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Kriegstüchtigkeit & neue US-Atomraketen? NEIN DANKE!

Marxistische Blätter 4_2024

von Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)
©2024 172 Seiten
Reihe: Marxistische Blätter, Band 4_2024

Zusammenfassung

»Gerechter Frieden« = Krieg bis zum (End-)Sieg?


Artur Pech


Frau von der Leyen spricht gerne vom »gerechten Frieden« für die Ukraine. Viele von gleichem Schrot und Korn tun es ihr gleich. Dafür brauche es nur mehr Waffen für die Ukraine– also mehr Krieg, mehr Verwüstungen, mehr Tote… bis zum Sieg über Russland. So hat es das EU-Parlament beschlossen: »den Sieg der Ukraine zu sichern«. »Alle EU-Mitgliedstaaten und NATO-Verbündeten« sind aufgefordert, »jährlich mindestens 0,25 % ihres BIP für die militärische Unterstützung der Ukraine aufzuwenden«.


Für die Bundesrepublik Deutschland wären das jährlich 10Mrd. € allein für die Kriegsführung in der Ukraine. 28Milliarden Euro hat die deutsche Regierung bereits zur Verfügung gestellt, beziehungsweise für die kommenden Jahre zugesagt, was der Hauptgrund für die Auseinandersetzungen um Einsparungen im Bundeshaushalt 2025 ist. Die Erzählung vom »gerechten Frieden« soll uns allen den »Krieg bis zum Sieg« nur schmackhafter machen. Denn die Frage: »Wollt Ihr den totalen Krieg?« ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte immer noch nicht mehrheitsfähig.


Seit Jahrzehnten gilt die Auffassung, Frieden müsse mehr sein, als die Abwesenheit von Krieg. Das ist und bleibt richtig. Wer dieses »mehr« aber als Rechtfertigung dieses Stellvertreterkrieges bis zum »gerechten Frieden« missbraucht, hat vergessen: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Und zum Thema »Gerechtigkeit« nur zwei Gedanken.


Der eine: Wer immer Putin durch Krieg zum Teufel schicken und erst danach über Frieden mit Russland nachdenken will, sollte nicht vergessen: Der hat die (atomaren) Mittel, uns alle mitzunehmen. Das entschuldigt nichts, macht aber das Problem derer deutlich, die den Krieg gewinnen wollen. Da gilt dann nicht mehr nur im übertragenen Sinne: »Fiat iustitia et pereat mundus« (Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde). Wie gerecht kann eine Politik sein, die das durch Krieg und »Stellvertreterkriege« heraufbeschwört?


Der andere: »Welche ›legitimen Interessen‹ der jeweils anderen Seite sind zu respektieren von Staaten(blöcken), die in der Lage sind, sich gegenseitig zu vernichten?« Was kann im Angesicht einer möglichen Allesvernichtung in einem Atomkrieg noch als »gerechter« Kriegsgrund gelten?


Den Verfechtern des »gerechten Friedens« und den ihnen dienenden Medien ist es gelungen, diese Fragen aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen.


Kriege werden erst aufhören, »wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch die militär-technische Entwicklung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt«.


Die Allesvernichtung in einem atomaren Inferno ist das größtmögliche Opfer und eine höchst akute Gefahr. Diese Erkenntnis in das öffentliche Bewusstsein zu heben und nicht zuzulassen, dass sie durch die Kriegsformel vom »gerechten« Frieden vernebelt wird, ist eine Voraussetzung für das gemeinsame Überleben und letztlich dafür, dass die Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treiben kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einwurf von Links

»Gerechter Frieden« = Krieg bis zum (End-)Sieg?

Artur Pech

Frau von der Leyen spricht gerne vom »gerechten Frieden« für die Ukraine. Viele von gleichem Schrot und Korn tun es ihr gleich. Dafür brauche es nur mehr Waffen für die Ukraine – also mehr Krieg, mehr Verwüstungen, mehr Tote … bis zum Sieg über Russland. So hat es das EU-Parlament beschlossen: »den Sieg der Ukraine zu sichern«. »Alle EU-Mitgliedstaaten und NATO-Verbündeten« sind aufgefordert, »jährlich mindestens 0,25 % ihres BIP für die militärische Unterstützung der Ukraine aufzuwenden«.

Für die Bundesrepublik Deutschland wären das jährlich 10 Mrd. € allein für die Kriegsführung in der Ukraine. 28 Milliarden Euro hat die deutsche Regierung bereits zur Verfügung gestellt, beziehungsweise für die kommenden Jahre zugesagt, was der Hauptgrund für die Auseinandersetzungen um Einsparungen im Bundeshaushalt 2025 ist. Die Erzählung vom »gerechten Frieden« soll uns allen den »Krieg bis zum Sieg« nur schmackhafter machen. Denn die Frage: »Wollt Ihr den totalen Krieg?« ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte immer noch nicht mehrheitsfähig.

Seit Jahrzehnten gilt die Auffassung, Frieden müsse mehr sein, als die Abwesenheit von Krieg. Das ist und bleibt richtig. Wer dieses »mehr« aber als Rechtfertigung dieses Stellvertreterkrieges bis zum »gerechten Frieden« missbraucht, hat vergessen: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Und zum Thema »Gerechtigkeit« nur zwei Gedanken.

Der eine: Wer immer Putin durch Krieg zum Teufel schicken und erst danach über Frieden mit Russland nachdenken will, sollte nicht vergessen: Der hat die (atomaren) Mittel, uns alle mitzunehmen. Das entschuldigt nichts, macht aber das Problem derer deutlich, die den Krieg gewinnen wollen. Da gilt dann nicht mehr nur im übertragenen Sinne: »Fiat iustitia et pereat mundus« (Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde). Wie gerecht kann eine Politik sein, die das durch Krieg und »Stellvertreterkriege« heraufbeschwört?

Der andere: »Welche ›legitimen Interessen‹ der jeweils anderen Seite sind zu respektieren von Staaten(blöcken), die in der Lage sind, sich gegenseitig zu vernichten?« Was kann im Angesicht einer möglichen Allesvernichtung in einem Atomkrieg noch als »gerechter« Kriegsgrund gelten?

Den Verfechtern des »gerechten Friedens« und den ihnen dienenden Medien ist es gelungen, diese Fragen aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen.

Kriege werden erst aufhören, »wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch die militär-technische Entwicklung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt«.1

Die Allesvernichtung in einem atomaren Inferno ist das größtmögliche Opfer und eine höchst akute Gefahr. Diese Erkenntnis in das öffentliche Bewusstsein zu heben und nicht zuzulassen, dass sie durch die Kriegsformel vom »gerechten« Frieden vernebelt wird, ist eine Voraussetzung für das gemeinsame Überleben und letztlich dafür, dass die Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treiben kann.

1 Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Basel am 24. und 25. November 1912, Verlag Buchhandlung Vorwärts, Berlin 1912, Anhang S. 48.

Herzlichen Glückwunsch Beate!

Unsere langjährige Mitherausgeberin, Autorin und Redakteurin Beate Landefeld ist im September 80 geworden. Wir gratulieren ihr ganz herzlich auch von dieser Stelle und verweisen unsere Leser:innen auf das Buch, das wir aus diesem Anlass herausgegeben haben und den Auszug daraus. (siehe Seite 18 f.)

Dank und Anerkennung aus Jena

„Lieber Lothar, meinen herzlichen Dank für Deine Aufmerksamkeit anlässlich des 10. August 2024 und für die ebenso überraschende wie erfreuliche Würdigung in den MB, womit ich auch Raimund Ernst für seinen Beitrag danke. Der Rückblick auf unsere persönliche Beziehung sowie damit die Mitwirkung an den MB gehört zu den für mich wichtigen und erfreulichen Posten in einer nun – aus Alters- und familiären Gründen – zurückgezogenen Lebensweise. Bei dieser Gelegenheit meine Anerkennung für den andauernden wesentlichen und anspruchsvollen Beitrag, den die MB in akut krisenhaften und bedrückenden Zeiten und ihren Perspektiven leisten.

Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüßen an Dich und Deine Mitstreiter.

Ludwig (Elm)“

»Von anderen gelesen« – 1

Das »Was tun?! Netzwerk« hat in seinem August-Newsletter den »Einwurf von links« von Artur Pech zum Thema »Gerechter Frieden« aus dieser Ausgabe der Marxistischen Blätter im Vorabdruck veröffentlicht.

»Von anderen gelesen« – 2

Auch das gewerkschaftsforum.de hat wieder einen Artikel aus den Marxistischen Blättern verbreitet. In seinem Newsletter vom 16. August nämlich den Artikel von Klaus Jünschke »Für eine Gesellschaft ohne Gefängnisse«. https://gewerkschaftsforum.de/fuer-eine-gesellschaft-ohne-gefaengnisse/#more-20354

»Von anderen gelesen« – 3

Der Verein demokratischer JuristInnen (vdj) wies seine Mitglieder im Info 7/2024 auf die Marxistischen Blätter hin und verlinkte gleich zum Inhaltsverzeichnis Schwerpunkt »Abolitionismus«

Mit dem Thema »Abolitionismus«, der grundsätzlichen Kritik am strafenden Staat, befasst sich das neueste Heft der »Marxistischen Blätter«. Aus unterschiedlichen Perspektiven werden Strafsystem, Gefängnisse und Polizei in elf Schwerpunktbeiträgen unter die Lupe genommen. Der breite Themenspielraum umfasst die Utopie einer »Gesellschaft ohne Gefängnisse«, die Armutsgefahr von Gefangenen, aber auch Momente von Freiheit hinter Gittern beim Gefangenentheater aufBruch. Damit setzt das Heft den zaghaften Entkriminalisierungsvorschlägen der Bundesregierung ein grundsätzliches Nachdenken über das Strafen entgegen.

Zahl des Monats: Platz 4,5 von 5

Die Marxistischen Blätter rangieren in der organisationspolitischen Prioritätenliste der derzeitigen DKP-Führung auf Platz 4,5 von 5 (also ganz weit hinten!). So zu lesen im Referat der 6. PV-Tagung 2024. Vor dem Hintergrund der gewaltigen Herausforderungen, vor denen alle marxistischen Kräfte und auch die DKP unbestritten stehen, stellt sich die Frage, ob die Marxistischen Blätter hier richtig eingestuft sind bzw. auch die Frage, wie dieses »Down-Ranking« begründet wird. LoG

Die Rückkehr der (Atom-)Raketen

Fred Schmid (isw)

Eher beiläufig gaben Kanzler Scholz und Präsident Biden am Rande der NATO-Jubiläumskonferenz im Juli 2024 in Washington bekannt, dass ab 2026 auf deutschem Boden wieder Mittelstrecken-Raketen aufgestellt werden, und zwar Cruise missiles vom Typ »Tomahawk« mit einer Reichweite von etwa 2.500 – also bis tief nach Russland hinein. Dazu ist die Installation von SM 6-Flugabwehr-Raketen mit einer Reichweite von 370 km und 3,5-facher Schallgeschwindigkeit plus neue Hyperschall-Raketen verabschiedet.

Die Marschflugkörper können konventionelle wie atomare Sprengköpfe tragen. Angeblich werden sie nur konventionell bestückt, was ein Beschwichtigungsmanöver sein dürfte. Denn kein Militär schießt eine konventionelle Rakete 2.500 km weit, nur um ein Loch in einen Bunker zu sprengen. Zudem kann keine deutsche Behörde die Bestückung überprüfen, da die Raketen auf US-Militäreinrichtungs-Geländen in Deutschland stationiert werden, auf denen deutsches Hoheitsrecht endet.

Auf Deutschland fällt die erste Bombe

Wenn es noch eines Beweises für die enge Verzahnung des deutschen Militär-Industrie-Komplexes mit dem Militär- und Kriegsgeflecht der USA bedurfte, hier ist er: Die neuen Mittelstrecken-Raketen werden in Europa diesmal allein in Deutschland stationiert. Mit den neuen Raketen wird das Pulverfass Deutschland weiter hochexplosiv aufgeladen. Sie kommen zu den deutschen Atombombern mit US-Atombomben auf dem Fliegerhorst Büchel dazu, zur Ramstein Air Base, der größten US-Luftwaffenbasis im Ausland, zur Kommandozentrale für US-Drohnen-Killer- und Kampfeinsätze insbesondere im Nahen Osten und in Afrika, zu diversen US-Hauptquartieren, Truppenübungsplätzen, usw. usf. Kein Land der Welt ist so intensiv und massiv mit US-Soldateska und -Militäreinrichtungen bestückt, wie Deutschland.

Wann immer es in Europa zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, wäre Deutschland im Fokus. Kein Zweifel: Auf Deutschland fällt die erste Bombe! Unser Land würde zum atomaren Schlachtfeld. Die USA aber würden dagegen von Mittelstrecken-Raketen nicht erreicht.

Die ganz große Raketenkoalition aus Ampel-Regierung und CDU/CSU-Opposition sieht darin kein Problem. Sie giert geradezu nach den neuen Waffen. Das SPD-Präsidium preist sie gar als Friedenstauben speziell für Kinder (s. u.). Der SPD-Vorsitzende Klingbeil ließ noch in der Sommerpause im Eilverfahren eine Zustimmungserklärung durch das SPD-Präsidium peitschen, um die Diskussion in der Partei im Keim zu ersticken. Ihm selbst wird Affinität zum MIK nachgesagt. Jahrelang war er in den Präsidien der Rüstungs-Lobbyorganisationen Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik und Förderkreis Deutsches Heer aktiv.

In dem SPD-Präsidiumsbeschluss heißt es u. a. »Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein.«

Erstschlag-Option

Weshalb sind die geplanten Mittelstrecken so gefährlich? Sie würden für Russland eine tödliche Bedrohung darstellen: aufgrund der geringen Vorwarnzeit und der Zielgenauigkeit dieser Systeme. …

Das kann zu neuen Szenarien des »führbaren Atomkrieges« verleiten, wie sie die USA nach dem Abwurf der Atombomben immer wieder anstrebten. Durch präventive »chirurgische Erstschläge«, so genannte Enthauptungsschläge, sollen militärische Kommandozentralen vernichtet und die gegnerischen Atomraketen noch am Boden bzw. noch in den Silos zerstört werden. Die wenigen übrigen Raketen, die vom Angegriffenen noch auf die Flugbahn gebracht werden können, sollen dann durch die Raketen-Abwehrsysteme abgefangen und unschädlich gemacht werden.
Die Raketenabwehr ist kein defensives System, sondern Teil einer atomaren Offensivstrategie.

»Fähigkeitslücke« oder ­Gedächtnis-Lücke

Der Vorwand für den einseitigen Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag1: Russland habe gegen den Vertrag verstoßen, indem es neue Raketenstellungen installiert habe. Beweise? Keine!
An der Beweislage hat sich bis heute nichts geändert. Häufig werden die in Kaliningrad installierten Iskander-Raketen als »Beweise« angeführt, auch von den »Militärexperten« der Stiftung Wissenschaft und Politik (Claudia Major) und Bundeswehr-Professoren (z. B. Carlo Masala) wird das immer wieder erzählt. Es ist schon peinlich, wenn so genannte »Militärexperten« offensichtlich nicht zwischen Kurzstrecken-Raketen bis 500 KM – z. B. die in Kaliningrad installierte Iskander – und Mittelstrecken-Raketen unterscheiden können.

Zudem: Zu etwaigen Verstößen gab es im INF-Vertrag klare Verifizierungsmechanismen, die von den USA nicht genutzt wurden. So schreibt die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative: »Wenn es Verletzungen des INF-Abkommens gegeben haben sollte, hatte das INF-Vertragswerk dazu klare Regelungen. Die entsprechende Kommission der beiden Unterzeichnerstaaten muss einberufen werden. Dieses ist seit 2017 nicht mehr geschehen. Propagandistische Anklagen helfen nicht weiter und lenken von den wahren Motiven ungehemmter Aufrüstung ab.« (natwiss.de, 22.10.18). Und die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik wies bereits im März 2018 darauf hin: »Um die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, wären wechselseitige Informationen und Inspektionen notwendig. Dazu müsste das 2001 beendete INF-Inspektionsregime reaktiviert und modifiziert werden« (SWP-aktuell, 15. März 2018).

2001 ist auch das Jahr, in dem die USA einseitig den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile: Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) kündigten und in der Folgezeit mit der Errichtung von ABM-Stellungen in Europa begannen. Die USA verweigerten jede Inspektion vor Ort.

Eine russische Vertragsverletzung wird einfach behauptet und daraus eine »Fähigkeitslücke« (Scholz) der westlichen Raketenrüstung abgeleitet, die wieder einmal zur »Nachrüstung« herhalten soll. Als Juso-Fuktionär und Nachrüstungsgegner in den 1980er Jahren, wusste Scholz es besser, was von solchen behaupteten Waffen-»Lücken« zu halten ist. Schade, dass sich bei ihm da eine Gedächtnislücke auftut.

Leicht gekürzt aus: Die Rückkehr der (Atom-) Raketen (isw-muenchen.de)

1 Im INF-Abkommen (Intermediate-Range Nuclear Forces) verpflichteten sich die beiden atomaren Supermächte auf Entwicklung, Besitz und die Stationierung landgestützter Atomraketen (damals Pershing II und cruise missiles »Tomahawk«) mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern zu verzichten. Der INF-Vertrag war bislang das einzige Abkommen, das zu einer realen Atom-Abrüstung geführt hat; insgesamt 2692 Raketen wurden verschrottet. Die Atomkriegs-Gefahr in Europa schien weitgehend gebannt, bis der damalige US-Präsident Donald Trump am 20. Oktober 2018 einseitig den INF-Vertrag kündigte; zum 1. Februar 2019 stiegen die USA aus dem Vertragswerk aus. Russland zog nach.

Das politische Mandat als Antwort auf die multiple Krise

Ulrike Eifler

Die aktuellen Kriegsentwicklungen müssen in eine Welt eingeordnet werden, in der sich die verschiedenen Krisen nicht unverbunden und unabhängig voneinander entwickeln, sondern ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken. Die Gewerkschaften müssen darauf mit der Wahrnehmung des politischen Mandates reagieren und dieses vollumfänglich ausbuchstabieren – ebenso umfänglich wie sich die Krisen vor uns ausbreiten. Eine bloße Beschränkung auf die tariflichen Kernfelder – deren Bearbeitung ohne Zweifel wichtig ist – würde der Komplexität der gesellschaftlichen Krisensituation jedoch nicht gerecht werden.

Die Wahrnehmung des friedenspolitischen Mandats durch die Gewerkschaften spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. Denn der Aufrüstungskurs der Bundesregierung ist auf mindestens sechs unterschiedlichen Ebenen ein Generalangriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen und ihrer Familien.

Warum? Weil erstens die Tarifpolitik durch den Krieg in der Ukraine vor besondere Herausforderungen gestellt wird. Bereits in den ersten Monaten des Ukraine-Krieges hat sich gezeigt, dass der inflationsbedingte Kaufkraftverlust tarifpolitisch nur schwer auszugleichen war. Der Anstieg der Löhne ist 2022 nahezu unverändert geblieben, der Anstieg der Preise aber hat sich vervielfacht.

Zweitens: Geht die Aufrüstung derart unvermittelt weiter, wird die Umverteilung von unten nach oben weiter voranschreiten und die Armut sehr wahrscheinlich zunehmen. Im Zuge der Haushaltsberatungen bereitet die Bundesregierung Sozialkürzungen vor. In internen Gesprächen soll Christian Lindner bereits die notwendigen »Brutalitäten in den Sozialsystemen« eingefordert haben. Die Diskussionen über Bürgergeld, Kindergrundsicherung oder Rente waren erst der Anfang – mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir weitere Einschnitte zu erwarten haben. Dass dabei selbst vor der Nutzung des Goebbels-Zitates – »Kanonen statt Butter« – nicht zurückgeschreckt wird, ist eine neue Qualität, die von den Gewerkschaften mit Nachdruck zurückgewiesen werden muss.

Drittens: Aufrüstung und Krieg werden die ökologische Zerstörung beschleunigen … Allein der F-35-Kampfjet stößt pro Stunde mehr CO2 aus, als ein Deutscher im Jahr verursacht. Mit jedem Euro, den die Bundesregierung für die Aufrüstung der Bundeswehr genehmigt, treibt sie die negative Klimabilanz in die Höhe.

Viertens: Die IG Metall fordert in den nächsten zehn Jahren insgesamt 600 Milliarden Euro für die Gestaltung der Transformation, für Klimaschutzanpassungen und den Aufbau der Infrastruktur. Die Bundesregierung aber dreht gerade jeden Stein im Haushalt zweimal um, um weitere Millionen in die Rüstung zu stecken. Wo also soll das Geld für den ökologischen Industrieumbau herkommen? Gleiches gilt für den Erhalt der öffentlichen Infrastruktur – es ist zu befürchten, dass der Teil der Infrastruktur, der für die militaristische Zeitenwende notwendig ist, wie Straßen, Brücken und Lazarette, ausgebaut werden wird, während der Teil weiter verfallen wird, der für die Zivilgesellschaft zentral ist wie Schulen, Kindergärten und öffentliche Krankenhäuser.

Fünftens: Der Aufrüstungskurs führt zu einer Einschränkung der Demokratie. Schon jetzt wird deutlich, dass die Unterordnung aller gesellschaftlichen Sphären unter die außenpolitische Linie der Bundesregierung den öffentlichen Meinungskorridor verengt. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, wir könnten in den Betrieben die Mitbestimmung ausweiten, während die Gesellschaft immer autoritärer wird. Hinzu kommt, dass sich schon jetzt abzeichnet, dass das Bündnis von Regierung und Industrie einen Angriff auf demokratische Grundrechte nach sich ziehen könnte. Der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, forderte bereits »eine Kriegswirtschaft«, Notstands-Paragraphen und den Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren. Dass eine Unterordnung weiter Teile der Gesellschaft unter die außenpolitische Linie der Bundesregierung – und nichts anderes meint Kriegswirtschaft – auch zu einer Unterdrückung von Tarifverhandlungen und Streikrecht führen kann, machte Verkehrsminister Volker Wissing deutlich, als er erklärte, dass im Kontext des Ukraine-Krieges der Streik bei der Deutschen Bahn nicht zum Sicherheitsrisiko werden dürfe. Warnung sollte aber vor allem der Blick in die Geschichte sein: Während UNSERE Gewerkschaften unter Hitler zerschlagen wurden, entwickelten sich IHRE Rüstungsunternehmen zu nationalsozialistischen Musterbetrieben. Historisch sticht die Rüstungsindustrie durch ihre besondere Kooperationsbereitschaft mit dem deutschen Faschismus und eine eifrige Bereitwilligkeit, an Tod und Zerstörung verdienen zu wollen, hervor.

Und sechstens: Mit all dem schwächt der Aufrüstungskurs der Bundesregierung die Gewerkschaften. Die Konzertierte Aktion war der offensichtlichste Versuch, diese bei der Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen zu disziplinieren. Aber auch darüber hinaus ist klar: In einer gesellschaftlichen Atmosphäre von Sozialabbau, Inflation, wachsender Verunsicherung und Rechtsruck werden nicht die Forderungen der Gewerkschaften, sondern die der Arbeitgeber Auftrieb bekommen, was die Kampfkraft der Gewerkschaften untergraben wird.

Die Friedensfrage wird für die Gewerkschaften also immer wichtiger. Mehr als zweihundert Kriege und bewaffnete Konflikte gibt es derzeit weltweit. Besonders nah sind der furchtbare Krieg in der Ukraine und der abscheuliche Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza. Insbesondere die Diskussion über die Bombardierung Gaza wird in den deutschen Gewerkschaften ausgesprochen umstritten geführt. Dabei war richtig, dass die Gewerkschaften nach 1945 – als der Mantel des Schweigens über die Verbrechen des Faschismus ausgebreitet werden sollte – nicht geschwiegen haben. Es war richtig, dass sie die Diskussion über Kriegsverbrechen und Holocaust eingefordert haben. Und es war richtig, dass sie durch den Aufbau von Patenschaften nach Israel eine wertvolle Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit geleistet haben. Aber heute dürfen sie nicht schweigend daneben stehen, wenn eine ultrarechte Regierung eine Kollektivbestrafung an der palästinensischen Bevölkerung vornimmt – heute müssen sie an der Seite der israelischen Friedensbewegung und an der Seite ihrer palästinensischen Kolleginnen und Kollegen stehen, die ein Ende der Bombardierungen in Gaza fordern.

Aus all diesen Gründen ist es notwendig, dass die Gewerkschaften ihr gesellschaftspolitisches Mandat wahrnehmen, dass sie es nicht nur sozial- und wirtschaftspolitisch ausfüllen, sondern auch friedenspolitisch, ökologiepolitisch und demokratiepolitisch. Die multiple Krisensituation – oder wie Ingar Solty es nennt: die Sechs-Dimensionenkrise – erfordert es, dass die Gewerkschaften die gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrer Gesamtheit betrachten, dass sie die Zusammenhänge sehen und das politische Mandat als ein inhaltlich allumfassendes Mandat definieren.

Kein Interesse an Demokratie

Macron wurde abgewählt – und ignoriert das geflissentlich

Valentin Zill

Wie absurd die viel bemühte Dichotomie bürgerlicher »Demokratie« vs. »Autoritarismus« ist, zeigt sich in Frankreich gerade wie unter einem Brennglas.

Zur Erinnerung: Bei der EU-Wahl am 9. Juni 2024 hatten dort die drei faschistischen Parteien Rassemblement national (RN), Reconquête und Union Populaire Républicaine (UPR) zusammen fast 40 Prozent der Stimmen geholt. Der große Verlierer war die Liste Besoin d’Europe, auf der Renaissance antrat, die Partei von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Sie bekam weniger als 15 Prozent der Stimmen – nicht einmal halb so viele wie RN. Noch am Wahlabend kam Macron einer Forderung der Partei Marine Le Pens nach und verkündete die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen am 30. Juni und 7. Juli.

Mit diesem Schritt, ausgeheckt im kleinen Kreis, erschreckte er sogar enge Vertraute. Über die Motive wurde gerätselt. War Macron tatsächlich so vermessen, zu glauben, er könne diese Wahl trotz der krachenden Niederlage so kurz vorher gewinnen? Wünschte er sich einen RN-Sieg – weil er mit einer faschistischen Mehrheit im Parlament gut leben kann, oder in der geschichtsvergessenen Annahme, das rechte Pack werde sich selbst entzaubern, wenn es bis zur Präsidentschaftswahl 2027 die Regierung stellte? Sicher ist, dass Macron die Zersplitterung der – mehr oder weniger – linken Kräfte ausnutzen wollte mit seiner Überrumpelungstaktik. Die Parteien hatten keine Woche Zeit, ihre Kandidaten aufzustellen. »Und im Übrigen wünsche ich der Linken viel Glück dabei, sich zu vereinigen«, höhnte Macron.

In Rekordzeit beschlossen La France insoumise (Lfi), die Französische Kom­mu­nis­tische Partei (PCF), die ehemals sozialdemokratische Parti socialiste (PS), Les Écologistes und diverse Kleinparteien, gemeinsam zur Wahl der Nationalversammlung anzutreten. Die Nouveau Front populaire (NFP), »Neue Volksfront«, sollte einen RN-Sieg verhindern, indem jeweils nur ein Kandidat der teilnehmenden Parteien je Wahlkreis antrat.

Die Unzufriedenheit über Macrons Politik ist immens. 2017 und 2022 wählten ihn die Franzosen als kleineres Übel zum Staatspräsidenten, um einen Sieg Marine Le Pens zu verhindern. Beide Male bedankte er sich bei linken Wählern, beide Male versprach er, nicht zu vergessen, wem er seine Siege verdankt. Dafür zeigte er sich in homöopathischen Dosen erkenntlich: gar nicht. Macron verschärfte die Umverteilung von unten nach oben und machte sich daran, die letzten Reste des Sozialstaats zu zerstören. Die Armut wuchs massiv, die Vermögen der 500 reichsten Franzosen auch, um 115 Prozent in sieben Jahren. Seine per Dekret erlassene »Rentenreform« trieb Millionen Franzosen auf die Straße, monatelang. Weitere Schweinereien hat er bereits angekündigt: einen Großangriff auf die Arbeitslosenversicherung, eine »Arbeitsmarktreform« und drastische Haushaltskürzungen, um den EU-Grenzwert für Haushaltsdefizite bis 2027 wieder einzuhalten.

An dieser Unzufriedenheit setzte NFP mit einem Sofortprogramm für die ersten 100 Tage nach einer Regierungsübernahme an. Die Forderungen darin sind kurz, knapp und konkret: Die Abschaffung der »Rentenreform«, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 1.600 Euro pro Monat, die Einführung eines automatischen Inflationsausgleichs für Löhne und Gehälter und eine Deckelung der Preise für Nahrungsmittel, Energie und Treibstoff sind zentrale Punkte. NFP positionierte sich damit als Alternative zur Regierungspolitik und RN. Das gilt nicht für alle wichtigen Fragen. In der essenziellen Frage des Ukraine-Kriegs sind die Unterschiede zwischen allen relevanten Parteien Frankreichs gering: Macron will Soldaten und Mittelstreckenwaffen nach Kiew schicken, NFP Blauhelmsoldaten statt französischer plus »notwendige Waffen«, RN zwar keine Soldaten und keine Raketen, die Russland treffen können – sein Vorsitzender Jordan Bardella hatte aber versprochen, die »Unterstützung« der Ukraine fortzuführen.

Das Sofortprogramm überzeugte viele. Entgegen sämtlichen Umfragen vor der Wahl wurde RN nur drittstärkste Kraft, Macrons Partei verlor weniger Stimmen als prognostiziert, und NFP gewann die Wahl. 193 der 577 Sitze der Nationalversammlung gingen an NFP. 289 wären nötig für eine stabile Regierungsmehrheit.

In der Fünften Republik ist es Usus, dass die stärkste Parlamentsfraktion den Premierminister stellt. Auch dann, wenn sie über keine absolute Mehrheit verfügt. Wie 2022, als Macron seine Parteifreundin Élisabeth Borne zur Premierministerin ernannte. Eine NFP-Minderheitenregierung stünde, so wackelig sie wäre – sie könnte jederzeit per Misstrauensvotum abgesetzt werden –, Macrons »Reformvorhaben« im Weg.

Deshalb ignoriert Macron den Sieg der NFP geflissentlich. Trotz erheblicher politischer Differenzen und nach entsprechend harten Debatten hat sich das Bündnis Ende Juli darauf geeinigt, Lucie Castets für das Amt der Premierministerin vorzuschlagen. Die 37-jährige war bis 2011 Mitglied der PS, ist seitdem parteilos und berät aktuell die Pariser Bürgermeistern Anne Hidalgo in Finanzfragen. Der Präsident spielt auf Zeit. Bis nach den Olympischen Spielen soll eine »technische Regierung« an der Macht bleiben, geführt vom bisherigen Premierminister Gabriel Attal. Macron nannte nicht einmal Castets Namen, als er wenige Stunden nach dessen Bekanntgabe schwadronierte, es gehe nicht um eine Personalie, sondern darum, Ende August eine breite Mehrheit im Parlament zu finden, die handlungsfähig sei und dem Land Stabilität gebe. Das könnte klappen, sollte NFP sich spalten lassen und RN mitmachen.

Mit »Handlungsfähigkeit« meint Macron das Ignorieren des Wählerwillens, mit »Stabilität« das zuverlässige Umsetzen der Wünsche des »Arbeitgeberverbands« MEDEF. Nach sieben Jahren Macronie ist nicht mehr viel übrig von der bürgerlichen Demokratie in Frankreich. Gesetze lässt der Präsident im Zweifelsfall am Parlament vorbei dekretieren. Das Demonstrationsrecht hat er sturmreif geschossen, den Sozialstaat so weit gestutzt, dass Millionen Franzosen damit beschäftigt sind, ihr blankes Überleben zu sichern. Unangenehme Wahlergebnisse ignoriert er schlicht. Die bürgerliche Demokratie braucht keine Faschisten, um abgeschafft zu werden. Dieses Geschäft betreibt Macron selbst, noch stärker als seine Vorgänger, die Frankreich Schritt für Schritt nach rechts geführt, kaputtgespart und ausgeplündert haben. Linke Kräfte haben dem zu wenig entgegengesetzt. Immer mehr Franzosen halten faschistische Parteien für »Alternativen« zur herrschenden Politik. RN kann sich entspannt zurücklehnen und zuschauen, wie Macron ihm noch mehr Wähler zutreibt. Die Uhr tickt. Wenn Macron fertig ist, übernimmt Le Pen.

Wählen zu gehen lohnt sich nicht, hat Macron den Franzosen beigebracht. Wer die Demokratie retten möchte, muss jetzt auf die Straße – gegen die Faschisten, gegen die Macronisten, gegen die Bürgerlichen. Frankreichs herrschende Klasse hat offenkundig kein Interesse mehr daran, sie zu erhalten.

Die Europawahlen aus Sicht eines US-Linken

Greg Godels

Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament haben die etablierten europäischen Parteien und ihre internationalen Freunde und Verbündeten schockiert. Die 720 Mitglieder zählende europäische Legislative war weitgehend das Dienstmädchen der Technokraten in Brüssel, die die wirtschaftliche und soziale Richtung der Europäischen Union bestimmen. Seit ihrer Gründung hat die EU ein stabiles, verlässliches Gesicht der kapitalistischen Herrschaft gezeigt, das auf Marktfundamentalismus, der Minimierung von Markteingriffen und der Verlangsamung oder gar Umkehrung des Wachstums des öffentlichen Sektors beruht. Die breite rechte und linke Mitte – die traditionellen wirtschaftsfreundlichen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien – haben sich bei der Durchsetzung dieser Agenda geeinigt.

Angesichts der Demoralisierung oder des Niedergangs der antikapitalistischen Linken hat es kaum Widerstand gegen den Vormarsch des EU-Programms gegeben.

In die Lücke, die eine marginale oder jetzt zaghafte antikapitalistische Linke hinterlassen hat, ist eine neue Welle von Rechtspopulisten getreten, die sich darauf vorbereiten, die wachsende Massenunzufriedenheit mit dem Kapitalismus des 21. Jahrhunderts und seinen politischen Verwaltern auszunutzen. Die wirtschaftlichen Rückschläge, der stagnierende oder sinkende Lebensstandard, die unzureichende Sozial- und Beschäftigungssicherheit, die Ungleichheit, der soziale Unfrieden und die Vertreibung, die die europäischen Arbeitnehmer erleiden, schreien nach einem politischen Ausdruck. Rechte Opportunisten antworteten auf diese Rufe gerne mit hohlem Nationalismus, ungezielten Schuldzuweisungen und kulturellem Antielitismus.

In ganz Europa wetteifern neue und umgestaltete Parteien wie die Freiheitspartei Österreichs, die Nationale Sammlungsbewegung Frankreichs, die Alternative für Deutschland, die Fidesz-Partei Ungarns, die Lega Italiens und die Brüder für Italien, die Partei für die Freiheit der Niederlande, die Vox Spaniens und viele andere darum, den von der antikapitalistischen Linken geräumten oder vernachlässigten Raum der radikalen Opposition zu füllen. Während die europäischen kommunistischen Parteien immer auf eine weitaus stärkere Proteststimme außerhalb ihrer Kernmitgliedschaft zählen konnten, geht die Proteststimme jetzt standardmäßig an die populistische Rechte.

Um die rechtspopulistische Flut einzudämmen, haben verschiedene Strategen neue Bündnisse, Vereinbarungen zur Machtteilung und sogar technokratische Regierungen ausgearbeitet. Neue »linke« populistische Parteien – Syriza, PODEMOS, France Insoumise – entstanden, um die Unterstützung der gleichen Massenwut und Frustration zu erhalten, die von der populistischen Rechten ausgenutzt wird. Doch keiner dieser vermeintlichen Antworten auf den Rechtspopulismus ist es gelungen, dessen Vormarsch einzudämmen oder umzukehren. Die Wahlen zum Europäischen Parlament Mitte Juni haben in vielerlei Hinsicht einen neuen Höhepunkt für den Rechtspopulismus markiert. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland – den beiden Ankern des Eurozonenprojekts – hat die Rechte spektakuläre Zugewinne erzielt …

In Deutschland wurde die rechtsextreme, halbpopulistische Alternative für Deutschland (AfD) zur zweitstärksten Partei hinter den Christdemokraten und erhielt mehr Stimmen als jede der einzelnen Parteien der Regierungskoalition. Die kriegsbegeisterten Grünen wurden bei dieser Wahl besonders hart getroffen und verloren neun Sitze.

Obwohl die AfD weniger als die RN versucht hat, sich von faschistoiden Hinterlassenschaften zu säubern, erhält sie dennoch viel Unterstützung von Protestwählern aus der Arbeiterklasse. Die ARD-Umfrage ergab, dass »ganze 44 % die AfD aus Enttäuschung über andere Parteien gewählt haben«.

Und so ist auch ein Großteil der Wählerunterstützung für die populistische Rechte zu verstehen. Die traditionelle Rechte hat ihre Unterstützung seit langem aus dem Bürgertum, den kleinen Unternehmen und den Berufsschichten bezogen: diejenigen, die ihren Status in einer kapitalistischen Gesellschaft schützen. Die populistische Rechte, die diesen Ansatz noch einen Schritt weiter verfolgt – durch Nostalgie, unangebrachte Schuldzuweisungen, falschen Anti-Elitismus und das falsche Versprechen eines lebensverändernden Wandels – appelliert an die Massen: diejenigen, die der kapitalistischen Gesellschaft entfremdet sind. Wenn man die Menschen nicht zynisch für ihre schlechten Entscheidungen abtun oder sie hochmütig für ihr schlechtes Urteilsvermögen schelten will, muss man zu dem Schluss kommen, dass die bestehenden linken Parteien die Massen im Stich gelassen, ihre Glaubwürdigkeit verloren und die Führung bei den populären Themen aufgegeben haben, so dass der Rechtspopulismus die Lücke füllen konnte …

Sie tun es heute, weil die französische Kommunistische Partei ihre historische Rolle als Vorkämpferin der Arbeiterklasse aufgegeben hat und weder den Arbeitern zuhört noch ihre Interessen an die Spitze ihrer Agenda stellt. Die italienische Partei hat sich vor fünfunddreißig Jahren selbst aufgelöst und den Weg für jahrzehntelange politische Farce und falschen Populismus in der italienischen Politik geebnet. Und die kapitalistische Plünderung der ehemaligen sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik hat die Saat der Verzweiflung gepflanzt, aus der die AfD entstanden ist.

Aber es muss nicht so sein. Die unerzählte Geschichte der Wahlen zum Europäischen Parlament offenbart eine Welt der Möglichkeiten.

Die beeindruckenden Zugewinne der Linken in Griechenland und Deutschland wurden von den Medien geflissentlich übersehen. In beiden Fällen zogen Arbeiterparteien, prinzipientreuer Sozialismus, kämpferischer Antiimperialismus und das Versprechen auf Frieden die Wähler an. Während die schwachbrüstige, entkoffeinierte Linke mit der Angst vor der Rechten und der Verteidigung der Außenpolitik der Europäischen Union Wahlkampf machte, überraschten die griechische Kommunistische Partei und eine neue, radikale deutsche Partei die Beobachter mit deutlichen Zugewinnen.

Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) konnte ihren Stimmenanteil im Vergleich zu den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 fast verdoppeln. Auch die Ergebnisse lagen deutlich über den Parlamentsanteilen des letzten Jahres. Ihre Stärke zeigte sich vor allem in Attika und in städtischen Gebieten und Arbeitervierteln. Diese Gewinne wurden aufgrund der prinzipiellen Haltung der KKE erzielt, obwohl sie gegen den kapitalistischen und kriegerischen EU-Trend schwamm, den alle anderen Parteien teilen. Die KKE zeigt, dass es möglich ist, den Rechtspopulismus zu besiegen, indem man echte, mutige und radikale Antworten auf die Verzweiflung der arbeitenden Menschen gibt.

In Deutschland hat sich der linke Flügel der Partei Die Linke – der an der Arbeiterklasse orientierte, antiimperialistische Flügel – schließlich abgesetzt und eine neue Partei gegründet, die sich offen gegen die Agenda der Europäischen Union, ihren institutionalisierten Kapitalismus und ihre Kriegspolitik wendet. Die neue Partei, die von der unabhängigen Sahra Wagenknecht geführt wird, wurde vor fünf Monaten schnell organisiert und erhielt bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 6,2 % der Stimmen. Die stets kompromissbereite, zentristisch orientierte Partei Die Linke wurde mit 2,7 % der Stimmen abgeschmettert. Umfragen der ARD zeigen, dass die neue Partei 400.000 Stimmen von Die Linke, 500.000 Stimmen von den Sozialdemokraten und 140.000 Stimmen von der AfD erhalten hat. In einigen Teilen Ostdeutschlands erreichte die neue Partei, die sich noch einen tragfähigen Namen geben muss, sogar 15 % der Stimmen.

Vielleicht besser als jedes Ergebnis hat die neue Partei der Vorstellung, man müsse die populistische Rechte aufhalten, indem man sich zur Verteidigung eines maroden Kapitalismus in der Mitte sammelt, einen schockierenden Schlag versetzt. Wie Lenin uns daran erinnert: »Zwei Fragen haben jetzt Vorrang vor allen anderen politischen Fragen – die Frage des Brotes und die Frage des Friedens.« Wagenknechts neue Partei gab den Fragen den Vorrang, indem sie die wirtschaftliche Malaise und die Inflation in Deutschland sowie den tödlichen Krieg in der Ukraine angriff. Wir sollten die Entwicklung der neuen Partei aufmerksam verfolgen.

Die Kommunistische Partei Österreichs und die Arbeiterpartei Belgiens haben durch die Berücksichtigung der Interessen der Arbeiterklasse ebenfalls Gewinne gegen die rechtspopulistische Welle erzielt.

Es sollte klar sein, dass sich die hohle Taktik, dem Rechtspopulismus entgegenzutreten, indem man sich an die Parteien der Mitte anlehnt, als bankrott erweist. Die Vorstellung, dass die Wähler mit einer »Einheitsfront gegen die Bösen« von den populistischen Angebern weggelockt werden können, hat es nicht geschafft, die Menschen von ihrem verzweifelten Bedürfnis nach Brot und Frieden zu überzeugen.

Diese Beispiele zeigen einen prinzipienfesten, bewährten Ansatz für das Problem der populistischen Rechten, einen Ansatz, der weder auf einen Rückzug in die Mitte noch auf eine falsche, unhaltbare, unwirksame »Einheitsfront« zurückgreift. Der Durst nach Veränderung ist da.

https://mltoday.com/lessons-of-the-european-elections/

Amtsfiction bei Gericht

Arnold Schölzel

Am 18. Juli wies das Verwaltungsgericht Berlin eine Klage des Verlags 8. Mai GmbH, in dem die Tageszeitung »junge Welt« erscheint, gegen das Bundesinnenministerium ab. Der Verlag wollte erwirken, dass jW in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (VS), das dem Innenministerium untersteht, nicht mehr genannt wird. Seit 1998 taucht jW als einzige Tageszeitung darin auf. Lange Zeit fehlten dem Verlag und der jW-Genossenschaft, die Mehrheitsgesellschafter der GmbH ist, die finanziellen Mittel, um ein erwartbar langwieriges und kostspieliges Verfahren zu beginnen. Denn der Schaden ist beträchtlich und beabsichtigt: Lehrer verwenden jW-Text nicht mehr im Unterricht, Bibliotheken sortieren die Zeitung aus, Werbekunden springen ab, die Bahn untersagt jW-Werbung auf ihrem Gelände. In seinem Buch über den Verfassungsschutz (Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik, 2024) zitiert der Publizist und frühere SPD-Politiker Mathias Brodkorb den konservativen Staatsrechtler Dietrich Murswiek: »Mit einem Feind diskutiert man nicht, man bekämpft ihn. Dies ist nicht nur die faktische Wirkung der Erwähnung einer Organisation im VS-Bericht; es ist ihre beabsichtigte Funktion.« Der Politikwissenschaftler Jürgen Seifert definierte das Ziel des VS in den 70er Jahren in diesem Sinn als »hoheitliche Verrufserklärung«.

Darum geht es auch 50 Jahre später. 2021 hatte die Fraktion der Partei Die Linke, namentlich die Abgeordnete Sevim Dağdelen, eine kleine Anfrage an die Bundesregierung zur Erwähnung der Tageszeitung im VS-Bericht gerichtet. Die 18 Seiten umfassende Antwort vom 5. Mai 2021 ließ an Klarheit und Dreistigkeit nichts zu wünschen übrig. Die zentrale Auskunft lautete: Wegen ihrer »Wirkmächtigkeit« und ihrer »linksextremistischen Politikvorstellungen« solle der Zeitung der »Nährboden« entzogen werden. Im Klartext: jW vertritt missliebige politische Ansichten und gewinnt entgegen allen Trends an Auflage (im Durchschnitt täglich mehr als 21.000 verkaufte Exemplare auf Papier und im Internet). Dem soll der VS zunächst durch wirtschaftliche Schädigung Einhalt gebieten. Eine Abwägung, ob diesem staatlichen Vorgehen der Artikel 5 des Grundgesetzes entgegensteht (»Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.«), fand nicht statt. Schließlich ist es Auftrag des VS, »Bestrebungen« zu überwachen und von ihm als »Verfassungsfeind« Abgestempelte aus der öffentlichen Meinungsbildung, d. h. aus demokratischen Debatten, auszuschließen. Antidemokratismus im Sinne der Regierung eines Obrigkeitsstaates ist seine Kernaufgabe.

Bei Medien bevorzugen VS und Ministerium einen juristischen Trick: Sie tun so, als ob es sich bei ihnen nicht um Presseerzeugnisse handelt, die Schutz nach Artikel 5 Grundgesetz beanspruchen können, und definieren sie um. Das war zum Beispiel beim Vorgehen gegen das faschistische Magazin »Compact« am 16. Juli der Fall: Verboten wurden die Unternehmen, in denen die Zeitschrift erscheint, auf Grundlage des Vereinsgesetzes. Artikel 5? Wozu beachten? Grundrechte stehen im Zeichen der »Zeitenwende« beim deutschen Staat noch weniger hoch im Kurs als in weniger kriselnden Zeiten. Am 14. August hob das Bundesverwaltungsgericht das »Compact«-Verbot teilweise und bis zur Hauptverhandlung auf, es kann wieder erscheinen. Die Berufung auf das Vereinsrecht wurde dabei nicht beanstandet, das Gericht fragte allein nach der Verhältnismäßigkeit.

Eine Zeitung ist jedenfalls für Behörden der Bundesrepublik nicht unbedingt eine Zeitung, auch wenn sie täglich als journalistisches Produkt auf dem Markt auftritt. Also setzt der VS im Bericht für 2023 tatsachenwidrig die Behauptung in die Welt: »Die Tageszeitung ›junge Welt‹ (jW) strebt die Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung nach klassischem marxistisch-leninistischem Verständnis an.« So macht ein deutsches Gesinnungspolizeigehirn einer Zeitung im Handumdrehen zu einer politischen Gruppierung – im 19. Jahrhundert hieß das »Schwefelbande«. Denn, jW sei »mehr als ein Informationsmedium«. Und: »Sie wirkt als politischer Faktor und schafft Reichweite durch Aktivitäten wie zum Beispiel die Durchführung der alljährlichen Rosa-Luxemburg-Konferenz.« Was zu beweisen war.

In den Schriftsätzen des Ministeriums und seiner Anwälte war der Ton schärfer als im VS-Traktat, die Behauptungen entsprechend wilder. Die Zeitung, der Verlag und die Genossenschaft als Haupteigentümerin sind demnach nämlich »linksextremistische« Personenzusammenschlüsse mit umstürzlerischer Agenda. Das leitet der VS aus dem Marxismus ab, der jW erklärtermaßen als Kompass zum Verständnis inländischer wie weltweiter Vorgänge dient. Dabei verstößt laut Bundesregierung, meinte sie jedenfalls schon 2021, bereits die von vielen Sozialwissenschaftlern oder Gewerkschaftern geteilte Feststellung einer Klassenspaltung der Gesellschaft gegen das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes.

Im letzten Schriftsatz der Geheimdienstanwälte, der den jW-Verlag einen Tag vor dem Gerichtstermin erreichte, wurde es noch durchgeknallter: Wenn die Zeitung die BRD als kapitalistisch und imperialistisch beschreibe, sei das eine »Diffamierung«. Zudem verwende jW Vokabular wie »Arbeiterklasse«, »Klassenkampf« und »Klassenjustiz«. Was es selbstverständlich alles nicht gibt.

Gegen Amtsfiction dieser Art ist – außer mit Satire – schwer anzukommen, wie sich beim Termin im Verwaltungsgericht Berlin am 18. Juli zeigte. Der Vorsitzende der 1. Kammer und Vizepräsident des Gerichts, Wilfried Peters, erklärte nämlich, dass die Aussagen über die Zeitung in den VS-Berichten zu Recht getroffen wurden und die Zeitung »richtig eingeordnet« sei. Zur Begründung führte er unter anderem aus, dass Lenin, auf den sich die Zeitung positiv beziehe, »die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft« habe. Die Zeitung habe zudem ein positives Bild der DDR. Die »Intention« von jW sei eine andere als die anderer Zeitungen, wenn sie etwa Veranstaltungen wie die Rosa-Luxemburg-Konferenz ausrichte. Es gehe um politische Aktivität und »die politische Überwindung des Kapitalismus im Klassenkampf«. Das seien »Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung«. Außerdem biete die Zeitung eine Plattform für Personen, die politisch motivierte Gewalt befürworten. Davon distanziere sich die Zeitung nicht.

Den Streitwert des Verfahrens setzte das Gericht auf 115.000 Euro fest. Eine Berufung wurde nicht zugelassen, die Zulässigkeit einer Revision kann beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg überprüft werden. Das Gericht hatte bereits im Jahr 2022 einen Eilantrag in der Sache abgelehnt. Bis zum 19. August lag keine schriftliche Urteilsbegründung des Richters vor.

Die Doomsday-Uhr tickt

Noam Chomsky

Die gegenwärtige Politik, wohl auch die von Trump, besteht darin, China einzukreisen – mit … einem Ring aus den Gebieten Süd-Koreas, Taiwans, Japans, Australiens, Neu Seelands, von Singapur; Indien ist ein widerwilliger Teilnehmer des Projekts. Die USA liefern an diese Staaten hoch entwickelte präzisionsgeleitete Raketen, die gegen China gerichtet sind, um uns und die Staaten der Region vor der chinesischen Bedrohung zu verteidigen. In britisch-US-amerikanischer Kooperation hat Australiens eine Flotte von Patrouillen-U-Booten in die Region entsandt. China hat keine U-Boote dieses Standards, es unterhält immer noch laute Diesel-getriebene U-Boote aus den 1970er Jahren. … Derweil erneuern die USA ihre U-Boot-Waffe … Die Doomsday-Clock ist von Minuten zu Sekunden übergegangen …

Es geht um einen drohenden Atomkrieg; und ein Drittel der US-Bevölkerung ist für einen Krieg an der Seite der Ukraine, auch wenn das zu einem Atomkrieg führt … Wie kann jemand … nicht motiviert sein, zu versuchen, all die Prozesse zu stoppen, die auf ein Ende des Experiments ›Menschheit auf der Erde‹ hinauslaufen?

Hoffnung erfahre ich von jungen Menschen, die entschieden dafür eintreten, die (Klima-)Katastrophe abzuwenden; ihr ziviler Ungehorsam zeigt: Sie gehen Risiken ein, bei denen Strafverfolgung droht. Sie stehen auf gegen das Rennen in die Katastrophe für die Menschheit. Viele junge Menschen sind aktiv, sie geben nicht auf. Leider übersehen sie die Gefahr des Krieges, darunter die des nuklearen Winters, die die Nuklearwissenschaftler von den ›Atomic Scientists‹ sehen. Das blendet das Alltagsbewusstsein vieler Menschen aus. Viele Menschen verstehen nicht, was ein Nuklearkrieg ist. Das Land, das den ersten Schlag ausführt, wird ebenfalls zerstört, spätestens durch die Konsequenzen des ›Nuklearen Winters‹… Das hat das Bewusstsein nicht erreicht.

Russland hat ein veraltetes Radar-System. Das bedeutet, dass ein russischer offizieller Verantwortungsträger fast keine Zeit hat, zu reagieren, wenn das Alarm-System einen Angriff anzeigt. Nicht einmal für die Abklärung der Frage, ob es sich um einen Fehlalarm handelt oder um einen realen Angriff. Und es hat in der Vergangenheit viele Warnungen gegeben, hunderte … die Gefahren konnten durch menschliche Einflussnahme abgewendet werden, manchmal sehr nah vor dem Abgrund. Das ist viel gefährlicher geworden, nachdem Trump den Vertrag zum Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) einseitig beendet hat, nun ist Russland innerhalb von wenigen Minuten in Reichweite von Nato-Raketen.

Nun mit den weiter entwickelten Streitkräften und Waffen, die die USA in Europa stationieren und mit dem gemeinsamen Statement der USA und der Ukraine steigt die Bedrohung weiter an, auch die einer Gefahr aufgrund eines Irrtums … Dies wird von den Menschen, die im Kongress und in den Medien ihre Erklärungen abgeben, übersehen oder auch ausgeblendet … Es gibt viele junge Menschen, die entschieden sind, die Dummheit zu stoppen, ehe es zu spät ist. Wir müssen den Gefahren ein Ende bereiten, bevor sie uns ein Ende bereiten. Das ist die Hoffnung für die Zukunft.

(Aus einem längeren Interview des NewStatesman mit Noam Chomsky, das bereits im Juli 2022 geführt wurde. Wir danken Bernhard Trautvetter für die Transkription und Übersetzung.)

https://www.youtube.com/watch?v=Fb7AD49WIlY

Beate Landefeld
zum 80. Geburtstag

Lothar Geisler/Herbert Lederer

Wer sich heute auch als junger Mensch mal aus marxistischer Sicht mit der Liebe und Erich Fromms Theorie derselben auseinandersetzen möchte, wird nicht auf Anhieb an Beate Landefeld als Autorin denken. Aber im Archiv der Marxistischen Blättern1 einen fundierten, streitbaren Artikel dazu finden, der auch aktuell an Orientierungspotenzial nichts verloren hat. Gleiches gilt für andere Themen, mit denen sich Beate Landefeld in früheren Jahren als Autorin der Marxistischen Blätter ab 1979 befasst hat: Jugendbewegung und »alternative Lebensformen«, »soziale Verteidigung«, »Neofeminismus«, »Frauenbilder in Frauenzeitschriften« oder »Meinungspluralismus und Kommunistische Partei« Auch aus zeitlicher Distanz lohnt es sich noch, diese Artikel zu lesen, die wir aus Anlass des 80. Geburtstages von Beate Landefeld in einen Sammelband aufgenommen haben. Als Geschenk für sie, für uns und Nachgeborene.

Titelseite von »Über Liebe, die Partei & andere brennende Fragen«

Dieses »Best of Beate« umfasst alle ihre Artikel aus den Marxistischen Blättern, – die jüngsten am Anfang, die älteren zum Schluss. Eine Auswahl fiel schwer: Weil Beate Landefeld keine extrovertierte Vielschreiberin ist, – zumal ihre monatliche UZ-Kolumne, ihr eigener Blog und ihr Facebook-Freundeskreis seit Jahren ihre volle Aufmerksamkeit genießen. Hier wie dort zeigt sich, dass sie einen Sinn dafür hat, relevante (!) Fragestellungen konkret (!) aufzugreifen und zum richtigen Zeitpunkt (!) kompetent (!) zu bearbeiten, will heißen: vor dem Schreiben viel zu lesen und zu durchdenken. Das zeichnet die Qualität ihrer Beiträge aus, neben ihrer Fähigkeit, eine wissenschaftsbasierte Weltsicht besonders für Nicht-Akademiker:innen verständlich rüberzubringen. Hier zeigen sich Spuren ihrer Herkunft und Sozialisation – nicht zuletzt ihrer Zusammenarbeit mit Robert Steigerwald, Willi Gerns und Kurt Steinhaus im Herausgeberkreis der Marxistischen Blätter ab 1986 und in der Abteilung »Marxistische Theorie und Bildung« des Parteivorstandes der DKP bis 1989/90. Sie hatte das Zeug, deren Nachfolgerin zu werden.

Beate Landefeld, Jahrgang 1944, das älteste von vier Kindern einer hessischen Bauernfamilie entzog sich bei Kälte und Regen gerne harter Feldarbeit und »täuschte Hausaufgaben vor«, wie sie selbst schreibt. »Während die anderen schufteten, las ich alles, was ich zuhause fand, die Landwirtschaftszeitung, Kitsch- und Schundromane meiner Oma, aber auch ein Dutzend Reclam-Heftchen mit Dramen von Kleist, Goethe, Schiller und anderen Klassikern, die mein Vater als Soldat irgendwo aus einem ausgebombten Haus mitgenommen hatte.« (Mit den »Klassikern« der kommunistischen Bewegung befasste sie sich dann intensiv 1980 im Studienjahr an der internationalen Moskauer Lenin-Schule.)

Wie aus diesem wissensdurstigen und lesehungrigen Kind über die Berufsausbildung als Hotelfachfrau, das Abendgymnasium, das Studium der Literaturwissenschaft und Soziologie, die Aktivität in der Jugend- und Studentenbewegung der 1960er/1970er Jahre die Vorsitzende des MSB-Spartakus, eine überzeugte Marxistin und diskussionsfreudige Kommunistin wurde, die auch nach der Zäsur von 1989/90, sowie dem damit verbundenen Bruch in der eigenen Biografie und dem anhaltenden gesellschaftlichen Gegenwind bei der Stange bzw. der roten Fahne blieb, kann man in ihrem Selbstzeugnis am Ende des Buches nachlesen, detailliert und schnörkellos. So wie auch ihre Artikel sind.

In diesem Selbstzeugnis werden viele ihrer Generation sich und eigene Entwicklungsetappen prototypisch wiederfinden. Und die Nachgeborenen bekommen einen lebendigen Einblick in eine andere Zeit und das Leben einer kämpferischen Persönlichkeit, die sich als Intellektuelle nicht erst der arbeitenden Klasse annähern musste, weil sie aus ihr kommt und aus ihr heraus zur Intellektuellen wurde. Solche Lebensläufe waren im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat DDR der Normalfall, in der kapitalistischen BRD nur in einem kurzen Zeitfenster. Welchen Stellenwert die Teilnahme an den Kämpfen der arbeitenden Klasse für eine auf Emanzipation abzielende Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen hat, kann man in dem Beitrag »Klassenkampf und Persönlichkeitsentwicklung« nachlesen, mit dem Beate Landefeld ihre Publikationstätigkeit in den Marxistischen Blättern begann und mit dem unser Buch endet.

Selbst wer Beate Landefeld lange kennt, mit ihr zusammengearbeitet hat oder sie bei einem Vortrag erleben durfte, wird beim Lesen noch die eine oder andere überraschende Facette ihrer Persönlichkeit und ihres Wirkens als Autorin und Mitherausgeberin der Marxistischen Blätter entdecken. Aber vor allem viel von der Welt erkennen, in der wir leben und die es gemeinsam zu verändern gilt.

(Vorwort zu Beate Landefeld »Über Liebe, die Partei & andere brennende Fragen«, Essen 2024)

Meinungspluralismus und Kommunistische Partei

Beate Landefeld2

Der Begriff des Meinungspluralismus ist in. Wir haben ihn aus der sowjetischen Diskussion übernommen. Dort ist von sozialistischem Pluralismus die Rede, wenn es um die Diskussionen in der sowjetischen Gesellschaft geht, aber auch von Meinungspluralismus in der KPdSU …

Der Diskussionsstand in der KPdSU zum Thema Meinungspluralismus sollte von uns ausgewertet werden. Maßgeblich für uns selbst ist letzten Endes unsere eigene Diskussion. Auch wir reden über Meinungspluralismus, sammeln in der DKP Erfahrungen damit. Vieles ist im Fluss. Was sind unsere eigenen Probleme beim Streit um Meinungspluralismus in der DKP?

Worum streiten wir?

Da gibt es zunächst die Kritik am monolithischen Eindruck, den die DKP früher hinterlassen habe, an mangelnder Offenheit und Öffentlichkeit aller Diskussionsprozesse. Diese Kritik wird von mir überwiegend geteilt. Hätten wir schon früher offener diskutiert, Meinungsverschiedenheiten frühzeitiger ausgetragen, vorhandene Widersprüche ausdiskutiert und nicht zugedeckt, dann hätte sich wohl manche Meinungsverschiedenheit nicht zu einer regelrechten Kluft zwischen ihren Trägern weiterentwickelt, dann gäbe es insgesamt mehr Austausch von Erfahrungen und Ideen, mehr Selbständigkeit im Denken, mehr Klarheit und weniger Verunsicherung in unseren Reihen.

Wenn jedoch diese Kritik an unserem »Monolithismus« vermengt wird mit einer Kritik an der »Geschlossenheit des Marxismus«3 dann kann daraus leicht ein Plädoyer für weltanschaulichen Pluralismus werden, was meinem Marxismusverständnis widersprechen würde.

Verbreitet ist die Auffassung, der Marxismus sei lediglich eine Denk- und Erkenntnismethode. Dies ist er sicherlich auch, aber nicht nur. Lenin hat in seiner kleinen Schrift »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« auf klassische Weise beschrieben, was Marxismus ist. Er beschreibt den Marxismus als eine »Lehre«, die nicht verknöchert und abgekapselt ist, die nicht »abseits von der Entwicklung der Heerstraße der Weltzivilisation entstanden« ist.4

Der Marxismus entstand danach als Antwort auf Fragen, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit gestellt hatte. Er entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des So­zialismus, die vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus kritisch überwunden, das heißt »aufgehoben und bewahrt« wurden. Der Marxismus schuf Grundlagen für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse und dies in enger Verbindung mit den Organisationen der Arbeiterbewegung.

In den »Drei Quellen …« findet sich der folgende berühmte Satz von Lenin: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist, sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat.«5

War auch Lenin im »monolithischen« Denken befangen? Niemand wird ihm das zutrauen. Geschlossenheit des Marxismus bedeutet eben nicht »Abgeschlossenheit«, sondern theoretische Schlüssigkeit. Der Marxismus ist ein System von wissenschaftlichen Anschauungen und Theorien, das in sich schlüssig ist. Das schließt Offenheit für Veränderungen, für Entwicklungen, für Anstöße von außen nicht nur nicht aus, sondern unbedingt ein. Gerade an dieser Offenheit zeigt sich die Realitätstüchtigkeit des »Systems« Marxismus.

Ist Offenheit Beliebigkeit?

Offenheit ist jedoch etwas anderes als Verlust an Systematik, an Schlüssigkeit. Würden wir dies verwechseln, dann würden wir den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der marxistischen Theorie aufgeben. Ich halte deshalb auch nichts von Forderungen wie der nach einer »Koexistenz« unterschiedlicher Marxismus-Auffassungen im Rahmen einer modernen kommunistischen Partei.6 Ein Sammelsurium von »Marxismen« ist noch keine marxistische Theorieentwicklung. Diese entsteht erst dann, wenn Anstöße unterschiedlicher Herkunft für eine in sich schlüssige, systematische Theoriebildung verarbeitet werden. In diesem Sinne bleibt der Marxismus auch in seiner Entwicklung ein einheitliches Theoriengebäude. Er ist weder ein Steinbruch, aus dem jeder nehmen kann, was er will, noch eine einfache Addition in sich selbst abgekapselter, unterschiedlicher »Marxismus-Konzeptionen«. Systematik, Offenheit und Dynamik stehen nicht gegeneinander, sondern bedingen einander.

Es gibt heute eine Reihe von objektiven Gründen, weshalb die Bedeutung von Meinungspluralismus, von Meinungsstreit in der Sache gerade auch in kommunistischen Parteien zunimmt und Meinungsstreit auch in der DKP inzwischen zu einer von allen Seiten akzeptierten Realität geworden ist. Diese objektiven Gründe hängen wesentlich mit dem zusammen, was wir als Umbruchperiode bezeichnen.

Die Umbruchperiode fordert zu einem längeren Prozess des Suchens nach neuen Antworten auf neue Fragen heraus. Dass solche Antworten nicht subjektivistisch aus der Tasche gezogen oder messianisch verkündet werden, sondern einem kollektiven Meinungsstreit ausgesetzt werden, wird im Endergebnis positiv in die Waagschale fallen. Auch zeitweilige Irrtümer müssen in diesem Prozess des Suchens in Kauf genommen werden. Gefährlich sind nicht die (überwindbaren) Irrtümer, sondern viel eher die allzu rasch verkündeten Rezepte und »Wunderwaffen«, seien es nun »alte« oder »neue«.

Zu den objektiven Gründen für die Zunahme der Bedeutung des Meinungspluralismus gehören die Veränderungen in der sozialen Struktur der Arbeiterklasse und somit auch in kommunistischen Parteien. Diese Veränderungen haben auch in der DKP in den vergangenen Jahren eine größere Differenzierung, wenn nicht gar eine relative Heterogenität hervorgebracht. Damit sind neue und unterschiedliche Bedürfnisse in der Diskussion, neue und unterschiedliche Prioritäten in der politischen Praxis verflochten. Auch dies ein Grund, weshalb die Diskussionen objektiv komplizierter, vielfältiger und mit mehr Meinungsverschiedenheiten verlaufen.

Auch die Formen, in denen sich Genossinnen und Genossen heute in Diskussionen und Aktivitäten der Partei einbringen wollen, beruhen auf neu gewachsenen Ansprüchen auf Entfaltung von Individualität, auf Mitentscheidung, auf Beteiligung am Meinungs- und Willensbildungsprozess in der ganzen Partei. Das ist ein prinzipiell positiver Prozess, in dem sich die Fähigkeiten der Partei vielfältig erhöhen können.

Die Aufarbeitung historischer Erfahrungen der kommunistischen Bewegung beschleunigt und befördert die bewusste Abkehr von administrativen, autoritären oder auch undurchsichtigen (Mauschel-)praktiken, Strukturen und Verhaltensweisen, die es im Übrigen in allen in der Partei vorhandenen Strömungen noch gibt.

Die Enthüllungen über den Stalinismus, seine Aufarbeitung in der Sowjetunion, die Frage nach seinen Auswirkungen auf unsere Partei haben Ansprüche und Erwartungen der Mitglieder an sich selbst, an die ganze Partei deutlich erhöht.

Durch eigene Erfahrungen vieler Genossinnen und Genossen mit Mängeln in der Offenheit des Diskussionsklimas in der Praxis früherer Jahre ist ein Stau von Artikulationsbedürfnissen und Veränderungswünschen aufgelaufen.

Alle diese objektiven Faktoren, die eine Zunahme von Meinungspluralismus hervorbringen, lassen die folgende Frage berechtigt erscheinen: Lässt sich unter solchen Bedingungen ideologische Einheitlichkeit einer kommunistischen Partei realistischerweise überhaupt noch herstellen? Ist sie nicht ein unrealistisches und deshalb auch gar nicht mehr wünschenswertes Ziel?

Meinungspluralismus und/oder ideologische Einheit

Nach meiner Meinung gibt es zwei wesentliche Gründe, weshalb auch heute die Herstellung ideologischer Einheitlichkeit prinzipiell möglich ist.

  1. Trotz aller Differenziertheit in der Lage der verschiedenen Teile der Arbeiterklasse gibt es nach wie vor gemeinsame und gleichgerichtete objektive Grundinteressen der gesamten Klasse sowie der ihr benachbarten Schichten.
  2. Die vorhandenen gemeinsamen Interessen aller Angehörigen einer kommunistischen Partei sind erkennbar. Ebenso sind die in einer gegebenen Situation zu setzenden Prioritäten des Klassenkampfes erkennbar.

Das sind objektive Gründe für die Möglichkeit von Einheitlichkeit in ideologischen Fragen auch unter heutigen Bedingungen. Dass die Überwindung der Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit nicht weniger, sondern mehr Diskussion erfordert, dass sie nicht weniger, sondern mehr marxistisches Wissen, kollektiven Erfahrungsaustausch und gemeinsames Sammeln praktischer Erfahrungen zur Voraussetzung hat, dürfte klar sein.

Das Ziel, zumindest in den wichtigen ideologischen Fragen um ein Höchstmaß an Einheitlichkeit zu ringen, sollte jedoch nicht aufgegeben werden. Seine Realisierung ist nicht nur deshalb wünschenswert, weil es menschlichen Harmoniebedürfnissen entgegenkommt. Ein Kampfbund Gleichgesinnter zu sein, war und ist eine moralische Stärke jeder kommunistischen Partei, die dies von sich behaupten kann. Vor allem aber wissen wir um die negativen Folgeerscheinungen, die ein Mangel oder gar ein vollständiger Verlust ideologischer Einheitlichkeit mit sich bringt: Früher oder später hat er eine Verminderung oder den Verlust auch der Handlungseinheit zur Folge.

Meinungs- und Organisationspluralismus

In der gegenwärtigen Diskussion werden häufig Meinungspluralismus und Strömungspluralismus oder gar die Anerkennung von Fraktionen gleichgesetzt. Ich halte eine solche Gleichsetzung für falsch. Sie drängt sich auf, wenn man den Pluralismus der bürgerlichen Demokratie auf die kommunistische Partei einfach überträgt. Davor muss jedoch gewarnt werden. Der politische Pluralismus in einer antagonistischen Klassengesellschaft ist nötig und wird von uns verteidigt. Wird er in der bürgerlichen Demokratie beschränkt, so ist dies meist gleichbedeutend mit Beschränkungen für die Rechte der arbeitenden Menschen.

Die DKP ist jedoch von ihrem Selbstverständnis als Partei der Arbeiterklasse her kein Spiegelbild der bürgerlichen Gesellschaft. Sie orientiert sich an den Interessen der Arbeiterklasse, der lohnabhängigen Mittelschichten, der in neue Armut Verstoßenen. Bei aller Differenziertheit der heutigen Lohnabhängigen, die sich auch in der Zusammensetzung der DKP widerspiegelt, sollte Pluralismus auf einem solchen sozialen Hintergrund dennoch auf einem festen Sockel von Gemeinsamkeiten basieren. Darum muss immer wieder gerungen werden. Dem ist der offene Meinungsstreit in der jeweils zu klärenden Sache, bei der es in der Regel auch heute noch wechselnde, in sich fluktuierende Mehrheiten und Minderheiten gibt, sicher förderlich. Dem ist die Verfestigung von Strömungen im Sinne von einander gegenüberstehenden Personengruppen, die um Terraingewinne im innerparteilichen Machtkampf ringen, hinderlich. Sich als Strömung zu konstituieren, die dem Rest der Partei gegenübertreten und sozusagen »von einer höheren Warte aus« etwas separat Entwickeltes zu »verkünden« hat, ist für mich Ausfluss eines Messianismus, der sozialpsychologisch bedingt und auch erklärlich und verständlich sein mag. Folgen sollte man ihm dennoch nicht, da er die nötige gemeinsame Verständigung über all die Fragen verdeckt und erschwert, die heute angepackt werden müssen.

3 Dies geschieht in dem auf der 13. PV-Tagung der DKP vorgelegten sog. »Minderheitenpapier«. Siehe: DKP-Informationen Nr. 13

4 W. I. Lenin. Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus. In: LW 19, S. 3 ff.

5 Ebda, S. 3 f.

6 Eine solche Forderung finde, sich in dem Diskussionsbeitrag »Für eine moderne kommunistische Partei«, der auf der Kölner MASCH-Konferenz v. 22./23. 4. verteilt wurde.

Absturz im System

Leserzuschrift von Reinhold Weismann-Kieser zur Rezension des Buches von Kohei Saito, Systemsturz in Marxistische Blätter 2_2024, S. 149 ff.

Saito gilt als renommierter Philosoph und ist am MEGA- Projekt beteiligt. Jüngst hatte er ein populäres Buch verfasst1, in dem er bedrohliche Folgen des menschengemachten Klimawandels darstellt und die Position vertritt, wirkungsvolle Abhilfe setze den Sturz des Kapitalismus voraus! Dieses Buch hat es nicht nur auf die Liste der Bestseller des SPIEGEL geschafft, es fand auch eine wohlwollende Besprechung in den Spalten der UZ (12.06.) und auch in den Marxistischen Blättern.

Für Saito liegt die Lösung in einem Degrowth-Kommunismus (147 ff. u. a.). Die notwendige Reduktion der Produktion im Kapitalismus – ein Green New Deal etc. – sei nicht möglich.

Um jedoch zu verstehen, worin die Hindernisse dabei bestehen, sollten die Triebkräfte unserer Wirtschaftsweise auch schlüssig dargelegt werden:

Saito spricht vom Gegensatz von (Tausch-)Wert und Gebrauchswert und sieht darin den Grundwiderspruch der Ware. Marx habe darin »die Irrationalität des Kapitalismus« erblickt (183 ff.).

Im ersten Band des »Kapital« wird jedoch im gesamten ersten Abschnitt2 die Dialektik in der Entwicklung von Produktion und Austausch dargelegt.

Die Quelle des Profits liege in der Verknappung zuvor allgemein zugänglicher Güter. Er bezieht sich dabei über mehrere Seiten auf den Earl of Lauderdale (1808)3. Die Ursprüngliche Akkumulation sei also ein Willkürakt zur Verknappung, nicht aber ein historischer Prozess, der schließlich erst den »doppelt freien Lohnarbeiter«4 hervorbrachte. Der Mehrwert als eigentliche Quelle des Profits kommt folglich in diesem Buch nicht zu Tage!

Der Produktivismus: ein Gespenst!

Saito führt diesen merkwürdigen Begriff des Produktivismus ein (114 ff. u. a.). Er sei der Motor des kapitalistischen Wachstums, und der junge Marx und lebenslang Engels hätten darin die kommunistische Zukunft gesehen. Marx hätte jedoch später »seine Ideologie« (116) gewandelt. Da er jedoch die beiden folgenden Bände des Kapital nicht vollenden konnte, sei das in der Bearbeitung von Engels untergegangen. Das hätte schließlich gar »das Monster des Stalinismus hervorgebracht« (ebd).

Grundlage dieser Entwicklung sei »die Linearität« eines Geschichtsbildes gewesen – Historischer Materialismus genannt – das auch »eurozentristisch« gewesen sei. Als Beleg führt er dazu die berühmte Passage aus dem Manifest von »der Entfesselung der Produktivkräfte« an, die dasselbe auch für Venske »nahegelegt«. Bei unserem Autor ist allerdings untergegangen, was schon im ersten Band, dem Kapitel von der Agrikultur und der Großen Industrie, von Marx gefolgert wird, dass der Kapitalismus »… zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«5 Alle drei Bände des »Kapital« handeln aber von den inneren Widersprüchen, die das Kapital treiben und sich auf jeder Stufe verschärfen. Davon lesen wir bei Saito jedoch kaum etwas: Überproduktion von Kapital in der Krise? Tendenzieller Fall der Profitrate als »Stachel« des Kapitals? Diese Entwicklungen findet man bei ihm nicht! Sie mündeten aber in der Katastrophe von 1914, die Lenin – eine Unperson bei Saito – zu seiner Imperialismus-Analyse brachten. Die Oktoberrevolution fand dann in einem Land statt, das – vom Krieg geschädigt, von Bürgerkrieg und Interventionen verwüstet – sich industrialisieren musste, um elementare Bedürfnisse zu befriedigen und schließlich einen Raub- und Vernichtungskrieg zu bestehen!

Auch die katastrophalen Folgen von Rüstung und Krieg seitdem fehlen bei ihm. Dafür hält er uns aber unsere imperiale Lebensweise vor, als ob es bei uns keine Klassen gäbe.

Degrowth – Kommunismus?

Da bei Saito der Begriff Produktivkräfte mit der Ausweitung der Produktion durcheinander geht, sind ihm wohl auch die beiden kurzen aber zentralen Abschnitte in MEW 25, S. 828 und S. 883 entgangen, wo von einer Produktion ohne Kapitalismus die Rede ist: Es geht hier um das neue Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit und der Möglichkeit der rationellen Gestaltung der Produktion! Konkretere Vorschriften haben beide Marx und Engels den künftigen revolutionären Generationen aber nicht gemacht …

1 Kohei Saito, Systemsturz, München 2023. Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

2 MEW 23, S. 49–160.

3 Vgl. Fußnote MEW 23.

4 MEW 23, S. 183.

5 V MEW 23, S. 529.

Editorial

»Die Abwendung eines atomaren Infernos ist zur grundlegenden Voraussetzung für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation und damit auch für das Vorankommen des gesellschaftlichen Fortschritts geworden. Der Friedenskampf ist die wichtigste humanistische Aufgabe und zugleich die erste Pflicht eines jeden Revolutionärs1

Sätze aus einer anderen Zeit. Die Regierung der Sowjetunion warb damals für das friedliche Zusammenleben im »Gemeinsamen Haus Europa«, die der DDR für eine »Koalition der Vernunft«. Die USA schmiedeten Pläne für »Star-Wars« und »Neutronenbomben«, die Menschen »versaften«, aber Gebäude und Fabriken verschonen sollten. Auch auf deutschen Straßen kämpfte eine breiter werdende Friedensbewegung gegen die Stationierung neuer US-amerikanischer Atomraketen. Ihr Protest trug dazu bei, dass Sowjetunion und USA den INF-Vertrag unterzeichneten, ihre Atomraketenarsenale deutlich abrüsteten, die Atomkriegsgefahr in Europa für Jahrzehnte minimierten.

Sowjetunion und DDR waren gestern. Von Notwendigkeit und Möglichkeit gemeinsamer Sicherheit ist keine Rede mehr. Vertrauensbildung und Entspannungspolitik sind zu den Akten gelegt. Klimatisch sind wir in die 1950er Jahre zurückgeworfen, in denen Kalte Krieger aller Couleur im Gleichschritt tönten: »Die Russen kommen!«. Wer das bezweifelte oder nur zu hinterfragen wagte, wurde als »Agent«, »nützlicher Idiot« oder »5. Kolonne Moskaus« denunziert und verfolgt. Egal, ob Christ, Sozialdemokrat oder Kommunist (m/w/d).

Heute ist die Atomkriegsgefahr größer denn je. Vor allem für unser Land, das in allen gesellschaftlichen Bereichen »kriegstüchtig« gemacht werden soll. Schon jetzt ist die BRD ein »Pulverfass«, voller US-Atomwaffen und US-Stützpunkten. Ab 2026 sollen neue, erstschlagsfähige US-Mittelstreckenraketen stationiert werden.

Die eingangs zitierten Sätze sind also alles andere als »gestrig«. (Wie übrigens die 1986 in Hamburg beschlossenen Grundsätze kommunistischer Friedenspolitik insgesamt.) Die »Friedenstage der UZ« Ende August haben gezeigt, dass die Kommunist:innen der DKP in dieser Tradition stehen. Die Kommunistische Plattform kämpft um den Erhalt ihrer Partei Die Linke als Friedenspartei ohne Wenn und Aber. Das Bündnis Sarah Wagenknecht hatte diesbezüglich keine Hoffnung mehr. Und selbst in der SPD kämpft ein Häuflein Aufrechter (z. B. im Erhard-Eppler-Kreis und DL21) für Diplomatie, Friedens- und Entspannungspolitik. In Zeiten wie diesen sind Resignation und Kapitulation vor dem Mainstream eben keine Option.

Wer mal durch das Archiv unserer Zeitschrift scrollt2 wird sehen, dass die Marxistischen Blätter von Anbeginn darauf orientiert haben, insbesondere im Friedenskampf 1. nicht nach Verband und Partei zu fragen, 2. das Einende in den Vordergrund zu stellen statt das Trennende und 3. vor allem die Arbeiter:innen und ihre Gewerkschaften mit ins Boot zu holen, weil sie die Welt grundlegend verändern müssen, wenn sie nicht immer wieder die Zeche für Krieg und seine Folgen zahlen wollen. In diesem Sinne wünschen wir diesem Heft gegen Kriegsertüchtigung und Atomtod eine große Weiterverbreitung.

Lothar Geisler/Thomas Hagenhofer

1 Aus: These 1 des Hamburger Parteitages der DKP 1986

Kriegstüchtigkeit auf breiter Front

Zur umfassenden Militarisierung der Gesellschaft

Thomas Hagenhofer

Wenn ich nachts schlaflos neben dir liege,
fühl ich oft nach deiner kleinen Faust.
Sicher, sie planen mit dir jetzt schon Siege.
Was soll ich nur machen, daß du nicht ihren dreckigen Lügen traust.
Aus: Vier Wiegenlieder für Arbeitermütter
(Brecht/Eisler)

Spätestens mit dem Sponsoring des Rüstungskonzerns Rheinmetall für den Erstliga-Fußballclub Borussia Dortmund sollte klar sein, dass Kriegstüchtigkeit nicht nur ungezügelte Aufrüstung und Stationierung neuer gefährlicher Waffensysteme bedeutet, sondern die gesamte Gesellschaft betrifft. Nahezu alle Lebensbereiche sollen den Kampf zur Durchsetzung der »regelbasierten Ordnung« unterstützen. Diese »Ordnung« hat nichts mit dem Völkerrecht und viel mit der militärisch durchzusetzenden globalen Unipolarität im Interesse der Transnationalen Konzerne der USA und der EU zu tun. Das Schlagwort zur Militarisierung der Gesellschaft kommt fast harmlos daher, es heißt »Resilienz«. In der Soziologie bedeutet Resilienz, die Fähigkeit von Gesellschaften, externe Störungen zu verkraften, ohne dass sich ihre wesentlichen Systemfunktionen ändern.1 Der Begriff wird als Gegensatz zur Vulnerabilität (Verwundbarkeit) gebraucht und ist als scheinbar klassenneutrales Konstrukt wie geschaffen dafür, im aktuellen politischen Kontext missbraucht zu werden. Im Kern geht es darum, die Bevölkerung und die Infrastruktur hochentwickelter imperialistischer Staaten auf einen heißen Krieg so vorzubereiten, dass er führ- und gewinnbar ist. Als ob dies in einem Atomkrieg möglich wäre. Alle sollen »wehrhaft« gemacht werden. Zentral dabei ist die Erzählung von der defensiven NATO und der alleinigen Aggression Russlands. Wie vor und im Ersten Weltkrieg soll eine »Heimatfront« geschaffen werden, die sich wie ein Mann (heute ebenso eine Frau) hinter der Bundeswehr vereinigt. Alle, die dabei nicht mitmachen, werden wie in der Vergangenheit als Vaterlandsverräter, häufiger als 5. Kolonne Moskaus mit Bann belegt. So nehmen die bürgerlichen Demokratien immer stärker autoritären Charakter an – also genau die Wesenszüge, gegen die sie angeblich ankämpfen.2

Dreh- und Angelpunkt des Militarisierungsschubs in Deutschland bildet die »Nationale Sicherheitsstrategie«, welche im Juni 2023 die früheren Weißbücher abgelöst hat. Die Nationale Sicherheitsstrategie zieht Schlüsse für die Zukunft, vermeintlich um Sicherheit zu gewährleisten. Dafür begründet sie eine »Politik der Integrierten Sicherheit«. »Es geht nicht allein um Verteidigung und Bundeswehr«, erläuterte Kanzler Scholz. Es gehe vielmehr »um die ganze Palette unserer Sicherheit – über Diplomatie genauso wie Polizei, Feuerwehr und Technische Hilfswerke, über die Entwicklungs-Zusammenarbeit, über Cyber-Sicherheit und über die Resilienz von Lieferketten«.

Die Strategie, so Scholz, sei nicht »Endpunkt, sondern Ausgangspunkt« für einen kontinuierlichen Prozess, bei dem alle staatlichen Ebenen für eine dauerhafte Stärkung der Sicherheit zusammenwirken – aber auch Wirtschaft und Gesellschaft. Zusammengefasst geht es um einen totalen Rundumschlag, um die totale Kriegsvorbereitung.

Die Zielsetzung wird in der Zeitschrift für innere Führung (IF 2/24) der Bundeswehr noch klarer benannt. Dort heißt es im Editorial: »Kriegstüchtig werde ich nur innerhalb einer Gesellschaft, die mir das notwendige Rüstzeug und die Unterstützung gibt, um in der von Tod und Gewalt geprägten Auseinandersetzung zu gewinnen.«3

Militarisie­rung vor 2022

Selbstverständlich baut diese neue Qualität der Militarisierung auf einer jahrzehntelangen langsameren Veränderung der deutschen Politik nach 1945 auf. Wegmarken waren Remilitarisierung und Aufbau der Bundeswehr durch frühere Wehrmachtsoffiziere, die nach den neuesten Aktualisierungen des Traditionserlasses nun auch in den Kanon der Truppenvorbilder eingereiht werden, die Notstandsgesetze 1968, Jugendoffiziere an Schulen und der immer weiter ausgedehnte Einsatz der Bundeswehr im Inneren. So wurde in der Vergangenheit immer wieder der Einsatz der Bundeswehr gegen Streikende und die Friedensbewegung geübt.

Zudem höhlten immer neue sogenannte Sicherheitsgesetze die Grundrechte weiter aus. Die heutige Praxis an Überwachungsmaßnahmen, polizeilichen und Haftbefugnissen wäre vor 50 Jahren von weiten Kreisen als Kennzeichen für einen Polizeistaat gewertet worden. Im Kalten Krieg 1.0 wurde die Gesellschaft insbesondere durch konservative Politiker und die Springerpresse in schlechter deutscher Tradition fortwährend mit antikommunistischen und antisowjetischen Hasstiraden mobilisiert. »Der Russe kommt« – der Slogan ist keine Erfindung von Strack-Zimmermann. Manch heutige Propaganda hat ihre Traditionslinie bis zum Hitler-Faschismus.

Im Folgenden sollen die aktuellen Maßnahmen skizziert werden, die die Zivilgesellschaft der BRD kriegstüchtig machen sollen. Die Beschreibung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, zudem wird derzeit jeden Tag eine neue Idee in diese Richtung auf den Markt geschmissen.

Wehrpflicht/Dienstpflicht

Zu den wichtigsten Maßnahmen der Militarisierung der Gesellschaft zählt sicherlich die massive Anwerbekampagne der Bundeswehr und die für den Bedarfsfall angekündigte teilweise Reaktivierung der Wehrpflicht4. Dabei geht es nicht nur darum, die Nachwuchsprobleme der Bundeswehr zu lösen. Es geht auch darum, die Bundeswehr wieder zur »Schule der Nation« zu machen. Geschickt werden dabei propagandistisch die Tendenzen zur Entsolidarisierung im Kapitalismus missbraucht. Die jungen Menschen sollen wieder »dienen lernen«, solidarisch sein. So wird die allgemeine Dienstpflicht beschworen als kollektiver Weg in den Wahn einer Solidarität in Schützengräben.

Ein besonderer Skandal ist die fortwährende militärische Ausbildung minderjähriger Jugendlicher in Deutschland. Die Bundeswehr hat in den letzten fünf Jahren bundesweit fast 8.000 Minderjährige rekrutiert und an Waffen ausgebildet (mit Einverständnis der Erziehungsberechtigten). Die Bundeswehr hat 2023 1.773 minderjährige Soldatinnen und Soldaten eingestellt, darunter 327 Mädchen – ein erheblicher Anstieg um 43 Prozent gegenüber dem Vorjahr und der höchste Wert seit fünf Jahren. Die Gesamtzahl ist 2023 auf 1.996 Jugendliche angestiegen. Fast 10 Prozent aller neu eingestellten Soldaten und Soldatinnen waren 2022 minderjährig5.

Dies steht im krassen Gegensatz zu den Forderungen des UN-Kinderrechtsauschusses, der ein Rekrutierungsalter von über 18 Jahren, also Volljährigkeit, fordert, um die weltweite Rekrutierung von Kindersoldaten auszuschließen. Ralf Willinger, Sprecher des Bündnisses »Unter 18 Nie!« prangert diese Praxis an: »Über 150 Staaten weltweit halten den internationalen 18-Jahre-Standard für die Rekrutierung von Soldatinnen und Soldaten ein – es wird höchste Zeit, dass Deutschland dies auch tut.« Kindersoldat:innen werden für die angeblich gerechten Kriege der NATO offensichtlich genauso akzeptiert wie die Zusammenarbeit mit faschistisch-autoritären Regierungen.

Hochschulen und Wissenschaft

Ein weiterer Schwerpunkt der aktuellen Militarisierung in Deutschland liegt im Wissenschaftsbereich, also an den Hochschulen. Nach der Logik der neuen kalten Krieger soll die staatliche Forschung und Entwicklung noch stärker im Dienst der Rüstung stehen als in der Vergangenheit. So fordert Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger eine verstärkte Kooperation zwischen ziviler und militärischer Forschung in geeigneten Bereichen. Es sei an der Zeit, die strikte Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung in Deutschland zu hinterfragen und neu zu bewerten. »Dabei geht es darum, Synergien zu heben und unsere Innovationskraft zu stärken. Andere Wertepartner wie Israel und die USA machen es uns erfolgreich vor. Wir dürfen darauf nicht länger verzichten«, sagte Stark-Watzinger. »Ohnehin verschwimmen die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Forschung mit zunehmendem technologischem Fortschritt immer stärker.«6

Damit ist der Frontalangriff auf die in allen Dokumenten beschworene Wissenschaftsfreiheit eröffnet. Vor allem sind den Kriegsvorbereitern die Zivilklauseln an ca. 70 deutschen Hochschulen ein Dorn im Auge. Diese Selbstverpflichtungen von wissenschaftlichen Einrichtungen, ausschließlich für zivile Zwecke zu forschen, wurden teils hart erkämpft. Nun müssen sie ebenso entschlossen verteidigt werden. Wie nicht anders zu erwarten, werden von der bayerischen Staatsregierung die größten Geschütze gegen die Zivilklauseln aufgefahren. Dort wurde im Sommer ein »Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern« verabschiedet. Es verbietet Zivilklauseln und verpflichtet die Hochschulen zur Kooperation mit der Bundeswehr. Im Gesetzestext wird bestimmt: »Erzielte Forschungsergebnisse dürfen auch für militärische Zwecke der Bundesrepublik Deutschland oder der NATO-Bündnispartner genutzt werden«. Und: »Eine Beschränkung der Forschung auf zivile Nutzungen (Zivilklausel) ist unzulässig«.

Die Friedenskräfte an den Hochschulen stemmen sich mit zahlreichen Aktionen gegen diese Entwicklung. In der 2011 gegründeten Initiative »Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel« setzen sich Gewerkschaften, Studierenden- und Wissenschafts- sowie Friedensorganisationen für zivile Hochschulen als Ort für Studien, Lehre und Forschung ein, in denen sinnvolle Beiträge zur friedlichen Lösung der Probleme und Konflikte dieser Welt geleistet werden.7

In der Abschlusserklärung des bundesweiten Zivilklausel-Kongresses im März 2024 in Frankfurt am Main heißt es: »Mit der militärischen ›Zeitenwende‹ in Hochschule und Gesellschaft, der postulierten Alternativlosigkeit der Gewalt und der aggressiven Rhetorik zur Kriegsertüchtigung werden die Lehren aus der deutschen Geschichte und das Vermächtnis aus ›Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!‹ ins Gegenteil verkehrt, die Gesellschaft verroht und extrem rechten Gesellschaftsentwürfen und Menschenbildern abermals Tür und Tor geöffnet.

Wir weisen die gegenwärtigen drastischen Versuche von Rüstungskonzernen und ihren politischen Wortführern in Bund und Ländern entschieden zurück, die öffentlichen Hochschulen für militärische Zwecke zu öffnen und die Zivilklauseln zu unterminieren, um Wissenschaft in den Dienst von Sicherheits- und Geopolitik zu stellen. Wir wollen zivil für die kooperative Gestaltung einer friedlichen Welt arbeiten, lernen und forschen! So wie es die Vereinten Nationen im kollektiven Beschluss zur Verwirklichung menschenwürdiger Lebensverhältnisse weltweit in 17 Nachhaltigkeitszielen bereits gefasst haben!«8

Schulen

Aber nicht nur die Hochschulen geraten ins Visier der Bellizisten, auch an den Schulen soll Bundeswehrpräsenz mit aller Macht durchgesetzt werden. In der Vergangenheit waren die Einsätze von Jugendoffizieren von jeher zurecht ein Dorn im Auge von Friedensbewegten. Es ging darum, eine einseitige Indoktrinierung im Sinne der militärischen Konfliktlösung zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Jetzt droht der komplette Dammbruch als militaristischer Zangenangriff: Es geht nicht mehr nur um politischen Unterricht – es geht zusätzlich um die Rekrutierung von Kanonenfutter für die Kriege um die Weltordnung. Den sogenannten Karriereberatern der Bundeswehr sollen mit Gewalt die Schultüren geöffnet werden.

So steht im bereits erwähnten »Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern«: »Die Schulen arbeiten mit den Jugendoffizieren der Bundeswehr im Rahmen der politischen Bildung zusammen. Die Karriereberater der Bundeswehr und Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben dürfen im Rahmen schulischer Veranstaltungen zur beruflichen Orientierung über Berufs- und Einsatzmöglichkeiten in ihrem Bereich informieren.«9

Und die – nicht nur in Sachen Gaza-Protestcamp-Räumung mit besonderem Eifer gegen die Meinungsfreiheit ausgestattete – Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger will junge Menschen in Schulen auf Krisen und den Kriegsfall vorbereiten. Zukünftig sollen Zivilschutzübungen abgehalten werden. Die Vorsitzende der Gruppe »Die Linke« im Bundestag, Heidi Reichinnek, konterte zurecht: »Seit Jahren gibt es einen gewaltigen Investitionsstau, Bildungsdefizite und den Lehrermangel. Darum sollte sich die Bildungsministerin kümmern, statt Kriegsängste an den Schulen zu schüren.«10

Zivil- und Katastrophen­schutz sowie Gesundheitswesen

Wohin die Reise in der Daseinsvorsorge geht, hat Gesundheitsminister Lauterbach in einem Interview im März 2024 ganz deutlich gemacht: »Im Krisenfall muss jeder Arzt, jedes Krankenhaus, jedes Gesundheitsamt wissen, was zu tun ist. Wir brauchen klare Zuständigkeiten – etwa für die Verteilung einer hohen Zahl an Verletzten auf die Kliniken in Deutschland. Auch die Meldewege müssen klar sein, die Möglichkeiten von Patientenverlegungen im gesamten Bundesgebiet. (…) Nichtstun ist keine Option. Es braucht auch eine Zeitenwende für das Gesundheitswesen. Zumal Deutschland im Bündnisfall zur Drehscheibe bei der Versorgung von Verletzten und Verwundeten auch aus anderen Ländern werden könnte.«11 Sollte die NATO mit eigenen Truppen in den Ukraine-Krieg eingreifen, rechnet ein theoretisches Szenario damit, dass 1.000 Verletzte pro Tag versorgt werden müssten.12 Das komplette Gesundheitswesen soll auf die Anforderungen eines Weltkriegs – um nichts weniger wird es gehen – umgebaut werden. Die gesetzlichen Grundlagen hierfür sollen schnell geschaffen werden.

Im Zivil- und Katastrophenschutz stehen die Zeichen ebenfalls auf Militarisierung. Stichwortgeber hierfür ist das Konzept des »hybriden Krieges«. Die Gefahr durch mögliche Cyberangriffe, Desinformation, Ausspähung und Sabotageakte wird zu einem Kriegsszenario aufgebauscht. »Wir sind zwar nicht im Krieg, wir sind aber auch schon lange nicht mehr im Frieden«, ließ der Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr, Generalleutnant André Bodemann, im Oktober 2023 auf dem YouTube-Kanal der Bundeswehr verlauten.13 Aus dieser Logik heraus wurde bereits kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine der als Verschlusssache deklarierte, also geheime Operationsplan Deutschland aufgestellt. Auch hier werden alle zivilen Elemente des Bevölkerungsschutzes den militärischen Zwecken untergeordnet. So sollen NATO-Truppen, die in einen Krieg im Osten geschickt werden, auf deutschem Boden bestmöglich unterstützt und versorgt werden. Das Territoriale Führungskommando der Bundeswehr in Berlin ist für diese Aufgaben auf 800 Personen aufgestockt worden und ist für die operative Führung der Territorialen Verteidigung und des Katastrophenschutzes in Deutschland zuständig. Anfang 2024 fand unter dem Motto #Deutschland­GemeinsamVerteidigen ein Symposium beim Territorialen Führungskommando (TFK) mit mehr als 300 Teilnehmenden statt. Ministerialdirigentin des Bundesinnenministeriums Jessica Däbritz äußerte sich dort unverblümt: »Deutschland muss unverkrampfter etwa über Krieg sprechen.« Alexander Kleiß warnt in einem Beitrag für das Institut gegen Militarisierung Tübingen: »Völlig unverkrampft werden im Rahmen des Operationsplans Deutschland verfassungsrechtliche Grundsätze und Lehren aus der NS-Zeit wie die föderale Struktur der BRD oder das Trennungsgebot zwischen Militär, Polizei und Geheimdiensten kritisiert und deren Aufweichung gefordert.«14

Transport/Logistik

Der Transportsektor hat in den Planspielen der Kriegspolitiker und ihrer Militärs einen besonderen Stellenwert. Ihre Milchmädchenrechnung sieht so aus: Das Kriegsgeschehen soll – im Gegensatz zu den Planungen der 80er Jahre – weit in den Osten verlagert werden15. Osteuropa soll zum Schlachtfeld und Deutschland zur Drehscheibe von Truppentransporten und Nachschublieferungen werden und zudem zu einem riesigen Lazarett (siehe oben).

Also stehen bei den aktuellen Manövern vor allem Verlege- und Transportübungen im Zentrum.16 Und so trifft die deutsche Kriegsertüchtigung auf die realen Zustände der öffentlichen Infrastruktur – insbesondere auf das marode Straßen- und Schienennetz. Den aktuellen Sound der früheren NS-Losung »Räder müssen rollen für den Sieg« liefert der hessische Ministerpräsident Rhein: »Wenn die Nato die Ostflanke schützen muss, dürfen Truppenverlegungen und Transit nicht an mangelnder deutscher Infrastruktur scheitern.« Auch hier verschiebt sich der Fokus von ziviler zu militärischer Nutzung. In den nächsten Jahren werden daher große Summen alleine dafür gebraucht werden, Brücken dementsprechend panzertauglich zu machen. Der Streit um die Finanzierung zwischen Bund und Ländern ist vorprogrammiert. Winkt da schon wieder ein Sonderschulden-Programm zur Kriegsvorbereitung, etwa von einer künftigen neuen Großen Koalition?

Medien

Die Bedeutung der Leitmedien17 im derzeitigen militärischen Eskalationswettlauf kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Alle paar Monate wird eine Kampagne gefahren, um die nächste gefährlichere Stufe bei Waffenlieferungen zu erreichen. Gleich zu Beginn des Ukraine-Kriegs attestierte die des Pazifismus völlig unverdächtige Otto-Brenner-Stiftung in einer Studie: »Dass die militärische Unterstützung der Ukraine im Allgemeinen und die Lieferung schwerer Waffen im Besonderen in den meisten der untersuchten Medien als deutlich überwiegend sinnvoll und auch als sinnvoller als diplomatische Maßnahmen dargestellt wurden, ist angesichts der schrecklichen Bilder aus der Ukraine verständlich, überrascht in dieser Deutlichkeit aber dennoch und ist in früheren vergleichbaren Fällen vermutlich (hierzu liegen allerdings keine empirischen Daten vor) anders ausgefallen.«18

Wer glaubte, plumpe Kriegspropaganda gehöre der Vergangenheit an, wird in unseren öffentlich-rechtlichen und privaten Medien eines Besseren belehrt. Höhepunkt ist fraglos das auf Jugendliche abzielende Propaganda-Video für Taurus-Lieferungen vom ZDF-Angebot Un.logo.19 Darin unterhalten sich sprechende vermenschlichte Marschflugkörper darüber, dass es jetzt doch höchste Zeit wäre, diese so effiziente Waffe zu liefern. Und dem Kanzler sollte man »ordentlich den Marsch blasen«. Deutlicher kann die Veränderung vom Informationsjournalismus zur Meinungsmache nicht ausfallen.

Die Leitmedien – nicht nur in Deutschland – sind zur Speerspitze der Militarisierung und der Legitimation von Krieg geworden – dies gilt selbstverständlich auch für den Krieg in Gaza.

Kultur

Die fundamentale Veränderung des politischen Diskurses in Sachen Krieg/Frieden spiegelt sich auch in der Kultur bzw. der Kulturpolitik. Die Spielräume für Kritik an den herrschenden Verhältnissen im Westen sind eng geworden, auch die Kultur soll ihren Beitrag leisten zur Kriegsertüchtigung. So werden auf der einen Seite die kulturellen Beziehungen zu Russland gekappt, Städtepartnerschaften veröden nicht erst sein 2022. Zahlreiche russische Künstler:innen werden von Veranstaltungen ausgeladen, die Zusammenarbeit in der Wissenschaft liegt am Boden. Gleichzeitig wird der Kulturbetrieb zum Treiber von Kriegspropaganda, wie bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan. Der Autor bezeichnet in einem Buch die Russen laut »Zeit« als »Horde«, »Verbrecher«, »Tiere«, »Unrat«. Wenn es darum geht, den Furor gegen Russland loszulassen, brechen alle zivilisatorischen Dämme. Der Friedensaktivist und Journalist Franz Alt fragt empört: »Seit wann ist Völkerhass eine Hilfe für den Frieden?«20

Zum Vergleich: Künstler:innen, wie Candice Breitz, die sich für einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza und gegen die Politik der rechtskonservativ-faschistischen israelischen Regierung aussprechen, werden Auftritte und Ausstellungen aufgrund eines unbelegbaren Antisemitismus-Vorwurfs abgesagt.21 Viele fragen sich, wohin dies führen wird. Wird die Antifaschistin Esther Bejarano, deren Andenken auch von offizieller Seite noch hochgehalten wird, demnächst auch auf den Index gesetzt?

Die von der herrschenden Politik ausgerufene »Zeitenwende« oder besser eine umfassende Kriegsvorbereitung und Militarisierung der Gesellschaft zeigt nach zweieinhalb Jahren ähnliche Dimensionen wie die von Kohl 1983 ausgerufene »geistig-moralische Wende«. Damals – angesichts großer Protestbewegungen – anfänglich eher belächelt, hat letztere tiefe Veränderungen im Bewusstsein der Menschen hinterlassen. Mit ihr wurden die letzten unmittelbaren Nachwirkungen der Student:innen- und Arbeiterjugend-Revolten der späten Sechziger beendet und gleichzeitig der disziplinierende Neoliberalismus als prägendes Element im Bewusstsein der Bevölkerung durchgesetzt.

Heute geht es um eine noch weitergehende Veränderung. Erstmals nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus soll die breite Bevölkerung wieder unverblümt für eine aktive Unterstützung der NATO-Kriegspolitik gewonnen werden. Wieder ist dabei die Manipulation der Menschen Dreh- und Angelpunkt. Auch heute geht es wieder um die Beseitigung positiver Wirkungen einer Massenbewegung, der Friedensbewegung der 80er Jahre.

Die Forderung nach Kriegstüchtigkeit der Gesellschaft ist eine Kampfansage gegen die Zukunftsinteressen der Menschheit, gegen Sicherheit, gegen soziale Errungenschaften und demokratische Rechte.

8 Ebenda.

15 Als ob ein heißer Krieg zwischen Russland und der NATO in Zeiten von hybrider Kriegsführung und weitreichenden Waffen lokal begrenzt werden könnte.

16 So bei den Manövern Steadfast Defender 2024 und Quadriga 2024.

17 Ich verwende diesen Begriff gerne, weil er genau das beschreibt, was Medien im Kapitalismus tun. Sie sollen die Massen so leiten, dass sie die Meinung der Herrschenden teilen.

Kurs auf Kriegswirtschaft

Jürgen Wagner

Im Februar 2024 ließ es sich Bundeskanzler Olaf Scholz nicht nehmen, den ersten Spatenstich für den Bau einer neuen Rheinmetall-Munitionsfabrik in Unterlüß in den Boden zu rammen. In der parallel dazu veröffentlichten Pressemitteilung wurden nicht minder gewichtige Pflöcke eingeschlagen: »Wir leben nicht in Friedenszeiten. […] Wir müssen weg von der Manufaktur – hin zur Großserien-Fertigung von Rüstungsgütern.«1

Dabei handelt es sich um eine wenig verklausulierte Ankündigung, zumindest teilweise auf eine Kriegswirtschaft umzustellen. Kriegswirtschaften zeichnen sich durch ein verhältnismäßig hohes Maß staatlicher Eingriffe aus, indem Marktmechanismen ganz oder zumindest teilweise außer Kraft gesetzt werden. Dabei kommt dem Vorhalten großer Produktionskapazitäten und der Bevorratung hohe Priorität zu (von »just-in-time« zu »just-in-case«). Rechtliche Auflagen, die der Rüstungsproduktion im Wege stehen, werden dafür aus dem Weg geräumt, während die zivile Wirtschaft in Fällen von Engpässen hintenanstehen muss.2

Wie der folgende Überblick für Deutschland und insbesondere die Europäische Union zeigen soll, greifen aktuelle Überlegungen, Gesetzesvorlagen und teils bereits verabschiedete Gesetze diese Aspekte auf, womit man sich zumindest teilweise in Richtung einer Kriegswirtschaft begibt.

Kriegs­wirtschaft I: Deutschland

In einem als »Pistorius-Doktrin« bekanntgewordenen Tagesbefehl Ende April 2023 gab der Verteidigungsminister bereits frühzeitig die Richtung vor: »Oberste Priorität ist für uns alle künftig der Faktor Zeit. Wir setzen für die Beschleunigung da an, wo wir uns selbst Regelungen gegeben haben, die uns stärker einschränken oder bremsen, als es die Gesetzeslage vorsieht. Wo wir uns selbst unnötig Fesseln angelegt haben, werden wir diese nun abwerfen. Ziel ist in erster Linie die schnellstmögliche Realisierung des für die Truppe nutzbaren Produktes.«3

Dieser Aufruf, sich aller »unnötigen« Fesseln zu entledigen, verhallte nicht ungehört. Ein wichtiger Aufschlag war bereits Anfang 2024 der Entwurf für ein »Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern«.4 Das Mitte Juli 2024 verabschiedete Gesetz greift nicht nur empfindlich in Bereiche wie die Freiheit der Forschung ein, indem Wissenschaftler:innen dazu verdonnert werden können, mit der Bundeswehr zusammenarbeiten und ihre Forschungsergebnisse teilen zu müssen (en passant wird auch noch die Einführung von Zivilklauseln verboten). Auch die Möglichkeit von Schulen, jegliche Zusammenarbeit mit Jugendoffizieren und Karriereberatern der Bundeswehr abzulehnen, wird faktisch abgeschafft.

Aus dem Weg geräumt werden aber auch »bürokratische Hürden«, wodurch der Weg zu einem bei rüstungswirtschaftlich relevanten Projekten genehmigungsfreien Bauen geebnet wird: »Militärische Infrastruktur […] soll in Bayern zukünftig schneller hergestellt werden als anderswo. Dies erreicht man, indem man bürokratische Hürden beim militärischen Bauen reduziert. So sollen Bauvorhaben auf bestehenden militärischen Geländen komplett ohne Genehmigungen auskommen können, örtliche Bauvorschriften nicht zum Zuge kommen. Das soll nicht nur die Geschwindigkeit des Bauvorhabens erhöhen, sondern auch deren Kosten senken und zuletzt auch die bayerische Baubehörde entlasten … und es soll nach Möglichkeit mehr Geld nach Bayern fließen, denn schließlich gäbe es da einen Investitionsstau. Umweltschutz, Artenschutz, Arbeitsschutz, Lärmbelästigung, Energiegesetz – alles keine Kriterien mehr? Ein Freibrief fürs Militär die Landschaft so zu benutzen, wie es ihm gefällt.«5

Der Verdacht liegt nahe, dass dieses Gesetz auch als Vorbild für ähnliche Initiativen in anderen Bundesländern dienen könnte, zumal ihm die bayerische SPD ebenfalls zugestimmt hat. Apropos SPD: Deren Bundestagsfraktion legte Anfang Juli 2024 das Positionspapier »Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland und Europa« vor, das es ebenfalls in sich hat. Prominent wird dort beispielsweise klargestellt: »Die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie ist nicht irgendeine Industrie; es ist die Aufgabe der Bundesregierung und des Parlaments, die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz dieses heimischen Industriezweiges, im Sinne der nationalen und europäischen Sicherheit, zu garantieren. Leitend dürfen dabei nicht Marktmechanismen sein, sondern Sicherheitsinteressen, Werte und Normen.«6

Schon seit einiger Zeit ist zudem beobachtbar, dass staatliche Beteiligungen an Rüstungskonzernen wieder Konjunktur haben: »Beteiligungen an den Firmen Airbus, MBDA Deutschland und Jenoptik gibt es schon lange. 2021 kaufte sich der Bund bei Hensoldt ein und erwarb dort eine Sperrminorität. Angestrebt wird eine solche Sperrminorität auch bei dem Unternehmen ESG, außerdem bei der Marinesparte von Thyssen-Krupp, die aus dem Konzern ausgliedert werden soll.«7 Geht es nach der SPD-Fraktion, soll auch diese Entwicklung weiter beschleunigt werden: »Um Schlüsseltechnologien zu halten und deren Proliferation besser zu kontrollieren, sollten staatliche Beteiligungen des Bundes an Unternehmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Einzelfall (mit Sperrminorität) erwogen werden.« (SPD-Positionspapier: S. 6)

Darüber hinaus sollen ganz im Sinne des bayerischen Bundeswehrgesetzes baurechtliche Hürden außer Kraft gesetzt werden können: »Dies schließt beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren ein und erlaubt es einzuschreiten, falls nationale Sicherheitsinteressen durch kommunales Planungsrecht konterkariert werden.« (SPD-Positionspapier: S. 2) Eng an den eingangs genannten Kriterien für eine Kriegswirtschaft orientiert sich auch der folgende Abschnitt: »Durch Abnahmegarantien und langfristige Verträge müssen Planungssicherheit und Anreize für Unternehmen geschaffen werden, in ihre Produktionskapazitäten zu investieren. Diese sind notwendig, um ein Produktionsniveau an Munition, Verschleißteilen und Gerät aufzubauen, das dem Ziel der Bevorratung gerecht wird und für Krisenfälle entsprechende Aufwuchsreserven bereithält.« (SPD-Positionspapier: S. 2)

Als die auf Bundesebene in diesem Zusammenhang wohl wichtigste Initiative dürfte sich die Neufassung des Strategiepapiers der Bundesregierung zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland entpuppen, die aber bei Redaktionsschluss noch nicht vorlag. Ersten Berichten zufolge dürfte das vom Grünen-Wirtschaftsministerium federführend erarbeitete Dokument dem ähneln, was die SPD-Fraktion zuvor zusammengerührt hat: »Mit der geplanten Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie der Bundesregierung [wird] wohl Realität, was zuvor noch undenkbar schien: ›Schmutzige‹ Rüstungsprojekte sollen künftig als ›überragendes öffentliches Interesse‹ eingestuft werden, damit Fabriken schneller gebaut werden können. Forschungsprogramme sollen geöffnet, der Staat soll sich in strategischen Fällen direkt an Rüstungsunternehmen beteiligen können.«8

Im Wesentlichen werden hier vor allem auch Aspekte aufgegriffen, die auf EU-Ebene bereits als Gesetzesvorlage der Kommission vorliegen.

Kriegs­wirtschaft II: Europäische Union

Anfang März 2024 legte die Europäische Kommission zwei neue Papiere vor, mit denen die Union einen großen Schritt in Richtung Kriegswirtschaft unternimmt. Dabei formuliert die »European Defence Industrial Strategy« (EDIS) recht konkrete Ziele, während das »European Defence Industry Programme« (EDIP) ergänzend die entsprechenden Maßnahmen zur Umsetzung vorschlägt.9 Es geht dabei um nicht weniger als die Fähigkeit zur »Massenproduktion« von Rüstungsgütern und den forcierten Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes, um international stärker in Konkurrenz treten und die eigenen Interessen »besser« durchsetzen zu können. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die ansonsten neoliberal bis ins Mark daherkommende EU-Kommission damit Befugnisse erhalten will, um »Eingriffe in die Grundrechte der Unternehmen« (EDIP: Artikel 61) vornehmen zu können – augenscheinlich stoßen die vielbeschworenen Freiheiten des Marktes bei Aufrüstungsfragen inzwischen an ihre Grenzen.

EDIS: Fähigkeit zur Massenproduktion

Weil es der EU-Vertrag verbietet, militärische Ausgaben der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus dem EU-Haushalt zu bestreiten, tarnt die EU-Kommission entsprechende Vorhaben schon seit vielen Jahren als industriepolitische Maßnahmen. Auf dieser – rechtlich mehr als fragwürdigen – Grundlage wurde 2021 unter anderem der Europäische Verteidigungsfonds ins Leben gerufen, über den die Erforschung und Entwicklung von Rüstungsgütern zwischen 2021 und 2027 mit zunächst rund 8 Mrd. Euro aus dem EU-Haushalt unterstützt wird.10

Voriges Jahr kamen dann noch die Programme zur Ankurbelung der europäischen Munitionsproduktion (engl. ASAP) und zur Finanzierung länderübergreifender Rüstungskäufe (engl. EDIRPA) dazu. Obwohl der EU-Haushalt damit – erneut unter dem Banner der Industriepolitik – auch erstmals für die Finanzierung der Produktion und den Ankauf von Rüstungsgütern ausgehebelt wurde, haben beide Programme noch den »Schönheitsfehler«, dass sie sowohl zeitlich (bis 2025) als auch finanziell mit 500 Mio. Euro (ASAP) bzw. 300 Mio. Euro (EDIRPA) limitiert sind.

Nun soll mit der am 5. März 2024 veröffentlichten »European Defence Industrial Strategy« also der nächste große Wurf gelingen. Dabei handelt es sich um eine gemeinsame Kommunikation der EU-Kommission und des EU-Außenbeauftragten an das EU-Parlament und den Rat, die einen allgemeinen Rüstungsrahmen absteckt.

In diesem Zusammenhang wird bemängelt, dass die massiven Zuwächse der Rüstungsbudgets zwar zu begrüßen seien, die daraus resultierenden Aufträge aber vor allem ins Ausland gingen: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine stammten 78 Prozent aller neuen Rüstungsgüter aus Ländern außerhalb der EU, allein 63 Prozent der Aufträge würden die USA einstreichen (EDIS: S. 3 f.).

Als zentrale Ursache hierfür wird – im Übrigen schon seit vielen Jahren – der fragmentierte europäische Rüstungssektor gesehen, der sich auf zahlreiche Einzelstaaten und viele kleine bis mittlere Unternehmen verstreue: »Die anhaltende industrielle Fragmentierung entlang nationaler Trennlinien ist ebenfalls ein Hemmnis für die optimale Effizienz der Verteidigungsinvestitionen. Diese Tendenzen haben eine vergleichsweise deutlich geringere Größe und Präsenz des EU-Verteidigungsmarkts auf der Weltbühne sowie verstärkte Abhängigkeiten von Drittländern zur Folge, wodurch die Fähigkeit der EDTIB [rüstungsindustrielle Basis], ihr Gewicht zur Geltung zu bringen, beeinträchtigt wird. […] Da unsere Industrie in begrenzten Mengen für kleinere nationale Märkte produziert, leidet sie unter einem Wettbewerbsnachteil gegenüber Akteuren aus Drittländern.« (EDIS: S. 6 und 16)

Um hier Abhilfe zu schaffen, sollen mit EDIS künftig »die Bemühungen der Mitgliedstaaten, mehr, besser, gemeinsam und in Europa zu investieren, verstärkt und unterstützt werden« (EDIS: S. 2). Weniger gilt hier als mehr: Eine Reduzierung der zahlreichen einzelstaatlichen Aufträge auf wenige länderübergreifende Großvorhaben soll die gewünschten hohen Stückzahlen liefern, um so vor allem mit der US-Konkurrenz auf Augenhöhe um Wettbewerbsanteile ringen zu können. Gleichzeitig muss dann aber die Industrie in die Lage versetzt werden, die entsprechenden Auftragsmengen auch bedienen zu können: »Die Verteidigungsbereitschaft erfordert also mehr Zusammenarbeit und gemeinsames Handeln. In Zeiten von Kriegshandlungen mit hoher Intensität bedarf dies der Fähigkeit, Verteidigungsgüter wie Munition, Drohnen, Luftabwehrraketen und -systeme, Tiefschlag- sowie Nachrichtengewinnungs-, Überwachungs- und Aufklärungsfähigkeiten in großem Umfang herzustellen und ihre rasche und ausreichende Verfügbarkeit zu gewährleisten. Um diese Massenproduktion zu ermöglichen, muss die Organisation der Verteidigungsindustrie weiterentwickelt werden. […] Eine Industrie, die in neue Kapazitäten investiert und bereit ist, bei Bedarf zu einem für Kriegszeiten geeigneten Wirtschaftsmodell überzugehen, ist von entscheidender Bedeutung.« (EDIS: S. 4 und 8)

Allerdings sei man von dem bereits 2007 ausgegebenen Ziel, mindestens 35 Prozent der Rüstungsgüter durch länderübergreifende Programme zu beschaffen, mit derzeit 18 Prozent meilenweit entfernt. Vor allem aber müsse der Anteil innereuropäisch vergebener Rüstungsaufträge von derzeit 22 Prozent massiv ansteigen: »Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, stetige Fortschritte bei der Beschaffung zu erzielen, um bis 2030 mindestens 50 % und bis 2035 60 % ihrer Verteidigungsinvestitionen in der EU zu tätigen.« (EDIS: S. 18)

Beschaffung: Rüstung ohne Mehrwertsteuer

Wie ebenfalls bereits angedeutet, dockt das am selben Tag erschienene Industrieprogramm EDIP an diesen allgemeinen EDIS-Rahmen an und legt konkrete Vorschläge vor. In Form einer Verordnung würden diese nach der noch ausstehenden Zustimmung des Parlaments und des Rats mit sofortiger Wirkung geltendes Recht in allen EU-Mitgliedsstaaten werden.

Was die angestrebten europäischen Großprogramme anbelangt, stellt sich augenscheinlich aber das Problem, dass viele Köche den Rüstungsbrei verderben. Das zeigt allein schon ein Blick in die Rüstungsberichte des Verteidigungsministeriums, in denen über Verspätungen und Kostensteigerungen informiert wird. In ihnen nehmen europäische Kooperationsprogramm regelmäßig Spitzenplätze ein; so weist das Transportflugzeug Airbus A400 eine Verspätung von 195 Monaten und Kostensteigerungen von 1,6 Mrd. Euro aus – nicht viel besser sieht es beim Eurofighter (mit AESA) aus, der zwar »nur« 63 Monate zu spät, dafür aber 9 Mrd. Euro teurer als geplant ist.11

Diese Liste ließe sich noch fortsetzen, worin auch das Industrieprogramm ein wesentliches Hindernis für die Anbahnung europäischer Großprogramme sieht. »Kooperationsprogramme im Rüstungsbereich« seien mit »Komplexität, Verzögerungen und Kostenüberschreitungen behaftet«, weshalb es eines neuen Ansatzes bedürfe, »einen neuen Rechtsrahmen – die Struktur für das Europäische Rüstungsprogramm (SEAP) […], um die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich zu unterstützen und zu stärken.« (EDIP: Artikel 31)

Diese Struktur für das Europäische Rüstungsprogramm (engl. SEAP) soll künftig länderübergreifende Beschaffungsprojekte harmonisieren und vereinfachen, vor allem aber sollen darüber finanzielle Anreize gesetzt werden, sich überhaupt mit mindestens drei anderen EU-Mitgliedern (oder der Ukraine oder assoziierten Staaten) beim Einkauf zusammenzutun: »Im Rahmen dieser Struktur für das europäische Rüstungsprogramm sollte es für die Mitgliedstaaten standardisierte Verfahren für die Einleitung und Verwaltung von Kooperationsprogrammen im Verteidigungsbereich geben. Bei einer Zusammenarbeit innerhalb dieses Rahmens sollten für die Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen auch ein erhöhter Finanzierungssatz, vereinfachte und harmonisierte Beschaffungsverfahren und – wenn die Mitgliedstaaten gemeinsam Eigentümer der beschafften Ausrüstung sind – eine Mehrwertsteuerbefreiung vorgesehen werden.« (EDIP: Artikel 32)

Während sich direkte Bezuschussungen aufgrund des – zunächst einmal – noch relativ kleinen EDIP-Budgets von 1,5 Mrd. Euro noch in finanziell halbwegs überschaubaren Dimensionen abspielen dürften, ist die Option zur Befreiung von der Mehrwertsteuer potentiell von großer Tragweite, besonders da sie wohl den gesamten Lebenszyklus eines Rüstungsgutes umfassen soll (viele diesbezügliche Details sind bislang noch unklar).

Vor diesem Hintergrund könnte sich die Mehrwertsteuerbefreiung als überaus attraktiver Hebel für die Anbahnung europäischer Beschaffungsprogramme erweisen, was wiederum Konzentrationsprozesse und die Herausbildung eines europäischen Rüstungskomplexes forcieren soll.

Produktion: Eingriffe in die »Grundrechte« der Unternehmen

Was die Herstellung von Rüstungsgütern anbelangt, sollen unter anderem finanzielle Anreize zur Ausweitung und zum Vorhalten großer Produktionskapazitäten gegeben werden – und im Gegensatz zu ASAP soll sich dies dann nicht mehr allein auf die Munitionsherstellung beschränken: »Aus dem Programm sollte [eine] finanzielle Unterstützung für Maßnahmen bereitgestellt werden, die zur zeitnahen Verfügbarkeit und Lieferung von Verteidigungsgütern beitragen, […] einschließlich Reservierung und Lagerung von Verteidigungsgütern, Zugang zu Finanzmitteln für an der Herstellung maßgeblicher Verteidigungsgüter beteiligte Unternehmen, das Vorhalten von Fertigungskapazitäten (ständig einsetzbare Einrichtungen), industrielle Verfahren zur Aufbereitung veralteter Produkte, die Ausweitung, Optimierung, Modernisierung, Verbesserung oder Umwidmung vorhandener oder die Schaffung neuer Produktionskapazitäten in diesem Bereich sowie die Schulung von Personal.« (EDIP, Artikel 19)

Allerdings gehen die Pläne der Kommission noch weit hierüber hinaus. Ganz entgegengesetzt zu ihren üblichen Gepflogenheiten scheint sie bereit zu sein, im Rüstungssektor die Freiheit des Marktes und die der auf ihm operierenden Unternehmen empfindlich einzuschränken: »Die Vermeidung von Engpässen bei maßgeblichen Verteidigungsgütern ist von wesentlicher Bedeutung, um das im Allgemeininteresse liegende Ziel der Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten zu wahren, und rechtfertigt erforderlichenfalls verhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte der Unternehmen, die krisenrelevante Güter bereitstellen, wie die unternehmerische Freiheit gemäß Artikel 16 der Charta und das Eigentumsrecht gemäß Artikel 17 der Charta nach Maßgabe des Artikels 52 der Charta.« (EDIP: Artikel 61)

Die Kommission will künftig alle Daten erheben, um mögliche Engpässe frühzeitig erkennen und möglichst beheben zu können. Sollte dies misslingen, will die Kommission – bei Ausrufung einer Versorgungskrise – den Unternehmen faktisch vorschreiben können, was sie wie für wen zu produzieren haben.

Was das in letzter Konsequenz bedeuten könnte, bringt Spiegel Online folgendermaßen auf den Punkt: »Mit anderen Worten: Notfalls sollen EU-Firmen gezwungen werden können, ihre Produktion umzustellen. Selbst die Beschlagnahme von Rüstungsgütern erscheint unter diesen Umständen nicht ausgeschlossen.«12

2028 ff.: »­Ehrgeizige Finanzausstattung«?

Zweifellos sind die neuen Kommissionspläne überaus ambitioniert – besonders die zunächst einmal überschaubaren Finanzmittel dürften dem Ganzen einstweilig noch gewisse Grenzen setzen. Doch auch dies soll sich bald ändern: »Im Hinblick auf das Ausmaß der Anstrengungen, die erforderlich sind, um die industrielle Bereitschaft im Verteidigungsbereich in der gesamten Union sicherzustellen, sind diese Mittel als eine – vom Umfang her begrenzte – Brücke zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen [MFR] zu betrachten. In Anbetracht dessen, dass die sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen Europa konfrontiert ist, wahrscheinlich bestehen bleiben werden, ist es umso wichtiger, dass der nächste MFR für den Zeitraum ab 2028 eine ambitionierte Finanzausstattung für die Verteidigung mit entsprechenden Haushaltsmitteln für die Nachfolgeinstrumente des Europäischen Verteidigungsfonds und des EDIP umfasst.« (EDIS: S. 29.)

Schon länger geistert die Idee eines umfangreichen EU-Rüstungsbudgets durch die Gegend, mit dem die nationalen Haushalte ergänzt werden sollen.13 Prominent wurde dies bereits im Januar 2024 von Industriekommissar Thierry Breton im Zusammenhang mit der geplanten Vorstellung von EDIS und EDIP aufgegriffen: »Um sicherzustellen, dass die gesamte Industrie mehr und mehr zusammenarbeitet, brauchen wir Anreize […]. Ich glaube, dass wir einen riesigen Verteidigungsfonds brauchen, um zu helfen, ja sogar zu beschleunigen. Wahrscheinlich in der Größenordnung von 100 Milliarden Euro.«14 Im allgemein aktuell üblichen Überbietungswettbewerb setzte die EU-Kommissionspräsidentin Ende Juni 2024 noch einen drauf: »Von der Leyen bestätigte […] frühere Berichte von Euractiv, wonach die Europäische Kommission davon ausgeht, dass die europäische Verteidigungsindustrie und die nationalen Streitkräfte in den nächsten zehn Jahren Investitionen in Höhe von rund 500 Milliarden Euro benötigt. […] Die Hauptfrage ist, wie die 500 Milliarden Euro finanziert werden sollen, hieß es aus dem Umfeld der Gespräche.«15

Fazit

Auch wenn aktuell noch einige Fragezeichen hinter den diversen Initiativen auf deutscher wie auch europäischer Ebene stehen, die grobe Weichenstellung ist aber eindeutig: In eine Kriegswirtschaft!

1 Waffen »in Großserie statt in Manufaktur«, tagesschau.de, 12.02.2024.

2 Kirsch, Martin: Weg in die Kriegswirtschaft? Deutsche Debatten über die Rolle der (Rüstungs-)Industrie, in: AUSDRUCK (März 2024), S. 16–18.

3 Tagesbefehl: Beschleunigung des Beschaffungswesens Veröffentlichungsdatum, bmvg.de, 26.04.2023.

4 Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern, Bayerischer Landtag, Drucksache 19/1556.

5 Seifert, Andreas: Patriotismus und Ökonomie. Bayern macht die Militarisierung zum Gesetz, in: AUSDRUCK (März 2024), S. 27–29.

6 Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland und Europa, Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion, 02.07.2024.

7 Kirsch 2024.

8 Olk, Julian: So wird Deutschland nie verteidigungsfähig, Handelsblatt, 12.02.8024.

Details

Seiten
172
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (ePUB)
9783961703746
ISBN (PDF)
9783961706747
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (September)
Schlagworte
Marxistische Blätter

Autor

  • Lothar Geisler (Leitende:r Herausgeber:in)

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Titel: Kriegstüchtigkeit & neue US-Atomraketen? NEIN DANKE!