Gemeinsamkeit der Formen. Im Gegenteil. Was uns formal entgegentritt, ist höchst vielfältig, vielgestaltig, hochgradig heterogen. Die Einheit besteht im Verbindenden des weltanschaulichen Gehalts – im epochalen ästhetisch-weltanschaulichen Profil dieser ästhetischen Kultur; so darin, dass sie bewusst Stellung bezieht zu den Epochenfragen. Es handelt sich um die Einheit einer ästhetisch-weltanschaulichen Formation – eine Einheit in hochgradiger Differenz. Auch die ästhetischen, weltanschaulich-ideologischen und politischen Differenzen innerhalb dessen, was konventionell »Romantik« heißt, sind unübersehbar groß, in Extremfällen unversöhnlich. Trotz dieser offenkundigen Differenzen ist am Gedanken der Einheit der geistigen Kultur in Europa zwischen 1760 und 1830 festzuhalten: bis zum Schlüsseldatum der 48er Revolutionen und dem beginnenden Imperialismus in der zweiten Jahrhunderthälfte. Es ist die Einheit einer geistig-kulturellen Formation, innerhalb der sich eine fundamentale Transformation der Künste vollzieht. Als Teil dieser Bewegung bildet auch der Klassizismus, wie er sich im Rahmen mit der Revolution in Frankreich entwickelt und der Klassizismus als Teilbereich der »Weimarer Klassik« eine besondere Phase und ästhetische Gestalt. In diesem Zusammenhang aber ist die deutsche Klassik Bestandteil einer kulturellen Bewegung, die außerhalb Deutschlands ›Romantik‹ genannt wird, die den Klassizismus integriert (wie es Goethe vorbildlich im Faust tut), doch nicht als Norm gefolgt ist. Sehr richtig hat Jauß im Streitgespräch mit Voßkamp daran erinnert, dass Goethe und Schiller in der europäischen Rezeption als »Romantiker« verstanden wurden – im Sinne eines Epochenbegriffs der europäischen Moderne (Jauß 1987, 582).
Die Klassik als Teil der ästhetischen Kultur einer europäischen Avantgarde: dies gilt für die Periode, die 1830/32 – mit der Juli-Revolution in Frankreich und der Industriellen Revolution in Deutschland, mit der sich im europäischen Maßstab formierenden Arbeiterbewegung – zu Ende geht. Wie Heise richtungsweisend schreibt: »Grundsätzlich ändert sich die Lage nach 1830. Jetzt tritt der Kampf um die politische Öffentlichkeit und mittels ihrer um die demokratische Umgestaltung in den Vordergrund, schon verbunden mit dem aufbrechenden Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat. Hier beginnt eine neue Periode, die über die revolutionär-demokratische Dichtung (Heine, Büchner) und den bürgerlichen Materialismus (Feuerbach) zur Herausbildung der selbstständigen sozialistischen Ideologie führt« (Heise 1982, 31).
In dieser Sichtweise verliert der im Bewusstsein deutscher Geistigkeit zählebige Gegensatz von Klassik und Romantik seine Schärfe. Auch der junge Friedrich Schlegel reagierte mit seinem ästhetischen Konzept auf die epochale Erfahrung der Französischen Revolution. Das verbreitete Bild Schlegels als eines »antiklassischen« Theoretikers ironischer Negativität, eines »Rechts des Müßiggangs« und der »Sehnsucht nach der Befreiung von aller materiellen Lebenstätigkeit« (Mattenklott 1976, 742) ist höchst einseitig. Es reduziert eine komplexe, nicht widerspruchsfreie Theorie auf einen ihrer Aspekte. Die Auffassung Lilian Fursts, Schlegels Denken sei »inventive but erratic« (Furst 1969, 39) (»no other writer matches this degree of instability« [ebd., 18 f.]), verdient gehört zu werden. Als Korrektur traditioneller Schlegel-Bilder dürfte Mennemeiers Neudeutung Schlegels als geheimer Theoretiker eines revolutionären Demokratismus und Republikanismus von Bedeutung sein. Mennemeier spricht vom Versuch des jungen Schlegel, den Begriff nicht nur eines klassischen, sondern auch eines gesellschaftlichen, progressiven, ja revolutionären Schriftstellers aufzustellen (Mennemeier 1977, 293). Er verweist auf die enge Verbindung von Schlegel und Goethe, der für diesen gerade in seiner Fähigkeit »zum Fortschritt und zum Überholtwerden« den Typus des modernen Schriftstellers verkörpert habe (ebd., 292). Für Mennemeier ist Schlegel der erste große Theoretiker der modernen Literatur. Die von ihm »verhandelte Sache« sei die »in ungeheure Bewegung geratene moderne Literatur« (ebd., 293). Mennemeier zieht Verbindungslinien von Schlegel zum »gesellschaftlich prekären Autonomie-Ideal moderner Poesie bis in gewisse extreme Positionen des französischen Symbolismus hinein« (ebd., 290), wie auch zur literarischen Praxis und Poetik Brechts. Die von Schlegel zur Beschreibung seiner Literaturvorstellung benutzten Republikanismus-Metaphern seien
nicht nur Ersatzrhetorik eines verhinderten Revolutionärs. Sie umschrieben auch, ähnlich wie der allzu oft als geheimniskrämerisch empfundene Ironie-Begriff, tatsächliche Fortschritte im Bereich poetischer Liberalisierung in Gestalt neuer, emanzipatorischer Kommunikationsformen der Literatur (ebd.).
In dieser Sicht erscheint Schlegel, bei aller Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit seines Denkens, als der erste große Theoretiker der modernen Literatur.
Mit Jauß lässt sich sagen, dass die Frühphase der deutschen Romantik »als ästhetische Revolution im Sinne Schillers und Schlegels zu Ende führen sollte, was die politische Revolution von 1789 verfehlt hatte« (Jauß 1987, 582). Es sei erinnert, dass »romantisch« im Sinne des jungen Friedrich Schlegel zunächst die Bedeutung von »modern« besaß (im Sinne des Streits zwischen Anciens et Modernes, Antike und Moderne): die Theorie der romantischen Poesie war Theorie moderner Dichtung, dann Theorie der Literatur der Zukunft. Heute könnte gesagt werden: sie war eine Theorie der Avantgarde. Für diese neue Literatur galt Schlegel der Roman als das wesentliche Paradigma (vgl. Wellek 1959, 272, 278). Aus diesem Grunde konnte ihm der Autor der Lehrjahre als Vorbild einer »romantischen«, also avantgardistisch-zeitgenössischen Literatur gelten. Wesentliche Bestimmungen »romantischer« Poesie, die Schlegel im Konzept »progressiver Universalpoesie« zusammenfasste – und die auf Aufhebung der arbeitsteilig geschlossenen Kunstformen und poetischen Gattungen, auf Koinzidenz von Poesie und Philosophie, Kunst und Begriff, auf die Überwindung schließlich der Dichotomie von Kunst und Leben zielte – dürfen auf exemplarische Werke Goethes (Lehrjahre, Wanderjahre und Faust) eher zutreffen als auf die (im engeren Sinn) »romantische« Dichtung, ja, finden ihre volle Entsprechung vielleicht erst in der Literatur des 20. Jahrhunderts (worauf Wellek hinweist).14
Sicher beschritt die Romantik in Deutschland einen anderen Weg als die klassische deutsche Literatur, und bezogen auf Deutschland hat die Klassik-Romantik-Opposition durchaus einen kritischen Sinn. Und so unsinnig eine Auffassung ist, welche die deutsche Romantik als kohärentes Reaktionswerk ansieht, so schwer dürfte die von Heise vorgetragene Argumentation zu widerlegen sein, dass, im Gegensatz zur »klassischen Linie« (die sich trotz aller Kompromisse der feudalaristokratischen Reaktion verweigert und an früheren Stufen der Aufklärung festhält), die romantische Bewegung mit der Enttäuschung und Isoliertheit bürgerlicher Intelligenz in der nachrevolutionären Periode einsetzt, dann wesentlich auf die neuen Probleme durch Zurücknahme der historischen Perspektive und weltanschaulichen Emanzipation reagiert, so sehr sie auch »eine gesteigerte Sensibilität für die das private Individuum und die künstlerische Subjektivität bedrängenden Verhältnisse und Widersprüche der zeitgenössischen Gesellschaft entwickelt« (Heise 1982, 29). In diesem Sinn ist die Romantik in europäischer Perspektive eine frühe Form radikaler Selbstkritik der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer nachrevolutionären und industriell geprägten Gestalt – wobei die Romantiker in ihren Antworten, Lösungsangeboten, Deutungsmustern und Gegenentwürfen selbst höchst unterschiedliche Wege gingen. Die Extreme liegen politisch zwischen Reaktion und Revolution.
Trotz bestimmter Gemeinsamkeiten ist der Weg, den die Romantik in Deutschland nahm, auf die europäische Romantik im ganzen nicht übertragbar.15 Zwar gab es auch außerhalb Deutschlands jene, die den Leidensweg in Isolation und Selbstzerstörung gingen, oder aber den Rückzug antraten in machtgeschützte Innerlichkeit, gar offiziell ihren Frieden mit den Mächten des alten Europa schlossen und sich von Restauration und Konterrevolution feiern ließen – wie verspottet George Byron die romantischen Renegaten am Beginn seines Don Juan! Es gab die Kontinuitätslinie von Aufklärung und Revolution auch in der europäischen Romantik, und zwar in allen Künsten, bis in das Jahr 1848 und darüber hinaus. Die radikale romantische Intelligenz verkörpert den Typus einer literarischen, aber auch kulturellen und politischen Avantgarde. Sie verbündet sich mit den um ihre nationale Unabhängigkeit kämpfenden Nationen. Sie stellt sich an die Seite der damals beginnenden antikolonialen Befreiungsbewegungen in Europa und Übersee. Sie nimmt den Kampf gegen absolutistische Diktatur auf, verfolgt die Ziele einer demokratisch-bürgerlichen, schließlich schon sozialistischen Republik. Unter veränderten Bedingungen setzt sie die Traditionen von radikaler Aufklärung, Revolution und Klassik in den Grundkonzeptionen fort. Sie setzt sie fort durch Erweiterung und Transformation. Es ist die Linie, welche die ästhetische Bewältigung der epochalen Konflikte auf einen neuen Realismus hin vorantreibt und die ästhetische Bewältigung zugleich an die politische Aktion bindet – der Weg, der in Deutschland zu Büchner und Heine führt, zu den Dekabristen und Puschkin in Russland, zu Manzoni und Verdi in Italien, zu Petőfi in Ungarn, zu Mickiewicz in Polen, zu Byron und Shelley in England. So war es Shelley, der der neuen Klasse, dem aufkommenden Proletariat, eine erste authentische Stimme verlieh. Bei Shelley
werden die usurpatorischen neuen Götter gestürzt und die Befreiung der Menschheit hymnisch gefeiert. Shelley hat bereits in die neue, in die aufgehende Sonne der proletarischen Revolution geblickt. Er konnte die Befreiung des Prometheus besingen, weil er bereits die Männer Englands zum Aufstand gegen die kapitalistische Ausbeutung aufrufen konnte (Lukács 1967, 124 f.).
Der letzte Vertreter der jakobinischen Romantik in England und Schottland (Burns dürfte der erste gewesen sein – Horst Meller hat diesen einen Jakobiner in jakobitischer Verkleidung genannt [Meller 1982]), war auch der erste sozialistische Realist. Der Begriff sei hier – herrschender Meinung zum Trotz – im Sinne Brechts gebraucht, der sein Konzept realistischer Schreibweise an Shelley illustriert: als Beispiel des »neuen Realismus«, der mit dem Aufstieg des Proletariats möglich geworden war (Brecht 1967, Bd. 19, 317). The Mask of Anarchy, Song to the Men of England, England 1819, Prometheus Unbound legen politisch wie ästhetisch dafür Zeugnis ab. Von Shelley und Byron führt ein direkter Weg in die Literatur des Chartismus, der ersten programmatisch entwickelten Literatur der organisierten Arbeiterbewegung überhaupt. So nennt das Chartist Circular vom 19. Oktober 1839 Shelley den ersten und edelsten der »Poets of the People«, und Engels bemerkt in der Lage der arbeitenden Klasse in England, Shelley – »der geniale, prophetische Shelley« – werde, wie Byron, »fast nur von den Arbeitern gelesen« (MEW 2, 455). Mit Recht gilt uns Shelley daher als erster Dichter des Weltproletariats.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Ausgangsposition der englischen und schottischen Romantik eine grundlegend andere ist als die der Literatur in Deutschland.16 In England und Schottland reagiert die Literatur bereits vom Standpunkt einer entwickelten bürgerlichen Gesellschaft17, und sie reagiert in bewusster kritischer Antwort auf die Erfahrungen der Industriellen Revolution. Sie reagiert zudem mit einem radikalen politischen Programm internationaler Orientierung, in das die plebejisch-subversiven Traditionen der Zweiten Kultur in England ebenso eingehen wie die Menschenrechtsprogrammatiken der radikalen Aufklärung (Thomas Paine, The Rights of Man, 1791; Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Woman, 1792). Die Romantik in England und Schottland beginnt mit einer Orientierung, welche die prinzipielle, oft enthusiastische Parteinahme für die Revolutionen in Amerika und Frankreich einschloss. Sie war in ihrer frühen Phase eine auch im politischen Sinn radikale Literatur: mit Blake, Coleridge und dem jakobinisch gesinnten schottischen Bauern Burns. Diese Dichtung ist in einem solch unmittelbaren Sinn pro-revolutionär, dass einer ihrer besten Kenner eine wegweisende Arbeit unter den orientierenden Titel gestellt hat: »Die Geburt einer Romantik aus dem Geist der Revolution« (Meller 1982). Ihres revolutionären Ursprungs ist sie sich in ihren konsequentesten Vertretern immer bewusst geblieben. Und doch trennen sich auch hier, wie im übrigen Europa, die Linien, führen die Wege in die verschiedensten Richtungen – weltanschaulich, politisch und ästhetisch. Von dem einen Ausgangspunkt zweigen verschiedene Wege ab; so wenig sich diese mit der einfachen Opposition einer »revolutionären« und einer »reaktionären« Romantik verrechnen lassen. Der eine Gesichtspunkt aber ist hier festzuhalten: Der revolutionäre Beginn dieser Dichtung – mit Burns und Blake – fand seine Fortsetzung (nicht zuletzt unter den Bedingungen des sozialen und politischen Exils) durch Byron und Shelley, die sich jetzt auch in ihrer praktisch-politischen Orientierung an die Seite der sich erhebenden Klassen und Völker stellen. Ihre politische Haltung war internationalistisch, und das Motto »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«, zweieinhalb Jahrzehnte nach ihrem Tode ausgesprochen, hätte ihren Ohren so wenig fremd geklungen wie der spätere Zusatz Lenins, der die unterdrückten Völker den Proletariern an die Seite stellte.
Kerngedanke des poetologischen Programms der radikalen Romantiker war, sich zur Stimme der Verdammten dieser Erde zu machen – aller Völker, Geschlechter und Rassen –, jener, die bislang poetisch ›ohne Namen‹ waren; so unüberhörbar sie sind in der verschlüsselten Sprache von Shelleys Ode to the West Wind, in rhetorischer Eindringlichkeit in Prometheus Unbound. Das politische Ziel dieser Dichtung war kein geringeres als die befreite Menschheit – »man (…) / Sceptreless, free, uncircumscribed, (…) / the king / Over himself«, »the earth / one brotherhood« (Prometheus Unbound) – auch hier im Einklang mit Klassik und Aufklärung, mit Diderot und Rousseau, Kant und Herder, mit Goethe (Prometheus, Egmont), Schiller (Don Carlos, Wilhelm Tell), Beethoven (Fidelio, Eroica, Neunte Sinfonie) – Fortführung einer Linie aufklärerisch-klassischen Denkens, das in die Lichtsymbolik der frühen Antike zurück reicht, in dem Denken anderer Kulturen (wie der chinesischen) seine Entsprechung hat. Ihre Ästhetik war eine Ästhetik des Widerstands, wie sie eine Ästhetik der Befreiung war. Die Dichter, so Shelley in seiner poetologischen Programmschrift, sind Spiegel der Zukunft, Trompeten, die zu den Schlachten singen, Gesetzgeber der Welt (A Defence of Poetry). Byron, erinnere ich, starb vor Missolunghi, und Goethes Faust spielt, nach dem Selbstzeugnis seines Autors, »vom Untergang Troias bis zum Fall Missolunghis«.18 Mit der Gestalt des Euphorion im dritten Akt des zweiten Teils der Dichtung hat Goethe dem großen Toten von Missolunghi, bei aller Distanz zur Person und ihrer Politik, ein würdiges Denkmal gesetzt.
Byron steht hier stellvertretend für die neue revolutionäre Intelligenz Europas. Ihr wird vom alten Goethe jener Ich-Reichtum zugesprochen, die Kraft des Subjekts, die er den deutschen Romantikern bestritt: Schärfe des Blicks und Begriffs, Liebesfähigkeit, Mitempfindung (»Sympathie«: die Kraft, sich in andere einzufühlen), das regelgebende Vermögen des Genies – Gesangesfähigkeit – nicht zuletzt. Gerechtfertigt wird der reine Mut des Handelns, so sehr er mit Gesetz und Sitte (positivem Recht und Konvention) in Konflikt gerät; gerechtfertigt, weil vom höchsten Sinnen motiviert: dem Interesse des Besten, der Menschheitsbefreiung – weil hier die Maxime des Willens zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen kann. Die ethische Rechtfertigung ist erkennbar Kant geschuldet. Die Maxime des Willens, das ist die Absicht der Volksbefreiung, der Standpunkt der Menschheit – Kants transzendentaler Gesichtspunkt. Deshalb allein ist ein solches Scheitern tragischer Natur, ist sein Misslingen in blutiger Niederlage der Gegenstand von Trauer und Klage – und wird doch überstrahlt von der Hoffnung auf Wiederkehr solcher Gesinnung, neuer Lieder in neuen Generationen, gezeugt von der ewig sich erneuernden Natur.
1 Den Grundgedanken des hier vorgestellten Konzepts habe ich in »Klassik oder die Revolution in der Form der Kunst« in C. Stappenbeck/F.-R. Schurich (Hg.), Gegen den Strom. Festschrift für Dieter Kraft zum fünfundsechzigsten Geburtstag. Berlin 2014, 65–88 entwickelt.
2 R. Dau, »Erben oder enterben? Jost Hermand und das Problem einer realistischen Aneignung des klassischen bürgerlichen Kulturerbes«. Weimarer Beiträge 19, 67–97.
3 H. H. Holz, »Kleist und Klassik«. Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie. 34, 106. 2010.
4 R. Krüger, »Klassik-Ideologie als Herrschaftswissen«. Topos. 35, 111.
5 Holz 2010, 106. Wie schwierig es ist, mit dem Begriff der Klassik und des Klassischen umzugehen, lässt sich dadurch demonstrieren, dass der Begriff der ›deutschen Klassik‹ in andere europäische Hochsprachen gar nicht übersetzbar ist. Wie man es auch versucht, im Englischen kommt dabei immer ›classicism‹, also Klassizismus heraus – und dieser Begriff dürfte, selbst bei großzügigster Verwendung, nur für einen schmalen Anteil des Werks von Goethe und Schiller zutreffend sein. Auch im Französischen wird ›Klassik‹ als ›classicisme‹ übersetzt – die Probleme scheinen ähnlich zu liegen. Es ist eigenartig, dass hoch gebildete Menschen wie Holz und Hacks diesen Sachverhalt ignorieren und Klassik-Romantik als simplen Gegensatz behandeln, wobei Klassik für das Progressive steht, Romantik für die Reaktion. Die europäische Entwicklung wird dabei ausgeblendet.
6 Marx, K./Engels, F., Werke, Bd. 10, 177 (zit. im Text MEW 10, 177).
7 Athenäumsfragmente, Kritische Fragmente (Schlegel 1964, 38 f., 22).
8 Dazu des Näheren Metscher, Faust und die Dialektik. Studien zu Goethes Dichtung. Kassel 2024.
9 Ich beziehe mich hier auf Volker Klotz’ Unterscheidung zwischen offener und geschlossener Form des Dramas.
10 Einige werden in dieser Schrift vorgestellt. Beispiele auch in Metscher, Imperialismus und Kultur, Mangroven, Kassel 2025; ders., »Die Frage der Wahrheit in den Künsten«. In: H. Kopp/L. Geisler (Hg.), Denkanstöße. Hommage an Robert Steigerwald. Essen 2015. 117–149.
11 1760, 1789, 1830, 1848 und 1870/71 gelten mir als orientierende Daten im Sinne einer geschichtlichen Deutung der Epoche. 1760 wurde gewählt erstens, weil damit der auch kultur- und geistesgeschichtlich so einschneidende Beginn der Industriellen Revolution in England als Epochenzäsur gesetzt wird; zweitens, weil damit literaturgeschichtlich eine bestimmte Phase der Aufklärung (so Lessing) in die Epoche der revolutionären Transformation hineingenommen wird. 1789 bedarf keiner näheren Begründung. 1830 wurde gewählt erstens, weil die Juli-Revolution in Frankreich wiederum den Charakter einer auch kultur- und ideengeschichtlich relevanten historischen Zäsur besitzt; zweitens, weil zu diesem Zeitpunkt ein weiterer Industrialisierungsschub einsetzt (Deutschland); drittens, weil, mit dem Tod Goethes und Hegels 1832, eine Epoche europäischen Geistes an ihr Ende kommt: die sog. »Kunstperiode«, die zugleich die Periode der spekulativen Philosophie war. 1848 bedarf der Begründung so wenig wie 1789. Es ist ein Schlüsseldatum in der Formierungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft zur Moderne hin, die in der hier vorgestellten Form das Zeitalter des Imperialismus ist. Der Übergang ist kontinuierlich. 1870/71 sei genannt als Zeitpunkt seines Beginns und als Tage der Commune – der ersten sozialistischen Revolution.
12 Die hier vorgestellte Betrachtungsweise ist für die Germanistik neu. In dieser wird, bis in unsere Tage – hin zu Seibt, Keller und Schrings – Revolution allein im Sinne eines politischen und historischen Ereignisses verstanden, in der Regel bezogen auf die Revolution Frankreichs und ihr Folgen,
13 Dazu des Näheren Metscher, Sein und Bewusstsein. Ontologische Reflexionen. Kassel 2023.
14 Wie Wellek argumentiert, kommt der Roman des 20. Jahrhunderts (Thomas Mann, Joyce, Kafka) der »Schlegelschen Prophezeiung« näher als der des 19. (Wellek 1959, 278).
15 Siehe Kap. X zur revolutionären Romantik.
16 Zur englischen und schottischen Romantik siehe des Näheren Kap. X dieses Buchs; die Ausführungen an diesem Ort haben allein die Funktion einer Überleitung.
17 Bereits Swifts Werk – Gulliver’s Travels, A Modest Proposal und die Irish Tracts – enthalten eine fundamentale Kritik der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft (inklusive der Kritik ihres kolonialistisch-eurozentristischen Charakters), aus Gründen, die mit dem (aus irischer Sicht schreibenden) historisch-sozialen und literarischen Standort des Autors zusammenhängen.
18 Goethe an Sulpiz Boisserée, vom 22. Oktober 1826.
Wege ins Diesseits und seine Erkundung
Aufklärung und die realistische Linie der Künste
Die Kunst, wie sie sich in den europäischen Kernländern im Zeitalter der Doppelrevolution und ihrer Vorgeschichte herausgebildet hat, fußt auf konzeptiven Fundamenten, die auf die frühe Antike, die Homerischen Epen, zurückgehen. Die Linie zu diesen Ursprüngen zurückzuverfolgen, ist hier nicht der Ort. Zu benennen jedoch sind die ästhetisch-weltanschaulichen Grundkonzepte, die diese Linie auszeichnen und von anderen Linien, die gleichfalls auszumachen sind, unterscheiden. Es geht hier, das ist festzuhalten, um Realismus und Dekor: weltzugewandte Kunst und ihre ästhetische Gestaltung. So wird bereits in der Ilias ein Gesamtbild menschlichen Lebens, die »Totalität einer Nationalanschauung« (Hegel) auf einem Schild dargestellt, dessen pragmatischer Sinn der Kampf ist – das berühmte Schild des Achill. Die Darstellung ist wirklichkeitsbezogen, also realistisch: sie evoziert menschliches Leben in Arbeit, Krieg, Frieden und Fest, in einer Weise, die andeutend zeigt und auf Nichtgezeigtes verweist, die wir im Unterschied zum naturalistischen Abbild symbolisch nennen können. Das symbolische Zeichen verweist, das naturalistische Abbild kopiert – dies ist der Unterschied. Eine weitere Unterscheidung, die sich schon auf frühen Stufen findet, ist die Allegorie. Sie setzt wie das Symbol einen reflexiven Bezug voraus, doch so, dass sie ihn begrifflich fasst und das ästhetische Zeichen allein nur noch den Begriff kopiert. In bedeutender Kunst, insbesondere realistischer Kunst, dominiert das Symbol, ist das naturalistische wie das allegorische Werk von nur sekundärer Bedeutung. Werke wie die Homerischen Epen, Hamlet oder Faust naturalistisch oder allegorisch zu verstehen, heißt, sie misszuverstehen. Sie sind im Modus der Darstellung symbolisch, und da sie auf Wirklichkeit bezogen sind, ist hier von symbolischem Realismus zu sprechen. Auch der Schmuck – das Dekor – hat dann die Funktion einer Entdeckung und dient dem Zweck solcher Kunst, und dieser Zweck ist die Aufklärung. Aufgeklärt werden die Menschen über sich selbst und ihren Ort in Zeit und Raum, der griechisch noch als Kosmos (im Sinne Karl Löwiths) verstanden wurde. Geschichtliches Denken und die Vorstellung der Geschichtlichkeit von Zeit und Raum und des menschlichen Orts in ihnen setzt sich erst im Denken der Neuzeit schrittweise durch.
Die Linie eines solchen Kunst von den Ursprüngen her zu zeigen, kann nicht die Aufgabe dieser Schrift sein. Dies überschritte bereits räumlich ihre Grenzen. Alles, was hier getan werden kann, ist den Einsatz bei einem Autor zu nehmen, der, am Ende der frühen Neuzeit stehend, mit seinem Werk wie kein zweiter die Entwicklung weltorientierter Kunst geprägt hat, und das ist Shakespeare. »Shakespeare und kein Ende«, Goethes Wort hat hier seine volle Berechtigung.
Das Licht der Aufklärung. Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik
Lediglich ein Rückblick sei hier gestattet, weil er für das zentral ist, was in der europäischen Kultur ›Aufklärung‹ heißt und bis auf den heutigen Tag aller Widerrede zum Trotz in seiner Bedeutung nicht gebrochen werden konnte – das ist die Metaphorik des Lichts. Sie ist Teil der Ursprungsgeschichte, damit des ideengeschichtlichen Fundaments aufklärerischen Denkens in dieser Kultur. Sie bildet den Boden für das, was in Deutschland ›Klassik‹ heißt – nicht als Gegensatz, sondern als Form und Voraussetzung der ästhetischen Avantgarde in Europa. Dem Licht entgegengesetzt ist die Nacht der Reaktion, die formierte Gegenaufklärung, wie sie sich in den Hymnen an die Nacht des Novalis, politisch in der Christenheit oder Europa niederschlägt.
Das Licht, im Gegensatz dazu, bedeutet ideen- und formen-geschichtliche Erkundung als Boden und Kontext der neuen Kunst, als Blick nach vorn über jeden Klassizismus hinaus. Es ist nicht zuletzt der Blick, der neue Formen erfindet – wie es Goethe tat, der in seinem Hauptwerk eine neue Form des Theaters entwarf, die bis auf den heutigen Tag nicht erreicht, geschweige denn übertroffen werden konnte.
Ein metaphorologischer Hinweis zur Topik der ›Feuer/Licht‹-Symbolik sei hier gegeben. Die Metaphern des Feuers und des Lichts haben einen zentralen Ort in der Geschichte der Ideen – auch der theologischen und philosophischen Ideen – seit der frühen Antike, bei starker Fluktuation der Bedeutung.
Die Zuordnung beider ist festzustellen, häufig aber auch eine Differenz der Bedeutungen. Dantes Hölle etwa ist nicht allein, der Tradition entsprechend, ein Ort brennender Hitze, sie ist zugleich Ort größter Kälte; so markiert ein Eissee den untersten Punkt der Hölle und ist allein den schlimmsten Sündern vorbehalten. Das Paradies wiederum ist ein Reich ewigen Lichts. In Platons Höhlengleichnis wiederum (Politeia, Buch 7, 514 ff.) ist die Rede von einem Menschen, der die Welt der Schatten, die empirische Welt der Abbilder, verlässt und dem Licht der Sonne entgegen steigt. Anfangs ist er geblendet, er muss sich an das Licht gewöhnen. Wenn er zuletzt die Sonne sieht, wird er feststellen, »daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume«. Die Sonne ist damit höchste Realität, die »Idee aller Ideen«, der Mensch, der der Sonne zusteigt, ist »dem Seienden näher und zu dem Mehr-Seienden gewendet«. Die Metapher wird bei Plato im programmatischen Sinn idealistisch gebraucht. Die reale Welt, in der wir leben, ist eine Schatten-Welt, der ›Wirklichkeit‹ nur in abgeleitetem Sinn zukommt – als menschliche Teilhabe an der Realität der Sonne. Damit ist ein für die theologische Tradition der Lichtmetaphysik konstitutiver ideologischer Topos exemplarisch ausgearbeitet.
Auf den religiösen Hintergrund der Platonischen Unsterblichkeitslehre weist Karl Kerényi hin: den altgriechischen Apollonkult (Kerenyi 1953, 33–80). Apollon ist in dieser Auffassung reines Licht. Er begründet die Harmonie des Kosmos durch sein Leierspiel, sein Leierschläger ist der Sonnenstrahl. Er steht für Geist, Kunst, Erkennen. Die Stärke dieser Tradition, gerade für die ästhetische Avantgarde im Zeitalter der Doppelrevolution, beweist Shelley’s Hymn of Apollo von 1820, in der es heißt: »I am the eye with which the Universe / Beholds itself and knows itself divine; / All harmony of instrument or verse, / All prophecy, all medicine is mine, / All light of art or nature.«1
In dieser progressiv-idealistischen Verkündigung ist Apoll die Verkörperung eines metaphysischen Selbstbewussteins, in der das Universum sich selbst erkennt und seiner selbst bewusst wird, der naturalistisch gewendete seiner selbst bewusste Geist: das Auge des Universums, das sich in diesem selbst erkennt. Er ist Garant einer göttlichen Natur, kein Schöpfergott außer ihr, sondern der Gott in ihr, ein vergöttlichter Spinozismus, möchte man sagen. Er verkörpert als Gott in ihr ihre produktiven Kräfte: die Harmonie in Musik und Dichtung, die Prophetie, die heilende Kraft der Medizin, das Licht der Kunst und der Natur. Apoll ist die Apotheose des Lichts, theologisch gesprochen: die Apotheose der Lichtmetaphysik. Die schönsten Zeilen vielleicht, die je für einen Gott geschrieben wurden.
Die Vorstellung vom Licht der Natur findet sich bereits bei den Vorsokratikern. So Heraklit: »Diese Weltordnung, dieselbe für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen« (Diels 1957, Fragment 30) Auf der vorsokratischen Auffassung beruht auch Heideggers Lesart des altgriechischen Naturbegriffs, der »physis« als »das Allerglühende« (Heidegger 1953, 10 ff. u. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, in: ders. 1951, 55 ff.). Die radikal idealistische Variante der Lichtmetaphysik findet sich bei Plotin, der am Ende des antiken Zeitalters das platonische Denken erneuert. Plotin spricht vom mystischen Aufstieg der Seele zum Göttlichen, wobei diese dem höchsten Licht angeglichen, »ganz und gar reines, wahres Licht« wird. Auch im ästhetischen Denken Plotins hat die Metapher des Lichts also eine zentrale Bedeutung. Schönheit stellt sich her »vermöge einer Form, indem das Dunkel der Materie bewältigt wird durch die Anwesenheit des Lichts«, Schönheit ist »Licht von einem größeren Licht« (Plotin, Enneaden, I, 6; V, 8). In der biblischen Genesis ist Gott der Schöpfer des Lichts (I Mose, 1, 3: »Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. 4: Und Gott sah, daß das Licht gut war.«2). Die Psalmen sprechen vom »Licht deines Antlitzes« (Ps. 4, 7), das Licht wird »Gottes Kleid« genannt (Ps. 104, 2), Gott als »Licht und Heil« der Menschen apostrophiert (Psalm 27, 1). Das Johannes-Evangelium knüpft unmittelbar an die Tradition antiker Lichtmetaphysik an. Johannes »kam zum Zeugnis, daß er von dem Licht zeugte, auf daß sie alle durch ihn glaubten: er war nicht das Licht, sondern daß er zeugte von dem Licht. Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht, und die Welt kannte es nicht« (Johannes I, 6–10, übers. M. Luther). Johannes ist Zeuge des Lichts, heißt: er ist Zeuge Gottes. Gott ist Licht, prima lux, wie die spätere Theologie sagen wird. So wird bei Augustinus Gott mit »Deus intelligibilis lux« angerufen (Soliloquia I, 1). Grundsätzlich unterscheidet die mittelalterliche Theologie zwischen zwei Bedeutungen von Licht: lux oder prima lux und lumen oder lumen naturale (so Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, 12, 2, 2); die erste bezieht sich auf Gott als ›Quelle‹ und ›Urbild‹ des Lichts, die zweite auf das Licht in der Welt und die Vernunft als das Licht im Kopf des Menschen.
Die Bedeutung dieser Tradition für die Herausbildung der neueren Literatur ist nicht zu unterschätzen. Ihre Macht zeigt sich auch im Faust. Über das lumen naturale menschlicher Vernunft theologisiert bereits der Mephistopheles des Prologs im Himmel: »Hätt’st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt’s Vernunft«. Verwiesen sei weiter auf die Figur des Erdgeists: der Verkörperung von Goethes spinozistischen Vorstellungen. Der Erdgeist erscheint Faust »im Feuer«. In der für die Bedeutung des Dramas – wie für die Weltanschauung Goethes insgesamt – zentralen Szene Wald und Höhle des Ersten Teils redet Faust den Erdgeist wie folgt an: »Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, / Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst / Dein Angesicht im Feuer zugewendet. / Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, / Kraft, sie zu fühlen, zu genießen.«
Auch hier werden Feuer und Natur in Verbindung gebracht. Ein direkter Bezug zur Tradition der Lichtmetaphysik liegt weiter vor in der den Zweiten Teil einleitenden Szene Anmutige Gegend; allerdings wird bei Goethe die theologische Bedeutung der Tradition spinozistisch materialisiert. Die aufgehende Sonne wird begrüßt als »ewiges Licht«, das »der Alpe grüngesenkten Wiesen« neuen »Glanz und Deutlichkeit« spendet (das ›clare et distincte‹ rationalen Erkennens der cartesianischen Tradition). »Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!« Kantianisch-aufklärerisch aber ist die Wendung, die Goethe dem Topos gibt. Nicht den mystischen Aufstieg zur noumenalen Welt des prima lux verkündet der Faust, sondern ein Sich-Einlassen mit der materiellen Welt der Phänomene. Anders als bei Plato (also explizit anti-idealistisch) heißt es bei Goethe: »So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!« und: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.«
In Hölderlins großem Gedicht Die Völker schwiegen, schlummerten verkörpert das Feuer »im Herzen der Erde« die Energien des revolutionären Kampfes gegen das Ancien Régime, die Energien des Aufbruchs, des »Geists der Unruh«.
»Jetzt komme, Feuer! / Begierig sind wir, / Zu schauen den Tag«, beginnt Der Ister. Auch hier wird der Tag der Republik der Weltnacht des Feudalismus gegenübergestellt – das »Jetzt aber tagts!« der Hymne Wie wenn am Feiertage, ein Gedicht, für das die Feuer-Symbolik – bei höchster Ambivalenz – von zentraler Bedeutung ist. »Und wie im Aug ein Feuer dem Manne glänzt, / Wenn Hohes er entwarf, so ist / Von neuem an den Zeichen, den Taten der Welt jetzt / Ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter.«
Die »Taten der Welt« sind die Taten des revolutionären Frankreich, von denen der deutsche Dichter seinem Volk Kunde gibt – das »Gewitter Gottes« des letzten Teils ist das Gewitter der Revolution (dies zumindest ist eine Bedeutungsdimension des Texts).
Shelley begreift gleichfalls die Revolution im Zeichen des Gewitters (Ode to the West Wind, England in 1819). Die Metapher des Lichts steht bei ihm durchgängig für die Kräfte der Vernunft, der Humanität, der sozialen Freiheit, der Schönheit. Light und Love werden in Zusammenhang gebracht. So in Prometheus Unbound: »Who reigns? There was Heaven and Earth at first / And Light and Love« (II, 4), »(…) love, like the atmosphere of the sun’s fire filling the living world« (II, 5), »Common as light is love« (II, 5). In der Hymn to Intellectual Beauty wird über den Geist der Schönheit gesagt: »Thy light alone (…) / Gives grace und truth to life’s unquiet dream« und »Spirit of Beauty, that dost consecrate (…) all thou dost shine upon.« Die Lerche in To a Skylark – Verkörperung der Poesie wie der Freiheit – wird verglichen mit »a cloud of fire«. Sie ist wie der Dichter, »hidden in the light of thought«. In der Hymn of Apollo ist Apollon der Gott des Lichts. In dem Gedicht gehen Elemente, die im antiken Apollon-Kult ihren Ursprung haben, eine Symbiose ein mit Grundvorstellungen der Aufklärung.3 Apollon bringt dem Menschengeschlecht das Licht der Republik (= Vernunft = Natur) nach der langen Nacht der Feudalität. Die Sonnenstrahlen sind seine Pfeile, mit denen er die Mächte der Nacht vertreibt. Er ist das Licht in Kultur und Natur – »all light of art or nature«. »Whatever lamps on Earth or Heaven may shine / Are portions of one power, which is mine.«
Die hier genannten Beispiele der neueren Literatur gehören der, in der Essenz, aufklärerisch-humanistischen Traditionslinie an. In der romantischen Reaktion dann wird die ›Nacht‹ gegen das ›Licht‹ ausgespielt – die ›Seele‹ gegen die ›Vernunft‹, Mystizismus und Katholizismus gegen Aufklärung; am deutlichsten, weil am konsequentesten in Novalis’ Hymnen an die Nacht und Heinrich von Ofterdingen.
Shakespeare
Theoretische Neugierde: das Theater als Ort experimenteller Welterkundung. Das Spiel der Kunst als Dramaturgie einer katastrophischen Zeit
»Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren.
Es ist die ZEIT DER MONSTER.«
(Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Heft 3)
Shakespeare ist zentraler Orientierungspunkt dieser Überlegungen, als er in der Bruchstelle steht, die die ›alte Welt‹ des Mittelalters von den Fürstentümern der Renaissance und den absoluten Monarchien in England, Spanien und Frankreich unterscheidet, am Schnittpunkt also der Theokratie des Mittelalters und der ›neuen Welt‹ des sich in diesem Zeitraum konstituierenden frühen Kapitalismus; ein Übergang, der in einer Sequenz von Revolutionen zum Ausbruch kam. Und so umstritten Engels’ Charakterisierung der Reformation als der »Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie« auch ist, unstrittig dürfte sein, dass die Englische Revolution des 17. Jahrhunderts die erste im klassischen Sinn bürgerliche Revolution der menschlichen Geschichte war, einschließlich eines geköpften Königs und der Extermination ihres plebejisch-radikalen Flügels – den Diggers unter Gerrard Winstanley. Die erste Formation, die sich von theokratischen und absolutistischen Formen befreite und als bürgerlicher Nationalstaat konsolidierte, waren die Niederlande (denen Goethe im Egmont ein Denkmal setzte), die sich innereuropäisch als bürgerlich-republikanisch ausgaben, außereuropäisch als brutale koloniale Macht formierten. Die koloniale Eroberung freilich hatte bereits England mit seinen Kriegen gegen Irland eingeleitet. Ähnlich vielfältig und divers ist das Menschenbild dieser Jahrhunderte. Aus der theokratisch erzwungenen Einheit geht bereits in der frühen Renaissance (mit Dante, Petrarca, Boccaccio) ein Bild vom Menschen hervor, das diverser nicht sein kann: zwischen den Extremen von verklärter Entsagung und unverhüllter Sinnlichkeit, heroischem Machiavellismus und friedensorientierter Humanität. Daneben steht eine Gestalt wie Pico della Mirandola, der aus arabischen Schriften, wie er selbst bekundet, ein Bild des Menschen gewinnt, in dem dieser, von Gott in die Freiheit gestellt, sich selbst zu machen, zwischen Tugenden und Lastern gestellt, Engel oder Teufel werden kann. Aus dem theologischen Kontext gelöst, kann hier mit Sartre gesagt werden, dass die Existenz der Essenz vorangeht (l’existence précède l’essence): der Mensch sich durch sein Handeln erst selbst schafft.
Shakespeare als Autor und Mann des Theaters steht zwischen den Fronten. Er existiert in einer Zwischen-Welt. Die Zeit, in der er lebt und handelt, ist eine Zeit, die im wörtlichen Sinn, wie es Hamlet sagt, ›aus den Fugen‹ ist. Die alte Welt liegt im Sterben oder lebt allein noch als Geist in der Geisterstunde, Rache fordernd für seinen Mord. Hamlet aber war Student in Wittenberg, wo mit Reformation, Humanismus und den neuen Wissenschaften ein Denken geboren wurde, das die Rache verbietet und das Recht an die Stelle der Rache setzt. Doch ist die Zeit, in der das Recht zum Gesetz wird, noch ungeboren. Was ist, ist die Zeit, in der sich Hamlet geworfen sieht (hier ist Heideggers Terminus brauchbar),1 ›aus den Fugen‹ geratene Zeit der Monster, die in solchen Zwischenzeiten geboren werden (von denen Gramsci spricht). Ein solches Monster ist Hamlets Onkel, der Ehebrecher und Brudermörder, der Hamlets Mutter verführt und sich zum König macht, der an seinen Machenschaft zugrunde geht, den Staat aber und Hamlet selbst mit sich in den Abgrund reißt.
Shakespeare ist, wie er sich immer verstand, Zeuge als Stückeschreiber. Seine Dramen umreißen die Geographie der Zwischenwelt mit Blicken zurück und nach vorn, Blicken in Mitleid und Zorn. Getrieben wird er von dem, was theoretische Neugier heißen kann: bezogen auf Herkunft, Zukunft und eine Geschichte, deren Fluchtpunkt die Gegenwart ist. Er will wissen, was ist, und dazu gehört zu wissen, was war, was wird und was sein kann – zwischen Apokalypse und Utopie. Das Theater wird so zum Ort experimenteller Welterkundung mit einer Dramaturgie katastrophischer Zeit. Die Komödie wird zur gespielten Utopie, mal leicht, mal schwer, am überzeugendsten in Formen, die man Tragikomödien nennen kann, in denen die Komödie das Tragische auflöst. Mit Dante und Goethe kann man hier von Commedia gesprochen werden. Sein Blick bleibt dabei unbestechlich, denn auch das Neue, das er findet, ist oftmals monströs – wie ein Blick auf Titus und das Historienprojekt, die Tragödien, auf Timon, den Kaufmann, auf Troilus, Maß für Maß, die Dunklen Komödien, auch auf den Sturm, das Wintermärchen, die epischen Spätstücke, die Sonette, die Lukretia als epische Dichtung belehrten. Nur zögernd und spät nimmt er, so scheint es, den Blick des Thomas Morus auf – die Suche nach dem Land, »wo es besser zu wohnen ist« (Brecht).
In diesem umfassenden Sinn ist Shakespeares Werk, vorab sein Theater Ort experimenteller Welterkundung. Möglich wurde sie ihm durch seine Sonderstellung am Ende der Renaissance. Durch diese war, nicht zuletzt mit arabischer Hilfe, der frühen Neuzeit die klassische Antike erschlossen worden. Durch eine überaus rege Übersetzungstätigkeit in Tudor-England (vor allem zur Zeit Elisabeths) war dann auch die Literatur der neuen Nationalsprachen (das Italienische seit Dante und Boccaccio) ins Englische übersetzt worden, wurde gebildeten, vorab begüterten Engländern zugänglich. Shakespeares Werk baut auf solcher Bildung auf. War er auch kein sog. university wit (also nicht universitätsgebildet) wie die meisten anderen seiner schriftstellerischen Kollegen, so muss er doch äußerst bildungshungrig gewesen sein – nicht nur Hamlet, alle seine Stücke geben Zeugnis davon. Die Jahre, über die wir nichts von ihm wissen, die sog. ›verlorenen Jahre‹, werden Lehrjahre gewesen sein. Er brauchte sie, um seine fehlende Bildung nachzuholen, und er brauchte sie als Lehrzeit in der Kunst des Stückeschreibens, in der Kunst damit auch, Wissen, auch politisches Wissen, Kenntnis geschichtlicher Praxis mithilfe des Theaters unter das nichtwissende Volk zu bringen. Sein Theater dient nicht nur der Unterhaltung, sondern zugleich auch der Lehre. In ihm zusammen kommen Aristoteles und Horaz: Erschütterung, Erkenntnis und Vergnügen.
In den folgenden Ausführungen sei, in verknappter Form, Shakespeares Auffassung vom Schauspiel ein Stück weit nachgegangen: von Aufgabe und Praxis des Theaters. Es wird sich zeigen, dass Shakespeares Auffassung die erste ist in der Geschichte des Theaters und seiner Theorie, die diese Aufgabe, und die Praxis des Spielens in ihr, in ihrer Eigenständigkeit und geschichtlichen Bedeutung begrifflich zu bestimmen imstande war. Der Ausgangspunkt sei bei Bekanntem genommen.
Die Kunst, hat Heine mit Blick auf Goethe gesagt, ist »Spiegel der Welt« (so Lukács 1963, 502). Das Bild ist nichtssagend – es sei denn, es wird näher betrachtet. Für sich selbst genommen trifft es auf den trivialsten Naturalismus zu und auf die höchste Kunst. Zu fragen ist: was ist mit diesem Spiegel gemeint? Wer oder was spiegelt sich in ihm? Was macht er sichtbar? Was bedeutet er? Wer hält ihn vor? Wem wird er vorgehalten?
Im Hamlet (III, 2) gibt Shakespeare, in der Unterweisung, die der Prinz den Schauspielern erteilt, eine genaue Antwort auf diese Fragen. Sie ist konkreter als die des Aristoteles, auf den er sich offenkundig bezieht. Doch spricht er nicht als Philosoph, sondern er spricht, wie man heute sagen würde, als Dramaturg. Er spricht konkret, bezogen auf das Spiel der Spieler in der Praxis des Theaters. Zweck ihres Spielens, sagt er, sei, »einst und jetzt«, »to hold, as ’twere, the mirror up to nature; to show virtue her own feature, scorn her own image, and the very age and body of the time his form and pressure«. (Hamlet, III, 2) Hier spricht, vermuten wir, der Autor durch seinen Protagonisten. Was er sagt, erinnert an Aristoteles. Dessen Poetik war zu Shakespeares Zeiten bekannt; sie wird bereits von Philip Sidney in der Verteidigung der Dichtung genannt. Nach Aristoteles ist das Drama (konkret spricht er über die Tragödie) eine Mimesis der Praxis, wobei Mimesis, Hermann Koller zufolge, Darstellung, Ausdruck, Nachahmung bedeutet. Praxis wird meist als Handlung übersetzt, ein Vorgang, an dem Personen, Sprache, Gedanken, Sichtbarkeit und Musik beteiligt sind. Das Wichtigste aber ist der mythos, die Handlungsstruktur (»the structure of an action«, wie Francis Fergusson richtig übersetzt), im Deutschen meist als Handlung, früher auch als Fabel, im Englischen als plot wiedergegeben. Hamlet geht über Aristoteles hinaus, indem er scheinbar hinter ihn zurückgeht. Denn als Erstes spricht er vom Spielen als dem praktischen Handeln der Schauspieler, bezeichnet sodann ihr Spiel als einen Spiegel, den er ausdrücklich als Metapher benennt (›mirror‹ war in Shakespeares Zeit ein oft gebrauchtes, recht abgegriffenes Wort, das oft auch im Theater Verwendung fand), nennt dann aber, wenn er von der ›Natur‹ spricht, die im Spiegel des Spiels erscheint, die menschliche Welt und Wirklichkeit als Teil der Natur, wie auch das Oxford English Dictionary verzeichnet. Es geht also, mit Aristoteles gesprochen, um den Menschen als politischem Naturwesen (zoon politicon), das den Logos besitzt im Sinne welterschließenden Bewusstseins. Gemeint ist also der Mensch, wie vorgreifend gesagt werden kann, als Wesen, dessen Ort zeitlich und räumlich bestimmt ist, das innerhalb dieser Bestimmung mit Bewusstsein praktisch zu handeln vermag, damit aber auch für seine Handlungen verantwortlich ist. Es sind dies implicit gesetzte Voraussetzungen; denn wäre es nicht so, gäbe es das klassische Drama nicht, keine Tragödie und vermutlich auch keine Komödie. Wir erinnern hier, dass es neben der antiken Tragödie die Alte Komödie gab, neben den Tragikern, Aischylos, Sophokles und Euripides den vielgespielten Aristophanes, der sich selbst kritisch auf die Tragiker bezieht. Shakespeare war Meister in allen dramatischen Gattungen und schrieb noch Stücke über diese hinaus.
Gezeigt wird im Spiel der Spieler also menschliche Natur als Dasein in Raum und Zeit: die wirkliche Welt der Menschen. Und gezeigt wird kein naturalistisches Abbild, sondern die Natur des Menschen zwischen Tugenden und Lastern, nicht als moralische Abstrakta, sondern im konkreten Bild: als feature und image. Die Kunst also spiegelt die wirkliche Welt der Menschen, doch so, dass sie sichtbar macht, was nicht gesehen wird oder versteckt ist – im Drama mit Hamlets Namen die zerrissene Natur des Prinzen, die verkannte Tugend Ophelias, Horatios Treue, die Schurkentat eines Brudermörders, den als neuen König das Gewissen plagt, der sich dennoch zu neuen Untaten entschließt, eine verräterische Königin-Mutter, die an dem für ihren Sohn bestimmten Gifttrunk stirbt und vielfache Formen von Verrat. Horatio bleibt zurück: als Erzähler, Berichterstatter, ›Reporter‹ im Peter-Weiss’schen Sinn. Wovon er berichten wird, ist eine Welt, die aus den Fugen ist, zwischen einer alten Welt, die gestorben und einer neuen Welt, die noch nicht geboren ist. (vgl. Hamlet 5, 2).
Shakespeares Metapher vom Spiegel der Kunst ist also mehr als die Kopie der Welt, wie sie ist. Sie ist keine naturalistische Mimesis. Das Spielen der Spieler bedeutet ein Sichtbarmachen von Welt und Weltverhältnissen, die ohne solches Sichtbarmachen unsichtbar blieben. Dies ist es, was hier ›Zeigen‹ im Grundsatz bedeutet. Was aber heißt das genau?
1. Das Zeigen ist ein Aufdecken. Die Kunst zeigt, was verborgen ist, verdrängt oder versteckt wurde. Sie macht Verborgenes, auch unbewusst Verborgenes, und sie macht Verstecktes, auch absichtlich Verstecktes, sichtbar – wie es Hamlet tut in der inszenierten ›Mausefalle‹ für den König, die den Brudermörder kenntlich macht – ja, ihn zwingt, sich selbst kenntlich zu machen. Ein solches Kenntlichmachen ist das Vermögen der Kunst, die zeigt. Dies ist viel, doch nicht alles. Die tiefste Schicht des Arguments, das im dialektischen Sinn ein philosophisches ist, wird erreicht, wenn der Prinz vom Zeitalter spricht, das und wie es im Spiel der Kunst erscheint – »to show (…) the very age and body of the time his form and pressure«. Es ist das Zeitalter selbst, das im Zeigen des Spiels erscheint, sich zum Bild wird im Spiegel der Kunst.
2. Betrachten wir den Text noch näher. Sein Kerngedanke lautet: Zweck des Spiels ist, dem Alter und Körper der Zeit ihre Form und ihren Abdruck zu zeigen. Im Terminus ›form‹ enthalten ist der antike forma-Begriff. Dieser bezeichnet »the essential determinant principle of a thing«, »the essential creative quality« (Oxford English Dictionary). ›The form of the time‹ ist die innere Form einer Zeit, das ›Wesen‹ eine Zeitalters, und dieses besteht in Hamlets Fall gerade darin, aus den Fugen geraten zu sein. Es ist eine Zeit, die von Katastrophen geprägt ist; eine Zeit, die Monster gebärt – man denke allein an Titus Andronicus, Richard III, an Jago und seine Machenschaften, an die älteren Töchter Lears, an die Macbeths und andere Mörder. Ist die innere Form einer Zeit erfasst, so ist pressure leicht zu entziffern. Es ist der Abdruck der inneren Form, die äußere Erscheinung ihres innewohnenden Wesens, die phänomenale Gestalt in der, nach dialektischer Lehre, das Wesen wesentlich ist. Hegels Gedanke, die Kunst als »sinnliches Scheinen der Idee« zu verstehen, ist hier, scheint uns, vorgeprägt, denn auch Hegels Idee ist nichts Transempirisches, sondern bedeutet begriffene Wirklichkeit. Kunst ist der sinnliche Schein des Theaters, das Spielen der Spieler, in dem sich das ›Zeitalter‹ erkennt. Genauer noch: gezeigt werden: ›age and body of the time‹, ›Alter und Körper der Zeit‹ als Einheit von Zeit- und Raumbestimmungen. Gerade um deren Einheit geht es: Es gibt, wie wir seit Einstein wissen, keine Zeit ohne Raum, wie es keinen Raum ohne Zeit gibt: wir stehen mit Shakespeare beyond Newton, an der Schwelle der Relativitätstheorie. Es geht hier um kein zeitloses menschliches Wesen in einer zeitlosen Natur, sondern um Geschichte als Chronotopos: als Zeit-Raum-Kontinuum.2 Das ›Wesen‹ also, das im Spiegel der Kunst – im Spielen der Schauspieler – sichtbar wird, ist die strukturierende Form der Epoche, das Wesen ihrer Weltverhältnisse in Bezug auf ihre historische Zeit und auf ihren historischen Ort. Das England Shakespeares ist ein anderes als das heutige England, und die Zeit Shakespeares eine andere als die heutige Zeit. Shakespeare stand am Beginn einer Epoche, die im Imperialismus ihren Zenit erreicht, wir hoffen, ihn überschritten hat – die bürgerliche Gesellschaft in ihrer frühen historischen Form: das Konkretum von Raum und Zeit als einer Zwischenwelt, mit dem sich Shakespeare befasste. Für eine gelungene Inszenierung genügt es nicht, die Shakespeare-Zeit historistisch zu kopieren, und jede direkte Übertragung in die Gegenwart geht fehl, wie zahllose Inszenierungen zeigen, obwohl der Dramaturgie meist nichts Besseres einfällt. Worauf es ankommt, ist vielmehr, das Verhältnis einer bestimmten Gegenwart zum Chronotopos der Shakespearezeit auf die Bühne zu bringen. Wir kennen den Chronotopos der Gegenwart oder sollten ihn kennen. Es ist die bürgerliche Gesellschaft in ihrer imperialistischen Phase. Die Gesellschaft danach kennen wir nicht. Die Zukunft ist uns verschlossen. Es ist möglich, dass es ›die Welt‹ – unsere Welt, die Welt des Planeten Erde – dann nicht mehr gibt. Wir hoffen, dass es sie gibt, und dass es der Kommunismus ist, den es dann gibt. Es kann aber sein, dass die zukünftige Welt nicht mehr ist als die fortgesetzte Barbarei, eine »kannibalische Gesellschaft« (Jean Ziegler) der Kriege und des Ich-Verlusts, eine Gesellschaft ohne die Kultur der Künste, oder dass es keine menschliche Gesellschaft mehr gibt, weil die Menschen sich selbst ausgerottet haben. Von diesem Chronotopos her ist der Chronotopos der Shakespeare-Dramen, anzueignen. Darin erst beweist sich die Kunst des Theaters.3
3. Der Chronotopos des Hamlet-Dramas ist komplex, doch unschwer zu erschließen. Um die symbolische Mitte Elsinore, Dänemark gliedert sich die europäische Welt. Genannt werden mit Wittenberg, Paris, Norwegen, Polen, England als symbolische Orte – Topoi – der damals erschlossenen Welt; in den Spätstücken seit dem Tempest tritt der außereuropäische Raum hinzu. Dem entspricht eine komplexe Zeitstruktur mit der in der Vorgeschichte implizierten Ermordung des alten Königs, der Heirat des brudermörderischen neuen Königs mit Hamlets Mutter, der Reise und Rückkehr des Laertes aus Paris, der tragischen Geschichte der Ophelia wie auch Hamlets Reise nach England zwischen den Akten, seiner szenisch gezeigten Rückkehr bis hin zum finalen Ende mit Fortinbras dem Prinzen von Norwegen als neuem König, dem gleichwohl wenig Hoffnung mitgegeben ist. In diesem Zeitgefüge liegt die relativ umfangreiche Episode der Totengräberszene, die mit der Perspektive ›von unten‹ einen weiteren Raum- und Zeitbereich erschließt. Einen solchen Chronotopos in eine spätere Raumzeit zu übersetzen, erfordert hohe Kunst von Schauspiel und Regie. Die historistische Reproduktion ist dabei ebenso fehl am Platze wie die gängigen Aktualisierungen. Es sind die einfachsten Lösungen, und Hamlet mit einer Frau zu besetzen, was auch geschieht, verfälscht das gesamte Sinngefüge des Texts, und die Wahrheit der Kunst wird zur Lüge. Erforderlich ist eine Haltung, die den aktuellen Sinn aus dem geschichtlichen Stoff des überlieferten Werks hervortreten lässt, so dass eine neue Zeit sich in der alten zu erkennen vermag. Mit einem Wort: Aktualität wird aus Geschichtlichkeit gewonnen. Nur als geschichtliche vermag die Wahrheit der Kunst in die Gegenwart zu treten.
4. In Hamlets Rede an die Schauspieler wird der forma-Begriff im doppelten Sinn historisiert. Die Epoche selbst erkennt sich im Spielen der Kunst in ihrer Erscheinung wie in ihrem Wesen, in ihrer phänomenalen Gestalt wie ihrer inneren Struktur. Genauer noch: es sind die Zeitgenossen, die sich im Spiel der Kunst erkennen; denn die Schauspieler sind die Zeitgenossen ihres Publikums. Also erblicken die Zeitgenossen sich selbst und ihre Zeit im ästhetischen Spiel der Bühne, die nach Shakespeares eigener Auffassung das Bild der Welt ist – the globe hat er sein Theater genannt. Shakespeares Spiegel, sehen wir, ist die durchgehend geschichtliche Metapher eines Bewusstseins von Kunst und Geschichte, das in Shakespeares Zeitalter kaum ein Pendant haben dürfte, von dem sein Werk selbst das große Zeugnis ist. Ja, Weltverhältnisse, geschichtliche Raum-Zeit, also geschichtliches Wesen zu zeigen ist, der Rede Hamlets zufolge, gerade das Identische, das sich in den Veränderungen der Zeit als Zweck des Schau-Spielens durchhält. Ausdrücklich spricht er vom »purpose of playing, whose end, both at the first and now, was and is«. In diesem ›Zweck‹ ist die hohe Aufgabe des Schauspiels ausgesprochen und legitimiert, und sie wird als zugleich historisch und zeitübergreifend festgehalten.
Eine solche Auffassung vom Zweck der Kunst trifft deutlich erkennbar auf Shakespeares eigene Kunst zu. Der Spiegel, von dem Hamlet spricht, ist das Stück, das seinen Namen trägt. Ja, es lässt sich zeigen, dass in Shakespeares Dramen zum ersten Mal in der Geschichte der Künste sich ein Bewusstsein konstituiert, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreift und in diesem Sinn historisch ist: ein Wissen um die Struktur historischer Zeit, also ein Wissen von Raum-Zeit. Damit sei nicht allein an die Geschichtsdramen gedacht, in denen die neuere Geschichte Englands bis an die Schwelle der Tudorzeit, Shakespeares eigener Epoche, thematisiert wird. Gemeint ist das Gesamtwerk: die Abfolge und Zuordnung von Historien, Tragödien, Komödien und Tragikomödien; ein Werkzusammenhang, der Gegenwartsanalyse, Vergangenheitsdeutung und Zukunftsorientierung als Konkretionen der Raum-Zeit enthält – in dem Zukunft aufleuchtet in der Doppelgesichtigkeit von apokalyptischem Untergang und Vorschein irdischen Glücks.
5. Die Shakespearesche Metapher vom Spiegel der Kunst darf also nicht ›naturalistisch‹ missverstanden werden. Sie meint weder Kopie des Gegebenen noch ist sie Allegorie eines Begriffs. Angemessen lässt sich hier von einem symbolischen Realismus sprechen – der Begriff des Symbols, so auch in Goethes Verwendung, geht weit über den Begriff des Allegorischen hinaus. ›Zeigen‹ menschlicher Welt und menschlicher Natur im Sinn eines symbolisch-realistischen Akts meint das Sichtbarmachen des besonderen Chronotopos einer im Spiel zu erschließenden Wirklichkeit. Es ist realistisch, weil wirklichkeitsbezogen und in der Darstellung konkret. Die Konkretion des Spiels hat den Charakter eines Symbols im Sinne eines Zeichens, das über sich hinaus auf Anderes verweist, daher auch in eine andere Zeit – einen anderen Chronotopos – übertragbar ist.
Ein solches Spielen macht sichtbar, doch ist in keiner Weise wertfrei. Menschliche Natur wird als geschichtliche sichtbar in der Modalität von ethischen Wertakten. Weltverhältnisse sind von Wertakten bestimmt. Im Spielen der Kunst zeigt sich menschliche Natur in der Gestalt von Tugenden und Lastern – die Tugend, heißt es, zeigt ihre Gesichtszüge, die Schmach ihr Bild: virtue, scorn: was zu loben, was zu verachten ist.
Hamlet-Shakespeare spricht also von keiner abstrakten menschlichen Natur, die im Spiel der Kunst hervortritt. Kunst ist nicht wertfrei – weder in ihrer Darstellung noch in ihrem Gegenstand. Wovon er spricht, sind menschliche Haltungen und Handlungen, die den Wertungen der Kunst unterliegen. Kraft des Spiels tritt das Zeitalter als konkretes Raum-Zeit-Kontinuum hervor, die Menschen in ihren Haltungen und Handlungen in ihm. To show (…) the very age and body of the time his form and pressure: Das Zeitalter selbst wird sich zum Bild im Spiegel der Kunst. Gezeigt wird es in seinen Tugenden und Lastern: Dies ist der Kern der hier vertretenen Realismustheorie.
Der Grundgedanke lautet: Zweck des Spiels ist, dem Alter und Körper der Zeit seine Form und seinen Abdruck zu zeigen. ›The form of the time‹ ist die innere Form der Zeit, die als Chronotopos die konkrete Zeiterscheinung prägt. ›Pressure‹ wäre dann der Abdruck der inneren Form, in der, nach dialektischer Lehre, das Wesen wesentlich ist. Hegels Gedanke, die Kunst als »sinnliches Scheinen der Idee« zu begreifen, ist hier vorgeprägt.
6. Das ›Wesen‹, das im Spiegel der Kunst hervortritt, ist die innere, strukturierende Form: der Chronotopos der Epoche als Zusammenhang von Raum und Zeit. Der forma-Begriff wird damit radikal historisiert. Die Epoche selbst erkennt sich im Spiegel der Kunst, und sie erkennt sich in dem, was sie in ihrem Wesen ist. Genauer noch: es sind die Zeitgenossen, die sich im Spiegel der Kunst, den die Schauspieler in ihrem Spielen ihnen vorhalten, wiedererkennen; die Schauspieler, die selbst auch Zeitgenossen sind. Also erblicken die Zeitgenossen sich selbst und ihre Zeit im spielenden Spiegel der Kunst – die Welt, eine historische Welt wird im ästhetischen Spiel der Bühne zur Anschauung gebracht. Dies ist der Grund, warum Shakespeare sein Theater ›the globe‹ nannte.
Shakespeares Spiegel zeigt geschichtliches Wesen als konkrete raum-zeitliche Form: Ausdruck eines Bewusstseins von Kunst und Geschichte, das in Shakespeares eigenem Zeitalter kaum ein Pendant hat, von dem sein dramatisches Werk selbst das große Zeugnis ist. Geschichtliches Wesen zu zeigen ist das Identische, das sich im Wechsel der Zeit als Zweck des Schauspiels durchhält. Im Zweck der Spiels, »both at the first and now«, ist als die hohe Aufgabe des Schauspiels ausgesprochen und legitimiert.
Im Text des Werks wird Hamlets Rede vom Zweck der Kunst auf doppelte Weise paradigmatisiert: durch die Pyrrhus-Parabel und durch das play within the play, mit dem Hamlet dem König eine Falle stellt. Die Pyrrhus-Parabel ist die Rede des Ersten Schauspielers in Hamlet II, 2, die Hamlet ausdrücklich von diesem erbittet. In rhetorisch-expressiver Sprache, die für Shakespeare eher ungewöhnlich ist, das Geschehen aber eindringlich intensiviert, behandelt sie die Ermordung des greisen Priamus, Trojas König, durch den »höllischen« Pyrrhus, eine Monstergestalt, die in Shakespeares Text als erbarmungsloser Gott des Kriegs erscheint, mit Augen, »Karbunkeln gleich, beschmiert vom Blut seiner Opfer: ›der Väter, Mütter, Töchter, Söhne‹ – Inkarnat einer Zeit, die ›aus den Fugen‹ ist, einer ›blutgetrübten Flut‹, die jede Unschuld überschwemmt« (in der Metaphorik von W. B. Yeats gesprochen). In dem play within the play geht es expressis verbis um doppelte Erkenntnis: die Selbsterkenntnis des Königs, der erkennt und sich als Täter kenntlich macht und die Erkenntnis Hamlets, dass der König in der Tat der vermutete Brudermörder ist. Hier fungiert die Katharsis als Erkenntnisakt im Sinne des aristotelischen Begriffs der anagnorisis – die Plötzlichkeit des Akts der »Selbstenthüllung« (Danto) wird prägnant gefasst. Der König wird als Mörder erkannt, aber er erkennt auch sich und die Tiefe seiner Tat. Er erkennt seine Schuld. In ihm zu sprechen beginnt die Stimme des Gewissens – doch bleibt sie folgenlos. Eine solche Reflexion auf Geschichte und Geschichtlichkeit – auf die Raum-Struktur historischer Zeit, damit auf Differenz und Identität im historischen Prozess – schließt den Gedanken geschichtlicher Zeit als Zeitenfolge, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein. Ein jedes Seiende, der Mensch selbst, ist in der Struktur seiner räumlichen Existenz wie seiner Handlungen geschichtlich. Er ist in der Zeit wie im Raum ist – Sein in der Zeit wie Sein im Raum –: in dieser Doppelexistenz besteht die Struktur der Geschichtlichkeit, und ein nicht-geschichtliches Sein gibt es nicht. Bereits in diesem Sinn ist Heideggers Sein und Zeit, wie existenzphilosophisches Denken insgesamt, fundamental zu korrigieren. So ist die Gegenwart der wechselnde Zeitpunkt mehrfächeriger Vergangenheits- und Zukunftslinien, die sich in ihrem Schnitt- und Brennpunkt treffen; eine Gegenwart, die ästhetisch jeweils die des künstlerischen Spiels ist. Kunst als Inbild der Epoche, das künstlerische Spielen als Epochenspiegel trägt in sich ein Bild von vergangener Zeit, kann den Abstieg in den »Brunnen der Vergangenheit« (Thomas Mann) bedeuten, ist Prozess des Erinnerns. In einem solchen Licht erinnerungsvoller Gegenwart vermag der Kunst auch Zukunft in den Blick treten, steigen Bilder eines Möglichen auf, das unbekannt, unbewusst und unerkannt im Schoße des Wirklichen ruht. Kunst kann so zum Medium von Antizipation und Utopie werden, der Erkenntnis schlummernder Möglichkeiten im Körper der Zeit, die stets die Potenzen des Guten wie des Bösen, virtue und scorn in sich trägt – die Kräfte des Aufbaus und die Kräfte der Zerstörung.
7. In welchem Maß eine solche Auffassung vom Zweck der Kunst auf Shakespeares eigene Kunst zutrifft, kann hier nur angedeutet werden. Sicher dürfte sein: der Spiegel, von dem Hamlet spricht, ist das Stück selbst, das seinen Namen trägt. Es ließe sich zeigen, das sich im Drama des großen Autors zum ersten Mal in der Geschichte der Künste ein umfassendes geschichtliches Bewusstsein konstituiert, das den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfasst: ein Wissen also um die Struktur historischer Zeit. Nicht allein an die Geschichtsdramen sei hier gedacht, in denen die neuere Geschichte Englands bis an die Schwelle von Shakespeares eigener Epoche zum Thema wird (weiter zu schreiben, war nicht möglich zu Shakespeares Zeit). Zu denken ist an das Gesamtwerk, an Abfolge und Zuordnung von Historien, Tragödien, Komödien und Tragikomödien; ein Werk, das in historischer Erkundung in verschiedene Welten, bis zurück in die römische Antike geht, Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsanalyse und Zukunftsorientierung in einem enthält – in dem die Zukunft aufleuchtet in der Doppelgesichtigkeit von apokalyptischem Untergang und Vorschein irdischen Glücks.
Das Zeitalter, sagte ich, wird sich selbst zum Bild im Spiegel der Kunst. Das Zeitalter ist das Subjekt, das in den spiegelnden Spielen der Kunst sich betrachtet und so Gegenstand einer Selbsterkenntnis wird. Die Shakespearesche Metapher des Spiegels enthält, implicite, den Gedanken der Selbstreflexivität des Ästhetischen – der reflexive Selbstbezug als strukturelles Charakteristikum aller Kunst –, und zwar in mimesistheoretischer Wendung. Der Spiegel der Kunst ist ein solcher, in dem ein Zeitalter sich anschaut und das Bewusstsein seiner selbst gewinnt. In ihm erkennt eine Epoche den Status ihrer Menschwerdung, sie erkennt sich im Widerspruch von Humanität und Barbarei. Selbstreflexivität der Kunst meint materialistisch diesen Akt des Entdeckens und Gewahrwerdens seiner selbst als Tat der Zeitgenossen. In ihm offenbart sich die Wahrheit über die Zeit, in der wir sind. In der Kunst setzt sich, so verstanden, Wahrheit ins Werk, Wahrheit im Modus eines Selbstverhältnisses (Dieter Henrich). In diesem Sinn ist Kunst die »angemessenste und höchste Äußerungsweise des Selbstbewusstseins der Menschheit« (Lukács 1963, 616). Im Schein der Kunst – und ›Schein‹ meint die Handlungen des Spiels und des Spielens – tritt menschliche Welterfahrung als Selbsterfahrung in ihren wesentlichen Strukturen ans Licht, kommt zum Bewusstsein ihrer selbst. Dies ist der Sinn des klassischen Gedankens, dass der Schleier der Dichtung der Hand der Wahrheit entstammt.
1 Ich beziehe mich auf den Begriff des Geworfenseins aus Heideggers Sein und Zeit.
2 Zu diesen Begriffen des Näheren Metscher, Logos und Wirklichkeit; ders., Sein und Bewusstsein.
3 Eine Weiterentwicklung dieser Gedanken findet sich in einem geplanten Buch mit Shakespeare-Studien, Mangroven Verlag Kassel 2025/26.
Shakespeare – bedrohte Humanität
Interpretatorische Beispiele: Othello und Macbeth1
Als Shakespeare zwischen 1600 und 1606 seine großen Tragödien verfasste, als das Bürgertum in Englands absolutistischer Monarchie zunächst unter Elisabeth I. gefolgt von Jakob I. zunehmend erstarkte, verschärften sich bereits die gesellschaftlichen Widersprüche, die in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts zur ersten bürgerlichen Revolution führten. Shakespeares Größe besteht unter anderem darin, dass er auf die Bühne brachte, wonach die Zeit absolutistischer Herrscher vorbei war. Er entsprach dabei seiner Anforderung an wahre Kunst, »the very age and body of the time his form and pressure« (Hamlet, III, 2) zu zeigen. In der künstlerischen Erfassung seiner Epoche ging Shakespeare jedoch noch weiter, als aufzuzeigen, dass die Ära der absolutistischen Monarchen historisch überlebt war. Er begriff und zeigte in seinem Werk, dass die aufkommende neue, bürgerliche Gesellschaft zwei Möglichkeiten in sich barg: Sie konnte sich entweder an den humanistischen Idealen der Renaissance orientieren, eine von Gleichheit und Gerechtigkeit geprägte Gemeinschaft aufbauen, oder sie konnte eine im Verständnis der Elisabethaner machiavellistische2, anti-humanistische Ordnung werden, deren Machtstreben die Menschen zerstört. Bereits in den Tragödien angelegt und in den späten Stücken entwickelt, ist auch die utopische Vision einer freien, menschengerechten Gesellschaft.
Es geht also bei Shakespeare ganz essentiell um Revolution und die Möglichkeiten der Schaffung einer humanen Gemeinschaft. Zentrales Anliegen seiner Tragödien ist die Warnung vor machiavellistischer Zerstörung des Guten. Dieses Thema bringt Shakespeare auf eindringliche Weise mit der Auslöschung Hamlets durch Claudius, dem Ruin Othellos (und Desdemonas) durch Jago, der Zerstörung Lears durch die neue Generation seiner älteren Töchter und deren Ehemänner, sowie mit der Vernichtung der eigenen Menschlichkeit in den Macbeths auf die Bühne. Dass gerade diese machiavellistischen Machtstreber, die vor keiner Grausamkeit, keinem Mord zurückschrecken, uns heute moderner erscheinen als die Renaissancehumanisten, die tragischen Helden und Opfer dieser Gewaltverbrechen, ist beredeter Ausdruck dessen, dass Shakespeare bereits im Keim erkannte, worin die Gefahr der neuen Zeit bestand. Wie wir über 400 Jahre nach der Entstehungszeit seiner Tragödien wissen, setzte sich das machiavellistische Denken durch. Diese Figuren sind auch für das heutige Publikum modern, erkennbar, erschreckend. Die Humanisten und gar die Vertreter der untergehenden Feudalgesellschaft erscheinen dagegen weltfremd. So modern, so brisant ist Shakespeare noch heute.
Betrachten wir Shakespeares Anliegen anhand zweier seiner Tragödien – Othello (1603) und Macbeth (1606).
Othello
Die Handlung beginnt mit einer türkischen Bedrohung, die eine militärische Intervention erfordert. Der Herzog von Venedig beruft eine nächtliche Sondersitzung des Senats ein, lässt Othello, den Befehlshaber der venezianischen Truppen, holen. Jago, ein eifersüchtiger Fähnrich, plant Rache an Othello, weil dieser Cassio statt seiner zum Leutnant beförderte. Othello übernimmt den militärischen Auftrag, und seine Braut Desdemona bittet darum, ihn zu begleiten. Jago beginnt seinen Rachefeldzug, der auf Othellos Zerstörung durch Eifersucht zielt. Er fingiert Beweise für Desdemonas vermeintliche Untreue, schürt Othellos Zweifel. Jagos Manipulationen führen zu Othellos Entscheidung, Desdemona umzubringen. Jagos Frau Emilia entdeckt die Intrigen ihres Mannes und wird von ihm getötet. Othello begeht Selbstmord.
Shakespeares Entscheidung, einen schwarzen General zum Haupthelden zu machen, war in der jakobinischen Ära eine bewusste Provokation und ›Entfremdung‹. Er hebt Othellos edle Herkunft und unvergleichliche militärische Kompetenz, dessen Vernunft, Würde und Besonnenheit hervor. Othellos Liebe zu Desdemona unterstreicht seine Humanität des Weiteren. Dennoch ist er naiv in Bezug auf die moderne europäische Gesellschaft, vertraut Jago blind, was zu seinem tragischen Absturz führt. Jago indes verkörpert das Laster und offenbart dem Publikum handlungsbegleitend seine unheilvollen Pläne. Die Gegenspieler Jago und Othello beweisen ihren wahren Charakter sowohl in ihrer Einstellung zur Liebe als auch in ihrer Haltung zu Werten wie Treue und Loyalität.
Desdemona ist eine Frau von Integrität, die Othello unabhängig von gesellschaftlichen Normen liebt. Sie ist standhaft und bewahrt ihre Würde aller Anschuldigungen zum Trotz. Emilia ist ebenfalls ehrlich, furchtlos, jedoch lebenserfahrener in der Gesellschaft. Ihre Loyalität verschiebt sich im Laufe der Handlung zunehmend auf Desdemona.
In Othello geht es zentral um den Konflikt zwischen Humanismus und Machiavellismus. Der ›moderne‹, machiavellistische Jago zerstört bewusst und zynisch Liebe und menschliche Würde. Liebe in Shakespeares Werken ermöglicht es den Menschen, die Grenzen ihrer Welten zu überwinden und wahre menschliche Bejahung zu erleben. Doch sowohl bei Romeo und Julia als auch bei Othello und Desdemona werden die Liebenden durch die Niedertracht und Gewalt der Gesellschaft zerstört. Die Liebenden erfahren ihre einzigartige und schöne Welt in erhöhter poetischer Sprache. Jago, als Gegenpol zu Othello, hegt einen Hass auf die Menschheit und verfolgt das Ziel, Glück und Liebe zu vernichten. Othello betrachtet Liebe als sein Ordnungsprinzip, und Jagos Machenschaften führen zu Chaos und Kontrollverlust. Shakespeares dramatische Mittel, einschließlich der Perspektive durch Jago, Doppelung und Kontrastfiguren, Antithese, dramatische Ironie, Metaphorik, Motive und Vorwegnahmen, tragen dazu bei, die Dramatik zu intensivieren.
Eine Szene genauer betrachtet: Die Macht der Manipulation
Eine Schlüsselszene ist Akt III, Szene 3.3 Zu Beginn dieser Szene ist Othello glücklich und zuversichtlich in seiner Liebe zu Desdemona. An ihrem Ende ist er gequält und bereit, seine Braut zu töten. Dieser spektakuläre Absturz wird von Jago herbeigeführt. Ein Teil der Szene ist einen näheren Blick wert, da er ins Herz der Tragödie führt. Er führt dem Publikum ganz genau vor, wie Jago funktioniert und wie es ihm gelingt, Othello zu zerstören. Jago beginnt mit dem Anschein einer gewissen Zurückhaltung, seine Gedanken zu äußern. Er tut dies sehr geschickt, um Othellos Verdacht zu erwecken. Als er und Othello beobachten, wie Cassio sich Desdemona anvertraut, sagt Jago: »Ha! I like not that« (»Ha! – Das gefällt mir nicht!«, V. 34) und erweitert dies: »that he would steal away so guilty-like / Seeing you coming« (»Daß er wie schuldbewußt wegschleichen würde, / Da er Euch kommen sieht.« V. 38–39). Othello und Desdemona unterhalten sich dann darüber, wann Othello Cassio Gehöhr schenken könne. Nachdem Desdemona und Emilia die Bühne verlassen, suggeriert Jago durch Fragen und Wiederholungen, dass er von einer verborgenen unehrlichen Seite Cassios Kenntnis habe: »Othello: Is he not honest? / Iago: Honest, my lord? / Othello: Honest, ay, honest. / Iago: My lord, for aught I know. / Othello: What dost thou think? / Iago: Think, my lord? / Othello: »Think, my lord?« / Alas, thou echo’st me / As if there were some monster in thy thought / Too hideous to be shown.«4 (V. 105–112)
Othello ist ein ehrlicher Mensch und erwartet auch von anderen, sich nicht doppeldeutig auszudrücken. Der große Manipulator Jago weiß das. Als Othello sagt: »Certain, men should be what they seem« (»Ganz recht, man sollte sein das, was man scheint« V. 128), antwortet Jago: »Why then I think Cassio’s an honest man« (»Nun wohl, so halt’ ich Cassio dann für ehrlich.« V. 129). Psychologisch trifft er genau den richtigen Nerv. Othello beginnt nun an seinem eigenen gesunden Menschenverstand zu zweifeln und fordert Jago auf: »speak to me as to thy thinkings … and give thy worst of thoughts / The worst of words« (»Ich bitt’ dich, sprich mir ganz so, wie du denkst, / […] und gib dem schlimmsten Denken / Das schlimmste Wort!« V. 131–133). Das ist dann auch genau das, was Jago tut, nicht ohne vorher zu sagen, dass es alles Lüge sein könnte: »I perchance am vicious in my guess« (»Gesetzt, sie wären niedrig und verkehrt« V. 137). Jago verunsichert Othello zunehmend, während er vorgibt, ihn zu beruhigen. Dennoch wählt er seine Worte mit klinischer Genauigkeit, um neue Ängste in Othello zu wecken. Es ist Jago, der als Erster »jealousy« (»Eifersucht« V. 168) erwähnt, wodurch er suggeriert, dass Othello Grund dafür haben könne. Othello weist dies jedoch noch ab: »she had eyes and chose me« (»Sie war nicht blind, und wählte mich.« V. 192) und sagt: »I’ll see before I doubt, when I doubt, prove« (»Eh’ ich zweifle, will ich sehn; zweifl’ ich, Beweis:« V. 193). Jago manipuliert dies nun, um dennoch Zweifel vor offenkundigem Beweis zu bewirken: »I speak not yet of proof« (»noch schweig’ ich von Beweisen.« (V. 199). Er fährt fort, auf Othellos Schwachstelle zu zielen, dass er nämlich ein Außenseiter in der venezianischen Gesellschaft ist und sich nicht so gut in deren Gepflogenheiten auskennt wie Jago: »In Venice they do let God see the pranks / They dare not show their husbands« (»Venedigs Art und Sitte kenn’ ich wohl: / Dort lassen sie den Himmel Dinge sehn, / Die sie dem Mann verbergen« V. 204–206). Und um dies noch zu verstärken: »She did deceive her father, marrying you« (»Den Vater trog sie, da sie Euch geeh’licht« V. 209). Nach alledem ist Othello in Jagos Falle gegangen. Im englischen Original sagt Othello: »I am bound to thee forever« (ich bin dir auf ewig verbunden V. 217), eine Ironie im Wort ›bound‹ enthaltend (an und durch dich gebunden). Othello ist an dieser Stelle zu Tränen gerührt »My lord, I see you’re moved« (»Ich seh’, dies bracht’ Euch etwas aus der Fassung.« V. 217) und Jago ist sich nun sicher genug, Othello gegenüber ernsthaft beleidigend zu werden. Er kommentiert Desdemonas Wahl eines schwarzen Mannes: »One may smell in such a will most rank, / Foul disproportions, thoughts unnatural« (»Pfui! Riecht nicht derlei ganz nach geilem Willen, / Böser Verdrehtheit, unnatürlichen Lüsten!?« Übers. Fried, 107). Es ist bemerkenswert, dass im Vorfeld dieses Affronts Jagos Sprache von der Othellos beeinflusst wird, um das Gesagte für Othello überzeugender zu machen. Othellos Monolog nach Jagos Abgang beweist, dass er Jagos Ungeheuerlichkeiten verinnerlicht hat. Der bisher selbstbewusste Othello sagt nun: »… Haply, for I am black / And have not those soft parts of conversation / That chamberers have … / She’s gone, I am abused, and my relief / Must be to loathe her.«5 (V. 267–272)
Die Abwärtsspirale von Othellos Selbstwertgefühl wird dramatisch durch ein Zwischenspiel unterbrochen, wo Desdemona das Taschentuch versehentlich fallen lässt und Emilia es aufhebt, um es noch ihrem Mann zu geben. Bevor Jago und Othello erneut allein zusammen auf der Bühne stehen, bemerkt Jago: »The Moor already changes with my poison« (»Der Mohr ist schon im Kampf mit meinem Gift« V. 327) und weidet sich an der Tatsache, dass Othello nie wieder ruhig schlafen wird: »… Not poppy nor mandragora / Nor all the drowsy syrups of the world, / Shall ever medicine thee to that sweet sleep / Which thou owedst yesterday.«6 (V. 338–341)
Wieder greift er hier Othellos Poesie auf. Tatsächlich beginnt Othello nicht allein zu zweifeln, sondern auch zu wüten, als er zunehmend von Desdemonas Untreue überzeugt wird. Er verabschiedet sich von seiner militärischen Laufbahn: »Farewell! Othello’s occupation’s gone«(»Fahr’ wohl! Othellos Tagwerk ist getan!« V. 360). Auf diese Weise nimmt Othello Abschied von seiner Identität. Noch einmal verschlimmert Jago Othellos Not und verschleiert seine Unehrlichkeit. Erbarmungslos verstärkt er den Druck und deutet an, den Beweis zu haben, den Othello sucht. Er sagt ihm, Cassio habe im Schlaf über seine Affäre mit Desdemona gesprochen, und krönt dies, indem er das Taschentuch erwähnt, das Othello Desdemona einst schenkte. Othello ist jetzt nahezu von Sinnen und fordert Rache: »Oh blood, blood, blood!« (»Blut, o Jago, Blut!« V. 454). Während Cassios Tod beschlossen wird, treibt Jago diese erschreckende Szene durch ein letztes Wort auf die Spitze: »But let her live« (Sie aber lasst leben, V. 478) Othello, der bis zu diesem Moment nicht daran gedacht hat, Desdemona zu töten, fällt auch in diese Falle: »some swift means of death / For the fair devil« (»ich will im stillen / Ein schnelles Todesmittel mir verschaffen / Für diesen schönen Teufel.« V. 480–482). Am Ende dieser Szene ist Jago nicht allein Othellos ›Leutnant‹ (V. 482), sondern sein General. Othello ist in kürzester Zeit von einem großherzigen Menschen in jemanden verwandelt, der außer sich ist, von wahnsinnigen Vorstellungen gequält. Er wird von einem liebenden Bräutigam zu einer Marionette Jagos, der bereit ist, sein Liebstes zu töten. Das Drama endet tragisch mit dem Tod von Desdemona und Emilia sowie dem Suizid Othellos. Emilia wird von Jago für ihre Enthüllung seiner Machenschaften erstochen. Othello nimmt sich mit dem Schwert das Leben, mit dem er einst für die Aufrechterhaltung der Ordnung kämpfte.
Othello reflektiert über die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen nach Liebe, Gleichheit, Wertschätzung und Bejahung, stellt diese Möglichkeit in der Beziehung zwischen Othello und Desdemona dar und wirft somit einen Blick in eine utopische Zukunft. Doch wird diese Möglichkeit, diese Beziehung, durch den machiavellistischen Jago zerstört. Jago nutzt Othellos Unvertrautheit mit der venezianischen Gesellschaft aus, und dessen Werte von Ehrlichkeit, Treue und Tapferkeit helfen ihm nicht, Jagos Manipulationen zu begreifen. Othellos Absturz schockiert besonders, weil wir ihn vor unseren Augen auseinanderfallen sehen und Jago uns von jedem seiner skrupellosen Schritte Mitteilung macht. Das Publikum empfindet großes Mitleid, als es Zeuge der unverdienten, völligen Vernichtung des heroischen Othello wird, der Zerstörung seiner Menschlichkeit und seiner Liebe. Die Tötung von Desdemona und Othello sind Momente hoher Dramatik, die in den Zuschauern ein Gefühl des tiefen Verlusts und der Trauer hinterlassen.
Macbeth
Macbeth ist die letzte der vier großen Tragödien, geschrieben drei Jahre nachdem Jakob den Thron bestieg. Sie nimmt eine gesonderte Stellung unter Shakespeares Trauerspielen ein, da hier das Potential für Humanismus sowie die Möglichkeit zur Vernichtung der Menschlichkeit in einer Figur dargestellt wird (eigentlich gedoppelt in beiden Macbeths), nicht wie bis dahin in verschiedenen Figuren.
Zur Handlung
König Duncan empfängt Kunde von Macbeths Heldenmut und Sieg im Kampf gegen den Rebellen Macdonwald und unmittelbar danach gegen den König von Norwegen. Als er vom Verrat des Thans7 von Cawdor hört, befiehlt Duncan dessen Hinrichtung und verleiht Macbeth den Titel.
Macbeth, der mit seinem Freund Banquo – möglicherweise in einem Rausch halluzinierend8 – aus der Schlacht zurückkehrt, trifft auf die Hexen, die ihn bereits erwarten. Sie prophezeien Macbeth den Aufstieg zum Than von Cawdor und sogar zum König. Macbeth lässt sich auf die Prophezeiungen der Hexen ein und beginnt sogleich den Mord an Duncan zu erwägen. Seine geliebte Frau und Vertraute, Lady Macbeth, bestärkt ihn. Doch weiß sie, dass Macbeths »human kindness« (»Menschenliebe« I, 5, 17. Übers. Dorothea Tieck) ein Hindernis darstellen könnte. Sie besteht auf die Ermordung Duncans noch in dieser Nacht. Macbeth handelt schnell und wird zum König ernannt. Er plant ein Festbankett. Banquo ahnt inzwischen Böses. Macbeth lässt auch Banquo ermorden. Banquo erscheint auf dem Bankett – als blutüberströmter Geist auf Macbeths Platz. Doch nur Macbeth sieht den Geist. Lady Macbeth stellt sich schützend vor ihn. Macbeth gibt ihr gegenüber nach dem Fiasko des Banketts zu, dass er einen Punkt erreicht hat, von dem aus es kein Zurück gibt. Lady Macbeth erscheint hier zum letzten Mal bei Sinnen, bevor sie von alptraumgequältem Schlafwandel gepeinigt wird. Die ›Menschlichkeit‹, die sie in Macbeth als dessen Schwäche identifizierte, sucht sie nun selbst heim. Als Macbeth hört, dass Macduff nach England geflohen ist, entscheidet er, dessen ganze Familie auszulöschen. Macduff erfährt die Nachricht von der Vernichtung seiner Familie und von Macbeths grauenhaftem Mordfeldzug in Schottland und stellt eine Befreiungsarmee auf. Als die englische Armee naht, erreicht Macbeth die Nachricht vom Tod seiner Frau. Aber er ist zu gefühllos geworden, um sich darum zu scheren. Am Ende des Stücks wird Duncans Sohn Malcolm, der die siegreiche Armee geführt hat, zum König von Schottland ernannt.
Die Macbeths
Macbeth dominiert das Stück. Er ist die Figur, die wir durch seine vielen Monologe am besten kennenlernen, sein Denken, seine Bedenken, seine Entwicklung. Der anfängliche Bericht über ihn kündet von seiner Tapferkeit auf dem Schlachtfeld. Seine geheimsten Gedanken enthüllen den Zuschauern eine Seite des Helden, die den anderen Figuren im Drama überhaupt nicht klar ist.
Doch im Gegensatz zu den machiavellistischen Figuren in den vorangegangenen Tragödien verlautbart Macbeth deutlich ein Gefühl der Reue. Die Liebe zu seiner Frau ist ein wichtiger Teil seiner Menschlichkeit. Die machiavellistischen Figuren in den anderen Tragödien lieben niemanden außer sich selbst. Diese Liebesfähigkeit ist ein Indiz für Menschlichkeit.
Lady Macbeth weiß sowohl von seinem Ehrgeiz als auch von seiner mitfühlenden Seite.
Sie drängt ihn, bei seinem mörderischen Ansinnen zu bleiben. Ein weiterer Besuch bei den Hexen nach dem Bankett bestärkt Macbeths innere Überzeugung, dass er nichts und niemanden mit der Ausnahme von Macduff zu befürchten hat. Von hier an erleben wir keine Gewissensbisse mehr; wir sehen und hören jedoch von Schottlands Abstieg in blutige Kriege und eine Schreckensherrschaft.
Als Macbeth sich auf den Kampf gegen das von Malcolm geführte englische Heer vorbereitet, artikuliert er ein ehrliches Verständnis dessen, wohin ihn seine Tyrannei gebracht hat: »And that which should accompany old age, / As honour, love, obedience, troops of friends, / I must not look to have, but, in their stead, / Curses«9 (V, 3, 26–29). Es wird sogar angedeutet, dass das Leben jede Bedeutung für Macbeth verloren hat, und er in seinem Herzen spürt, dass er es gern beenden würde: »breath / Which the poor heart would fain deny and dare not« (»Hauch, / Was gern das arme Herz mir weigern möchte, / Und wagt’s nicht.« V, 3, 29–30). Er hat Freude, Glück und Freunde verloren. Allein diese Einsicht beweist Reste seiner einstigen Menschlichkeit, eines humanen Kerns. Der vielleicht entscheidendste Ausdruck für Macbeths Verlust an Menschlichkeit ist die Einbuße der Liebe zu seiner Frau. Nach dem Bankett sehen wir ihn nicht wieder gemeinsam mit ihr, nachdem er erklärt, dass er seinen blutigen Weg fortsetzen wird. Macbeth ist gleichgültig angesichts des Todes seiner Frau und spricht über das Leben in einer Art, die dem Renaissancebild widerspricht: »Life’s / … a tale / Told by an idiot, full of sound and fury, / Signifying nothing« (»Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; / / (…) ein Märchen ist’s, erzählt / Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, / Das nichts bedeutet.« V, 5, 25–30). Die Ursache dieser Zerstörung all dessen, was das Leben lebenswert macht, ist Macbeths skrupelloser Ehrgeiz.
Ein Maß für Lady Macbeths Unmenschlichkeit, wie die von Macbeth, ist ihre Bereitschaft, Kinder zu töten. Lady Macbeth spiegelt die Entwicklung Macbeths in der Tragödie. Auch sie birgt eine gewisse Menschlichkeit, derer sie sich bewusst ist und die sie unterdrücken muss, um ihr Ziel zu verfolgen. In der ersten Hälfte des Stücks ist sie die stärkere der beiden in ihrer machiavellistischen Bestimmung. Doch tötet sie selbst niemanden und ist nach der Ermordung Duncans nicht mehr im Bilde über Macbeths Mordfeldzug. Während des Banketts, als Macbeth an schrecklichen Halluzinationen leidet, betreibt Lady Macbeth einen enormen Aufwand, ihn und die bestürzten Gäste zu beruhigen. Das überfordert ihre emotionalen Möglichkeiten, und sie verschwindet aus dem Stück, bis wir sie gegen Ende wieder sehen, als sie ihren inneren Frieden verloren hat. Wir hören, dass ihre Kammerfrau mit einem Arzt über ihre Alpträume spricht und wohnen einer solchen Episode bei. Lady Macbeth reibt sich zwanghaft die Hände. Sie durchlebt hier Macbeths frühere Befürchtung, nicht in der Lage zu sein, das Blut abzuwaschen: »What, will these hands ne’er be clean« (»Wie, wollen diese Hände denn nie rein werden?« V, 1, 43). Ihre Worte bestehen aus Wiederholungen dessen, was sie zu Macbeth sagte, um ihn zu demütigen, aus Macbeths Äußerungen eigener Ängste, und reflektieren ihr ehrliches Entsetzen über die Bluttaten, deren Komplizin sie war: »who would have thought the old man to have had so much blood in him« (»Aber wer hätte gedacht, daß der alte Mann noch so viel Blut in sich hätte?« (V, 1, 39–41).
Am Ende der Tragödie hören wir von Lady Macbeths Suizid, eine Option, die auch ihr Mann erwägt, um seiner Qual zu entkommen. Während in Macbeths Fall die Agonie aus einem Leben entsteht, das ihm nichts mehr bedeutet, bewirkt die Komplizenschaft an einer Terrorherrschaft die Leiden der Lady Macbeth. Obwohl sie persönlich niemandem das Leben genommen hat, weiß sie, dass auch sie Blut an den Händen hat.
Der Kampf zwischen menschlicher Güte und rücksichtslosem Machtstreben liegt im Kern dieses Stücks und definiert den spezifischen Charakter des tragischen Helden. Hier erleben wir zum ersten Mal in Shakespeares Tragödien den Kampf auf Leben und Tod in einer Person. Während in den vorangegangenen Trauerspielen der machiavellistische und der humanistische Kern in verschiedenen Figuren enthalten war, ändert sich das nun. Macbeth ist ein hochkomplexer Charakter, weil er sich selbst zerstört. Das wird von Lady Macbeth gespiegelt, die ebenfalls Anstrengungen unternimmt, ihre Menschlichkeit zu unterdrücken, um ihre machiavellistischen Ziele zu verwirklichen. Die Liebe, die die Macbeths füreinander haben, transzendiert die reine Lasterfigur. Liebe, die Fähigkeit, Rücksicht auf eine andere Person zu nehmen, diese zu zelebrieren, macht die Macbeths menschlich, und das ist ihr Potential. Doch ihr Ehrgeiz zwingt sie, alle, die ihnen im Weg stehen, abzuschlachten – selbst Kinder, die Zukunft der Menschheit. Ihr Verständnis, dass sie das Gräuel der Menschheit sind, zerstört die Macbeths.
Eine Szene genauer betrachtet: Die Bankettszene
Akt III, Szene 4: Die Bankettszene erfolgt direkt in der Mitte des Stücks. Es ist das letzte Mal, dass wir erleben, wie in Macbeth Menschlichkeit und machiavellistischer Ehrgeiz miteinander ringen. Es ist auch das letzte Mal, dass wir Macbeth und Lady Macbeth zusammen in der glücklichen Gesellschaft anderer sehen. Diese Faktoren sind bedeutsam in der sich entwickelnden Handlung. Shakespeare setzt eine Vielzahl dramatischer Mittel ein, um die Spannung an dieser Stelle zu erhöhen.
Die Szene folgt direkt auf die Ermordung Banquos: das dramatische Nebeneinander einer Szene der Dunkelheit und des Mordes mit einem hell erleuchteten Festsaal, einem festlichen Abendessen vieler Edelleute zu Ehren von Macbeths Krönung. Die Szene mit dem Festmahl ist auch zutiefst ironisch, da das Publikum weiß: Macbeth ist ein Usurpator und Mörder. Kurz nach Beginn der Szene erscheint der Auftragsmörder an der Tür des Festsaals, und Macbeth hat zwei Rollen zu spielen: die des Gastgebers und seine wirkliche, heimlich im Gespräch mit dem Attentäter. Der sagt ihm, dass Banquo zwar tot sei, dessen Sohn Fleance aber entkommen konnte. Das beängstigt Macbeth. Als der Mörder geht, kommt Lady Macbeth zu Macbeth herüber und ermutigt ihn, an dem Fest teilzunehmen. Sie weiß nichts von Banquos Tod. Macbeth gesellt sich zu den Feierlichkeiten und wird von Lennox eingeladen sich zu setzen, als Banquos Geist auf seinem Platz erscheint. Shakespeares Regieanweisung ist klar: Der Geist sitzt auf Macbeths Platz. Bevor sich Macbeth seinem Platz zuwendet, erklärt er: »Here had we now our country’s honour roofed, / Were the graced person of our Banquo present« (»Beisammen wär’ uns hier des Landes Adel, / Wenn unser Freund nicht, unser Banquo, fehlte« V. 45–46). Das ist hochdramatisch, da Banquo offenbar dieser Einladung folgt und still anklagend tot erscheint. Die Spannung erhöht sich weiter, als das Publikum gewahr wird, dass Macbeth einen Geist sieht und mit ihm spricht. Ross und Lady Macbeth erkennen, dass etwas mit Macbeth nicht stimmt. Lady Macbeth versucht, sein Verhalten abzutun und erklärt, Macbeth habe oft derartige Anfälle. Im Gegensatz zu den früheren Halluzinationen Macbeths, wo die Zuschauer seine Visionen nicht teilen, sehen sie nun selbst den Geist und damit die Realität der Einbildungen Macbeths. Sie sehen das aus Macbeths Warte und erleben so womöglich etwas von seinem Schrecken vor dem, was er getan hat. Hier ist Macbeth buchstäblich mit der Realität des Mordes konfrontiert: Banquo sitzt da und spricht nicht. Das ist außerordentlich dramatisch. Macbeth kompromittiert sich, indem er mit dem Geist spricht. Als der Geist verschwindet, erholt sich Macbeth etwas, kehrt zu seinen Gästen zurück und erhebt sein Glas ironischerweise auf »love and health to all« (»Lieb’ und Gesundheit« V. 94) aller Anwesenden. Das ist das Gegenteil dessen, was Schottland in Macbeths Händen erleben wird. Der Geist verschwindet, als Macbeth ihn ausdrücklich verjagt: »Hence« (»fort!« V. 116). Aber es gibt keine Sicherheit, dass Macbeth sich nicht doch noch verrät, und so bittet Lady Macbeth ihre Gäste eilig nach Hause zu gehen. Macbeth erzählt ihr, dass er auch überall Spione hat: »there’s not a one of them but in his house / I keep a servant fee’d« (»Kein einz’ger, in des Haus mir nicht bezahlt / Ein Diener lebte.« V. 141–142), und dass er Macduff misstraut. Am Ende dieser Szene ist Macbeth entschlossen, seinen blutigen Weg fortzusetzen. Er versichert seiner Frau, dass er seine Gewissensbisse überwinden wird, je geübter er im Verbrechen wird, allein Lady Macbeth wird Mord gegenüber nicht abgehärteter.
In dieser Tragödie zerstört der tragische Held sich selbst, noch vor seinem physischen Ende durch Macduff. Statt Glück durch die Ergreifung des höchsten Ranges zu erreichen, erkennt Macbeth, dass er alles verloren hat, was das Leben lebenswert macht: »honour, love, obedience, troops of friends« (»Gehorsam, Liebe, Ehre, Freundestrost« V, 3, V. 27). Er hat seine eigene Menschlichkeit vernichtet und das Leben bedeutet ihm nichts mehr. Lady Macbeth löscht sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst aus, als sie die Qual nicht mehr ertragen kann, die sie jede Nacht die Morde wieder erleben lässt, für die sie gemeinsam die Verantwortung tragen. Ihre Mitschuld treibt sie in den Wahnsinn. Malcolm, der die siegreiche Armee geführt und sich für seine treuen Anhänger verantwortlich gefühlt hat, verteidigt das Wohlergehen Schottlands. Hier endet die Tragödie anders als in Hamlet und Othello, wo die Nachfolge von keinen menschlich herausragenden Figuren angetreten wird. Doch wie auch schon Edgar Gloucester, der am Ende von König Lear gelobt, im Sinne von Cordelia zu regieren, verfügt der wahre Königssohn Malcom über alle Eigenschaften, die Erasmus von einem christlichen Fürsten fordert. Er wird das Glück in Schottland wieder aufbauen. Er hat sich als verantwortungsvoller und weiser zukünftiger Regent erwiesen.
Wir erleben in diesem Drama die enorme zerstörerische Kraft machiavellistischen Ehrgeizes. Er ist der Grund für die Selbstvernichtung der Macbeths. Sie sind tragische Helden, weil sie das Potential für menschliche Güte, für Menschlichkeit besitzen. Durch die vorsätzliche Zerstörung ihrer Menschlichkeit werden sie zur Verkörperung des Bösen und so können sie nicht leben. Also sterben sie. Das ist ihre Tragödie.
1 Dieser Abschnitt zu Othello und Macbeth fußt auf: Farrell, J. 2016. JF.
2 Der Begriff meint keine Einschätzung der historischen Bedeutung Machiavellis, sondern bezieht sich darauf, wie er von Humanisten in England und im weiteren europäischen Raum rezipiert wurde. Diese setzten sich vor allem mit Machiavellis Rechtfertigung eines entfesselten Machtstrebens auseinander, dessen freigesetzte Gewalt alle Mittel zur Durchsetzung dieser Macht einsetzt. Machiavellis Forderung, auch vor Mord und Grausamkeit nicht zurückzuschrecken, wurde später als machiavellistisch bezeichnet.
3 Alle übersetzten Zitate, sofern nicht anders ausgewiesen, stammen aus der Übertragung von Schlegel und Tieck.
4 Othello: Ist er nicht ehrlich? / Jago: Ehrlich, gnäd’ger Herr? / Othello: Ehrlich, ja, ehrlich! / Jago: So viel ich weiß, Gen’ral! / Othello: Was denkst du, Jago? / Jago: Denken, gnäd’ger Herr? / Othello: Hm, denken, gnäd’ger Herr! Bei Gott, mein Echo! / Als läg’ ein Ungeheu’r in seinem Sinn, / Zu gräßlich, es zu zeigen.
5 Vielleicht wohl, weil ich schwarz bin / Und mir des leichten Umgangs Gabe fehlt, / / Sie ist dahin! – Ich bin getäuscht! – Mein Trost / Sei bittrer Haß.
6 Mohnsaft nicht, noch Mandragora, / Noch alle Schlummerkräfte der Natur, / Verhelfen je dir zu dem süßen Schlaf, / Den du noch gestern hattest.
7 Alter schottischer Titel, der so viel wie Gefolgsmann oder Lehnsherr bedeutet.
8 Banquo: War so was wirklich hier, wovon wir sprechen? / Oder aßen wir von jener gift’gen Wurzel, / Die die Vernunft bewältigt? (I, 3, 83–84)
9 Und was das hohe Alter soll begleiten, / Gehorsam, Liebe, Ehre, Freundestrost, / Danach darf ich nicht aussehn; doch, statt dessen / Flüche.
Shakespeare als »Dichter der Natur« und Fanal der Moderne
Lessing als Vermittler Shakespeares
Die Bedeutung Lessings als Vermittler Shakespeares ist bekannt. Zwar ist die Auffassung, Lessing habe das englische schlicht gegen das französische Theater ausgespielt, nach heutiger Forschung nicht zu halten. So hat diese den bestimmenden Einfluss der Romania auf Lessings Konzeption und dramatische Praxis herausgearbeitet. Rohmer hat nachgewiesen, in welch starkem Maße Lessing die dem Formalismus des klassizistischen Theaters widersprechenden Tendenzen in Italien und Frankreich rezipierte, von Riccoboni bis Diderot, und zwar im Hinblick auf das bürgerliche Trauerspiel, den Realismus in der Theaterkunst (auch der schauspielerischen Aktion), die Überlieferungen des italienischen Volkstheaters (Rohmer 1972). »Der kritischen Vernichtung Gottscheds mit seiner Einbürgerung des klassizistischen französischen Theaters als regelmäßiges Theater und Drama in Deutschland steht eine zwar kritische, aber doch methodisch sehr differenzierte Analyse der entsprechenden französischen Dramatik zur Seite, die ihrerseits über den französischen Klassizismus hinausgeht. Er selbst schreitet, wie sein Samuel Henzi beweist, das regelmäßige Drama erst bis an die Grenze seiner Möglichkeiten aus, ehe er es hinter sich läßt.« (Ebd., 26) Schon Mehring hat mit wünschenswerter Klarheit festgestellt, dass Lessing nicht die französische Literatur, vielmehr nur »die höfische Dramatik der französischen Literatur« bekämpfte, »die für das deutsche Bürgertum kein anspornendes Vorbild sein konnte«. »Der bürgerlichen Emanzipationsliteratur der Franzosen ist er stets freundlich gesinnt gewesen und hat gern bekannt, daß er von keinem mehr gelernt habe als von Diderot, einem ihrer Hauptträger.« (Mehring 1972, 26)
Wir sehen: auch hier vermied Lessing Einseitigkeiten, erweist sich als Dialektiker. Und doch gehört es zu seinen größten Leistungen, Shakespeare in die deutsche Literatur eingebürgert, oder genauer: Shakespeares Einbürgerung, die endgültig durch Herder, Goethe, die deutsche Romantik (die Schlegels und Tieck) erfolgte, vermittelt zu haben. Gerade in seiner Shakespearerezeption bereitet er den Boden für die große Literatur der klassisch-romantischen Kunstperiode: vom Sturm und Drang bis Heinrich Heine. Noch E. T. A. Hoffmann, Grabbe, Büchner setzen, in höchst unterschiedlicher Weise, fort, was Lessing begann; selbst ein Brecht dürfte ohne die von Lessing vermittelte Shakespeare-Rezeption nicht vorstellbar sein.
Im siebzehnten der Briefe, die neueste Literatur betreffend, vom 16. Februar 1759, in der berühmten Polemik gegen Gottsched und das »französierende« Theater führt Lessing aus, dass »wir« (d. h. die Deutschen) – wie Gottsched »aus unsern alten dramatischen Stücken, welche er vertrieb, (hätte) hinlänglich abmerken können« – »mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen«. Wäre Gottsched auf der »Spur« dieser alten Stücke (elend wie sie sind) geblieben, so würde sie ihn »geraden Weges auf das englische Theater geführet haben«. Das »englische Theater« sei natürlich nicht der klassizistische Cato des Herrn Addison, sondern das seien Shakespeare, Jonson, Beaumont und Fletcher – das Volkstheater der englischen Renaissance.
Englisches Volkstheater gegen die höfische Kunst der tragédie classique, Shakespeare versus Corneille – damit ist eine Position bezogen, die für die Entwicklung der deutschen Literatur höchst folgenreich wurde, ja, deren Bedeutung über die Literatur noch hinausreicht. Sicher hat Lessing Shakespeare nicht für Deutschland ›entdeckt‹, die »allgemeine Hinwendung des literarisch mündig gewordenen deutschen Bürgertums zur englischen Kultur« (Erken 1972, 665) hatte schon vor Lessing begonnen. Neben Hamburg waren Göttingen, Leipzig, Frankfurt und Zürich die Zentren der englisch-deutschen Literaturvermittlung. Vor allem waren es Übersetzungen (sinnigerweise ins Französische) des englischen Äquivalents der »moralischen Wochenschriften« – des Spectator, Guardian und Tatler –, durch die das deutsche Publikum auf Shakespeare aufmerksam gemacht worden war. In der Literaturkritik hatten Bodmer und Johann Elias Schlegel Vorarbeit geleistet. Die ersten Shakespeare-Übersetzungen waren in den vierziger bis sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts erschienen (Wieland u. a.). (Ebd., 835–837) Neu aber ist die Anerkennung des normativen Rangs Shakespeares für die zu entwickelnde moderne deutsche Literatur, die Lessing vornimmt, die Klarheit und Entschiedenheit, mit der er diese Konzeption vorträgt. Lessing begründet den Vorrang Shakespeares vor dem klassizistischen Theater der Franzosen nicht allein mit dem Argument des »Nationalcharakters«, sondern mit der höchsten Autorität in Fragen dramatischer Poesie, die es in Europa bis zum Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt zu zitieren gab: mit der Poetik des Aristoteles. »Auch nach den Mustern der Alten die Sache zu entscheiden«, sagt Lessing, »ist Shakespeare ein weit größerer tragischer Dichter als Corneille.« (Siebzehnter Literaturbrief) Shakespeare sei den Alten »in dem Wesentlichen« näher, er erreicht den »Zweck der Tragödie«: Er hat »Gewalt über unsere Leidenschaften«. Der Zweck der Tragödie, das ist »die Übung der Seele in Mitleid« (Kommerell 1940, 106), ja mehr noch: die »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten« (Hamburgische Dramaturgie), die Erzeugung also der Fähigkeit praktischen Handelns im Sinn von als wahr erkannten ethisch-emanzipatorischen Maximen.
Wir befinden uns mit diesem Gegenstand auf literarischem und zugleich auf außerliterarischem Terrain. Denn Lessing geht es nicht – zumindest nicht in erster Linie – um ein bestimmtes Geschmacksmodell, das einem anderen gegenübergestellt wird, auch nicht um national-kulturelle Gegensätze bzw. Affinitäten von Deutschen, Engländern und Franzosen. Es geht vielmehr um eine bestimmte – literarisch-kulturelle – Form der Klassenauseinandersetzung im Zeitalter des epochalen Umbruchs innerhalb der Kapitalgesellschaft zur Moderne hin: um die Einnahme einer nicht zuletzt auch politischen Position innerhalb dieses epochalen Kampfes. Lessings Rezeption Shakespeares, die Identifikation des deutschen Nationalgeschmacks mit dem der Engländer, die Suche nach kultureller Identität und die nach nationaler Identität im Kulturellen, weiter auch: Lessings antiklassizistische Aristoteles-Interpretation sind Teil der bürgerlich-demokratischen Emanzipation in Deutschland – Teil der »in der Form des Gedankens« (Hegel) ausgesprochenen Revolution. Lessings Rückgriff auf Shakespeare bedeutet nicht nur das Beziehen einer radikalen bürgerlichen Position gegenüber der Feudalität; er beinhaltete die Entscheidung für die plebejische Tradition des europäischen Theaters: für ein Theater des Realismus und der Volkstümlichkeit. Lessing war Bürger im demokratischen Sinn, und er ging in seinen Tendenzen über das Bürgertum hinaus.
Durchgängig sieht das späte 18. Jahrhundert Shakespeare (mit Brecht zu reden) als realistischen und volkstümlichen Autor, als Dichter der ›Natur‹ (wie man zu Lessings Zeit sagte): ›Natur‹ im Gegensatz zur ›Unnatur‹ des feudalen Systems, ja der gesamten ständischen Zivilisation. »Lebendige Bilder der sittlichen Natur« will Gerstenberg die Shakespeareschen »plays« nennen (zit. nach Wiese 1956, 45), »Dollmetscher der Natur in all’ ihren Zungen«, hat ihn Herder genannt, selbst der größte ›Dollmetscher‹ aller Zungen seines Zeitalters: Shakespeare spräche »die Sprache aller Alter, Menschen und Menschenarten« (zit. nach ebd., 54) – »eine Welt dramatischer Geschichte, so groß und tief wie die Natur«. (ebd., 56) Für den jungen Goethe ist Shakespeare »der größte Wanderer«, er ist ihm Freund und Bundesgenosse. »Schäkespear, mein Freund, wenn du noch unter uns wärest, ich könnte nirgend leben als mit dir.« »Und ich rufe: Natur, Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen (…). Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe«.1 Die kulturelle und politisch-ideologische Bedeutung der Shakespeare-Rezeption Goethes tritt nirgendwo so deutlich hervor wie im Wilhelm Meister (der Theatralische Sendung und der Lehrjahre), wo die Überwindung des Klassizismus durch die Entdeckung Shakespeares als konstitutives Moment im Bildungsprozess des bürgerlichen Bewusstseins begriffen wird. Sie indiziert die Entwicklung dieses Bewusstseins von der bewundernden Anerkennung zur Kritik des Feudaladels. Hier stehen Racine, Corneille, der Klassizismus als höfische Repräsentationskunst und divertissement der Aristokratie für eine ganze zum Sterben verurteilte Kultur: Sie sind Symptome kultureller wie psychisch-sozialer Dekadenz (vgl. die Motive von Krankheit und Aberglauben). Gegenüber der Schein- und Gespensterwelt der Feudalkultur repräsentiert Shakespeare die andere, wirkliche Welt, Leben als Prozess und Handlung, »Gestaltung-Umgestaltung«, die »aufgeschlagenen ungeheuern Bücher des Schicksals, (…) in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust« (Wilhelm Meisters theatralische Sendung, 5. Buch, 10. Kap.) – Natur im Gegensatz zur Gekünsteltheit des Lebens der »Vornehmen und Großen« –, Shakespeare als »Zauberlaterne« einer »unbekannten Welt« und »unübersehbares Meer«. (ebd., 5. Buch, 7. Kap.)
Natur-Unnatur: In diesem Gegensatz verbirgt sich ein umfassendes geistig-politisches Programm bürgerlich-demokratischer Revolution. Die Worte sind Chiffren, in denen der Geist des Aufstands, rebellische Entwürfe geglückten Lebens hausen. Spinozismus, Rousseau und Feuer des Genies stehen für »Natur«, ebenso wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und die Paineschen Menschenrechte. Spontaneität wird gegen Regel gesetzt, Liebe gegen Konvention, Republik gegen Ständestaat, Menschlichkeit gegen Maske. Noch Schillers »Seid umschlungen, Millionen!« (aufgenommen in Beethovens Neunter Symphonie, die Botschaft der Freude, die eine Hymne der Liebe ist), noch der Osterspaziergang oder Fausts Schlussmonolog, ja das gesamte zum Ausgang des 18. Jahrhunderts entstehende neue Menschenbild ist nur aus dem Horizont der umfassenden ideologisch-poetischen Chiffre menschlicher Emanzipation und revolutionärer Selbstwerdung zu verstehen, auch wenn die politische Revolution in Deutschland ausbleiben musste. Zu Recht spricht Hegel von der ›Revolution in der Form des Gedankens‹, sprechen wir, im Anschluss an Hegel, von der ›Revolution in der Form der Kunst‹. Noch die Romantik – welche Wege sie auch ging: den der Revolution oder den der Reaktion – hat in diesem pulsierenden Punkt, der Selbstwerdung als dem Grundkonzept des geistigen Lebens der Epoche, die entscheidende Wurzel.
»Shakespeare als Dichter der Natur« bedeutet zunächst aber für Lessing: Tradition und Modell des Volkstheaters – eines nationalen Volkstheaters bzw. bürgerlich-plebejischen, demokratisch-humanistischen Nationaltheaters – im Gegensatz zum aristokratischen Klassentheater: eine Konzeption, die erst in Goethes Faust ihre volle, künstlerisch vollendete literarische Verwirklichung finden wird.
Shakespeare als Fanal der Moderne, als Modell einer antiaristokratischen, bürgerlich-plebejischen Literatur: diese Auffassung ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Shakespeare ist Geburtshelfer der modernen Nationalliteraturen insgesamt, wie sie sich seit dem späten 18. Jahrhundert im weltliterarischen Maßstab herausbilden. In der französischen, italienischen und spanischen Romantik ist Shakespeare »Ausgangspunkt und Rechtfertigung für ein neues Regelsystem« der Dichtung. (Hempfer 1972, 696) In der russischen Romantik wird Shakespeare als »National- und Volksdichter« entdeckt (Schmidt 1972, 706). Er steht an der Wiege der russischen Literatur. Für Puschkin, Lermontow, die Dekabristen, auch für Turgenjew und Ostrowski bleibt der Einfluss Shakespeares entscheidend. Noch Dostojewski folgt, Michail Bachtin zufolge, einem Shakespeare verwandten Kompositionsprinzip. (Bachtin 1971)
Die Linie, die Lessing für die deutsche Literatur inaugurierte (und nur im Bewusstsein weltliterarischer Zusammenhänge lässt sich Lessings Leistung voll ermessen), ist bis in die neuen Literaturen Asiens und Afrikas zu ziehen. Die Entwicklung auch dieser Literaturen erfolgt durch Anverwandlung weltliterarischer Überlieferung, und der vielleicht entscheidendste Kristallisationspunkt im Vorgang der Traditionsaneignung zum Zweck literarischer Wirklichkeitsbewältigung ist die Gestalt Shakespeares. So spricht der Kirgise Tschingis Aitmatow in seiner Rede zum 400. Geburtstag Shakespeares von diesem als dem »Karawanenführer des Gewissens« der Völker. Er spricht – in einer Sprache, die an Herder erinnert – von der »Shakespeareschen Völkerverständigung«: »Shakespeare lebt heute in allen Sprachen und in allen Dialekten.« (Aitmatow 1974, 354)
Mit dem Beispiel Aitmatows stehen wir am vorläufigen Ende eines Prozesses, der für Deutschland mit Lessing begann. Lessing hat die Tür aufgestoßen zu jener ›Natur‹, die das Werk des großen Elisabethaners verkörpert: zum Universum der wirklichen Welt, zum pulsierenden Leben der Erde. »Du hättest (…) mehr shakespearisieren müssen«, lautet noch Marx’ Ratschlag an Lassalle, in der Auseinandersetzung um dessen Revolutionsdrama Franz von Sickingen ausgesprochen (Hinderer 1974, 39). Lassalles »bedeutendste[r] Fehler« sei das »Schillern« gewesen, »das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes« (MEW 29, 592). Auch hier wiederum – am Beginn der materialistisch-historischen Literaturauffassung – der Verweis auf das Modell Shakespeare: als Vorbild einer Literatur des sinnlich-tätigen Lebens.
1 Zum Schäkespears Tag, zit. nach Wiese 1956, 72.
Diesseitigkeit und Realismus
Die philosophische Bedeutung von Lessings Dramaturgie1
Die philosophisch-weltanschauliche Bedeutung der Lessingschen Dramatik und ihrer Theorie – ›Dramaturgie‹ steht hier für die Einheit dramatisch-theatraler Praxis, kritischer Bewertung und dramatischer Theorie – auszuarbeiten, ist kein leichtes Unterfangen, wobei im Mittelpunkt der Überlegung die dramatischen Texte selbst stehen sollen. Die Frage nach der philosophischen Bedeutung der Lessingschen Texte soll und darf nicht bedeuten, dass hier ästhetische Werke krude nach ihrer begrifflichen Inhaltlichkeit abgefragt werden. Ganz im Gegenteil. Die Frage nach dem philosophischen Sinn eines Kunstwerks kann auf keinem anderen Weg beantwortet werden als dem seiner ästhetischen Konstitution. Bedeutungen in der Kunst, auch philosophische Bedeutungen, werden ästhetisch konstituiert. Es sind Bedeutungen im Modus der Form. Auch Begriffe, sofern sie in die ästhetische Konstitution einfließen, werden ästhetisch moduliert. Sie unterliegen ästhetischer Bearbeitung, werden ihr durch die ästhetische Bearbeitung eingeschmolzen, treten so einem Prozess der Transformation. Das gerade unterscheidet das Ästhetische – die Kunst – von jeder Theorie, den ästhetischen Begriff vom theoretischen, verbietet es, den einen unvermittelt auf den anderen zu beziehen. Die philosophische Bedeutung literarischer Kunst, so sehr auf deren Existenz zu bestehen ist, ist daher nie im direkten Zugriff begrifflich-philosophisch, sondern allein philologisch zugänglich. Nur auf philologische Weise, more philologico (Rudolf Sühnel): durch die genaue, historische und kritisch-analytische Lektüre eines Texts erschließt sich die logisch-weltanschauliche Bedeutung als ästhetisches Äquivalent des philosophischen Begriffs. Eine solche Auffassung wertet nicht die philosophische Bedeutung literarischer Texte ab. Eher ist das Gegenteil der Fall. Unterstellt wird, dass die Literatur, wie jede Kunst, eine besondere Organisationsform des Logos ist, also eine Form des Bewusstseins: der Anschauung und Deutung von Welt, im Modus unterschieden von der wissenschaftlich-begrifflichen, doch nicht geringeren Rangs.2
Dieser Einsicht folgt der hier eingeschlagene Weg. Ein einleitender Teil fragt nach Lessings Ort im Prozess der Verweltlichung, der das Denken in Deutschland vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. – zwischen Christian Wolff und Karl Marx – charakterisiert. Ein zweiter Teil fragt nach den ästhetisch-theoretischen Prinzipien der Lessingschen Dramaturgie. Der mittlere und Hauptteil entwirft drei philologische Miniaturen: zu Minna von Barnhelm, Nathan der Weise und Emilia Galotti – den bedeutendsten Dramen, die Lessing geschrieben hat. Eine abschließende These zieht aus dem Erörterten ein pointiertes Resümee. Das Verfahren dabei ist das starker Konzentration und Verkürzung. Zwar würde das vorliegende Material, argumentativ entfaltet, eine ausführlichere Studie erfordern, doch soll der Gestus des Essayistischen hier erhalten bleiben.
Die Fragestellung entstand im Widerspruch zu der Äußerung eines Schriftstellers, zu dessen Urteil der Widerspruch eine Ausnahme ist: Heinrich Heine. Und zwar geht es um die oft zitierte Äußerung Heines, die da besagt, dass Lessings »philosophische und theologische Kämpfe (…) uns wichtiger« seien »als seine Dramaturgie und seine Dramata«.3 Dem gerade ist zu widersprechen. Im Bewusstsein der kulturellen Öffentlichkeit überlebt Lessing heute vor allem auf Grund seiner ›Dramaturgie und Dramata‹ (wofür das moderne Theater, wo es noch zählt, ein Beispiel ist). Seine philosophischen und theologischen Kämpfe dagegen, so wichtig sie historisch sind, interessieren heute nur Spezialisten.
Nicht allein das ist es, was den Einspruch begründet. Die Radikalität des Denkens Heines äußert sich, in heutiger Sicht, am deutlichsten und schärfsten in seinem dramatischen Werk. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. So ist die freie Form der Kunst dem ideologischen Zugriff weniger zugänglich als die argumentative Rede und der theoretische Begriff. Die indirekte Form der Gestaltung, die Möglichkeit der Verschlüsselung macht es der Kunst leichter, die Wahrheit zu verstecken, als Konterbande ans rettende Ufer zu bringen, als die direkte Form des Begriffs es vermag. Wie die Entstehungsgeschichte des Nathan bezeugt, war die Kunstform – hier: das Theater – für Lessing ein Refugium, wo er noch sprechen konnte, als ihm schon anderswo das Sprechen verboten war. Doch handelt es sich hier vermutlich nicht allein um eine Frage der Zensur. Oft in der Geschichte ist der ästhetische Gedanke dem theoretischen voraus. Dem Denken nach vorn scheinen die Musen gewogen. Dies war dann auch bei Lessing der Fall.
A. Die Frage nach Lessings geschichtlichem Ort
Wollen wir den Versuch unternehmen, die geistige Entwicklung Deutschlands im 18. Jahrhundert unter einen Begriff zu fassen, ihr leitendes Motiv zu benennen, so kann es nur lauten: diese Geschichte ist eine Geschichte weltlicher Emanzipation des Bewusstseins, einer Verweltlichung oder, mit einem pointierten Begriff, einer Verdiesseitigung des Denkens; eine Geschichte »von der Theologie zur Philosophie« (Friedrich Engels) und zu den Künsten.4 Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung, nach verbreiteter Einsicht, in der literarischen Klassik wie in der idealistischen Philosophie; Musik und Musiktheater wären hinzuzufügen. Stand am Beginn dieser Geschichte – am Anfang des Jahrhunderts und noch zu Lessings Lebzeiten – die Religion als erste, das geistige Leben beherrschende ideologische Macht, die Theologie als ihr theoretisches Bewusstsein,5 so stehen an ihrem Ende die selbstbewusst gewordene Philosophie und die Künste als autochthone Gedankenformen, nicht neben, sondern an der Stelle der Theologie.
Dabei ist festzuhalten, dass der Prozess dieser Emanzipation – es ist nicht allein die Emanzipation von der Theologie, um die es hier geht, es ist zugleich auch die Emanzipation von den theologisch-metaphysischen Voraussetzungen philosophischen und künstlerischen Denkens – keineswegs so geradlinig und widerspruchsfrei verlief, wie es zunächst den Anschein hat. So wenig der Rang der literarischen und philosophischen Klassik, ihre Bedeutung als Höhepunkt dieser Entwicklung bestritten werden soll, so sehr muss erinnert werden, dass in deren Schlüsselfiguren – vielleicht mit der Ausnahme Goethes – Restbestände metaphysisch-theologischen Denkens, oft in der Form teleologischer Denkmuster, nach wie vor virulent sind. So holt Kant den Gottesbeweis, den er in der Kritik der reinen Vernunft philosophisch vernichtet hatte, in der Kritik der praktischen Vernunft in Form eines moralischen Postulats in die Philosophie zurück, macht die Theologie im gewissen Sinn also wieder philosophisch hoffähig, und noch Hegels Logik ist, wie ein jüngst erschienener Kommentar salopp, doch zutreffend formuliert »Gottes Wort aus Hegels, als des zweiten Jesus, Feder«. Erst bei Feuerbach und Marx wird, mit der Verabschiedung auch seiner idealistischen Form, dem ganzen theologisch-metaphysischen Wesen der Garaus gemacht – wird der Prozess der weltlichen Emanzipation des Geistes an sein Ende geführt.
Als Schlüsseldaten in diesem Prozess sind die folgenden zu nennen. Es ist erstens die frühe Aufklärung, die Leibniz-Wolffsche Philosophie als erste Form »säkulärer Vernunft«6 in Deutschland. Es ist zweitens die Rezeption Spinozas, der mit der Gleichsetzung Gottes mit der Natur (»deus sive substantia sive natura«) diesen vom Himmel auf die Erde holt. Es sind drittens die drei Kritiken Kants – Heine stellte Kants »Niederreißen des alten Dogmatismus« dem Sturm auf die Bastille gleich. Es ist viertens Herders radikaler Historismus, in dem die europäische Kultur geschichtlich verstanden, ihre angemaßte Suprematie dekonstruiert wird. Es ist fünftens der literarische Sturm-und-Drang, sechstens die Oper Mozarts, siebentens der Jakobinismus, und es ist selbstverständlich die Klassik selbst in den Künsten und in der Philosophie.
Wie steht Lessing in diesem Zusammenhang? Das ist unsere Frage. Unstrittig dürfte sein, dass Person und Werk ein weiteres solches ›Schlüsseldatum‹ bilden. Über das Nähere gibt es Streit. Steht auf der einen Seite die Auffassung, von Wolfgang Heise in »Das Sterben der Theodizee« eindrucksvoll vertreten, vom »Bruch« Lessings »mit einer bald zweitausendjährigen Geschichte westlicher Religion und Theologie«,7 so auf der anderen die von Heidi und Wolfgang Beutin vorgetragene Neuprotestantismusthese.8 Sicher gibt es Verbindungslinien zwischen beiden Positionen, bruchlos zusammen fügen sie sich nicht.
B. Dramaturgische Prinzipien. Aristoteles, Shakespeare, Diderot – Realismus als ästhetische und ontologische Doktrin
Die ästhetischen Prinzipien, die Lessings Auffassungen zu Drama und Theater bestimmen, können als erforscht gelten.9 Für den hier vorliegenden Zusammenhang möchte ich einige wenige Gesichtspunkte hervorheben. So sei erinnert, dass Lessings Grundorientierung mit dem Blick auf drei Personen erfolgt: Aristoteles, Shakespeare, Diderot (den Lessing auch übersetzte): Aristoteles im Sinne einer normativen Theorie des Dramas, Shakespeare als Muster praktischer theatralischer Kunst, Diderot als Vertreter des avancierten zeitgenössischen Dramas und seiner Theorie. Die drei Namen stehen für das, was im ästhetischen und ontologischen Sinn das Prinzip des Realismus heißen kann: Realismus als philosophischen Orientierung an der diesseitigen Welt und Realismus im Sinne einer die Historizität und soziale Singularität des Wirklichen erfassenden Theaterkunst.10 Kriterien dafür sind die Wirklichkeitstreue von Handlung, Charakter und Sprache und die Wirklichkeitsorientierung des theatralischen Effekts. Zum eigentlichen Ort der Wahrheit wird der Charakter. Das meint, der konkrete Mensch, das Individuum im Kontext seiner gesellschaftlichen Welt tritt in den Mittelpunkt des theatralischen Geschehens. Lessings Theorie entfaltet, was er in seiner literarischen Praxis, in Komödie, Tragödie und geschichtsphilosophischem Lehrstück einlöst. Das Publikum, »als werdende bürgerliche Gesellschaft verstanden, repräsentiert in ihren Gebildeten«, soll das Theater als »sein Theater gebrauchen«. Die Bühne soll Menschen darstellen, »in denen das Publikum sich, seine Wirklichkeit und Möglichkeit erkennt«.11 Die Theorie und Praxis dieses Dramas lässt sich, pointiert auf den Begriff gebracht, als durchgeführter Anthropozentrismus der dramatischen Form und theatralischen Aktion charakterisieren. Damit ist die Position einer radikalen Diesseitigkeit, die das antike und frühneuzeitliche Drama in seinen avanciertesten Formen besessen hat, wiedergewonnen, der Anschluss an Euripides und Shakespeare hergestellt. Zugleich rückt Lessing an die Front der bürgerlichen Moderne in europäischem Maßstab vor.
Dramaturgisch und theoriegeschichtlich wird diese von Diderot vertreten. Mit Diderot teilt Lessing die Orientierung an einem Begriff von Natur, der »die Einheit und Gesetzmäßigkeit des Allzusammenhangs«, »zugleich die menschliche Natur in Gleichheit und Tugend, das schlechthin Bejahte und Bejahenswerte gegenüber der (…) höfisch-feudalen Unnatur« in sich schließt.12
Diderot ist revolutionär nicht nur in seinem Entwurf der bürgerlichen Gattungen, eines Theaters als Organ der bürgerlichen Gesellschaft, speziell des dritten Standes, durch die Orientierung auf das ›häusliche‹ Leben, die Forderung, die Stände auf die Bühne zu bringen, und den Maßstab der Tugend. (…)Rebellischer (…) wird er dadurch, daß er die Poesie und deren Produzenten, das Genie, als Organ und Aktion des Aufbrechens versteinter, ›geordneter‹ gesellschaftlicher Zustände und Verhältnisse faßt: (…) so auch in der Bestimmung der höchsten Wirkung der Tragödie. (Ebd., 161 f.)
An diesem Punkt genau knüpft Lessing an, im vollem Umfang nicht so sehr als Theoretiker denn als Praktiker des Dramas. Möglich wurde dies und der damit verbundene neue Realismus des Theaters aber nur auf Grund der gleichzeitig erfolgenden Orientierung an Shakespeare – die ihn in seiner Praxis noch über Diderot hinausführt.
Um dies im vollen Umfang verstehen zu können, sei in Erinnerung gerufen, dass Shakespeare von der deutschen literarischen Intelligenz des späten 18. Jahrhunderts als der große Dichter der diesseitigen Welt, der Spinozist unter den Dramatikern rezipiert, also mit den Augen Spinozas entdeckt wird. Das ist die tiefere Bedeutung dafür, dass er »Dichter der Natur«, »Dolmetscher der Natur in all ihren Zungen« genannt wird13 – als Autor eines Realismus von ontologischer Dimension. »Eine Welt dramatischer Geschichte, so groß und tief wie die Natur«, schreibt Herder, dem »Riesengott des Spinoza, Pan! Universum!« vergleichbar. Sicher: solche Gedanken sind von Lessing noch nicht niedergelegt, und wenn er sie geäußert hätte, dann hätte er sie in eine kühlere Prosa gefasst. Und doch ist die geheime, unterirdische Verbindung zu seinem spinozistischen Credo – Hen Kai Pan – unabweisbar.14 Er selbst begründet Rang und Bedeutung Shakespeares mit historisch-kulturellen Argumenten, dem Hinweis darauf, dass »wir mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen«15 (er denkt hier an den französischen Klassizismus, vor allem an Corneille). Weiter begründet er sie wirkungsästhetisch (Shakespeare habe »Gewalt über unsere Leidenschaften« wie kein zweiter), und er begründet sie schließlich mit der Autorität der Alten und des Aristoteles. Shakespeare sei diesen »in dem Wesentlichen näher«, er erreiche den »Zweck der Tragödie«, die »Übung der Seele in Mitleid« »fast immer«, der Franzose »fast niemals«.16 Auch hier müssen wir auf die Implikate achten, nicht nur den unmittelbaren Wortlaut. Wir müssen wissen, was er über Euripides sagt – er hielt ihn für den »tragischsten von allen tragischen Dichtern«.17 Damit ist indirekt das Programm eines psychologischen Realismus gemeint.18 Auch Lessings Aristoteles-Rezeption gibt Zeugnis für sein realistisches Credo. Zwar stehen auch hier wirkungsgeschichtliche Gesichtspunkte im Mittelpunkt, doch damit ist sie keineswegs erschöpft. So wird im 19. Stück der Hamburgischen Dramaturgie jener Passus aus der Poetik zitiert, der als Basissatz des ästhetischen Realismus zu gelten hat:
Aristoteles (hat) längst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die historische Wahrheit zu bekümmern habe (…). Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umständen tun werde. Die Absicht der Tragödie ist weit philosophischer als die Absicht der Geschichte.
Mit diesem Zitat stößt die Theorie in eine Programmatik vor, die Entwicklungen des kommenden Jahrhunderts vorwegnimmt. Die Tragödie, das Theater, die Kunst, so lautet das hier ausgesprochen ästhetische Prinzip, haben es nicht mit der empirischen Welt bloßer Fakten zu tun – nicht mit dem, »was der Fall ist« (Ludwig Wittgenstein) –, sondern mit der Möglichkeitsform des Wirklichen. Nicht die Wirklichkeit ›an sich‹, sondern die »Wirklichkeit des Möglichen« (Wolfgang Heise) ist der Gegenstand realistischer Kunst. Dies, in der Tat, ist ein auch heute noch nicht abgegoltener Gedanke. Er trifft im vollen Umfang auf Lessings eigene Kunst zu.
C. Philologische Miniaturen: Minna von Barnhelm, Nathan der Weise, Emilia Galotti
Erste Miniatur. Die Blutspur in der Komödie: Minna von Barnhelm
»Ihr Lachen tötet mich, Tellheim!«
Minna von Barnhelm, IV
Minna von Barnhelm ist keineswegs die unbeschwert-leichte, heitere Komödie, als die sie meist inszeniert und interpretiert wird.19 Lesen wir genau, so ist ihre Heiterkeit von einer Blutspur unterlegt. Die verborgene Hand des Kriegs hat an dem Text mitgeschrieben. Der Hinweis findet sich in dem meist übersehenen Untertitel: »oder das Soldatenglück«.20
Das Stück spielt kurz nach dem Ende eines Kriegs, von dem alle seine Personen betroffen, manche bis in die Seele hinein gezeichnet sind. Vom Krieg getroffen, mehr oder weniger deformiert sind – ausnahmslos – alle männlichen Personen des Stücks. Just und Werner sind fraglos ehrliche Häute und die Besten in Tellheims Truppe – und doch hat auch bei ihnen der Krieg eine psychotische Wirkung gezeitigt. Werner ist der ewige Krieger, der Soldat, der vom Krieg nicht loskommen kann. Er hofft, »daß noch irgendwo in der Welt Krieg ist«. Als »ehrlicher Kerl« und »guter Christ« will er »fleißig wider den Türken« ziehen, was zwar nicht »halb so lustig sein kann« als ein Feldzug »wider den Franzosen«, dafür aber »desto verdienstlicher (…) in diesem und in jenem Leben« (I, 12). Just, der sich völlig zu Recht einen »ehrlichen Kerl« nennt (III, 2), will dem Wirt »einen Possen spielen«, weil dieser »nicht mehr anschreiben will« (was man dem Wirt kaum verdenken kann). Er schlägt vor, ihn abends einmal »brav durchzuprügeln«, »das Haus über den Kopf anzustecken« und »seine Tochter zur Hure zu machen«, auch wenn diese häddlich sei (I, 12). Werner will nicht ganz mitziehen, spricht bei anderer Gelegenheit aber davon, daß der Wirt »ein Freund von meinem Major« sei, »den der Major sollte totschlagen lassen« (III, 4). Werner hat dem Major zweimal das Leben gerettet, er ist ein selbstloser Freund, der ihm großzügig sein Geld und Gut zur Unterstützung anbietet, doch trifft Tellheims Vorwurf zu: er sei Soldat »wie ein Fleischerknecht« (III, 7). In solchen Widersprüchen bewegen sich die meisten Figuren des Stücks.
Die Witwe – »Dame in Trauer« – in I, 5 verkörpert den Schrecken des Kriegs im erlittenen Verlust. Ihre Begegnung mit Tellheim hat eine Schlüsselfunktion in dem Stück, nicht umsonst steht sie an entscheidender Stelle in der Exposition. Sie bewegt sich jenseits des heiteren Spiels. Sie ruft in die Erinnerung, was der Krieg ist. Sie spricht im Namen der Opfer. Zugleich zeigt sich an ihr Tellheims Integrität. Er ist die Ausnahme von der Regel, in diesem Punkt fungiert sein Handeln als ethische Norm. Er verkörpert, was die Katharsis bewirken soll: tugendhafte Fertigkeit.21 Eine Linie zum Nathan ist hier angelegt.
Dabei ist Tellheim selbst ein Opfer des Kriegs, vom Krieg deformiert. Wenn er sagt, er habe »heute keine Tränen« (I, 6), so meint dies, er ist erstarrt. Die Aussage verweist auf seine Verkrüppelung. Diese hat einen symbolischen Sinn. Sie meint nicht nur physische, auch psychische Deformation. Dies, nicht ein preußischer Begriff von ›Ehre‹22, ist das Hindernis, das ihn von Minna trennt. Er ist mehr als nur der »widerborstige Mann«.23 Er versteht sich – und das keineswegs zu Unrecht – als einen physisch, psychisch und moralisch verletzten Kriegskrüppel. Seine Worte dazu sind tief ernst zu nehmen, wozu Minna, wenn überhaupt, erst am Ende fähig wird – sie missversteht zunächst Tellheims Verletzung als »Stolz« (III, 12): »Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Krüppel, der Bettler« (II, 9). Diese Kränkung führt ihn an den Rand des »Menschenhasses« (IV, 6).
An der Erkenntnis, dass Minna eine der positivsten, progressivsten Frauengestalten der deutschen Literatur ist, führt kein Weg vorbei. Sie ist alles andere als ein närrisch-verliebtes Mädchen. Sie zeigt eine Selbsttätigkeit, die die bürgerliche Frauenrolle weit hinter sich lässt. So ist sie es, die von Beginn an im Verhältnis zu Tellheim die Initiative ergreift, die ihn aufsucht, ihm nachreist, ihn sucht. Ihr einziger Fehler ist es – im exakten Aristotelischen Sinn: ihre hamartia24 –, dass sie den Charakter der Deformation nicht erkennt, die Tellheim erleidet (vgl. IV, 6). In der Zeichnung der Minna verfährt Lessing mit der Genauigkeit des analytischen Realisten. So ist es Ausdruck höchster Präzision – historisch-soziologisch wie psychologisch –, wenn sie als adlig, vermögend, sozial ungebunden beschrieben wird. Dies sind exakt die Bedingungen für ihre Selbsttätigkeit in der geschichtlichen Welt des Stücks. Eine Bürgerliche wäre in der dargestellten Zeit zu solcher Selbstständigkeit gar nicht in der Lage gewesen. Minnas Pendant, auf der Ebene der Tragödie, könnte daher nie Emilia, es kann allein die Gräfin Orsina sein.
Eine solche psychisch-soziale Zuordnung erklärt einiges, doch nicht alles. Nie sind in Lessings Dramen die objektiven Determinationen absolut. Immer ist den Figuren ein Spielraum für Individualität und Freiheit, auch Zufall eingeräumt, in dem sie handeln. So agiert Minna zusammen mit Franziska. In ihrer Gemeinsamkeit bilden sie ein unschlagbares Paar, verkörpern die historisch avancierteste Position in dem Stück. Beide sind über den Krieg hinaus, Minna freilich in einer Form, die dessen Erfahrung nicht gründlich genug verarbeitet hat. Dies ist der Grund ihres Mangels: ihres fehlenden Verständnisses für Tellheims Verletzung. Franziska ist in diesem Punkt weiter als sie. So will sie Minnas Spiel mit Tellheim Einhalt gebieten. In Franziska leben, psychologisch verfeinert, die selbstbewussten Dienerinnen Molières nach. Fast ist ihr Verhältnis zu Minna das einer Gleichen. Vergleichbar ist sie der Susanna in Mozarts Hochzeit des Figaro, auch sie die intelligenteste Person im ganzen Stück. In diesen Figuren erhalten die Unteren, das Volk, die erste Stimme. Darin liegt bereits ein historisch vorausweisendes Moment.
Der Konflikt zwischen Tellheim und Minna ist von solcher Art, die Hegel der echt tragischen Kollision vorbehält. Nicht Recht und Unrecht treten in Konflikt, sondern die Kollision ist eine solche positiver Werte, von Tugenden, die sich durch Einseitigkeit bedrohen. Teil dieser Einseitigkeit, ja ihre Bedingung ist die Blindheit, mit der die Protagonisten ihren Standpunkt vertreten, die sie hindert, die Berechtigung des Standpunkts des Anderen wahrzunehmen.25 Die Grundkollision der Minna lässt also sowohl eine Tragödie wie eine Komödie zu. Dieser Tatbestand allein gibt dem Stück auch zum Ende hin den Tiefgang. Bis zuletzt ist der Ausgang nicht ungefährdet, erscheint das gute Ende als Problem. Die Auflösung erfolgt im Medium eines Spiels, dessen Turbulenzen die Problematik akzentuieren, das Scheinhafte der komischen Lösung ins Licht stellen. So ist das Ende für Tellheim wie das »Erwachen aus einem schrecklichen Traum« (V, 13) – erst an dieser Stelle wird die reine Heiterkeit des Spiels erreicht, die man irrtümlich dem ganzen Drama zuzuschreiben pflegt. Die Spielform fungiert als komödisch-utopisches Medium, der Brief des Königs als deus-ex-machina-Variante, vielleicht auch als verborgene Seria-Parodie. Im guten Onkel ist Brechts rettender Bote vorgebildet.
An Brecht erinnert hier vieles. Nicht zuletzt die Grundfrage, wie man in einer schlechten Welt einem guten Menschen zu einem guten Ende verhelfen kann. Dass man es kann, so sicher ist sich Lessing darin nicht. Daher vielleicht die Turbulenzen des Schlusses, die die Blutspur des Krieges fast vergessen machen. Im letzten Satz des Texts sind sie plötzlich wieder da. »Über zehn Jahr ist Sie Frau Generalin oder Witwe« (V, 15). Die Witwe hatten wir schon. Sie war am Beginn des Stücks als »Dame in Trauer« aufgetreten. Die Generalin können wir uns schenken. Bei solchen Aussichten für die kluge Franziska sollten dem Zuschauer, versteht er den Text und stimmt die Regie, das Lachen im Halse stecken bleiben.
Zweite Miniatur. Eliminatorischer Antisemitismus versus praktische Vernunft: Nathan der Weise
»Tut nichts! Der Jude wird verbrannt.«
Nathan der Weise, IV
In der Süddeutschen Zeitung vom 10. September 2004 hat Christine Dössel, eine der tonangebenden Stimmen des deutschen theaterkritischen Feuilletons, ihren Verriss einer jüngst erfolgten Inszenierung des Nathan an der Wiener Burg (Regie Lukas Hemleb) mit einem Argumentationsgang begründet, der einen aufschlussreichen Einblick in den Zustand der literarisch-historischen Bildung heutiger Eliten gewährt. Das Vergehen der Wiener Inszenierung bestünde darin, dass sie »nichts wagt (…) und (…) nichts zu sagen (hat), was über den Text hinauswiese auf unsere Welt des 21. Jahrhunderts, in der religiöser Haß und fundamentalistischer Terror Lessings Humanitätsbotschaft zur Makulatur erklären, zum naiv-sentimentalen Wunsch eines Märchenonkels.«
»Aufklärungsmärchen aus dem Jahr 1779« und »Schulbuchpflichtklassiker mit dem ewig gültigen, nie erfüllten Toleranz- und Versöhnungsappell« – das ist alles, was die Dame Dössel sonst noch zu Lessings Text zu sagen weiß. Dümmlicher geht es kaum, um schlagend für das Elend der gegenwärtigen deutschen Theaterkritik den Beweis zu liefern. Es besteht in zweierlei: einem Zerfall ästhetischer Normen sowie der Unfähigkeit, die überlieferten Texte der Theaterliteratur anders als in ihrer oberflächlichsten und konventionellsten Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen (wobei das eine das andere bedingt). Dabei will ich gar nicht in Abrede stellen, dass der Nathan in der bürgerlichen Rezeption zum Dekor liberaler Feierstunden verkam, als Ausrede missbraucht, mit der sich deutsche Spießer billig ein gutes Gewissen servieren. Zwischen Rezeption und Textsinn zu unterscheiden aber gehört zu den ersten Aufgaben literarischer Kritik. So behaupte ich, dass sich der genauen Lektüre des Nathan (und eine solche gehört selbstverständlich zu den Grundaufgaben kritischer Arbeit) eine seiner Rezeption gegenläufige, äußerst radikale und höchst aktuelle Bedeutung erschließt.
Die Welt dieses Texts, das ist das Erste, ist strukturell von Terror geprägt – um den zu sehen, bedarf es nicht des 21. Jahrhunderts. Nicht weniger als Emilia Galotti, so Heise, zeigt der Nathan eine »zerrissene Welt«.26 Gewalt – ausgeübte und zu erwartende – erscheint in ihr geradezu als Normalzustand. Das Stück spielt in der Zeit eines bedrohten Friedens, eines prekären Waffenstillstands zwischen Sarazenen und Christen (in der Regel wird ignoriert, dass die Welt des Nathan keine ›Märchenwelt‹ ist, sondern sich auf eine historisch-reale bezieht: Jerusalem nach dem Ende des dritten Kreuzzugs). Den Schrecken äußerster Gewalt hat Nathan am eigenen Leib erfahren. Seine ganze Familie ist einem christlichen Pogrom zum Opfer gefallen: seine Frau »mit sieben hoffnungsvollen Söhnen« verbrannte in seines Bruders Haus, »zu dem ich sie geflüchtet«. Bezeichnend ist, dass Nathan diese Erfahrung geheim hält, er vertraut sie allein der »frommen Einfalt« des Klosterbruders an, als er dessen integre Menschlichkeit erkennt (IV, 7).
Das Motiv des Verbrennens besitzt in Lessings Text den Charakter eines Leitmotivs. In der Eröffnungsszene wird Nathan, bei seiner Heimkehr, mit der Nachricht vom Brand seines Hauses empfangen, dem seine Ziehtochter Recha mit knapper Not – gerettet durch die beherzte Tat des Tempelherrn – entkam. »Verbrannt? Wer? Meine Recha? Sie? – / Das hab’ ich nicht gehört. – Nun denn, so hätte / Ich keines Hauses mehr bedurft«. (I, 1) Diese Sätze sind mit größter Erschütterung gesprochen. Aus ihr erklärt sich Nathans Hinwendung zum Retter des Mädchens. Dem Akt der Rettung kommt im symbolisch-semantischen Gefüge des Texts eine zentrale Bedeutung zu. Rettung ist der genaue Gegensatz zu Gewalt.
Nathans Existenz ist nicht sicher, sondern gefährdet. Der fundamentalistische Terror, den Frau Dössel wie andere ihr geistesverwandte Rezipienten erst in unserer Gegenwart wahrzunehmen vermag, besitzt eine bedrohliche Verkörperung in Lessings Text, und zwar in der Gestalt des christlichen Patriarchen. Der will die Vernichtung des Juden um jeden Preis, hat dieser doch einen »Christen / Zur Apostasie verführt«, zum Abfall des Glaubens. Er beruft sich dabei auf einen Rechtstitel – der Terror ist geltendes Gesetz. Nach päpstlichem und kaiserlichem Recht, argumentiert der Patriarch, stünde auf solche »Frechheit« nur eins – der »Scheiterhaufen«, der »Holzstoß«. Das drei Mal erfolgte »Tut nichts! der Jude wird verbrannt« (IV, 2) – auf Einwände, die rechtlich als mildernde Umstände gewertet werden könnten – macht hinlänglich deutlich, dass solcher Antisemitismus eliminatorisch ist. Er läuft auf die physische Vernichtung des Juden hinaus.27
Nathan weiß von dieser Gefahr, und er weiß sie einzuschätzen. Zwar weiß er sich bei Saladin sicher (wofür es nicht nur märchenhafte, sondern gute historische Gründe gibt), doch ist diese Sicherheit sehr relativ. Denn so sehr Saladin, im Gegensatz zu dem Patriarchen, als tolerant und liebenswürdig geschildert wird, gewaltfrei ist sein Regiment beileibe nicht. Zudem ist er, wie der Patriarch (vermutlich zu recht) erklärt, »vermöge der Kapitulation, / Die er beschworen«, verpflichtet, das Recht der Christen auszuführen, und dieses verlange Nathans Tod (IV, 2).
Zum Text, lesen wir ihn als die geschichtsphilosophische Parabel, die er seinem ästhetischen Status nach unabweisbar ist, gehört die historische Situation, in der er spielt, auf die sich die Handlung stofflich bezieht und auf die sie in Teilen auch explizit verweist: eine kurze Zwischenzeit des Friedens in einem mörderischen Krieg. Das Stück spielt nach dem Ende des dritten Kreuzzugs. Saladin, eigentlich Jussuf, Sultan von Syrien und Ägypten (1137–1193), ist die bedeutendste historische Figur im islamischen Widerstand gegen die christliche Okkupation des islamischen Orient, die unter dem Namen der Kreuzzüge in der europäischen Tradition überliefert ist. Unter seiner Führung wurde 1187 Jerusalem befreit. Der dritte Kreuzzug (1189–1192), zur Wiedereroberung der verlorenen Territorien, insbesondere Jerusalems unternommen,28 schloss mit einem Waffenstillstand, der Saladin Jerusalem beließ, doch die christliche Präsenz als Pilgerstätte gestattete (dies erklärt die Anwesenheit des Patriarchen in Lessings Stück). Nach heutigem historischen Wissen war Saladin in der Tat der Vertreter einer aufgeklärten islamischen Hochkultur, als den ihn Lessing zeichnet (so sehr Einzelheiten selbstverständlich erfunden sind) – ein »Verbesserer der Welt und des Gesetzes« (III, 3), »tapfer, gerecht, edelmütig«,29 wie ihn übrigens bereits Voltaire gepriesen hatte. Auch die Toleranz gegenüber Juden (die unter ihm führende Staatsfunktionen einnehmen konnten) ist historisch verbürgt.30 Den Komplex dieses Wissens, das der Aufklärung in den Grundzügen zur Verfügung stand, nimmt Lessing in seinen Text auf. Sein Nathan weiß, dass seine Existenz ein Kampf ums Überleben ist, seine Sicherheit einzig bei Saladin liegt. Fällt dieser, so ist er auch verloren. Er hat also gute Gründe, ihm für den bevorstehenden Feldzug sein Geld zu überlassen.
Die Ringparabel erzählt Nathan also in einer Situation der Gefahr – ja das Bewusstsein der Gefährdung erst veranlasst ihn zur Erfindung seines »Märchens«. »Hm! Hm! – wunderlich! – Wie ist / Mir denn? – Was will der Sultan, was? Ich bin / Auf Geld gefaßt und er will – Wahrheit. Wahrheit! / (…) / Das war’s! Das kann / Mich retten! – Nicht die Kinder bloß speist man / Mit Märchen ab.« (III, 7)
Die Ringparabel (III, 7) ist das Exposé einer Kritik der praktischen Vernunft, neun Jahre bevor Kant sein zweites Hauptwerk verfasste. Hier wie dort geht es um das Praktischwerden der Vernunft – die Praxis ihrer Prinzipien. Lessings Ausgangspunkt ist die Wahrheitsfrage der Religionen. Dieser wird eine praktisch-ethische Antwort erteilt. Deren erste Prämisse ist, dass von einer Apriori-Wahrheit der Religionen – einer oder aller – nicht die Rede sein kann. Die Religionen »gründen alle (…) auf Geschichte«. Sie sind geschichtlich entstanden und entfalten ihre Wirkung in der Form geschichtlicher Mächte.31 Nirgendwo sonst als in der praktisch-ethischen Wirkung liegt also das Kriterium für ihre Wahrheit oder Unwahrheit. Dies ist der Sinn des Ausspruchs des Gründervaters aller drei Religionen: dass der Ring die »Wunderkraft« besäße »beliebt zu machen«, »vor Gott und Menschen angenehm«. Solange die Ringe »nur zurück« und nicht »nach außen« wirken, »jeder sich selber nur am meisten liebt« (sich selbst zur einzigen Wahrheit erklärt), sind alle drei »betrogene Betrüger« – ist ihre Existenz eine solche der Unwahrheit. Erst in der praktischen Wirkung auf Andere, in der Verbesserung menschlicher Daseinsbedingungen, der Beförderung der Humanität (wie Herder es nennen wird) konstituiert sich die Wahrheit einer Religion. Die dieser Einsicht entsprechende ethische Haltung ist, mit Lessings eigenem Begriff, tugendhafte Fertigkeit: eine ethische Haltung, die in der Praxis ihre Bewährung findet.32 Aus diesem Gedanken folgt, was in Lessings Text als Äquivalent des Kantschen kategorischen Imperativs fungiert. Bei Lessing freilich ist dieser als »Rat«, nicht als Spruch des »weisen Richters« formuliert: »Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochnen, / Von Vorurtheilen freyen Liebe nach!«
Unbestochen, ein praktisch-ethischer, aber auch ein juristischer Begriff, meint, dass einer nicht käuflich ist, seine Handlung von Selbst- wie Fremdinteresse frei, sich allein an der Durchsetzung der als recht erkannten Sache orientiert, meint die Ausübung der Menschlichkeit ›um ihrer selbst willen‹.33 Von Vorurteilen frei ist ein Schlüsselwort der Aufklärung seit Bacon: von der vernünftigen Einsicht, nicht der bloßen Meinung, dem von ›Idolen‹ (= Ideologien) bestimmten Alltagsbewusstsein geleitet. Unbestochen und von Vorurteilen frei zielen auf einen Begriff von Aufklärung, der diese als »Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit« (Kant) versteht, die Autonomie des Willens als Bedingung realer Freiheit. Liebe freilich ist bei Lessing das Schlüsselwort: Menschenliebe, Liebe zwischen Einzelnen und Völkern, reale Gleichheit, Solidarität, Freundschaft. Der Begriff hat hier eine vielschichtige Konnotation, er ist konkret, nicht abstrakt zu denken, auch das Pathos des späteren Idealismus ist ihm noch fern.
Des Richters »Rat« der unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe, formuliert als Postulat der praktischen Vernunft, entspricht sehr genau dem, was Kants Begriff des kategorischen Imperativ zum Inhalt hat: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«.34 Gemeint ist ein praktisches Handeln, das, einer allgemeinen Gesetzgebung zugrunde gelegt, universale Gültigkeit beanspruchen kann. Im Besitz des Steins der Weisen – im Besitz der Wahrheit – ist nun der, der dieser Forderung am weitesten entspricht: ist die Religion (erweitert gesprochen: die Weltanschauung), die sie am entschiedensten einzulösen vermag – in »über tausend tausend Jahren«, also im Verlauf der geschichtlichen Zeit; an keinen abgeschlossenen Zeitraum ist hier gedacht. Mit anderen Worten: die Religion oder Weltanschauung ist die ›wahrste‹, die die Aufgabe der Menschlichwerdung der Welt am nachhaltigsten erfüllt (eine Linie ist hier zu ziehen zur Erziehung des Menschengeschlechts) – der es am besten gelingt, mit Brecht gesprochen, »die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu erleichtern«.35 Theologie wird hier, auch dies eine Parallele zu Kants Kritik der praktischen Vernunft, in Ethik aufgelöst – eine Ethik praktischen Handelns freilich, nicht der bloßen Reflexion und ohne Neuauflage eines Gottesbeweises. Damit aber ist Lessing, so scheint mir, radikaler als Kant. In der entschiedenen Orientierung auf ethisch-gesellschaftliche Praxis weist er über diesen hinaus – geht zu auf den kategorischen Imperativ von Marx, der fordert, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«,36 auf die elfte Feuerbachthese, die besagt, dass nicht die Interpretation der Welt das Entscheidende sei, sondern ihre praktische Veränderung. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.«37 Wo bei Marx die Philosophie steht, steht im Nathan freilich immer noch die Religion.
Der Text schließt mit einem Ende, das allein als utopisches Moment freilich ästhetisch und geschichtstheoretisch gerettet werden kann: als die an Brecht erinnernde Forderung, dass das gute Ende als Forderung und als Prinzip nicht aufzugeben sei.38 Der Wall von Umarmungen, mit denen das Stück endet, verdeckt die Risse der von ihm gezeigten Welt. Die Probleme, die es ans Licht brachte, bleiben ungelöst: der Frieden bedroht, die Macht des Patriarchen ungebrochen, die Liebenden um ein Glück gebracht, das nur in einem inzestiösem Verhältnis hätte Erfüllung finden können; für eine Wälsungenliebe musste noch ein Jahrhundert ins Land gehen. Doch bereitet Recha den Weg, wenn sie – auch hier eine Antizipation Brechts39 – bestreitet, dass nur das »Blut« den Vater mache. »Jawohl; das Blut, das Blut allein / Macht lange noch den Vater nicht! macht kaum / Den Vater eines Tiers!« (V, 7)
Hier wird das biologische Moment als Faktor der Konstitution menschlicher Beziehungen gründlich in Frage gestellt. Was an seine Stelle treten soll, wird nicht ausgesprochen, ist aber durch das erzählte Geschehen klar genug: Es ist die gesamte Geschichte einer Beziehung zwischen Menschen, in der erfahrene Wohltat und Liebe eine privilegierte Position einnehmen. Das biologische Moment tritt ihnen gegenüber zurück. Sollte dies vielleicht auch für Rechas Beziehung zu ihrem Retter gelten? Die Frage wird nicht ausgesprochen, doch wartet sie im Hintergrund.
Dritte Miniatur. Autonomie und Selbstzerstörung: zum Dilemma des bürgerlichen Subjekts: Emilia Galotti
Emilia Galotti behandle ich als letztes der drei großen Dramen. Der Grund dafür ist, dass ich sie für Lessings radikalstes Werk halte, seinen kühnsten und illusionslosesten dramatischen Entwurf. Mit ihm gewinnt die europäische Tragödie die Position totaler Diesseitigkeit zurück, die sie seit Shakespeare nicht mehr besessen hat, die sie erst in den Gipfelleistungen des späteren europäischen Dramas, bei Schiller, Goethe, Kleist, Büchner, Ibsen und Tschechow wieder erreicht.
In der Emilia ist das tragische Geschehen ein Geschehen ganz unter Menschen geworden. Es spielt in einer Welt ohne Gott, ist frei, auch terminologisch frei, von jedem Restbestand an Theologie, der noch im Drama des deutschen Idealismus, auch übrigens bei Beethoven40, ihre nicht unbedeutende Rolle spielt. Der »Gott«, auf den sich Galotti am Ende des Dramas als »Richter unser aller« beruft, ist nicht mehr als sein bürgerlicher, privater Gott. Er hat keine Existenz außerhalb eines Bewusstseins, dessen dilemmatisches Scheitern das Stück erschütternd vorführt.
Dilthey hat die Emilia eine »Trägodie des höfischen Lebens« genannt, »Musterbeispiel der in sich geschlossenen, in allen Gliedern psychologisch determinierten Handlung«, »so einfach konstruiert wie eine Uhr mit ihren Rädern und Gewichten«:
Das Stück ist aufgebaut auf dem Gegensatz zwischen dem Hof mit seinen Kreaturen und den unabhängigen Leuten, die ihre Freiheit, ihre Sitte, ihre selbständige Art der Lebensführung behaupten wollen. Das Tragische liegt in der Hilflosigkeit dieser rechtlosen Untertanen gegenüber der Selbstherrschaft. Indem dieselben von der Intrige umgarnt und gleichsam erdrosselt werden, kommt ihre Ohnmacht von Szene zu Szene an den Tag – und damit die Misere der politischen Verhältnisse, in der sie leben.41
Diese Charakterisierung, so zutreffend sie ist, trifft freilich nur eine Seite des tragischen Konflikts. Die bürgerlichen Gegenfiguren sind mehr als nur passive Opfer. Sie wirken mit an der Form des tragischen Geschehens – an dem Modus, in dem es sich vollzieht.
Dass die Emilia eine »antityrannische Tragödie« ist,42 daran kann nicht die Spur eines Zweifels bestehen. Der Prinz und sein ausführendes alter ego Marinelli – sie agieren im Grunde als Paar: Prinz und Marinelli – sind die treibenden Kräfte des Geschehens und voll verantwortlich – schuldig – an seinem tödlichen Ausgang. Zugleich fungieren sie als soziale Charaktermasken: Verkörperungen gesellschaftlicher Verhältnisse, die solche Gewalt erst hervorbringen und möglich machen. Teil des Ensembles dieser Verhältnisse aber ist ein Bürgertum, das der politischen Tat weder willens noch fähig ist, das seine Emanzipation als rein privaten Akt betreibt. Symbolisch dafür: die ›Welt außerhalb‹ – außerhalb der Sphäre des Hofs und der Stadt –, in der Galotti wie Appiani die Selbstverwirklichung ihres Lebens suchen. Es ist deutlich genug: Lessing porträtiert deutsche Zustände. Er hat, wie Heise schreibt, in der Emilia »den deutschen Verhältnissen in leicht verfremdendem italienischen Gewand die eigene politisch-moralische Melodie vorgesungen«.43 Zu diesen gehört die unangefochtene Geltung der Religion. Es ist die Kirche, in der der Prinz Emilia trifft und verfolgt, diese beschwichtigt ihre aufkeimende Sinnlichkeit durch »Übungen der Religion« (V, 7), und es ist ›Gott‹, dem Galotti die Ausführung einer Tat überlässt, zu der er selbst nicht die Kraft hat: die Bestrafung des Prinzen. So ist die Emilia Galotti nicht nur eine antityrannische Tragödie, sie ist zugleich die Tragödie bürgerlicher Selbstzerstörung, seiner privaten, nicht politischen Autonomie – einer Autonomie unter dem ideologischen Diktat der Religion. Die eigentliche Alternative zu solcher Selbstzerstörung verkörpert die Gräfin Orsina – wiederum ist die emanzipatorische Stimme einer adligen Frau vorbehalten. Was die Orsina vertritt, ist Rebellion und Aufstand – Gerichtstaghalten der Erniedrigten, Geknechteten, Verlassenen und Verächtlichen über die, die am Zustand der Erniedrigung die Schuld tragen. Und ganz im Unterschied zu Galotti und den Seinen nimmt sie die Sphäre der Öffentlichkeit für solche Gerichtsbarkeit in Anspruch, überlässt sie nicht der Religion: »Morgen will ich es auf dem Markte ausrufen «, sagt sie. »Und wer mir widerspricht – wer mir widerspricht, der war des Mordes Spießgeselle.« (IV, 5)
So sehr die Orsina, psychologisch verständlich, aus der Lage der verlassenen, gekränkten Frau heraus spricht, sie spricht doch zugleich im Namen aller Verlassenen und Missbrauchten, ist zu einer Solidarität imstande, die über ihre eigene Lage hinaus reicht.44 »Wenn wir einmal alle, – wir, das ganze Heer der Verlassenen, wir alle, in Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten, – um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach und keiner gab! Ha! das sollte ein Tanz werden! das sollte.« (IV, 7)
Die Orsina als »Machtweib« zu verstehen, »das dann auch als Lady Milford das gesetzte bürgerliche Publikum mit fremdartigen Schauern erfüllt«,45 wie Dilthey es tut, ist ein Missverständnis, wie es bürgerlicher nicht sein kann. Herder hat ihre Bedeutung vorurteilsfrei und hellsichtig erkannt, wenn er schreibt: »Als eine Beleidigte, Verachtete muß sie anjetzt übertreiben und bleibt in der größten Tollheit die redende Vernunft selbst, ein Meisterwerk der Erfindung«.46 Die Orsina ist, so lässt sich sagen, die tragische Schwester der Minna – eine Minna, die Orsinas Erfahrung hat. Sie ist selbstbewusst, selbsttätig und besitzt einen scharfen analytischen Verstand. Sie leidet nicht nur, sondern durchschaut die Verhältnisse und den Prinzen. Ihre Worte »Und glauben Sie, glauben Sie mir: wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren« (IV, 72) sind der genaueste Kommentar zu dem Geschehen, dessen Zeuge sie ist. Wenn sie Odoardo den Dolch gibt, so ist dies ein höchst bewusster Akt: der Hinweis auf eine Alternative, die auch in der Virginia-Überlieferung angelegt ist: antityrannischer Widerstand. »Stecken Sie beiseite! geschwind beiseite! – Mir wird die Gelegenheit versagt, Gebrauch davon zu machen. Ihnen wird sie nicht fehlen, diese Gelegenheit: und Sie werden sie ergreifen, die erste, die beste, – wenn Sie ein Mann sind.« (IV, 7)
Odoardo ist fraglos ein Mann, und an Mut wird es ihm sicher nicht gebrechen. Doch zuallererst ist er eins: ein deutscher Bürger, der seine Autonomie einzig in der Region einer religionsgeschützten Privatheit zu verwirklichen vermag. Den Dolch auf den Tyrannen zu richten, politischer Widerstand ist ihm undenkbar: Lessing hat hier den Finger auf die Wunde deutscher Bürgerlichkeit, das historische Dilemma des deutschen Bürgertums gelegt. Umso erschütternder das Ende: Emilia ist es, die agiert, Odoardo vermag allein, ihren Entschluss auszuführen. Was ihm unter den Möglichkeiten zu handeln verbleibt, ist die Tötung der eigenen Tochter. Heise hat Emilias Dilemma eindringlich beschrieben:
Emilia sieht sich in einen für sie unlösbaren Widerspruch gestellt (…). Ihre Hilflosigkeit gegenüber der Verführung entspricht der Hilflosigkeit gegenüber der eigenen Sinnlichkeit, die Teil ihres selbst ist und die sie zugleich – als Ergebnis einer Erziehung, der Unterdrückung, Regulierung und bürgerlich-christlichen Bewertung von Sinnlichkeit – als fremde Naturgewalt erfährt. Ihr Tod ist das Nein zur feudalen Korruption, mehr noch, Bewahren ihrer moralischen Subjektivität vor der vorgeschriebenen Objektrolle. (…) Ihr Tod ist heroische Aktion – aus Aktionsunfähigkeit.47
Mit aller Theologie, auch Teleologie, ist in der Emilia Galotti jeder Restbestand an anthropologischem Optimismus aufgelöst. Das Bild des Menschen, das zurückbleibt, zeugt von einem scharfen, harten, analytischen Realismus: Menschen erscheinen ausgestattet mit produktiven wie destruktiven Potentialen, der Fähigkeit zu Tugenden und zu Lastern, als Agierende gestellt in konkrete gesellschaftliche Lagen, von denen sie bestimmt, in denen sie zugleich aber auch handelnd tätig sind. Die Menschen erscheinen als von der Gesellschaft produziert, zugleich aber erscheinen sie als Produzenten ihre eigenen Geschicks. Mit der simplen Alternative von Optimismus und Pessimismus hat ein solches Menschenbild nichts mehr zu schaffen. Das menschliche Wesen ist hier kein über den Dingen hausendes Abstraktum, sondern ganz und gar hineingestellt in das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Stück zeigt, den Dünger der Widersprüche, die es zum Tanzen bringt. Wie Orsinas Dolch in die Hände Galottis, ist ihnen die Verfügung über ihr Schicksal zur Entscheidung übertragen. Damit aber löst Lessing ein ihn Zeit seines Lebens umtreibendes Dilemma: das Verhältnis von Determination und Freiheit als Problem ethischen Handelns.
Das Verhältnis von Determination und Freiheit, wie es sich im Text der Emilia zeigt, ist im strengen Sinn ein dialektisches. Auf der einen Seite sind die Figuren sozial und psychisch von den Verhältnissen geprägt, in denen sie leben und agieren, die ihnen auch Spielraum und Grenzen ihres Handelns vorgeben, zu denen übrigens auch ihre psychische Verfasstheit gehört. Odoardo stößt an solche Grenze: die Tötung des Prinzen, die der Orsina durchaus möglich wäre, ist ihm verwehrt; es ist dies keine Frage moralischen Mangels oder subjektiven Versagens. Und doch, dies ist das scheinbare Paradox, sind die Menschen verantwortlich für die Entscheidungen, die sie treffen und für die Handlungen, die sie begehen – der Prinz und Marinelli zuerst, doch auch Galotti und seine Tochter. Der Text macht dies in einer Reihe von Szenen unmissverständlich klar; erinnert sei allein an I, 8, wo der Prinz »recht gern« ein Todesurteil zu unterzeichnen bereit ist, seinen leichtfertigen Umgang mit den Bittschriften im einführenden Bild. Immer wieder gibt es Alternativen, spielen sich Entscheidungen im Spielraum möglicher Handlungen ab. Auf den Begriff gebracht, lässt sich bei dieser Dialektik von einer determinierten Freiheit sprechen: von der Freiheit des Subjekts in Situationen, die objektiv determiniert sind. Es gibt also die Freiheit des Willens und der Handlung, doch allein in einem Gefüge geschichtlicher Determination, im Rahmen eines gegebenen Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse, zu denen das handelnde Subjekt als psychisch geformtes selber gehört. Marx’ Wort: »So wie die Gesellschaft den Menschen produziert, ist sie von ihm produziert« – es gilt auch in der umgekehrten Form: wie der Mensch die Gesellschaft produziert, ist er von ihr produziert – enthält den Schlüssel für die weitere theoretische Arbeit an diesem Problem. Erst der Gedanke der Freiheit aber, gleich, wie die Freiheit gedacht wird, gibt den Menschen eine Würde zurück, der sie als total determinierte entbehren müssten. Er ist zudem auch die anthropologische Voraussetzung, ja, die Bedingung der Möglichkeit des tragischen Dramas.
D. Radikale Diesseitigkeit. Notiz zum philosophischen Status
Keinem System sich verschreibend, demontiert er die religiösen Gewißheiten, unruhig spekulierend, relativiert er seine Spekulation, setzt auf Vernunft, Naturdeterminismus und Zukunft (…). Als Dichter sah er menschliche Realität, die abstrakte Begriffe verdecken, als Denker gab er seinen Gestalten die wache Bewußtheit ihres Tuns. Und weil er den Grund der Epochenprobleme in den Beziehungen zwischen den Menschen zu finden suchte, stieß er auf die Spuren der Zukunft. Seinen Stoffen – und darin liegt sein Realismus – gewann er die äußerste Möglichkeit ab, die Zuschauer zur Konfrontation ihres Lebens und gelebten Systems mit dem verborgenen, gesuchten, ersehnten Humanum ihrer menschlichen Gemeinsamkeit zu zwingen. (Heise, ebd.)
Die Sätze, mit denen Wolfgang Heise seine große Studie zu Lessing schließt, können sehr wohl als Resümee eigenen Nachdenkens über Lessing genommen werden. Dabei hatte der hier vorgestellte Beitrag ein begrenztes Ziel. Nicht um den ›ganzen Lessing‹ ging es, und auch nicht um den Verfasser philosophischer und theologischer Schriften. Versucht wurde allein, die gedankliche Radikalität Lessings sichtbar zu machen, wie sie sich von seinen großen Dramen her darstellt und von dieser Seite ein Licht zu werfen auf das, was man seinen philosophischen Status nennen kann, damit auch eine Antwort zu geben auf die Frage nach seinem historischen Ort im Rahmen deutscher Geschichte.
»Radikal sein«, steht bei Marx, »ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.«48 Dieser Anthropozentrismus ist es, der Mensch als Wurzel des Menschen, der uns in den Dramen Lessings entgegentritt: der Mensch in seiner historischen Konkretion als vernunftbegabtes gesellschaftliches Naturwesen, agierender Teil eines historischen Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse, ohne weltjenseitige Abstraktion. Von dieser Sicht her erscheint die spinozistische Entscheidung Lessings, wie sie uns von Jacobi berichtet wird, nicht nur plausibel, sondern im hohen Maße konsequent. Die Neuprotestantismusthese dagegen vermag diese Seite seines Werks mit Sicherheit nicht zu erfassen. Im Gegenteil: aus der Sicht der Dramen ist Lessings Denken nicht nur der Theologie seiner Zeit, es ist auch in anderer Hinsicht seiner Zeit voraus, bewegt sich deutlich jenseits der Positionen des deutschen Idealismus – damit auch denen Kants und Schillers –, läuft in der Konsequenz auf den Materialismus von Feuerbach und Marx, nicht zuletzt auch auf Goethe zu. In der Verweltlichung des Denkens in Deutschland, von der ich eingangs sprach, hat Lessing eine solitäre Schlüsselposition. Dilthey hat ihn hier noch vor Goethe genannt. »Niemand vielleicht in Deutschland, auch Goethe nicht, hatte diesen Geierblick, Welt und Menschen zu durchschauen, der Lessing eigen war.«49 Diltheys emphatisches Urteil, nehmen wir seine dramatischen Dichtungen beim Wort, kann hier seine Bestätigung finden.
1 Zuerst erschienen in: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Neapel/S. Abbondio. 27/2007, 107–130. Wiederabdruck in Gerd Biegel u. a. (Hg.), ›Liebhaber der Theologie‹. Gotthold Ephraim Lessing – Philosoph – Historiker der Religion. Frankfurt a. M. 2012, 95–111.
2 Des Näheren Thomas Metscher, Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung. Siebenter Teil: Form des Gedankens und Form der Kunst. Wien 1992, 303–332; ders.: »Ästhetik und Mimesis«. In: Mimesis und Ausdruck. Hg. von Metscher u. a. Köln 1999, 9–110.
3 H. Heine: »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«. In: Sämtliche Schriften, 3. Bd., 3. Aufl., München 1971, 589.
4 Die Begriffe Verdiesseitigung und Diesseits werden hier in einem präzisen philosophischen Sinn gebraucht. Siehe Artikel Jenseits/Diesseits in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hg. von W. F. Haug. Bd. 6/II, Hamburg 2004, 1642–1665. In dieser Bedeutung ist das Diesseits »der positive Gegenbegriff zur Vorstellung einer Welt hinter oder über dieser Welt«. Es meint »die den Sinnen und auch der Wissenschaft zugängliche Wirklichkeit als einzig real existierende. Der Ablehnung des Jenseits liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Welt der Ordnungen und Institutionen von den Menschen selbst geschaffen ist, sowie der Glaube, dass diese grundsätzlich fähig sind, aus eigener Kraft ihr ›Heil‹ zu verwirklichen« (ebd., 1643).
5 Auch Wilhelm Dilthey spricht von »einer ganz einzigen Herrschaft des theologischen Interesses« um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, als Lessing »die literarischen Verhältnisse um sich zu beobachten begann«, bei »Abwesenheit all der anderen Motive, welche in England und Frankreich Elemente und Interessen der Aufklärung mitbestimmten« (Das Erlebnis und die Dichtung. 8. Auflage, Leipzig 1922, 23).
6 H. H. Holz: Säkulare Vernunft. Philosophie und Wissenschaft am Anfang der Neuzeit. Köln 2003, 103–128.
7 W. Heise, Die Wirklichkeit des Möglichen. Dichtung und Ästhetik in Deutschland 1750–1850. Berlin 1990, 178.
8 So W. Beutin, »Geschichtsdeutung und humanistische Utopie. Zu den Todestagen Lessings und Heines 2006«. Marxistische Blätter, 1/2006, 70–75). Neuprotestantismus ist ein auf Ernst Troeltsch zurückgehender Sammelbegriff für Strömungen innerhalb des Protestantismus, die diesen mit der Aufklärung und ›liberalem Denken‹ zu versöhnen suchten (siehe auch Artikel Protestantismus in J. Ritter/K. Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Basel 1989, 1534). Trotz radikaler Varianten, die dieses Denken in die Nähe des Pantheismus und Feuerbachs führen, bleibt es seinem Selbstverständnis nach Theologie – steht damit in Differenz zu einem Denken radikaler Diesseitigkeit.
9 Max Kommerells große Studie zu Lessing und Aristoteles (Lessing und Aristoteles. Untersuchungen zur Theorie der Tragödie. Frankfurt a. M. 1940) steht dafür als ein auch heute nicht überholtes Grundlagenwerk.
10 Konsequent deshalb die Ablehnung der »christlichen Tragödie« in der Hamburgischen Dramaturgie und der dort erteilte Rat, »man ließe alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgeführet« (Zweites Stück).
11 J. Kuczynski/W. Heise: Bild und Begriff. Berlin 1975, 21.
12 Heise: Wirklichkeit, 250.
13 So von Gerstenberg, Herder, Goethe (siehe Metscher: »Lessings Stellung in der Geschichte des Dramas und der Dramentheorie«. In: Der Friedensgedanke in der europäischen Literatur. Fischerhude 1984, 74–77.)
14 Dazu des Näheren Heise: Wirklichkeit.
15 So in den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Siebzehnter Brief, vom 16. Februar 1759.
16 Ebd.
17 Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück.
18 Zu Euripides siehe Metscher, »Anti-Mythos und apokalyptische Vision: der Trojanische Krieg bei Euripides und Shakespeare«. In: Europäische Mythen von Liebe, Leidenschaft, Untergang und Tod im (Musik-)Theater: der Trojanische Krieg. Hg. von P. Csobádi u. a. Salzburg 2002, 208–224.
19 »Der Krieg ist vorüber, die Wunden sind geheilt«, man erlebe nun »von innen« das Wesen der großen friderizianischen Armee (so Dilthey, Erlebnis (s. Anm. 4, 71). Solche Blindheit gegenüber den Tiefendimensionen des Texts ist für große Teile der traditionellen Rezeption charakteristisch.
20 Ich zitiere nach Lessings Werke in sechs Bänden. Mit einer Einleitung von R. Petsch. Dritter Band. Berlin, Leipzig o. J.
21 Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück.
22 Dieser Gesichtspunkt ist in der Sekundärliteratur weit verbreitet. So Dilthey, Erlebnis (Anm. 4), 70; H.-G. Werner, »Komödie der Rationalität«. In Weimarer Beiträge, 1979, 2). Er ist nicht falsch, doch wird er meist überbetont. ›Ehre‹ ist nur ein Moment in der mentalen Disposition Tellheims.
23 Werner, »Komödie«, siehe. Anm. 24, 43.
24 Hamartia in Aristotelischen Sinn heißt Blindheit, Nicht-Erkennen, Verkennen
25 Diese Blindheit ist der Kern dessen, was Aristoteles unter ›hamartia‹ versteht (Poetik, 13. Kapitel). Der Begriff, obwohl in der Tragödientheorie entwickelt, ist keineswegs auf diese beschränkt.
26 Heise, Wirklichkeit. Anm. 9, 295.
27 Bereits in seinem Frühwerk Die Juden behandelt Lessing einen Antisemitismus mit eindeutig eliminatorischen Zügen. Dies beweist unmissverständlich die Schärfe, mit der sich Lessing des Problems bewusst war.
28 An ihm nahmen Kaiser Friedrich I., Philipp August von Frankreich und Richard Löwenherz von England teil. Dies zeigt seine historische Dimension: er war eine Angelegenheit der europäischen Großmächte.
29 Meyers Lexikon, 10. 7. Aufl., Leipzig 1929. 867.
30 Verwiesen sei für diesen Zusammenhang auch auf den bedeutenden historischen Roman von Tariq Ali, The Book of Saladin, London 2001. 1998 in deutscher Übersetzung bei Diederichs, München erschienen.
31 Die marxistische Theorie spricht von der Religion als ideologischer Macht – damit ist ein Tatbestand gemeint, der dem, was Lessing hier im Sinn hat, sehr nahe steht.
32 Lessing diskutiert den Begriff als Effekt der Katharsis in der Hamburgischen Dramaturgie, 78. Stück.
33 Siehe dazu die vorzügliche Deutung von G. Hartung: »›Nathan der Weise‹ und die Toleranz«. In: Lessing-Konferenz Halle 1972, Teil I. Hg. von H.-G. Werner. Halle 1980, 183–188.
34 Kritik der praktischen Vernunft, § 7.
35 Brecht, Leben des Galilei, 14.
36 Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, 385.
Details
- Seiten
- 460
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (ePUB)
- 9783961703784
- ISBN (PDF)
- 9783961706785
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (September)
- Schlagworte
- kunst revolution