Gegenmacht im Gegenwind – Kämpfen – aber wie?
Marxistische Blätter 2_2025
Zusammenfassung
<p><strong>Ungebremster Kriegskurs</strong></p>
<p><strong>Lothar Geisler</strong></p>
<p>Wer war da nochmal angetreten, den AfD-Einfluss zu halbieren? Ach ja: Friedrich Merz, CDU-Kanzler in spe. Bei der Bundestagswahl 2025 verdoppelte die– für Faschisten offene– »Alternative für Deutschland« ihr Ergebnis, wurde zweitstärkste Partei und zieht mit 152 Leuten in den Bundestag und seine Ausschüsse. Rechnerisch haben Union und AfD eine satte Mehrheit. Beide werden das zu nutzen wissen. Frau Weidel feixte frech, sie werde die Regierung jagen und spätestens nach der nächsten Wahl den Kanzler stellen (w/m/d). Und gerade so, als wolle er diese feuchten Machtergreifungsträume der Rechtsaußen beflügeln, blies Merz mit seiner »Kleinen Anfrage« (mit 551 Fragen!) am Tag nach der Wahl zur Hetzjagd gegen alle, die auf der Straße Druck von unten gemacht hatten, dass die Brandmauer gegen die AfD hält. Was schon einmal gegen attac und VVN-BdA erprobt wurde, droht nun in der Breite: Entzug der Gemeinnützigkeit und Streichung staatlicher Fördermittel. Schließlich sollen weitere gigantische 900Milliarden ungebremst für Rüstung verballert werden. Und die marode Infrastruktur. Sollen Panzer ostwärts rollen, braucht’s »kriegstaugliche« Brücken, Schienennetze etc. Der Kollateralnutzen: Kriegskonjunktur hält Sozialdemokraten auf Spur.</p>
<p>CDU/CSU sind mit dem zweitschlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte stärkste Fraktion geworden. Autoritär-nationalistischer Druck kommt aber nicht nur von der AfD, die man durchaus berechtigt als »Fleisch vom Fleische der CDU« betrachten kann. Merz möchte »wieder stolz sein auf Deutschland«. Der Unterschied zur Neonazi-Parole vom »Stolz, Deutscher zu sein.« ist graduell. Der Rechtsaußen aus Bayern, kann gestärkt vor Kraft kaum laufen: in allen 47 Wahlkreisen die Direktkandidaten geholt, bei den Zweitstimmern 37,2Prozent und ebenfalls die AfD-Stimmen verdoppelt. Söder ist egal, wer unter ihm Kanzler ist. »Klima-Terroristen« und NGO- Einfluss hasst er, wie Putin. Er setzt auf andere Lobbyisten. Der bayerische Bauernpräsidenten Felßner ist sein Kandidat für das Agrarministerium. Ökologische Landwirtschaft, Umwelt- und Klimaschutz ade!</p>
<p>Der schwache Trost: der Kassenwart und Killer der »Fortschritts-Ampel« ist mit seinen Marktextremisten nicht mehr im Bundestag vertreten. Wichtiger noch: der erwarteten Regierungskoalition fehlt (ob sie hält oder nicht) eine Zwei-Drittel-Mehrheit zur Änderung des Grundgesetzes. Denn das enthält trotz geplantem Blankoscheck für Rüstung noch Verteidigenswertes. Z. B. die Sozialpflicht des Eigentums in Artikel14 oder das Friedensgebot in den Artikeln 25und 26, Absatz1. Das muss nicht nur verteidigt, sondern mit Leben gefüllt werden.</p>
<p>Der Frieden ist der unübersehbare Verlierer dieser Bundestagswahl. Friedensaktivisten des BSW sind nicht im Bundestag vertreten. Das umstrittene Projekt »BSW« ist als »Hoffnungsträger« und an der 5-%-Hürde gescheitert. Die Linke konnte zwar enttäuschte Wähler:innen der Grünen (600.000), der SPD (540.000), Nichtwähler (320.000) und Erst-Wähler:innen für sich gewinnen. Ob diese »Wiederauferstehung« und Verjüngung zur (friedens-)politischen Um-Orientierung bzw. Neuformierung einer zuverlässigen, systemkritischen Linken führt? Von nix kommt nix. Mehr solide marxistische Bildung und historisches Wissen wären da nützlich und mehr Druck der Straße und aus den Betrieben, also eine widerständige Zivilgesellschaft, außerparlamentarische Opposition und autonome, kämpferische Gewerkschaften. Denn selbst Hoffnungsträger brauchen Druck von links.</p>
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einwurf von Links
Ungebremster Kriegskurs
Lothar Geisler
Wer war da nochmal angetreten, den AfD-Einfluss zu halbieren? Ach ja: Friedrich Merz, CDU-Kanzler in spe. Bei der Bundestagswahl 2025 verdoppelte die – für Faschisten offene – »Alternative für Deutschland« ihr Ergebnis, wurde zweitstärkste Partei und zieht mit 152 Leuten in den Bundestag und seine Ausschüsse. Rechnerisch haben Union und AfD eine satte Mehrheit. Beide werden das zu nutzen wissen. Frau Weidel feixte frech, sie werde die Regierung jagen und spätestens nach der nächsten Wahl den Kanzler stellen (w/m/d). Und gerade so, als wolle er diese feuchten Machtergreifungsträume der Rechtsaußen beflügeln, blies Merz mit seiner »Kleinen Anfrage« (mit 551 Fragen!) am Tag nach der Wahl zur Hetzjagd gegen alle, die auf der Straße Druck von unten gemacht hatten, dass die Brandmauer gegen die AfD hält. Was schon einmal gegen attac und VVN-BdA erprobt wurde, droht nun in der Breite: Entzug der Gemeinnützigkeit und Streichung staatlicher Fördermittel. Schließlich sollen weitere gigantische 900 Milliarden ungebremst für Rüstung verballert werden. Und die marode Infrastruktur. Sollen Panzer ostwärts rollen, braucht’s »kriegstaugliche« Brücken, Schienennetze etc. Der Kollateralnutzen: Kriegskonjunktur hält Sozialdemokraten auf Spur.
CDU/CSU sind mit dem zweitschlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte stärkste Fraktion geworden. Autoritär-nationalistischer Druck kommt aber nicht nur von der AfD, die man durchaus berechtigt als »Fleisch vom Fleische der CDU« betrachten kann. Merz möchte »wieder stolz sein auf Deutschland«. Der Unterschied zur Neonazi-Parole vom »Stolz, Deutscher zu sein.« ist graduell. Der Rechtsaußen aus Bayern, kann gestärkt vor Kraft kaum laufen: in allen 47 Wahlkreisen die Direktkandidaten geholt, bei den Zweitstimmern 37,2 Prozent und ebenfalls die AfD-Stimmen verdoppelt. Söder ist egal, wer unter ihm Kanzler ist. »Klima-Terroristen« und NGO- Einfluss hasst er, wie Putin. Er setzt auf andere Lobbyisten. Der bayerische Bauernpräsidenten Felßner ist sein Kandidat für das Agrarministerium. Ökologische Landwirtschaft, Umwelt- und Klimaschutz ade!
Der schwache Trost: der Kassenwart und Killer der »Fortschritts-Ampel« ist mit seinen Marktextremisten nicht mehr im Bundestag vertreten. Wichtiger noch: der erwarteten Regierungskoalition fehlt (ob sie hält oder nicht) eine Zwei-Drittel-Mehrheit zur Änderung des Grundgesetzes. Denn das enthält trotz geplantem Blankoscheck für Rüstung noch Verteidigenswertes. Z. B. die Sozialpflicht des Eigentums in Artikel 14 oder das Friedensgebot in den Artikeln 25 und 26, Absatz 1. Das muss nicht nur verteidigt, sondern mit Leben gefüllt werden.
Der Frieden ist der unübersehbare Verlierer dieser Bundestagswahl. Friedensaktivisten des BSW sind nicht im Bundestag vertreten. Das umstrittene Projekt »BSW« ist als »Hoffnungsträger« und an der 5-%-Hürde gescheitert. Die Linke konnte zwar enttäuschte Wähler:innen der Grünen (600.000), der SPD (540.000), Nichtwähler (320.000) und Erst-Wähler:innen für sich gewinnen. Ob diese »Wiederauferstehung« und Verjüngung zur (friedens-)politischen Um-Orientierung bzw. Neuformierung einer zuverlässigen, systemkritischen Linken führt? Von nix kommt nix. Mehr solide marxistische Bildung und historisches Wissen wären da nützlich und mehr Druck der Straße und aus den Betrieben, also eine widerständige Zivilgesellschaft, außerparlamentarische Opposition und autonome, kämpferische Gewerkschaften. Denn selbst Hoffnungsträger brauchen Druck von links.
In gemeinsamer Sache
Richard Sorg gestorben
Am 4. Februar ist Prof. Dr. Richard Sorg im Alter von 85 Jahren gestorben. Bis 2005 war er Professor für Soziologie an der HAW Hamburg. Richard Sorg war einem dialektisch-materialistischem Denken und einer kritischen Gesellschaftsanalyse verpflichtet und hat hierzu entsprechend veröffentlicht. Auch nach seiner Pensionierung war er noch sehr aktiv, u. a. auch mit Artikeln für die Marxistischen Blätter, aber vor allem mit Büchern wie »Dialektisch denken« (2018) und »Begreifen, um zu verändern« (2021, beide Papyrossa).
»Die Welt verliert mit Richard Sorg einen streitbaren und kritischen Geist, aber auch einen warmherzigen Menschen. Er war ein engagierter Hochschullehrer, kritischer Forscher und Streiter für die Soziale Arbeit als eigenständige Fachwissenschaft und fachlich fundierte Handlungspraxis. Unsere Gedanken sind bei seinen Hinterbliebenen und engen Weggefährten.« schreiben seine Kolleg:innen von der HAW. Dem schließen sich Redaktion und Verlag der Marxistischen Blätter gerne an.
Kriegskurs vor Gericht 1
Am Bayerischen Verfassungsgerichtshof wurde Anfang Februar Popularklage gegen das »Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern« eingereicht. Ein breites Bündnis von 200 Persönlichkeiten und Organisationen spricht sich gegen die weitere Militarisierung von Schulen und Universitäten aus. Die Popularklage wird auch von den Marxistischen Blättern unterstützt.
Kriegskurs vor Gericht 2
Der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele und seine Stellvertreterin Wera Richter, sowie der Jurist Ralf Hohmann haben Verfassungsbeschwerde gegen die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen eingelegt. Sie beantragen, dass diese als unvereinbar mit Grundgesetz und Völkerrecht erklärt wird und die Bundesregierung ihre Zusage zur Stationierung zurückziehen muss.
https://www.unsere-zeit.de/verfassungsbeschwerde-gegen-stationierung-neuer-us-raketen-4800264/
Letzte Meldung
»Statt der Abschaffung der Schuldenbremse für zentrale Fragen wie Wohnungsbau oder Gesundheit wollen Union und SPD jetzt einen Blankoscheck für Aufrüstung durchdrücken. Ausschließlich Rüstungsausgaben über 1 Prozent vom BIP wollen sie von der Schuldenbremse ausnehmen und damit völlig übereilt und demokratisch höchst fragwürdig eine Grundgesetzänderung in nie dagewesener finanzieller Dimension durch den Bundestag peitschen … Alle, die dieser Regelung jetzt zustimmen, müssen eines bedenken: Sie stellen damit auch allen künftigen Regierungen einen Blankoscheck für grenzenlose Aufrüstung aus, denn die Ausnahme von der Schuldenbremse ist weder in der Höhe noch in der Zeit begrenzt.
… Das missachtet den Willen der Wählerinnen und Wähler. Wir prüfen noch, ob eine solche Abstimmung über mehrere hundert Milliarden im gerade abgewählten alten Bundestag überhaupt verfassungskonform ist. Wir sind für die Aufhebung der Schuldenbremse für die Länder und wir sind auch für Investitionen in die Infrastruktur … – wie wir abstimmen werden, hängt jedoch vom Ergebnis der verfassungsrechtlichen Prüfung ab und ob alle drei Teilaspekte gemeinsam oder getrennt abgestimmt werden …«
Jan van Aken, Co-Vorsitzender der Linken und MdB in einer Presseerklärung am 5.3.2025
Herzlichen Glückwunsch Rolf Becker!
Wolfgang Albers
Am 31. März hast Du Deinen 90. Geburtstag gefeiert und zu diesem Anlass wollen die »Marxistischen Blätter« Dir ihre tiefste Verbundenheit ausdrücken und ihren Dank für Dein unerschütterliches Engagement und Deine bedingungslose Solidarität. Wir danken Dir. Wir verdanken Dir viel, unendlich viel. Das alles aufzuzählen, braucht es auch noch den nächsten runden Geburtstag! Gäbe es einen Oscar der Arbeiterbewegung, für Dein politisches und künstlerisches Lebenswerk, hättest Du ihn längst mehrfach verdient.

90 Jahre bist Du nun geworden und weiterhin stehst Du inmitten der Kämpfe in unserer Zeit. Ob auf dem Linken Forum, wo Du Ringelnatz vorträgst oder Ossietzky-Texte oder wenn Du in den Kasematten der Mainzer Zitadelle Fidel Castro’s Verteidigungsrede »Die Geschichte wird mich freisprechen« liest. Stets beziehst Du klar und deutlich progressiv Position. So zuletzt im Januar in Berlin auf der Bühne der Rosa Luxemburg-Konferenz, als Du das Grußwort von Daniela Klette vorgetragen hast.
Gegen den Strom bewahrst Du mit Deiner Arbeit das künstlerische Erbe jener linken Gegenkultur, deren Gütesiegel stets das öffentlich-rechtliche Fernsehverbot war und der man nun auch noch das Prädikat «quer zu denken« gestohlen hat, um es rechten Trollen anzuhängen. Du hältst dieses Erbe hoch, unermüdlich und unbeirrt. Du hast das Kommunistische Manifest gesprochen und auf eine völlig neue Art erfahrbar gemacht. Das findet Resonanz in Schulen und Hochschulen, in Bildungsveranstaltungen und politischen Organisationen. Dank dafür. Danke auch dafür, dass Du mit einem Programm an unseren großartigen Dietrich Kittner erinnerst und mit Deiner Lesung aus dem »Floß der Verdammten« den Geist der Auflehnung kulturell erfahrbar machst. Es gibt sie eben doch, diese »andere« Kultur, sozialkritisch, humanistisch, revolutionär, jenseits des tumben Mainstreams.
Meine erste Erinnerung an Dich reicht in die späten Sechziger zurück. Da bist Du in Zadek’s »Ich bin ein Elefant, Madame« in der Rolle des Rohwedder als APO-Reisekader aus Berlin in einem weißen Militär-Jeep mit roter Fahne hoch an der Antenne durch die bremische Provinz gekurvt. Dann habe ich Dich in Böll’s Satire »Nicht nur zur Weihnachtszeit« wiedergesehen, als Sohn Johannes, der aus dem pittoresken Mausoleum der miefigen Nachkriegs-Bürgerlichkeit seiner Familie ausbricht und in die KP eintritt. Persönlich getroffen haben wir uns zum ersten Mal vor mehr als 30 Jahren, auf der Trauerfeier für einen gemeinsamen Freund, Werner Hohmann, der Genosse, der sich noch vor dem Fall des »eisernen Vorhangs« in der alten Sowjetunion auf die Suche nach Heinrich Vogelers Grab in der kasachischen Steppe gemacht hat. Heinrich Vogeler, mit dem Dich die Sympathie für die alte KPD-O verband, in deren Tradition Du dich in der »Gruppe Arbeiterpolitik« engagiert hast. Seit 1968 seist Du dabei, hast Du mir einmal geschrieben und schon 1992 konstatiert, die gewerkschaftliche Arbeit werde immer mühsamer, aber keineswegs effektiver. Mittlerweile sind die Zeiten noch rauer geworden. Ein sozialdemokratischer Minister röhrt nach Kriegstüchtigkeit und Brechts anachronistischer Zug erlebt ein Revival in den Medien und formiert sich zum Marsch auf unseren Straßen. Unterwegs in eine böse Zukunft, wie Du Günter Gaus einmal zitiert hast? Die abzuwehren, wirst Du noch gebraucht! Deine Stimme, deine Präsenz! Also, gib auf Dich acht!
Europa braucht keine Trump-Klone
Peter Mertens. ptb.be
Was US-Präsident Trump mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj gemacht hat, geschieht normalerweise hinter verschlossenen Türen. Nun war es, in Trumps Worten, »großartiges Fernsehen«. So behandeln die USA seit Jahren Länder im globalen Süden: als Neokolonien, von denen erwartet wird, dass sie sich für auferlegte Abkommen, die ihre Ressourcen plündern, demütig bedanken. Es ist nicht anders, als wenn Trump über Panama, Grönland oder Gaza spricht, illustriert mit abstoßenden KI-Animationen. Die USA sehen die Welt als einen riesigen Globus voller Ressourcen, die ihnen gehören. Das hat einen Namen: Imperialismus. Er ist nie wirklich verschwunden; er ist einfach nackt und schamlos zurückgekehrt und zertrampelt die letzte verbliebene Gegenkraft, die ihn einst gezügelt hat – das Völkerrecht.
Im Inland macht Trump dasselbe. Er lässt den Raubritterkapitalismus des 19. Jahrhunderts wieder aufleben. Ein Kapitalismus ohne Gegengewichte: keine Gewerkschaften, kein Arbeitsschutz und die absolute Macht, Entscheidungen zu treffen, die Millionen betreffen, bis hin zur Abschiebung. Um diesen Krieg zu gewinnen, hat er Elon Musk und sein DOGE-Team angeworben.
Zelenskys ruhiges und beherrschtes Auftreten angesichts des mächtigsten Präsidenten der Welt flößte Respekt ein, insbesondere bei den Nationen des globalen Südens, die nur allzu vertraut mit dem Mobbing der USA sind. Aber das bringt uns dem Frieden keinen Schritt näher. »Der nicht zu gewinnende Krieg«, schrieb ich in »Meuterei«, »hat bereits zu Beginn ihres Lebens Zehntausende junger Männer in den Fleischwolf geworfen.«
Am Vorabend des Treffens zwischen Trump und Selenskyj schien eine Einigung unmittelbar bevorzustehen, bei der Trump die Kosten des Krieges auf Europa abwälzen würde, während die USA über einen neuen Fonds die Kontrolle über die Rohstoff- und Mineralgewinnung in der Ukraine anstrebten. Dies machte deutlich, dass es in diesem schmutzigen Krieg nie um Werte ging – sondern nur um geostrategische Interessen und die Kontrolle über Ressourcen und fruchtbares Land. Die Frage ist: Warum ist das Abkommen in letzter Minute gescheitert?
Eine Möglichkeit ist, dass die USA Zelenskys Position weiter schwächen, ihn demütigen und letztlich auf einen Regimewechsel drängen wollen. Dies ist seit Jahrzehnten das Markenzeichen der US-Außenpolitik: Regimewechsel zu orchestrieren, wo immer die Interessen der USA als nicht gewahrt angesehen werden. Dies war das Schicksal von Manuel Noriega in Panama und Saddam Hussein im Irak. An einem Tag noch ein vertrauenswürdiger Verbündeter, am nächsten Tag gestürzt. Der ehemalige US-Diplomat Jeffrey Sachs erinnerte an ein Zitat von Henry Kissinger: »Ein Feind der USA zu sein, ist gefährlich; ein Freund zu sein, ist tödlich.«
Selbst der »größte Freund« der USA, die Europäische Union, muss dies einsehen. Europa ist der Verlierer-Kontinent, gerade weil es Washington blind folgt. Es ist eine Art Stockholm-Syndrom. Je mehr die USA Europa demütigen, desto fester klammert sich Europa an die Rockschöße von Uncle Sam.
Unser Verteidigungsminister Theo Francken besteht darauf, um jeden Preis privilegierte Beziehungen zu Washington aufrechtzuerhalten, lässt sich vom »Sozialmodell« der USA inspirieren, findet es normal, dass Trump Grönland annektieren möchte, und würde gerne weitere unbezahlbare F-35-Kampfjets aus den USA bestellen.
Wie viele Schocks braucht Europa noch? Die deutsche Rezession nach den Sanktionen war nicht genug. Elon Musks Einmischung in Wahlkämpfe? Nicht genug. Die Demütigung durch den US-Vizepräsidenten JD Vance und den Verteidigungsminister Pete Hegseth in München? Immer noch nicht. Trumps neuer Zollkrieg? Noch weniger. Heute gerät das europäische Establishment erneut in Panik und stürmt davon wie ein wildes Pferd, das aus einem Stall entkommt – mehr Waffen, mehr Krieg, Vorbereitung auf den Dritten Weltkrieg! Europa darf kein Klon der USA werden. Es braucht keinen Trump im eigenen Land. Stattdessen muss es sich trauen, einen neuen Kurs einzuschlagen.
Unterdessen besteht die EU-Außenministerin Kaja Kallas darauf, den schmutzigen Krieg in der Ukraine zu verlängern, und füttert ihn mit Waffen und jungen Männern an der Schwelle zum Erwachsenenalter. Kallas fehlt die demokratische Legitimation, um solche hetzerischen Aussagen zu machen. Europa braucht weniger Kriegstreiber wie Kallas und mehr Reife, um wirklich den Kurs zu ändern und sich mit Nationen des globalen Südens wie Brasilien und China zu verbünden, die seit langem auf Verhandlungslösungen setzen.
Dieser Krieg hatte schon immer ein Janusgesicht. Auf der einen Seite: die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine, die Missachtung des Völkerrechts durch russische Aggression. Die Nationen des globalen Südens verstehen das. Auf der anderen Seite: ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland auf ukrainischem Boden, in dem Zehntausende junger Männer Kanonenfutter für einen geostrategischen Konflikt sind. Washington gibt nun schamlos zu, dass es sich um einen Stellvertreterkrieg handelte, der von den USA angeheizt wurde. Trump behauptet jedoch, es sei der »falsche« Stellvertreterkrieg gewesen – dass Russland nicht der eigentliche Gegner der USA sei und dass alle Anstrengungen auf den kommenden Krieg ausgerichtet werden müssten, den sie vorbereiten: gegen China. Und das nur, weil Washington seine wirtschaftliche und technologische Hegemonie durch China in Frage gestellt sieht.
Die modische Spitzfindigkeit lautet: »Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor.« Das klingt eingängig, ist aber katastrophal. Die Geschichte zeigt, dass Kriege näher rücken, wenn sich Volkswirtschaften auf den Krieg vorbereiten und die Gemüter auf Konflikte eingestellt sind. Schritt für Schritt ersetzt Hysterie die nüchterne Analyse. Immer mehr Politiker schwadronieren über Krieg, immer weniger wagen es, über Frieden zu sprechen. Das Denken hört auf, diplomatische Lösungen werden verworfen und der Weltfrieden aufs Spiel gesetzt. Europa hat als Kriegsschauplatz keine Zukunft. Die Militarisierung wird seine verarbeitende Industrie aushöhlen, und permanente Spannungen mit den östlichen Nachbarn werden uns dem Frieden keinen Schritt näherbringen.
»Meine Erfahrung lehrt mich, dass man mit der anderen Seite reden muss. Man kann nicht sagen: ›Wir reden nicht – wir wissen, was sie denken.‹ Diplomatie ist unerlässlich, besonders in angespannten Momenten«, sagte Jeffrey Sachs. Europa muss seinen eigenen Weg finden. Russland kann es nicht von der Landkarte löschen. Anstatt immer tiefer in den Strudel aus Hysterie und Plattitüden zu geraten, muss Europa eine reife Diplomatie entwickeln – eine, die einen unabhängigen Kurs festlegt, mit einer Vision für den Produktionssektor, der Achtung des Völkerrechts und pragmatischen Beziehungen zu allen Wirtschaftsriesen: den USA, China, Indien, Russland, Brasilien oder Südafrika.
Trumps Regierung der Milliardäre
Redaktion ML-Today (USA)
Seit Donald Trump am 20. Januar sein Amt als Präsident angetreten hat, hat er eine Flut von Dekreten erlassen, die sowohl den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung direkt senken als auch es uns erschweren werden, uns zu organisieren und für die Verbesserung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen.
Trump wurde von den reichsten und mächtigsten Männern der Welt umgeben in sein Amt eingeführt. Sie hatten Grund zum Feiern – der Reichtum der Milliardäre der Welt wuchs im vergangenen Jahr um 2 Billionen US-Dollar, dreimal schneller als im Jahr 2023. Und mit einem Kabinett voller Milliardäre ist die neue Regierung bereit, ein Programm zur weiteren Bereicherung durchzuführen, während sie die Arbeiterklasse spaltet, unterdrückt und in den Ruin treibt. Unser Land bewegt sich schnell auf eine offenere und transparentere Form der Oligarchie zu – eine Herrschaft der Superreichen.
An seinem ersten Tag im Amt ernannte Trump den Republikaner Marvin Kaplan zum Vorsitzenden des National Labor Relations Board. In der darauffolgenden Woche entließ er die NLRB-Generalanwältin Jennifer Abruzzo, die die Rechtsprechung des NLRB seit ihrer Bestätigung im Juli 2021 in eine arbeitnehmerfreundlichere Richtung gelenkt hatte, und entließ dann in einem verfassungsrechtlich fragwürdigen Schritt das demokratische NLRB-Mitglied Gwynne Wilcox …
Ein von Trump ernannter Vorstand und General Counsel werden die Erfolgsbilanz der ersten Präsidentschaft Trumps fortsetzen und konsequent die Profite der Arbeitgeber über die Rechte der Arbeitnehmer stellen. … Trump hat Elon Musk, dem reichsten Mann der Welt, eine herausragende Rolle in seiner Regierung eingeräumt. Musk ist Multimilliardär und hat in der Vergangenheit eine bösartige Gewerkschaftsfeindlichkeit an den Tag gelegt und rechtsextreme und neonazistische Parteien unterstützt. Musk wurde die Co-Leitung eines neuen »Department of Government Efficiency« (DOGE) übertragen, das versucht hat, dem Kongress Ausgabenkürzungen in Höhe von 2 Billionen US-Dollar schmackhaft zu machen. Kürzungen dieser Größenordnung sind unmöglich, ohne die Ausgaben für die Aufrechterhaltung von Medicare, Medicaid und der Sozialversicherung auf dem derzeitigen Leistungsniveau zu kürzen.
Unabhängig davon, ob Musk bei der Kürzung von vollen 2 Billionen US-Dollar erfolgreich ist, wird seine neue Abteilung mit ziemlicher Sicherheit massive Kürzungen bei vielen Programmen des sozialen Sicherheitsnetzes vornehmen, darunter Gesundheitsversorgung, Ernährungssicherheit, Wohnungswesen, Altersvorsorge, Initiativen zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Rahmen des Klimawandels und öffentliche Bildung. Präsident Trump hat bereits damit begonnen, die Einfrierung wichtiger Bundeshilfen für staatliche und lokale Regierungen sowie die Finanzierung von wissenschaftlicher Forschung und gemeinnützigen Einrichtungen, die Dienstleistungen für die amerikanische Bevölkerung erbringen, anzuordnen, was Tausende von Mitgliedern der Vereinigten Staaten verunsichert, da sie seit dieser Woche nicht mehr sicher sind, ob sie ihren nächsten Gehaltsscheck – oder überhaupt noch Gehaltsschecks – erhalten werden.
All diese Schritte werden dazu führen, dass Arbeitnehmer entlassen werden und der Lebensstandard einer großen Zahl von Arbeiterfamilien in den USA sinkt.
Trumps imperialistische Außenpolitik mit seinen Drohungen von Zöllen und Annexionen macht die Welt auch für alle arbeitenden Menschen zu einem gefährlicheren Ort, da er nicht nur die Spannungen mit China, sondern auch mit der Europäischen Union, Großbritannien, Kanada, Mexiko, Kolumbien und vielen anderen verschärft.
Am bedrohlichsten für die Fähigkeit der Arbeitnehmer, zusammenzustehen und für das zu kämpfen, was wir brauchen, sind jedoch die Bemühungen von Trump und seinen milliardenschweren Unterstützern, die Arbeiterklasse durch Angriffe auf Einwanderer, LGBTQ+-Personen, Afroamerikaner, andere Farbige und alle, die anderer Meinung sind, zu spalten.
Angriffe auf eingewanderte Arbeitnehmer schaden der gesamten Arbeiterklasse, da Arbeitgeber die durch Abschiebungsdrohungen verursachte Angst ausnutzen, um Löhne und Arbeitsbedingungen zu untergraben und Gewerkschaften zu schwächen. Und wenn man Einwanderern das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren entzieht – wie es das kürzlich verabschiedete »Laken Riley«-Gesetz tut – bedroht dies den Grundsatz »unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist«.
Obwohl Trump seine zweite Amtszeit mit einer noch geringeren Mehrheit im Kongress antritt als 2017, gibt es beunruhigende Anzeichen dafür, dass die Demokraten – nominell die »Oppositionspartei« in unserem Zweiparteiensystem – seiner Unternehmensagenda nicht standhalten werden. Im Januar schlossen sich 46 Demokraten im Repräsentantenhaus der republikanischen Mehrheit an und verabschiedeten den Laken-Riley-Gesetzentwurf, und 10 Demokraten unterstützten ihn im Senat.
Tatsache ist, dass die republikanische Agenda die wirtschaftliche Situation der arbeitenden Bevölkerung nicht verbessern wird, sondern sie wahrscheinlich sogar verschlechtern wird. Es liegt an der Arbeiterbewegung, zusammen mit anderen Organisationen der Arbeiterklasse und der Bevölkerung sowie allen gewählten politischen Führern, die noch auf der Seite der arbeitenden Bevölkerung stehen, die Arbeiterklasse zu vereinen, um sich der oligarchischen Agenda der Milliardäre und Unternehmen zu widersetzen.
Die Arbeiterbewegung muss sich strikt an das Grundprinzip halten, dass eine Verletzung eines Einzelnen eine Verletzung aller ist. Wir müssen alle unsere Mitglieder aggressiv gegen Angriffe auf ihre Tarifverhandlungsrechte, ihre Löhne und Arbeitsbedingungen und ihr Recht auf Teilnahme als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft verteidigen, unabhängig von ihrer Rasse, Religion, ihrem Einwanderungsstatus, ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität. Wir müssen die Schuld für die anhaltende Krise der Lebenshaltungskosten klar bei den Unternehmen und den Oligarchen sowie bei den beiden politischen Parteien suchen, die ihre Gier ermöglichen. Die Arbeiterbewegung muss im Namen der gesamten Arbeiterklasse ein positives Wirtschaftsprogramm fordern. Und zusätzlich zum Kampf für Gerechtigkeit in unserem eigenen Land müssen wir unsere Regierung weiterhin herausfordern, wenn sie eine ungerechte Außenpolitik verfolgt.
Die Handlungen von Trump und seinen milliardenschweren Unterstützern haben bereits zu Widerstand in der Bevölkerung geführt, und wir können mit weiteren rechnen. Die Arbeiterbewegung muss eine Schlüsselrolle dabei spielen, diesen Zorn in einen wirksamen Gegenschlag umzuwandeln. Und besser für eine bessere Zukunft für die arbeitende Bevölkerung zu kämpfen, müssen wir eine politische Organisation wie eine Arbeiterpartei aufbauen, die unabhängig von der Demokratischen Partei ist.
Steht ein neues Jalta in Aussicht?
Peter Gärtner
Am 12. Februar 2025 haben US-Präsident Donald Trump und der russische Präsident Wladimir Putin miteinander telefoniert. Seitdem überschlagen sich die Nachrichten, Kommentare und Mutmaßungen. Bereits die Tatsache, dass die Staatsoberhäupter der beiden Länder erstmals seit drei Jahren wieder miteinander reden, verdient Beachtung. Es sind aber vor allem der Inhalt des 90-minütigen Gespräches und die Reden hoher Repräsentanten der Trump-Administration im Umfeld und auf der Münchener Sicherheitskonferenz, die hohe Wellen geschlagen haben. Dreieinhalb Wochen nach seinem Amtsantritt scheint Trump fest entschlossen, den Krieg in der Ukraine zügig durch Verhandlungen zu beenden. Bereits jetzt zeichnen sich vier Punkte ab, die seitens der USA den Rahmen dafür bilden sollen: Erstens ist die Rückgewinnung der Territorialverluste der Ukraine ebenso unrealistisch wie zweitens die NATO-Mitgliedschaft des Landes. Drittens sind die USA nicht bereit, der Ukraine Sicherheitsgarantien zu geben und überlassen dies deshalb viertens den Europäern. Die absehbare Tragweite des radikalen Kurswechsels Washingtons im Stellvertreterkrieg mit Russland assoziiert bei nicht wenigen Beobachtern und Akteuren einen Vergleich mit einem Ereignis, das vor 80 Jahren die Weltordnung nach dem 2. Weltkrieg geprägt hat.
Vom 4. bis 11. Februar 1945 hatten sich die drei Führer der Anti-Hitler-Koalition – Josef Stalin, Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill – in Jalta getroffen, um über ihr weiteres Vorgehen zu beraten. »In Jalta wurde die Welt geteilt, so hörte und las man von damals bis in die Gegenwart hinein immer wieder über die Krimkonferenz.« – Eine Einschätzung, die jedoch »nur halb richtig« ist.1 So wurde über viele Fragen kein Konsens erzielt und die Teilung der Welt nahm erst mit dem Kalten Krieg ab 1947 Gestalt an. Neben der grundsätzlichen Verständigung in der deutschen und polnischen Frage einigten sich die »großen Drei« darüber, wie der Krieg in Fernost so schnell wie möglich zu beenden wäre. Auf Drängen der USA sagte Stalin zu, spätestens drei Monate nach Kriegsende in Europa in den Krieg gegen Japan einzutreten. In Jalta wurde auch der Beschluss zur Gründung der UNO gefasst, die all die Wandlungen, Verwerfungen und Kriege sowohl der bipolaren wie auch der unipolaren Weltordnung überdauert hat. Auch wenn die UNO-Charta immer wieder verletzt und gebrochen wird, stellt sie nach wie vor die wichtigste Kodifizierung des Völkerrechts dar.
Inwiefern ist nun die gegenwärtige Rede von einem »Jalta 2.0« gerechtfertigt? Um eine Antwort zu finden, muss man zwei Ebenen ins Auge fassen. Angesichts der Komplexität und Brisanz der gegenwärtigen Situation ist zum einen die Verständigung der »großen Drei« von heute – Donald Trump, Vladimir Putin und Xi Jinping – so notwendig wie wünschenswert. Zum anderen stellt das Gespräch zwischen Trump und Putin bestenfalls den ersten Schritt in einem längeren Prozess voller Probleme und Unwägbarkeiten dar. Um die Kluft zwischen Wunsch bzw. Notwendigkeit und Realität überwinden zu können, bedarf es zunächst einer nüchternen Betrachtung der Ausgangssituation. Diese ist dadurch charakterisiert, dass die Ukraine – und ihre Unterstützer (USA, EU, NATO) – den Krieg zwar verloren haben, dieser aber noch nicht zu Ende ist. Insofern gibt es bereits eine Gemeinsamkeit zwischen dem Februar 1945 und dem Februar 2025.
Legt man die Interessen der relevanten Akteure zugrunde, dann hat Russland das größte Interesse an einer gesamteuropäischen Friedensordnung, die den Kern für ein Jalta 2.0 bildet. Die Eckpunkte dafür sind in den beiden Vertragsentwürfen zu finden, die Russland den USA und der NATO am 17. Dezember 2021 als Grundlage für Verhandlungen übergeben hatte, von der Gegenseite aber abgelehnt worden waren. Auf der Grundlage des Prinzips der unteilbaren Sicherheit, das bereits 1994 im Budapester Memorandum verankert worden war, sollten die Osterweiterung der NATO gestoppt und die militärische Infrastruktur auf den Stand des Jahres 1997 zurückgebaut werden. Die Ukraine sollte ihre dauerhafte Neutralität erklären und den USA wurde vorgeschlagen, die Gespräche zur Kontrolle der strategischen Rüstungen wieder aufzunehmen.
Das Interesse des neuen US-Präsidenten ist darauf gerichtet, sich aus dem verlorenen Ukrainekrieg zurückzuziehen und die Europäer die Zeche der Niederlage zahlen zu lassen. Längerfristig geht es Trump darum, Russland aus der Achse mit China herauszulösen. Die Volksrepublik – nicht Russland – ist der Hauptgegner im Kampf der USA gegen ihren Abstieg.
Europa, das mehrheitlich der Russland- und Ukrainepolitik der Biden-Administration gefolgt war, sieht sich nach dem Vorstoß von Trump plötzlich außen vor. Zu Recht muss die transatlantisch gepolte Elite des alten Kontinents fürchten, dass sich die USA und Russland über ihre Köpfe hinweg einigen werden. Mehr noch: Mit dem absehbaren Rückzug Washingtons aus Europa steht sie vor der bislang nicht gekannten Herausforderung, ihr Verhältnis zu Russland ohne die Führung und Rückendeckung der USA gestalten zu müssen. Angesichts der reflexartigen Fortführung des Konfrontationskurses gegenüber dem östlichen Nachbarn böte ein Jalta 2.0 zweifellos eine Alternative aus der Sackgasse der Militarisierung.
Was die Ukraine angeht, hätte ein Friedensvertrag mit Russland auf der Grundlage der Vereinbarungen von Istanbul im April 2022 den dort lebenden Menschen viel Leid und Zerstörung erspart. Je länger das Kiewer Regime den sinnlosen Krieg fortsetzt, desto größer wird der Schaden für die Ukraine sein. Die Front droht jederzeit zusammenzubrechen, so dass die Ukraine als Staat ein existentielles Interesse daran hat, so schnell wie möglich eine Friedenslösung mit Russland zu erreichen.
Der Kriegsverlauf hat damit einen Punkt erreicht, in dem alle vier Parteien ein objektives Interesse an einem Friedensschluss haben, wobei ein Jalta 2.0 die nachhaltigste Lösung bieten würde. Das größte Hindernis auf dem Weg dorthin sind die transatlantischen Eliten auf beiden Seiten des Ozeans. Einerseits läutet die Trumpsche Kehrtwende das Ende des kollektiven Westens ein, der im Transatlantismus sein Fundament hatte. Damit schwächt er seine Gegner im eigenen Land ebenso wie die europäischen Eliten, die Biden in Vasallentreue in den Krieg gegen Russland gefolgt sind. Andererseits nimmt deren Politik immer gefährlichere Züge an. Obwohl es ihnen an Ressourcen für eine eigenständig geführte Fortsetzung des Krieges mangelt, könnten Starmer, Macron, Merz, Pistorius, Kallas und Co. in ihrer Verzweiflung und Verblendung Europa in den Abgrund stürzen. Die Friedensbewegung steht vor der historischen Herausforderung, dies zu verhindern. Der Beginn der Gespräche zwischen Trump und Putin hat die Bedingungen für die Bewältigung dieser Aufgabe verbessert. Im ersten Schritt gilt es nun, die Diskurshegemonie des transatlantischen Mainstreams zu brechen.
1 Düllfer, Jost: Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt, München 1998, S. 23.
Macht und Einfluss der Techmilliardäre
Dr. Max Bank1
Der intransparente Dialog der Mächtigen beim Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos ist Teil eines grundsätzlichen Problems westlicher Demokratien: der übergroße Einfluss von Konzernen und ihren Eigentümern auf den demokratischen Prozess. Dieser Einfluss wird vor Ort in Davos für einen Moment sichtbar und zur Schau getragen, bevor er danach wieder in den Untiefen der Lobbyarbeit in einzelnen Staaten verschwindet. Auch die mächtigsten Tech-Konzerne der Welt sind in Davos zugegen: die Rede ist von Google, Amazon, Meta, Microsoft & Apple. Sie sind allesamt Partner des Weltwirtschaftsforums und finanzieren das Forum mit. Die fünf Techkonzerne gehören zu den mächtigsten Unternehmen der Welt und vereinen allein 11,91 Billionen Euro Marktkapitalisierung auf sich. Der Erfolg und der Gewinn dieser Konzerne basiert auf Geschäftsmodellen, die im Kern Monopole sind. Diese Macht nutzt Big Tech systematisch zu seinen Gunsten aus, etwa indem die Konzerne Preisaufschläge von 75 Prozent auf ihre Dienstleistungen und Produkte verbuchen.
Hauptprofiteure dieser Konzerne sind ihre Eigentümer. Der steigende Wert der Techmonopole und die Gewinnausschüttungen machen deren Eigentümer immer reicher. Unter den Top-10 reichsten Menschen der Welt sind fünf Techmilliardäre. Sie verfügen zusammen über ein Vermögen von rund 881 Milliarden Euro. Einige von ihnen sind nicht nur im Hintergrund politisch aktiv, sondern im Fall von Elon Musk sogar unmittelbar an der mächtigsten Regierung der Welt, der US-Regierung, beteiligt. Während sich Big Tech in der Vergangenheit mit Einflussnahme über Lobbyarbeit begnügte, ist das Silicon Valley nun auf offener Bühne aktiv und spielt aus, dass Gesellschaften weltweit zunehmend abhängig von ihrer Infrastruktur sind.
Diese Entwicklungen in den USA haben auch für Europa Folgen. Das zeigt sich schon jetzt in Form der problematischen Einflussnahme Elon Musks auf die europäische Politik und den deutschen Wahlkampf und der Entscheidung von Mark Zuckerberg, die Moderation der Inhalte auf Meta einzustampfen …
Für die Durchsetzung ihrer Interessen verfügt US-Big Tech über ein breites Lobbynetzwerk auch in Europa. Mit 33 Mio. Euro führen Google, Amazon, Meta, Microsoft und Apple die Liste der Unternehmen nach Lobbyausgaben in Europa an. In den USA und der EU investieren die fünf Konzerne mehr als 89 Mio. Euro. Sie geben in der EU mehr aus als die Top-10-Unternehmen im Finanzsektor oder in der Automobilindustrie. Auch die Techindustrie insgesamt hat ihre Lobbyausgaben in den letzten Jahren nochmal gesteigert – von 97 Millionen auf 113 Millionen in der EU.
Diese immense Lobbymacht, gepaart mit großer Markt- und Monopolmacht, und der damit wachsende Einfluss auf die Politik sind mit demokratischen Prinzipien nicht vereinbar. Verstärkend hinzu kommen Abhängigkeiten der Wirtschaft und der Gesellschaft von den Dienstleistungen und Produkten der Tech-Konzerne, die das Problem noch verschärfen. Dies nutzen die Techmilliardäre für ihre geschäftlichen und privaten politischen Interessen aus. Das untergräbt immer mehr das demokratische Prinzip, dass jede Stimme gleich zählen muss. Während beim Weltwirtschaftsforum in Davos das Demokratieproblem für einen Moment sichtbar wird, ist es Zeit, dieses Problem an der Wurzel zu packen und die Macht der Techmilliardäre und ihrer Konzerne entschieden zurückzudrängen.
1 Leicht gekürzte Einleitung aus: https://www.lobbycontrol.de/wp-content/uploads/LobbyControl_Studie_Weltwirtschaftsforum_Davos.pdf
Von Zügen zu Panzern
Martin Kirsch/Jürgen Wagner
Der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang Februar in Görlitz steht angesichts der Übergabe eines dortigen Werkes des Waggonherstellers Alstrom an den Panzerbauer KNDS für einen doppelten Wandel. Erstens tritt hier die Ausweitung der Gegenkonversion auf den bisher weitgehend verschont gebliebenen Industriebereich deutlich zu Tage. Und zweitens handelt es sich dabei nicht um einen Einzelfall …
Im Jahr 2022 wurde die Konkursmasse der MV Werftengruppe mit Standorten in Wismar, Rostock-Warnemünde und Stralsund verscherbelt. Den Standort in Rostock-Warnemünde übernahm die Bundeswehr direkt, Kostenpunkt 87 Mio. Euro, wobei mindestens 500 der zuvor 600 Arbeitsplätze erhalten bleiben sollen (Ostsee-Zeitung, 07.07.2022). Die feierliche Bundeswehr-Übernahme erfolgte dann am 11. Januar 2023 und wurde von der Truppe als »zielstrebiges Handeln in der Zeitenwende« gefeiert …
Den Standort Wismar verleibte sich wiederum ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) ein (den dritten Standort erwarb die Stadt Stralsund). An Auslastung dürfte kein Mangel herrschen: Ende 2024 bewilligte der Bundestag die Gelder für den Bau von vier U-Booten 212 CD für 4,7 Mrd. Euro (womöglich kommt auch noch die Fertigung von Norwegen bestellter U-Boote desselben Typs hinzu). Daraufhin kündigte das Unternehmen im Januar 2025 an, 220 Millionen Euro in den Ausbau des Werkes in Wismar zu investieren (hartpunkt.de, 17.01.2025). Ebenfalls zum Jahresende wurde zudem eine erste Finanzierung in Höhe von 44,5 Mio. Euro für den möglichen Bau der neuen Fregattengeneration F-127 bewilligt. Noch ist unklar, ob und wenn ja, wie viele dieser für Großmachtkonflikte konzipierten Schiffe gebaut werden sollen. Die Rede ist entweder von vier (Kostenpunkt 7,5 Mrd. Euro) oder acht (15 Mrd. Euro) Fregatten (defence-network, 12.12.2024) …
Auch bei zwei weiteren bislang zivilen Werften steigen nun Unternehmen mit substantiellen Anteilen im Rüstungsgeschäft ein: »Die beiden insolventen schleswig-holsteinischen Werften FSG und Nobiskrug werden neue Eigentümer bekommen. Wie der Insolvenzverwalter mitteilte, wird die FSG von der Heinrich Rönner Gruppe aus Bremerhaven und Nobiskrug von der Lürssen-Werft aus Bremen übernommen.« (hartpunkt.de, 31.01.2025)
Bereits im Mai 2022 titelte die Automobilwoche: »Angesichts der frischen Milliarden für die Bundeswehr sucht die Rüstungsindustrie in Deutschland händeringend nach qualifizierten Fachleuten. Fündig wird sie vor allem in der Automobilbranche, die selber unter Fachkräftemangel leidet.« Eine deutlich bessere Bezahlung und das inzwischen positivere Image der Branche hätten zur Folge, dass die Rüstungsindustrie – unterstützt mit den Milliardenbeträgen der Zeitenwende – erfolgreich Personal abwerbe: »Unternehmen aus der Rüstungsindustrie schreiben bereits verstärkt Positionen aus, um mit schnellem Personalaufbau auf das Investitionsprogramm der Bundesregierung reagieren zu können«, wird ein Münchener Personalberater zitiert (ebd.). Seither hat sich die Situation mit der verschärften Krise der Automobilbranche weiter zugespitzt, was nicht zuletzt anhand der Kooperation zwischen dem Reifenhersteller Continental und dem größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall ersichtlich wird. Eine Pressemitteilung von Rheinmetall beschrieb die Zusammenarbeit am 14. Juni 2024 wie folgt: »Ziel der Vereinbarung ist es, den in den nächsten Jahren stark wachsenden Personalbedarf von Rheinmetall teilweise durch die von der Transformation betroffenen Beschäftigten von Continental zu decken. […] Continental und Rheinmetall beginnen zu diesem Zweck so früh wie möglich mit einer Zusammenarbeit. So sollen zum Beispiel bis zu 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Continental-Standorts in Gifhorn eine Beschäftigungsperspektive bei Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß, rund 55 Kilometer nördlich von Gifhorn, finden …« In Unterlüß investiert Rheinmetall rund 300 Mio. Euro in den Aufbau einer neuen Munitionsfabrik – den ersten Spatenstich im Februar 2024 ließ sich Kanzler Olaf Scholz nicht nehmen. Er kommentierte den Vorgang mit den Worten: »Wir leben nicht in Friedenszeiten. […] Panzer, Haubitzen, Hubschrauber und Flugabwehrsysteme stehen ja nicht irgendwo im Regal. […] Wir müssen weg von der Manufaktur – hin zur Großserien-Fertigung von Rüstungsgütern.« (tagesschau.de, 12.02.2024)
Und nun verschafft Kanzler Scholz also in Görlitz einer direkten Umwidmung der zivilen Produktionsstätte von Alstrom in einen Standort von KNDS die politische Rückendeckung. Nachdem Alstrom 2021 Bombardier übernommen hatte, teilte das Unternehmen im Oktober 2024 mit, es sehe für das Werk in Görlitz keine Perspektive mehr. Über 175 Jahre waren in Görlitz Bahnwaggons gefertigt worden, man zog »einen Schlussstrich unter dieses Kapitel Industriegeschichte« (Neues Deutschland, 03.02.2025). KNDS baut unter anderem den Radpanzer Boxer und den Leopard 2A8, auch beim künftigen Kampfpanzersystem (MGCS) spielt das Unternehmen die führende Rolle …
Fazit: Rüstung und Industrie im Wandel
Anfang 2024 wurde auf europäischer Ebene eine Verteidigungsindustriestrategie (EDIS) und ein entsprechendes Investitionsprogramm (EDIP) durch die Kommission vorgelegt (IMI-Analyse 2024/23). Hierzulande wurde im Dezember 2024 eine Nationale Sicherheits- und Verteidigungsstrategie präsentiert, die es ebenfalls in sich hat (IMI-Analyse 2024/52). Beide setzen auf verschiedenste Maßnahmen zur Ankurbelung der Rüstungsproduktion, die eine Verschiebung in Richtung Kriegswirtschaft nach sich ziehen. Der Anlass für den Besuch des Kanzlers in Görlitz ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Einmal ist ein Ereignis, zweimal ist ein Zufall und dreimal ist ein Muster, so sagt zumindest ein Sprichwort. Wenn sich also die Marinesparte von ThyssenKrupp (TKMS) und der bundeswehreigene Schiffsreparaturbetrieb an der Konkursmasse der MV-Werftengruppe bedienen, Rheinmetall systematisch Facharbeiter:innen vom kriselnden Automobilzulieferer Continental übernimmt und KNDS Deutschland (ex-KMW) ein Werk, in dem bisher Züge produziert wurden, samt Mitarbeiter:innen zur Panzerschmiede umwidmet, ist das also kein Zufall mehr. Drei kriselnde zivile Industriebranchen, drei Regionen in Deutschland und drei große Rüstungsfirmen, die dort expandieren, können wohl als Muster bezeichnet werden. Zumal sich weitere Beispiele, die weniger prägnant sind, finden lassen. Das Zeitalter der (erhofften) Rüstungskonversion ist offensichtlich vorbei. Im Gegenteil labt sich die stetig wachsende und von massiven Fördertöpfen von Bundesregierung und EU gepamperte Rüstungsindustrie an zivilen Sektoren. Mittel aus Sondervermögen und EU-Rüstungstöpfen stärken die Rüstungsindustrie, während die Förderung für E-Autos, ÖPNV, Deutschlandticket, usw. gestrichen oder nicht weiter aufgelegt werden. Die politischen Prioritäten und die daran geknüpften Geldflüsse zeigen ihre Wirkung jetzt ganz praktisch. Es wandelt sich etwas in der deutschen Industrielandschaft!
Quelle: https://www.imi-online.de/2025/02/05/von-zuegen-zu-panzern/
KPÖ – wie weiter nach dem »Monster«-Wahljahr 2024
Anne Rieger
Am kalten 11. Januar 2025 demonstrierten 600 Personen in der kleinen steirischen Stadt Bruck an der Mur gegen die Schließung der Akutambulanz am Ort. Die Auseinandersetzung gibt einen Vorgeschmack, auf die Verschlechterungen, Kürzungen, Belastungen, die durch die im November gewählte blauschwarze Regierung (FPÖ 35, ÖVP 26 Prozent) nach dem »Monster«-Wahljahr auf die Menschen zukommen. Dass unmittelbar mit der Kürzung im Gesundheitsbereich begonnen wird, zeigt, wohin die Reise gehen soll.
In Österreich wurde neben dem EU-Parlament, der Nationalrat, der Landtag in der Steiermark, die Gemeinderäte in Salzburg und Tirol und die Arbeiterkammern in allen Bundesländern, neu gewählt.
Ein Großteil der Wählenden war gefrustet von der Belastungs- und Kürzungspolitik der herrschenden Koalitionen – Schwarzgrün im Bund oder Schwarzrot in der Steiermark.
Sie waren wütend über die enormen Gewinne der Banken und die gleichzeitig steigenden Insolvenzen verbunden mit dem Abbau von Arbeitsplätzen. Die Preise für den grundlegenden Lebensbedarf wurden ständig erhöht. Die Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften waren zu schwach, das durch höhere Löhne auszugleichen. So wurden die Reallöhne weiter gesenkt. In den Medien und der veröffentlichten Meinung wurde demagogisch von der »sinkenden Inflationsrate« gelabert und jeder einzelne Anschlag, der von Menschen mit migrantischem Hintergrund – auch in anderen Ländern – erfolgte, wurde genutzt, um auf Flüchtende und Menschen mit migrantischem Hintergrund, als angebliche Verursacher der wirtschaftlichen Misere für die Mehrheit der Menschen, medial einzuschlagen. So vertrauten viele dem Sirenengesang der FPÖ, der extrem rechten Partei. Sie werde endlich gegen die da oben vorgehen, die seit Jahrzehnten das Finanzministerium in den Händen hielten, die superreichen Oligarchen, die Herren von Wirtschaftskammer, Wirtschafts- und Landwirtschaftsbund, von Banken und Immobilien. Obwohl Oligarchen wie Mateschitz (Redbull), Porsche/Piech (VW) oder Pierer (KTM) nie direkt massiv angegangen wurden, war es doch offensichtlich, dass die Kluft zwischen Reich und Arm immer größer wurde.
Das wurde aber nicht als Klassengesellschaft wahrgenommen, sondern als Unfähigkeit bzw. Ungerechtigkeit der herrschenden Parteien ÖVP und SPÖ. Kickl, Frontmann der FPÖ, wurde, unterstützt von den Medien, als Erlöser gesehen, der es denen da oben mal zeigen und außerdem endlich Migranten rausschmeißen wollte, Stichwort Festung Österreich. Er wurde von Umfrage zu Umfrage, von Wahl zu Wahl immer höher gehypt. Im Bund wurde dann im September zum ersten Mal seit 1945 die FPÖ mit 29 Prozent stärkste Kraft, gefolgt von ÖVP mit 27, SPÖ 21, NEOS 9 (vgl. FDP) und Grüne mit 8 Prozent. Ein Erdbeben oder gar eine Zeitenwende, wie es Journalist:innen beschrieben, war das Wahlergebnis freilich nicht. Bei genauerem Hinsehen konnte der rechte Block aus rechtsextremer FPÖ (29 % +13 %) und konservativer ÖVP (26,% –11 %) seine rechte Mehrheit von 55 % (+1,4 %) nur leicht ausbauen. Große Verschiebungen aber gab es vor allem innerhalb des rechten Blocks.
Gegen diese rechte Phalanx kam die bundesweit langsam erstarkende KPÖ nicht bzw. nur unzulänglich bei Nationalrats- und EU-Wahlen durch. Auf Landtags-, regionaler, städtischer und Arbeiterkammer-Ebene aber konnte die KPÖ respektable Ergebnisse erzielen, bis hin zum Vizebürgermeister in der Festspielstadt Salzburg.
Wahlen zur Parteientwicklung nutzen
Wohnen statt Kanonen! Geld für Pflege statt für Panzer! Geld für Bildung statt für Bomben! Darum geht es der KPÖ, und so ist sie im Superwahljahr 2024 angetreten. Auf der seit Jahren erstmal wieder gemeinsamen Bundeskonferenz 2023 wurde beschlossen, das Wahljahr – und das seit einiger Zeit entschiedenere Zusammengehen der KPÖ-Inseln im Land – zu nutzen, um die Partei weiter zu entwickeln: Mitglieder gewinnen, unterschiedliche Veranstaltungsformen zur Beteiligung und Aktivierung von Mitgliedern entwickeln, und die Arbeiter:innenklasse in ihrer Vielfalt für die Partei gewinnen, die Entwicklung der KPÖ zu einer eigenständigen Kraft der Arbeiterbewegung voranzutreiben. Und natürlich – bei den unterschiedlichen Wahlen – zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Wahlen sind ein Indiz dafür, wie die Partei in der Bevölkerung wahrgenommen wird. Häufig waren die Wahlergebnisse positiv – beinahe immer gab es Zuwächse. Der Zug noch Rechts in der »westlichen« Welt, in Europa, der EU ging am Kräfteverhältnis in Österreich jedoch nicht spurlos vorüber.
Wahlerfolge
Bei der Gemeinderatswahl in der Stadt Salzburg wurde die KPÖ Plus mit 23 Prozent der abgegebenen Stimmen zweitstärkste Partei und stellt nun 10 Abgeordnete. Der Fraktionsvorsitzende Kay-Michal Dankl wurde mit 37 Prozent der Stimmen in der Stichwahl zum Vizebürgermeister gewählt. Bei der EU-Wahl verdreifachte sich auf Bundesebene der Stimmenanteil der KPÖ auf drei Prozent und 105.000 Stimmen, blieb aber unter der Brandmauer der Vier-Prozent-Hürde. Freilich gab es auch herausragende Ergebnisse in Graz mit sieben Prozent, Salzburg mit sechs und Wien mit fünf Prozent. Der Trend, dass die Partei in den Landeshauptstädten gut abschneidet, setzte sich fort. Dort kommt sie direkt in Kontakt mit jungen Menschen und dort bestätigt sich auch die Politik, die gemeinsam entwickelt wird.
Beinahe vervierfacht wurde das Ergebnis bei den Wahlen zum Nationalrat auf 2,4 Prozent und 117.000 Stimmen, wieder mit guten Einzelergebnisse u. a. in Graz und Salzburg mit je sechs Prozent. Bei der Gemeinderatswahl in Innsbruck zog die KPÖ seit vielen Jahren erstmals wieder ins Parlament ein, erhielt sieben Prozent der Stimmen und drei Abgeordnete.
Bei der Landtagswahl in der Steiermark konnte die KPÖ ihren Fraktionsstatus und die zwei Mandate verteidigen, erhielt 29.595 Stimmen, rutschte aber von 5,99 auf 4,47 Prozent der Stimmen ab. »Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass die Kommunistische Partei trotz des enormen Sogs nach rechts wieder in den Landtag eingezogen ist. Wir konnten in den letzten Wochen viele neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewinnen, die unsere Reihen stärken und mit viel Herzblut mit dabei sind. Gemeinsam werden wir auch die nächsten fünf Jahre Sand im Getriebe der Mächtigen sein und die Regierer an ihre Wahlversprechen erinnern«, kommentierte die KPÖ-Fraktionsvorsitzende Claudia Klimt-Weithaler das Ergebnis. In der Stadt Graz schenkten doppelt so viele – zehn Prozent – der Wählenden der KPÖ ihr Vertrauen für die Landtagsarbeit.
Vom Januar bis April fanden – zeitlich gestaffelt nach Bundesländern – die Wahlen zu den Arbeiterkammern (AK) statt. Der KPÖ-nahe Gewerkschaftliche Linksblock GLB konnte, bundesweit von 1,5 auf 1,9 Prozent und von 9 auf 12 Mandate zulegen. In Tirol erreichte die Gewerkschaftliche Linke ein Mandat, in der Steiermark steigerte sich GLB-KPÖ um zwei Mandate.
Wie weiter
Schon vor den Wahlen zum Nationalrat haben Teile von Industriellenvereinigung IV (vergl. BDI) und Wirtschaftskammer deutlich gemacht, dass sie eine blau/schwarze Regierungskoalition wünschten. Nachdem dann Ende September die FPÖ zur stimmenstärksten Partei gewählt wurde – die wirtschaftsnahe ÖVP nur zweite – forderte unmittelbar danach die IV »entsprechende Mehrheiten zu finden, um die Lohnnebenkosten an das deutsche Niveau anzunähern, bürokratische Auflagen nachhaltig abzubauen und strukturelle Reformen für ein zukunftsfittes Österreich anzugehen«.
Aber die herrschenden Eliten waren sich nicht einig, mit welcher Parteienkonstellation das Wahlergebnis vom 29. September am besten umgesetzt werden könnte, um das Budgetloch von 6,8 Mrd. Euro der arbeitenden Klasse aufzubürden. Dissens der Eliten war, ob eine FPÖ/ÖVP-Regierung, oder eine mit den NEOS besser ihre Wünsche bei schrumpfender Wirtschaft erfüllen würde. Letztere Fraktion setzte sich zuerst durch und so erhielt der Chef der Wirtschaftspartei ÖVP, Kanzler Nehammer, den Auftrag zur Regierungsbildung.
Die drei Parteien ÖVP, SPÖ, NEOS konnten sich drei Monaten lang nicht einigen. Die ÖVP pochte auf milliardenschwere Steuererleichterungen für Unternehmen und Kürzungen bei Pensionen und Gesundheit, während die SPÖ auf einen gerechteren Beitrag aller – auch von Banken und Konzernen – drängte. »Letztlich scheiterte die Koalition am Wirtschaftsflügel der ÖVP, der lieber mit der FPÖ zusammenarbeiten will. Dieser setzte sich gegen Kanzler Nehammer durch, der schließlich zurücktreten musste.«, schrieb das Magazin Kontraste.
Der Regierungsbildungsauftrag ging dann Anfang Januar an die FPÖ, die sich schnell mit der ÖVP einigte, wie man den Menschen das Fell über Ohren ziehen will, u. a. mit der Abschaffung von Klimabonus, Bildungskarenz, Kürzungen von haushaltsnahen Förderungen und in der Verwaltung. Auch bei Sky Shield gab es Signale zur Einigung. Letztendlich sollen die Verhandlungen an der Verteilung der Ministerien gescheitert sein, im Besonderen am Innen- und Finanzministerium. Doch schon kurz vor dem Scheitern hatte der Chef der Wirtschaftskammer und ÖVP-Mitverhandler, Harald Mahrer, in Richtung FPÖ öffentlich verkündet »Wer nicht konsensbereit ist, und sich nur im Machtrausch befindet, der ist möglicherweise nicht regierungsfit«.
Offensichtlich wurde die Notbremse gezogen, denn der EU-feindliche Kurs der FPÖ und ihre Gegnerschaft zu den Russlandsanktionen waren plötzlich – auch öffentlich – wichtige Streitpunkte. Auch aufflammende Demos gegen schwarzblau haben die Aufmerksamkeit auf die menschenfeindliche Radikalität der FPÖ gelenkt.
»Bei den Kürzungen in unserem Sozialstaat und der Schikanierung von Minderheiten waren sie sich schnell einig. Nur wenn es um Posten geht, kommt Sand ins Getriebe der etablierten Parteien«, kommentierte Tobias Schweiger, KPÖ-Bundessprecher, das Scheitern der Regierungsverhandlungen. Derzeit ist nun offensichtlich wieder die Lieblingskonstellation Schwarz-Rot, unter Einbindung der Gewerkschaften, als Bundesregierung geplant. Die Wortmeldungen aus Vorarlberg und Kärnten zeigen, wo sich ÖVP und SPÖ treffen können: beim blau-schwarzen Budgetvorschlag plus einer Bankenabgabe, heißt es aus den Medien.
Wie sich die Unzufriedenheit der Menschen bei den Wahlen in Wien, wo seit Jahren die SPÖ die dominierende Kraft ist, auswirken wird, und ob die KPÖ die Chance nutzen kann, auch dort, wie in Salzburg und der Steiermark in den Landtag einzuziehen, wird die Wahl im April zeigen. Schon heute ist klar, dass es auch dort wieder Unterstützung aus den Bundesländern geben wird.
Editorial
Als dieser Heftschwerpunkt erarbeitet wurde, war der neue deutsche Bundestag noch nicht gewählt, hatte Trump Putin noch nicht angerufen und noch keinen »Eklat« mit Selenskyj inszeniert und damit seine europäischen (Junior-)Partner in Hektik über die angebliche russisch-amerikanische »Achse der Bösen« versetzt. All das haben wir »kurz nach Redaktionsschluss« nur kurz kommentiert ins Heft »quetschen« können. Verweisen möchten wir besonders auf die sachlichen Hintergrundbeiträge von Dmitri Suslow (Russland) und C. J. Atkins (USA). Eine umfassendere Analyse wollen wir im nächsten Heft versuchen. Es geht um erkennbare »Kräfteverschiebungen«, neue Widersprüche zwischen Kapitalfraktionen und Staatengruppen und die Herausforderungen »für Europa« (gibt’s das überhaupt?), aber vor allem für alle Kräfte, die in einer Welt ohne Kriege, Ausbeutung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen leben wollen. Denn das, was Trump will und das, was er mit seinen willigen Vollstreckern umsetzen kann, sind zwei Paar Schuhe. Das hängt auch davon ab, was andere wollen und können. Gleiches gilt für Putins Pläne oder auch die des Bundeskanzler-Volontärs und BlackRockers Friedrich Merz.
An den in diesem Heft behandelten Grundproblemen und Herausforderungen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung hat all das wenig geändert, bis auf die Dringlichkeit sie zu lösen. Die ist nämlich dramatisch gestiegen.
Der Heft-Titel »Gegenmacht im Gegenwind – Kämpfen, aber wie?« ist angelehnt an das Motto der diesjährigen Streikkonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bei der es um Erfahrungsaustausch, Vernetzung und »gewerkschaftliche Erneuerung« geht. Wer von uns allerdings Patentrezepte bzw. die eine erfolgversprechende »Antwort auf fast alles« erwartet, wird sie nicht finden. Die haben wir nicht. Die wollen wir auch gar nicht geben. Wir wollen Denkanstöße geben, Impulse für die Diskussion und Suche nach gemeinsamen Antworten (über Organisations- und Parteigrenzen hinweg) – erfahrungsbasiert und von unserem Klassenstandpunkt aus.
Anknüpfend an unser Schwerpunktheft »Kriegstüchtigkeit & neue US-Atomraketen? NEIN DANKE!« (4_2024) haben Fragen der Militarisierung/Hochrüstung und Rüstungswirtschaft einen deutlich höheren Stellenwert, als in gewerkschaftlichen Debatten und im Programm der o. g. Konferenz erkennbar ist. Davon handeln die Beiträge von Ulrike Eifler (Kanonen und Butter wird es nicht geben), Ulrich Schneider (Erfahrungen aus der Nachkriegszeit), Barbara Majd-Amin (GEW-Peace-Net), Andreas Buderus (Konversion pervers), August Bebel (Rüstung und Arbeitsplätze) Peter Mertens (Belgien) über die Arbeiterklasse und die Militarisierung Europas und K-J. Noh (Korea) über KI im Zeitalter des Anti-China-Krieges.
Um Notwendigkeit, »Markenzeichen« und Organisierung kämpferischer, autonomer Interessenvertretung und Klassenpolitik geht es in den Beiträgen von Nicole Mayer-Ahuja, Marcel van der Linden (Niederlande) und Dietmar Dath. »Blockierte Transformationskonflikte und ihre Gespenster« skizziert Horst Kahrs. Betriebsaktivisten analysieren und kommentieren aus ihrer Sicht konkret die »Energiewende« (Joachim Schubert) und den (Tarif-)Kampf um Volkswagen (Achim Bigus/Timo Reuter).
Eine Menge Holz für die Debatte. Wer uns dazu seine Meinung sagen und mit uns diskutieren will, ist herzlich eingeladen, sich unter log@neue-impulse-verlag.de zum nächsten Video-»Treffpunkt Redaktion« anzumelden. LoG
Endgame
oder: Auf zum letzten Gefecht?
Holger Wendt
In allen westlichen Staaten herrscht das gleiche Bild: Sinkende Reallöhne, massive Angriffe auf soziale Rechte, ein vor aller Augen zerbröckelndes Gesundheitssystem, eine desolate Infrastruktur, eine eskalierende Bildungskatastrophe, verwahrlosende Innenstädte, außer Kontrolle geratendes Klima, unmittelbar drohende Weltkriegsgefahr, etc. pp. Alle wissen es. Der Anteil der Deutschen, der daran zweifelt, dass die Kinder noch das eigene Wohlstandsniveau erreichen, lag im Jahr 2021 bei 81 Prozent1; dieser Wert dürfte seither nochmals gestiegen sein. Die Misere ist nicht anzuzweifeln, wer ist daran schuld? Putin? Die Ausländer? Das Schicksal? Der Werteverlust? Putin? Die Chinesen? Die Handysucht? Die Politiker? Die Woken? Putin?
It’s the economy, stupid.
Legen wir den wohlfeilen Strauß beliebter Sündenböcke beiseite und betrachten die harten Fakten. Das vergleichsweise hohe Niveau des westlichen Lebensstandards war Folge des Wirtschaftsbooms nach Ende des zweiten Weltkrieges. Die gigantische kriegsbedingte Kapitalvernichtung schuf Raum für neue Akkumulation, zudem förderte die aktivere Rolle an keynesianischer Wirtschaftspolitik orientierter Staaten konstant hohe Wachstumsraten. Nach Zahlen des statischen Bundesamtes wuchs die bundesdeutsche Wirtschaft in den 1950er Jahren im jährlichen Durchschnitt um 8,2 %, in den 1960ern immerhin noch um 4,4 %. Kein bloßer Sondereffekt eines deutschen Wirtschaftswunders, alle westlichen Industriestaaten durchlebten goldene Zeiten. Dies in Kombination mit national und international gestärkten Arbeiterbewegungen sorgte für ein langfristig steigendes Konsumniveau der arbeitenden Bevölkerungsteile, sowohl individuell als auch kollektiv.
Natürlich beschränkte sich die historische Ausweitung des Volkswohlstands, sieht man einmal von den Staaten des Warschauer Vertrages ab, im Wesentlichen auf die Bevölkerung der westlichen Welt. Die andere Seite der Medaille war die nach wie vor drastische Abhängigkeit des Trikonts. Ohne die beeindruckenden Erfolge antiimperialistischer Befreiungsbewegungen kleinreden zu wollen: Auf’s Ganze gesehen verteidigte der Imperialismus das System (neo-)kolonialer Ausplünderung mit extremer Gewalt, ermordete Abermillionen, verdammte den Großteil der Menschheit zu einem Leben in Armut und sicherte sich so den notwendigen Zugriff auf ebenso billige wie blutige Ressourcen.
So atemberaubend das Wirtschaftswunder innerhalb des US-geführten Blocks war, seine Uhr lief ab. Die Wachstumsraten waren hoch, gingen aber von Zyklus zu Zyklus zurück. Mit der Krise der Jahre 1974/75 stieß die keynesanische Wirtschaftspolitik an ihre Grenzen. Schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik konnte sinkende Wachstumsimpulse nicht mehr ausgleichen, führte stattdessen zu steigender Inflation; das bis dato unbekannte Phänomen der Stagflation – das gleichzeitige Auftreten von Stagnation und Inflation – füllte die Wirtschaftspresse. Arbeitslosigkeit wurde chronisch. Die Antwort bestand in einem Wechsel des herrschenden wirtschaftspolitischen Paradigmas. Innerhalb von zehn Jahren, beginnend mit dem Probelauf der chilenischen Konterrevolution, wechselten die westlichen Hauptmächte nebst ihrem Anhang zu drastischeren Formen des Klassenkampfes von oben. Politisch geprägt von Figuren wie Thatcher, Reagan und Kohl, wirtschaftspolitisch gekennzeichnet durch den Siegeszug des Neoliberalismus, begann ein permanenter Angriff auf Gewerkschaften und Sozialstaat. Die Ausbeutungsrate stieg an, die Staatsverschuldung stieg ebenfalls, exponentiell. Entgegen allen Sonntagsreden zielte neoliberale Politik niemals auf Austerität und einen schlanken Staat. Sie zielte auf eine Erhöhung der Profitrate mittels innen- und außenpolitischer Zerstörung der Errungenschaften der Arbeiterbewegung. Dafür fehlte es noch niemals an Geld, schon gar nicht in den Bereichen Propaganda, Polizei, Geheimdienste und Militär.
Die Party ist vorbei.
Die als Neoliberalismus missetikettierte Packung aus Sozialraub und Repression half dem Kapital erfolgreich über die Krise des Keynesianismus hinweg, hat aber ebenfalls ihr eingebautes Ablaufdatum. Die strukturellen Defizite das vorkeynesianischen Kapitalismus sind durch den Neoliberalismus nicht verschwunden. Der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung lässt sich nicht in beliebiger Geschwindigkeit senken. Die Zahl privatisierbarer öffentlicher Betriebe ist endlich. Extreme (Staats-)Verschuldung destabilisiert das System, ein allzu »verschlankter« Staat wird dysfunktional. Sein historisch größter Sieg, der Kollaps des sowjetischen Blocks, brachte dem westlichen Kapitalismus einen zweiten Frühling, über die Katastrophe der Finanzkrise nach 2008 halfen China und die Druckerpresse hinweg, doch nun ist Schluss mit lustig.
Die Wachstumsraten westlicher Ökonomien sind dauerhaft in den Keller gerutscht. Die EU wuchs 2023 um 0,4 %, für 2024 sind 0,9 % prognostiziert.2 In der Bundesrepublik lag das Wirtschaftswachstum im Jahr 2023 bei –0,3 %, 2024 bei –0,2 %.3 Einzig die USA brachten es 2023 auf respektable 2,9 %, 2024 auf 2,8 %;4 dies allerdings verursacht durch Handelskriege, Sanktionsregimes, Rüstungsboom etc. – will heißen, ihr Wachstum erfolgte in erster Linie auf Kosten ihrer westlichen Verbündeten. Zum Vergleich: Die Wirtschaft der Volksrepublik China wuchs 2024, trotz massiver US-amerikanischer Attacken, um 5 %,5 für die indische werden sogar 6,5 % Wachstum erwartet.6 Nach Kaufkraftparität verfügt China bereits seit 2016 über eine stärkere Volkswirtschaft als die USA,7 nach GDP gemessen in Dollar wird es, bei Fortschreibung aktueller Wachstumsraten, die USA innerhalb der nächsten zwanzig Jahre überholen. Hinsichtlich ihres Anteils an der Weltproduktion sind die G7 längst von den BRICS-Staaten abgehängt.
Solche Zahlen, so dramatisch sie für die westlichen Machthaber sein mögen, vermitteln nicht einmal das halbe Bild. Der scheinbar uneinholbare technologische Vorsprung erodiert, in einigen Bereichen ist man mittlerweile im Rückstand. Vor allem: Die wachsende Stärke von BRICS gibt den Staaten des Trikont eine realistische Alternative zur Abhängigkeit vom Westen, zerstört alte koloniale Unterordnungsverhältnisse, unterminiert lebenswichtige Ressourcentransfers.
In der Abwärtsspirale
Der us-geführte Block sieht der fortschreitenden Erosion seiner jahrhundertealten Machtposition nicht tatenlos zu, macht mobil in allen Bereichen: ökonomisch, politisch, militärisch. Ziel ist die erneute Erhöhung der eigenen Akkumulationsraten bei gleichzeitiger Zerstörung der Kapazitäten der Gegner, insbesondere derjenigen der VR China. Notwendig hierfür ist eine drastische Steigerung der Ausbeutungsraten, nur möglich mittels des Kampfes gegen jedweden sozialpolitischen, humanistischen oder ökologischen Klimbim. Der wirtschaftswissenschaftliche Kanon wird umgeschrieben. Der Staat soll sich keineswegs aus der Wirtschaft heraushalten. Milliardensubventionen, solange sie Großkonzernen zugutekommen, gelten als unverzichtbar. Schutzzölle und Einfuhrverbote sind, richten sie sich gegen die Richtigen, zu begrüßen. Der globale Freihandel, jahrzehntelang unangefochtenes Dogma neoliberaler Wirtschaftsweisheit, ist einem stets wachsenden Sanktionsfuror gewichen.
So laut die Propaganda, die dergleichen begleitet, auch tönen mag, es handelt sich um Maßnahmen, die die eigene Schwäche unterstreichen. Freihandel war stets die Parole der siegreichen Bourgeoisie, Sanktion und Schutzzoll die Forderung der unterlegenen Seite. Aus gutem Grund. Der Starke bedarf derartiger Krücken nicht, kann es sich leisten, sie als fortschrittsfeindlichen Unfug zu verdammen. Staatliche Subventionen unterstreichen die mangelhafte Fähigkeit von Konzernen, eigenständig konkurrenzfähig zu produzieren. Schutzzölle, selbst wenn sie nicht repliziert werden, heben das inländische Preisniveau, bergen die Gefahr der Selbstisolation.
Das Ende ist nah – aber welches?
Die Tatsache, dass der Westen mit dem Rücken zur Wand steht, macht ihn nicht ungefährlicher. Jede seiner Gegenmaßnahmen ist eine unmittelbare Bedrohung für Millionen. Menschen, die sich einst gesellschaftlich integriert fühlten, sehen ihre Lebensperspektiven zerstört. Aufstiegshoffnungen erweisen sich als illusionär, Abstiegsängste reichen bis tief in den Mittelstand. Die westlichen Gesellschaften verlieren die Kontrolle über die Entwicklung der Produktivkräfte, an Destruktivkräften hingegen herrscht kein Mangel. Die destruktive Seite des Kapitalismus nimmt überhand, zerstört die Gesellschaften von innen, ihre Gesundheits- und Sozialsysteme, ihre Infrastrukturen, ihren sozialen Zusammenhalt. Zugleich zerstört sie alle Restbestände politischer Rationalität. Diskurse über die Richtung gesellschaftlicher Entwicklung sind blockiert, selbst systemimmanente Auseinandersetzungen eingeschränkt. In Parteien, Medien, Think Tanks und Universitäten herrscht derselbe irrationale Einheitsbrei. Er herrscht um so unangefochtener, je offenkundiger seine Unzulänglichkeit zutage liegt. Je offensichtlicher wird, dass die Verschärfung von sozialer Ungleichheit kein Ausweg aus der Wirtschaftskrise ist, desto lauter schreien Politik und Medien nach Entlastung der Reichen und Bestrafung der Armen. Je tiefer wir in die Klimakrise rutschen, desto heftiger werden die ohnehin dürren Gegenmaßnahmen angefeindet. Auf allen Politikfeldern, von der Gesundheitspolitik über die Verkehrs- bis zur Bildungspolitik, vom Finanzwesen bis zur Außenpolitik, überall tanzt der pure Wahnsinn. Nach Belegen für Georg Lukács’ These über die Irrationalität imperialistischen Denkens braucht nicht weiter gesucht zu werden als bis zur ersten Seite der nächstbesten Tageszeitung, den ersten Minuten der abendlichen Tagesschau.
Nicht die Existenz derartiger Propaganda ist neu, auch nicht ihre privilegierte Verbreitung. Neu ist ihr auf staatliche Repression gestützter Anspruch auf Ausschließlichkeit. Die letzten Nischen für alternative Vorstellungen werden gesäubert, ihre Vertreter ins soziale und moralische Abseits gedrängt.
Bis alles in Scherben fällt
Nirgends zeigt sich die Irrationalität des verwundeten Imperialismus deutlicher als im Bereich seiner Kernkompetenz: Der Zerstörung. Die Zahlen sind bekannt. Die USA geben mit 916 Milliarden Dollar mehr als dreimal so viel Geld für Rüstung aus als die VR China mit ihren 296 Milliarden, mehr als alle neun folgenden Länder zusammen.8 Die Militärausgaben der NATO-Länder betragen selbst nach konservativen Schätzungen mehr als das 12-fache der russischen.9 Dennoch sind »wir« bedroht, debattiert man, ob der Rüstungsetat auf 3,5 % (Habeck) oder doch auf 5 % (Trump, Weidel) des Bruttosozialprodukts steigen solle.
Mit der Hochrüstung investiert man in den einen Bereich, in dem man noch unangefochten Weltführer ist, es auf absehbare Zeit bleiben wird. Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode. Staaten, die keine ökonomischen Anreize mehr sehen, sich in Richtung Westen zu orientieren, werden mittels nackter Gewalt dazu gezwungen. Ein imperialistisches Erfolgsrezept, vielleicht das letzte, das noch funktioniert. Nicht nur Meinungsmanipulation, die Finanzierung prowestlicher NGOs, Wahlbeeinflussung und geheimdienstliche Interventionen, auch Putsche, Aufstände, Bürgerkriege und militärische Eingriffe bis hin zum Krieg sind feste Bestandteile des westlichen Arsenals. Sonderlich subtil waren entsprechende Drohungen nie, möglich bleiben sie aufgrund einer nach wie vor uneinholbaren militärischen Dominanz.
Die Hochrüstungswelle, deren allererste Stadien wir gerade erleben, führt bereits heute bis hart an die Grenze des atomaren Infernos. Wurde diese Grenze bisher nicht überschritten, so liegt das gewiss nicht an der Vernunft der hiesigen Regierungen. Es liegt an den militärischen Fähigkeiten der Gegner zum »Zweitschlag«, die den atomaren »Erstschlag« als zu riskant erscheinen lassen. Noch. Man mache sich nichts vor: Auch atomare Optionen werden diskutiert, sie werden vorbereitet. Es wird alles Erdenkliche getan, dem Westen, oder auch nur den USA, oder nur den US-Milliardärseliten, die Chance zu geben, als Sieger aus einem Weltkrieg hervorzugehen.
Back to the future
Die Lebensperspektiven der Masse der Bevölkerung sind düster, gleichzeitig bewegt sich die bitter notwendige Gegenwehr auf dem Niveau der Teppichkante. Man vergleiche den Kampf um Volkswagen 2024 mit dem Kampf um Krupp-Rheinhausen im Jahr 1987. Man vergleiche die Ostermärsche von heute mit den Ostermärschen der 80er Jahre. Parteien von links bis rechts haben der Bevölkerung nichts Besseres zu bieten als das Versprechen, ihr den Weg zurück ins verlorene goldene Zeitalter zu weisen. Die CDU verspricht ein Deutschland, auf das man wieder stolz sein kann, die AfD plakatiert »Wir holen Dir Dein Land zurück!«, das BSW fordert »vernünftige« Wirtschaftspolitik im Stile Ludwig Erhards. Donald Trump macht America great again. Selbst in der DKP findet sich die Sehnsucht nach den Klassenkämpfen von gestern, getreu dem Motto: Früher war alles besser – selbst die Zukunft.
Verwundert es, dass sich eine Arbeiterklasse, die ihre Zukunft hinter sich liegen sieht, nach der guten alten Zeit zurücksehnt? Dass diese Sehnsucht regelmäßig in konservative oder sogar reaktionäre Tendenzen umschlägt? Der »Fortschritt« erscheint als ein naives Gemisch aus gutmenschlichem Quark, der einstmals funktionierende Gemeinschaften zerstört hat. Die naheliegende Lösung liegt im Zurück. Zurück in die Zeiten, als der patriarchale Unternehmer noch Herr im Hause war. Zurück zur unangefochtenen Autorität des Schutzmannes. Zurück in die traditionelle Familie, mit dem Tradwife an der Seite des Familienoberhauptes. Zurück in ein christliches Deutschland. Zurück zu Zucht und Ordnung. Zurück zur Hochachtung vor dem tapferen Soldaten.
Die Antwort auf die allgegenwärtigen reaktionären Utopien liegt nicht darin, eine alternative goldene Vergangenheit zu beschwören. Der westliche Imperialismus befindet sich nicht im Niedergang, weil er die guten alten gegen die schlechten neuen Werte eingetauscht hätte. Den Fall der Profitrate hält man nicht mit Kulturkämpfen oder Massenabschiebungen auf. Man kann ihn, verbleibt man im Rahmen des Profitsystems, zeitweilig überkompensieren durch Maßnahmen wie Lohndrückerei, Arbeitszeitverlängerung, Arbeitshetze, Sozialraub, Staatsverschuldung, dem Wegbeißen von Konkurrenz oder durch Aneignung fremder Ressourcen. Diese Linie verfolgt die Politik seit Jahrzehnten. Sie kann, da sie bürgerlich ist, auch keine andere Politik verfolgen. Alle bürgerlichen Parteien in allen Staaten des Westens versprechen hoch und heilig, die Linie des reaktionären Gesellschaftsumbaus noch konsequenter umzusetzen. Die Unterschiede zwischen ihnen liegen nicht im ob, sie liegen allenfalls im wie. Das ist kein bloßes Resultat ihrer Dummheit, Korruptheit oder Phantasielosigkeit. Die Spielräume, die dereinst eine Koexistenz von hinreichender Akkumulation und wachsendem Volkswohlstand ermöglichten, sind Geschichte. Um erstere zu sichern, muss letzterer geopfert werden.
180°
Wie immer die Gegenwehr gegen die allgegenwärtigen reaktionären Tendenzen aussehen kann, eins ist sicher: Es gibt kein zurück ins kuschelige Gestern. Erstens, weil es auch gestern für die große Mehrheit der Menschheit nicht sonderlich kuschelig war. Zweitens, weil man keine Vergangenheit preisen sollte, die die schlechte Gegenwart hervorgebracht hat. Drittens, weil es Gründe gibt, dass die Logik von gestern heute nicht mehr funktioniert. Diese Gründe gilt es zu erkennen, aus ihnen sind Folgerungen zu ziehen. Nimmt man sie ernst, erledigt sich alle wohlfeile Nostalgie.
Übrig bleibt erstens, aufzuzeigen, warum der versprochene Zug nach rückwärts ein Zug in immer größere Katastrophen ist. Zweitens bleibt die Propagierung von Maßnahmen, die anzugehen sind, will man das Desaster noch abwenden. Beispielsweise die Schaffung öffentlich kontrollierter Produktionskapazitäten, die nicht mehr dem Profitprinzip unterworfen sind. Oder die Aufkündigung alter imperialistischer Bündnisse zwecks Hinwendung zu den aufstrebenden Ökonomien des globalen Südens. Oder den Zwang zur Einstellung individuell profitabler, ökologisch jedoch fataler Produktionszweige. Derartige Maßnahmen sind die einzig realistische Alternative zum Weg in den Abgrund. Dass ihre zeitnahe politische Durchsetzung hierzulande in etwa so wahrscheinlich ist, als es wäre, sie sich vom Christkind zu wünschen, spricht nicht gegen diese Aussage. Eine Chance auf Durchsetzung hätten sie nur, würden sie Gegenstand aktiver Klassenkämpfe. Wie das zu erreichen ist, mögen die Interessierten erörtern und erproben.
1 https://www.rnd.de/politik/umfrage-sorgen-um-wohlstand-der-kinder-heutige-eltern-glauben-nicht-an-besseres-leben-fuer-ihre-7M43JMZKTNECPA46BCKYTOZEIE.html; eingesehen am 19.1.2025.
2 https://www.wko.at/statistik/eu/europa-wirtschaftswachstum.pdf, eingesehen am 24.1.2025.
3 https://de.statista.com/themen/26/bip/#topicOverview, eingesehen am 24.1.2025.
4 https://www.imf.org/external/datamapper/NGDP_RPCH@WEO/USA?zoom=USA&highlight=USA, eingesehen am 4.2.2025.
5 https://dzresearchblog.dzbank.de/content/dzresearch/de/2025/01/17/china--peking-pusht-die-wirtschaft-zum-wachstumsziel---ausblick-.html, eingesehen am 24.1.2025.
6 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1461081/umfrage/aktuelle-prognosen-zur-entwicklung-des-bip-in-suedasien/, eingesehen am 24.1.2025.
7 https://de.statista.com/themen/10635/usa-vs-china/#topicOverview, eingesehen am 24.1.2025.
8 SIPRI Yearbook 2024 – Summary, Solna 2024, S. 11.
9 https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/grund-zur-sorge-7673/, eingesehen am 1.2.2025.
Die anhaltende Notwendigkeit von Arbeiter:innenbewegungen
Ein optimistischer Ausblick
Marcel van der Linden

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag aus:
»… erkämpft das Menschenrecht« – Vom Aufstieg und Fall klassischer Arbeiterinnenbewegung.
Die Krise der Arbeitnehmer:Innenbewegungen ist besorgniserregend, weil es in der arbeitenden Bevölkerung nach wie vor einen sehr großen Bedarf an wirksamer wirtschaftlicher und politischer Interessenvertretung gibt. Wie sehen unter diesen Umständen die Aussichten für die Arbeitnehmer:innenbewegungen aus? Langfristig gesehen sind die Dinge vielleicht nicht so düster, wie sie heute erscheinen. Eine Reihe von Faktoren kann sich ändern und so einen optimistischeren Blick ermöglichen.
Erstens ist vielleicht ein Hinweis auf eine paradoxe Entwicklung nützlich. Die Schwächung der Arbeiter:innenbewegungen hat es anderen Bewegungen ermöglicht, sich einen Teil ihres ehemaligen Aktionsfeldes anzueignen. Religiöse und nationalistische Bewegungen füllen teilweise das derzeit bestehende sozial-politische Vakuum, indem sie Klassenkonflikte umlenken. Sie bieten ihren Anhänger:innen elementare Formen sozialer Sicherheit und Vertrauensnetze, aber auch Selbstwertgefühl und klare Lebensziele. Viele arme Menschen werden von solchen Bewegungen in all ihren Varianten angezogen – von den Pfingstbewegungen in Lateinamerika und Subsahara-Afrika bis hin zum Salafismus in Nordafrika, dem Nahen Osten und Zentralasien. Auch prekär lebende Jugendliche in kapitalistischen Industriestädten scheinen sich manchmal zu Gruppen hingezogen zu fühlen, die eine neue religiöse Gewissheit bieten. Der Historiker Sabyasachi Bhattacharya bezeichnet diesen Trend als »Vernakularisierung der Arbeiterpolitik«; er schafft »eine Solidarität von Menschen mit einer gemeinsamen Sache, die sozial oder kulturell oder manchmal auch regressiv religiös sein kann; die so gewonnene Solidarität kann und wird genutzt, um eine Agenda zu verfolgen, die parallel zur Agenda der Gewerkschaften läuft oder diese ersetzt«. Ein eindeutiges, rechtsextremes Beispiel ist die hindufaschistische Shiv-Sena-Bewegung, die nach der Niederlage des großen Textilarbeiter:innenstreiks in Bombay 1980–81 an Einfluss gewann. Die sozialen Plagen wie Arbeitslosigkeit, Verelendung, zunehmende Kleinkriminalität und Menschenhandel machten die Shiv Sainiks, wie die Anhänger der Bewegung genannt werden, sehr schnell populär. Sie boten den Armen nicht nur Ehre, Status und Selbstachtung, sondern arbeiteten auch mit gelben »Gewerkschaften« zusammen, die einen gewissen Schutz boten.
Zweitens werden die Klassenkonflikte nicht abnehmen, und die Arbeitnehmer:innen auf der ganzen Welt werden weiterhin die Notwendigkeit wirksamer Organisationen und Kampfformen spüren. Werfen wir nur einen kurzen Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre. Die Carnegie Endowment for International Peace beobachtet seit einigen Jahren soziale Proteste auf globaler Ebene. In ihrem Bericht über das Jahr 2023 stellt die Organisation fest: »Die Flut von Anti-Regierungs-Protesten, die weltweit Länder in Aufruhr versetzt hatte, dauerte auch 2023 an. […] Neue Proteste brachen in dreiundachtzig Ländern aus, von China und der Demokratischen Republik Kongo bis zum Irak und Nordmazedonien. […] Darüber hinaus hielten einige Proteste, die bereits vor diesem Jahr begonnen hatten, an, darunter Demonstrationen der Lehrer in Ungarn, Demonstrationen gegen die Regierungspartei in Bangladesch und gegen den ›Selbstputsch‹ des tunesischen Präsidenten Kais Saied im Juli 2021 und dessen hartes Durchgreifen gegen die Opposition. Auch die große Protestbewegung im Iran, die im Oktober 2022 mit dem Tod von Mahsa Amini in Polizeigewahrsam begonnen hatte und den Slogan ›Frau, Leben, Freiheit‹ populär machte, setzte sich fort.«
An der Streikfront tun sich interessante Dinge, auch bei den beiden Supermächten. Das in Hongkong ansässige China Labour Bulletin sammelt Streikdaten für die Volksrepublik China. In seinem Bericht für das Jahr 2023 stellt das Bulletin fest, dass es 1794 »Vorfälle« gab, mehr als das Doppelte der Gesamtzahl von 2022 (831 Vorfälle) und mehr als das Niveau der kollektiven Arbeitnehmer:innenaktionen vor der Pandemie, wobei die wichtigsten Sektoren das Baugewerbe und die verarbeitende Industrie waren. Der Hintergrund ist die derzeitige Rezession. Im Leitartikel heißt es: »Die hohe Jugendarbeitslosigkeit hat dazu geführt, dass mehr Universitätsstudenten die Arbeitslosigkeit akzeptieren oder Teilzeitjobs und andere Möglichkeiten suchen, um über die Runden zu kommen. Was die Arbeitnehmer betrifft, die direkt entlassen wurden und deren Leistungen gekürzt wurden, so haben viele weitere Streiks und Proteste begonnen. Unter diesen Umständen brauchen Chinas Arbeitnehmer Gewerkschaften, die sie vertreten können, bevor und nachdem Rechte verletzt werden.«
Für die USA kam das Economic Policy Institute aus Washington Anfang 2024 zu dem Schluss, dass es im vorangegangenen Jahr zu einem »Wiederaufleben der kollektiven Aktionen unter den Arbeitnehmern« gekommen war: »Die Beschäftigten reichten in Rekordzahl Petitionen für Gewerkschaftswahlen ein und erzielten durch Arbeitsniederlegungen und Vertragsverhandlungen erhebliche Lohnerhöhungen. Darüber hinaus wurden die Organisierungsbemühungen in einer Vielzahl von Sektoren fortgesetzt, darunter das Gesundheitswesen, gemeinnützige Organisationen, das Hochschulwesen, Museen, der Einzelhandel und die verarbeitende Industrie. Streiks gehörten zu den wichtigsten Formen kollektiver Maßnahmen im Jahr 2023.«
Laut dem Labor Action Tracker von Cornell ILR gab es bis zum 31. Oktober 354 Streiks im Jahr 2023, an denen rund 492.000 Arbeitnehmer:innen beteiligt waren – »fast achtmal so viele wie im gleichen Zeitraum 2021 und fast viermal so viele wie im Jahr 2022.«
In Europa kam es zu Massenprotesten, zum Beispiel in Frankreich zwischen Januar und Juni 2023 gegen die Rentenreform der Regierung Borne. »Mehr als eine Million Menschen sind in Paris und anderen französischen Städten im Rahmen landesweiter Proteste gegen Vorschläge zur Anhebung des Rentenalters auf die Straße gegangen. Acht der größten Gewerkschaften beteiligten sich an dem Streik gegen die Rentenreformen. […] Über 200 Demonstrationen wurden im ganzen Land gemeldet.« Unter anderem in Deutschland und Spanien ereigneten sich große Streiks im öffentlichen Verkehrswesen.
Im Jahr zuvor hatten sich in Indien »mehr als 200 Millionen Arbeitnehmer am 28. und 29. März [2022] an einem zweitägigen landesweiten Streik unter dem Motto ›Rettet das Volk und rettet die Nation‹ beteiligt. Das Gemeinsame Forum der Zentralgewerkschaften, das sich aus zentralen Gewerkschaften und unabhängigen Branchenverbänden, darunter auch IndustriALL-Mitgliedsorganisationen, zusammensetzt, rief den Streik aus Protest gegen die arbeitnehmer-, bauern- und volksfeindliche Politik der Regierung aus.« In Vietnam brach 2005 eine Welle wilder Streiks aus, die 2011 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, aber immer noch andauert.
Hinzu kommt – drittens –, dass die globale Erwerbsbevölkerung größer und stärker vernetzt ist als je zuvor. Die Zahl der Beschäftigten (Lohnempfänger:innen) stieg weltweit stark an. Gleichzeitig finden innerhalb der einzelnen Regionen enorme Verschiebungen statt. Eine historische Migration vom Land in die anschwellenden Megastädte ist im Gange. Im Jahr 1960 lag die Gesamtzahl der internationalen Migrant:innen weltweit bei etwa 72 Millionen; bis 2015 hatte sie sich auf 243 Millionen verdreifacht.
Auch die Binnenmigration nahm deutlich zu. Im Jahr 2000 schätzte das Nationale Statistikamt der Volksrepublik China die Zahl der ländlichen Wanderarbeiter:innen auf 113 Millionen. Zehn Jahre später hatte sich diese Zahl auf 240 Millionen mehr als verdoppelt. 155 Millionen davon arbeiteten außerhalb ihres Heimatgebiets. Von diesen 155 Millionen waren etwa 72 % in der verarbeitenden Industrie, im Baugewerbe, in der Lebensmittel- und Getränkeindustrie, im Groß- und Einzelhandel und im Gastgewerbe beschäftigt. Die Volkszählung von 2020 zeigt, dass die Zahl der Wanderarbeiter:innen – definiert als Personen ohne lokale Haushaltsregistrierung – weiter auf 376 Millionen stieg. In Indien nahm die interne Arbeitsmigration seit den 1990er Jahren explosionsartig zu, wobei die Rate der temporären und saisonalen Migration in armen Regionen wie Nagaland und Madhya Pradesh am höchsten ist. Heute gibt es in Indien etwa 600 Millionen Binnenmigrant:innen, die meisten von ihnen sind Arbeitnehmer:innen, die keinen Zugang zum formellen Arbeitsmarkt haben.
Viertens gibt es auch explizite Anzeichen für eine Erneuerung. Die Organisierungsbemühungen für zuvor nicht organisierte Beschäftigte in Krankenhäusern und im Pflegesektor nahmen in den letzten Jahren zu. Der Aufstieg des Internationalen Netzwerks für Hausangestellte seit 2009 und seine Kampagne, die zum IAO-Übereinkommen 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte (IAO, 2011) führte, war für viele eine Inspiration. Die aktuellen Streiks von inhaftierten Arbeitnehmer:innen in den Vereinigten Staaten zeigen, dass neue Teile der Arbeiter:innenklasse zu mobilisieren beginnen. In vielen Ländern versuchen die Gewerkschaften, sich für »informelle« und »illegale« Arbeitnehmer:innen zu öffnen. In den letzten Jahren ist es der ugandischen Amalgamated Transport and General Workers’ Union (ATGWU) gelungen, eine große Zahl von informellen Transportarbeitern zu organisieren.
Spektakulär ist auch die 2006 gegründete indische New Trade Union Initiative (NTUI), die die Bedeutung sowohl der bezahlten als auch der unbezahlten Arbeit von Frauen anerkennt; sie versucht, nicht nur den »formellen« Sektor zu organisieren, sondern auch Vertragsarbeiter:innen, Gelegenheitsarbeiter:innen, Hausangestellte, Selbstständige sowie die arme Bevölkerung in der Stadt und auf dem Land; außerdem versucht sie, den Rahmen für Tarifverhandlungen entsprechend umzugestalten.
Eine Studie der International Transportworkers Federation zeigt, dass an vielen Orten neuartige Arbeiter:innenorganisationen entstanden: »Es gibt viele Beispiele wie die 400 Organisationen von Straßenverkäufern in Indien, die sich in der National Association of Street Vendors of India (NASVI) zusammengeschlossen haben, und die Organisationen von Verkäufern, Markthändlern und grenzüberschreitenden Händlern aus verschiedenen Regionen Sambias, die sich in der AZIEA zusammengeschlossen haben, sowie über zwanzig weitere Organisationen von Straßen- und Marktverkäufern, die dem wachsenden internationalen Bündnis StreetNet angehören. StreetNet ist eine demokratisch strukturierte internationale Organisation von Straßen- und Marktverkäufern und Hausierern, die sich stark auf die Vertretung von Frauen in ihren Strukturen konzentriert.«
Bemerkenswert ist auch, dass wir in vielen Teilen der Welt das Wiederentstehen von Organisationsformen erleben, die vor allem in den frühen klassischen Arbeiter:innenbewegungen eine große Rolle spielten. Man denke zum Beispiel an Hilfskassen auf Gegenseitigkeit, d. h. Formen der gegenseitigen Versicherung gegen Krankheit oder Arbeitslosigkeit – eine Form des Selbstschutzes, die spätestens aus dem 18. Jahrhundert stammt. Erwähnenswert sind auch die Wohnungsgenossenschaften und kleinen Konsumgenossenschaften, z. B. die Solidarischen Einkaufsgemeinschaften, die seit den 1990er Jahren in mehreren Ländern das Licht der Welt erblickten. Wir können aber auch an neue Arten von Genossenschaften denken, die auf älteren Modellen aufbauen, z. B. Energieproduktionsgenossenschaften, die mit unterschiedlichen Energieträgern arbeiten (z. B. Photovoltaik, Wind, Biogas). Oder Energieverbrauchergenossenschaften, die das Ziel verfolgen, »ihre Mitglieder mit Energie zu versorgen, die sie möglichst günstig und nachhaltig von unterschiedlichen Anbietern einkaufen und dann weiter verteilen.«
Aussichten
Es geht also nun darum, den Versuch zu machen »eine neue Arbeiterbewegung zu schaffen«. Von großer Bedeutung wird dabei die Wiederbelebung der Gewerkschaften sein. Minimale Voraussetzungen dafür sind wahrscheinlich folgende:
Die Zielgruppe muss neu definiert werden. Der in der ersten Phase entwickelte Begriff der Arbeiter:innenklasse ist eurozentristisch, er muss überprüft und erweitert werden. Etliche der Gewerkschaften in der Peripherie und Semiperipherie gaben in ihrer Praxis die alte Abgrenzung schon vor längerem auf und rekrutieren allerlei Gruppen von »Halbproletarier:innen«.
Es steht fest, dass die neu zu definierende Zielgruppe nicht länger von weißen, männlichen Arbeitern aus der nordatlantischen Region dominiert werden wird, sondern von Frauen und Farbigen, die oft in Formen von Selbstausbeutung, in prekären Jobs oder Schuldknechtschaft beschäftigt sind. Die Gewerkschaftsbewegung wird ihre Arbeitsweise drastisch ändern müssen, damit sie diesen »neuen« Arbeiter:innen helfen kann, ihre Interessen wirksam zu berücksichtigen. Dies impliziert auch das Ende der Zentralität kollektiver Tarifverträge, denn diese gehen davon aus, dass Arbeitnehmer:innen über einen längeren Zeitraum für ein und denselben Unternehmer arbeiten.
Die Doppelstruktur der internationalen Gewerkschaftsbewegung (Zusammenarbeit von nationalen Verbänden und internationalen Gewerkschaftssekretariaten) ist ein problematisches Erbe aus der Vergangenheit, das über Bord geworfen werden muss. Optimal wäre wahrscheinlich eine neue Einheitsstruktur von internationalen Gewerkschaftssekretariaten, die für die »neuen« Zielgruppen offen sind.
Die recht autokratische Herangehensweise, die innerhalb der heutigen Gewerkschaftsbewegung vorherrscht, müsste einer demokratischen Herangehensweise und der Entscheidungsmacht einfacher Mitglieder Platz machen. Die Entwicklung einer solchen neuen Struktur wird durch die Möglichkeiten des Internets vereinfacht.
Während bisher in der internationalen Gewerkschaftsbewegung der Versuch der Einflussnahme auf Regierungen und transnationale Organisationen die bedeutendste Aktivität war (mit – als wichtigste – Ausnahme der Anti-Apartheidskampagne der 1980er Jahre) und man sich häufig an Staaten reibt, müsste in Zukunft viel entschiedener mit tatsächlicher Aktion gearbeitet werden, in der Form von Boykotts, Streiks und dergleichen. Dies würde implizieren, dass die Organisationen auch intern ansehnlich verstärkt werden. Zu Recht merkte Dimitris Stevis an, dass internationale Arbeiter:innenorganisationen bisher »nicht einfach schlafende Giganten« sind, sondern »fundamental schwache, zwischen den Nationen vermittelnde Föderationen«.
Die Frage ist, ob die gegenwärtige Gewerkschaftsbewegung in der Lage ist, diese Herausforderungen zu bestehen. Während der ersten Übergangsphase im späten 19. Jahrhundert waren die Schwierigkeiten so überwältigend, dass die alten Organisationen kollabierten. Erst ein Vierteljahrhundert später wurde es möglich, neue internationale Organisationen zu bilden. Wir sollten nicht vergessen, dass die Gewerkschaften der »subnationalen« Phase oft noch sehr fragil waren und dass es ihnen an Erfahrung fehlte. In der gegenwärtigen Übergangsphase scheinen die Chancen größer zu sein, dass die existierenden organisatorischen Formen fähig sein werden, sich anzupassen. Aber es bleibt sehr wahrscheinlich, dass die Entwicklung des transnationalen Internationalismus ein schwieriger Prozess sein wird, durchsetzt mit fehlschlagenden Experimenten und Momenten tiefer Krisen. Organisationsstrukturen und Verhaltensweisen, die mehr als ein Jahrhundert lang bestanden haben, können nicht so einfach geändert werden. Und es ist zudem höchst unwahrscheinlich, dass neue Strukturen und Umgangsformen durch Reformen von oben, durch Initiativen der zentralen Führungen, entstehen werden. Wenn es eines gibt, das uns die Geschichte gelehrt hat, dann ist es der Umstand, dass sich Gewerkschaftsstrukturen fast niemals reibungslos entwickeln. Im Allgemeinen sind neue Strukturen das Ergebnis von Konflikten und riskanten Versuchen. Druck von unten (durch konkurrierende Netzwerke, alternative Aktionsmodelle usw.) wird sehr wichtig sein. Wie dieser Druck genau aussehen wird und ob durch ihn rechtzeitig große Änderungen erzielt werden können – das kann wohl niemand sagen.
Die Wiederbelebung und Stärkung der Gewerkschaften reicht aber nicht aus. Erforderlich ist auch der (Wieder)Aufbau einer politischen Kraft. Doch wie sollte diese Kraft aussehen? Ich bezweifle, dass das politische Parteien im herkömmlichen Sinne sein sollten, denn die klassischen Mitgliederparteien haben sich mehr und mehr überlebt. Möglicherweise gibt es andere Wege, Anhänger:innen demokratisch zu organisieren.
Wie dem auch sei – sollte es zu einer Wiederbelebung kommen, werden die neuen politischen Formen wahrscheinlich anders aussehen als die traditionelleren. Optimal wäre wohl ein völlig neuer »Bauplan«, der mindestens drei wesentliche Merkmale aufweist. Erstens scheint es sicher zu sein, dass ein Erfolg nur möglich ist, wenn die großen Herausforderungen (Weltwirtschaft, Ökologie, Gleichstellung der Geschlechter, soziale Sicherheit, Klimawandel usw.) substanziell kombiniert und transnational angegangen werden.
Zweitens sollte das Verhältnis zwischen politischen und wirtschaftlichen Kämpfen völlig neu überdacht werden. István Mészáros argumentierte zu Recht, dass eine der großen Tragödien in der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung im 20. Jahrhundert »die interne Spaltung [war], die als Trennung des so genannten ›industriellen Arms‹ der Bewegung (der Gewerkschaften) vom ›politischen Arm‹ (den politischen Parteien) beschrieben wird. Diese Trennung hat zu einer starken Einschränkung der Arbeiterbewegung geführt, indem ihre Aktionen auf sehr enge Grenzen beschränkt wurden. Die politischen Parteien sind auf eine Situation beschränkt, in der die Menschen, die sie eigentlich vertreten sollten, die Möglichkeit haben, zu wählen – einmal in vier oder fünf Jahren einen Zettel in die Wahlurne zu werfen – und damit ihre Entscheidungsgewalt zugunsten derjenigen aufgeben, die im Parlament sitzen. Das Bedeutende an den laufenden Veränderungen ist nun, dass es notwendig wird, die Gewerkschaftsbewegung selbst (den ›industriellen Arm‹) direkt politisch werden zu lassen.«
Und drittens muss die Zweiteilung in Anarchismus und Parteisozialismus, die die globale Arbeiter:innenbewegung seit den 1860er Jahren beherrschte, überdacht werden. Der Anarchismus betonte tendenziell – wenn auch nicht ausschließlich – den »Sozialismus von unten«, d. h. die Ansicht, dass »der Sozialismus nur durch die Selbstemanzipation der aktivierten, in Bewegung geratenen Massen verwirklicht werden kann, die mit ihren eigenen Händen nach Freiheit greifen […] als Akteure (nicht nur als Subjekte) auf der Bühne der Geschichte«. Die Parteisozialisten hingegen betonen gewöhnlich den »Sozialismus von oben«, d. h. die Auffassung, dass der Sozialismus den Massen von einer herrschenden Elite »übergeben« werden muss – eine Tendenz, die sich in den letzten Jahrzehnten noch verstärkte, da die politischen Parteien kaum noch in der Gesellschaft verwurzelt sind. Sie versuchen zwar, den Bürger:innen zuzuhören, vor allem in Wahlkampfzeiten, aber sie sind vor allem ein Mittel geworden, durch das der Staat mit der Gesellschaft kommuniziert, und nicht umgekehrt.
Wenn der Sozialismus überleben soll, wird er daher wohl Ansätze »von unten« und »von oben« kombinieren müssen, indem er Regierungspolitik, Selbstorganisation und groß angelegte Mobilisierung strategisch miteinander verbindet. Ein solcher Wandel wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Nach Max Weber war »Der Geist des Kapitalismus« »das Produkt eines lang andauernden Erziehungsprozesses«, der sich über Jahrhunderte erstreckte. Ebenso ist eine sozialistische Gesellschaft wahrscheinlich nur als Ergebnis eines umfassenden Lernprozesses denkbar, eines Prozesses, in dem der gesellschaftliche Wandel von einer Selbstveränderung begleitet wird.
* * *
Ein oder anderthalb Jahre nach der missglückten deutschen Revolution 1848–49 hatten Marx und Engels gefolgert, dass die Chancen einer Umwälzung vorläufig vergeben waren. »Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein.«1 Vor diesem Hintergrund sagte Marx 1850 seinen Gegnern innerhalb des Bundes der Kommunisten, der Willich-Schapper-Fraktion: »Statt der wirklichen Verhältnisse [ist] der Wille als Hauptsache in der Revolution hervorgehoben worden. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkrieg durchzumachen, um die Verhältnisse zu ändern, um euch selbst zur Herrschaft zu befähigen, ist stattdessen gesagt worden: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.«2
Dieser Gedanke wurde rund hundert Jahre später wieder von Hans-Jürgen Krahl aufgenommen, der einige Monate vor seinem Tod betonte, »daß die Krisensituation, die materielles Elend schafft, nicht an sich selber die Revolution produziert«. Erst sei eine Änderung des kollektiven Bewusstseins erforderlich, über einen »Prozeß der Bewußtseinsveränderung, der sicherlich aktionsgebunden sein muß« und der sich sehr »in die Länge ziehen« werde. »Nicht auf einen primären Machtkampf um die politische Macht im Staate kommt es an, sondern darauf, einen wirklich sehr langen Aufklärungsprozeß< in die Wege zu leiten.« Einen ähnlichen Standpunkt verteidigte in den letzten Jahren Karl Heinz Roth. Was mir an diesem Vorschlag gefällt, sind das Denken in einem mittelfristigen Zeitraum und die Betonung der sozialen Autonomie als Lernziel. Dieser Lernprozess ist aus mindestens drei zusammenhängenden Gründen absolut unentbehrlich, wenn wir eine selbstverwaltende Gesellschaft errichten wollen.
Erstens, weil nur autonome Menschen sich autoritären Verführungen widersetzen werden. Zu Recht verwies Otto Fenichel schon vor langer Zeit darauf, dass sozialer Unfriede nicht notwendig Aufruhr erzeugt. Er bringt vielmehr »gleichzeitig zwei einander widersprechende Reaktionen hervor, nämlich eine Neigung zur Rebellion sowie die Tendenz, sich ›verlassen‹ zu fühlen und sich aus diesem Grund nach der Wiederkehr eines allmächtigen Retters zu sehnen. Die relative Stärke der aktiven Tendenz, etwas an einer Situation zu verändern, und der passiven, regressiven Sehnsucht hängt von verschiedenen Umständen ab. Einer von ihnen ist äußerst offensichtlich. Je größer die Hoffnungen auf einen Erfolg sind, desto stärker sind die aufrührerischen Neigungen. Je größer die Hoffnungslosigkeit ist, desto stärker ist die Sehnsucht nach Regression.«*
* Auf die weiteren umfassenden Quellenhinweise wurde hier aus Platzgründen verzichtet. Wir empfehlen dringend die Lektüre des Buches!
Zu wählen ist also zwischen Autonomie und Regression, wobei ich anmerken will, dass diese Regression nicht unvermeidlich in faschistischen Neigungen zum Ausdruck kommen muss, aber eben so sehr in zunehmender Furcht – das Gefühl, allenthalben von Krankheiten, Terroristen und Kriminellen bedroht zu sein –, dass daraus wiederum das Verlangen nach mehr und mehr Helfern, Beratern und »Experten« erwachsen kann.
Zweitens, weil eine wirklich demokratische Umwälzung nur auf einer Massenteilnahme basieren kann – und nicht nur auf einer Unterstützung durch die Massen. Schon Otto Rühle wusste: »Am wichtigsten aber ist der Abbau der Autorität in der menschlichen Seele, weil ohne ihn ein Abbau der Autorität weder in der Organisation, noch in Taktik und Theorie möglich ist.«
Drittens, weil das selbstständige Handeln und Denken eine unverzichtbare Voraussetzung für das Durchbrechen einer Konsumhaltung ist. Einer der ersten, die dies einsah, war – ungeachtet seiner technokratischen Attitüde – Rudolf Bahro, der die »massenhafte Überwindung der Subalternität« (die »Daseinsform und Denkform ›kleiner Leute‹«) als »die einzig mögliche Alternative zu der grenzenlosen Expansion der materiellen Bedürfnisse« auffasste. Die von einer solchen Kulturrevolution beförderte wirkliche Entfaltung menschlicher Individualität macht die Aufhebung von Ersatzbedürfnissen möglich und damit eine Neuordnung der Weltwirtschaft.
Um schließlich die Autonomie zu fördern, sind kleine und große Erfolge erforderlich, die erkennen lassen, dass der Kampf lohnt. Diese Erfolge können auch andernorts von anderen erzielt worden sein, wie es die Geschichte vielmals gezeigt hat (z. B. erfolgreiche Streiks, die andere Streiks stimulierten). Dies jedoch erfordert wiederum eine umfassende Kenntnis und Einsicht in den Kampf anderer, also den Aufbau alternativer transkontinentaler Netzwerke und Massenmedien.
Wem gelingt es? – Trübe Frage,
Der das Schicksal sich vermummt,
Wenn am unglückseligsten Tage
Blutend alles Volk verstummt.
Doch erfrischet neue Lieder,
Steht nicht länger tief gebeugt:
Denn der Boden zeugt sie wieder,
Wie von je er sie gezeugt.
Goethe, Faust, II, 3. Akt, »Arkadien«
Demokratie in der Arbeitswelt unter Druck
Herausforderungen für gewerkschaftliche Politik
Nicole Mayer-Ahuja1
Erinnert sich jemand an den Schwur der Gefangenen von Buchenwald? Vor ziemlich genau 80 Jahren wurde Deutschland, das zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen hatte, von der nationalsozialistischen Diktatur befreit. Nie wieder – das war die große Hoffnung für viele. Und wo stehen wir jetzt? Eine Partei, die »Remigration« fordert und »Hitler und die Nazis für einen Vogelschiss in der 1000-jährigen deutschen Geschichte« hält, könnte laut Umfragen zweitstärkste Kraft bei der Bundestagswahl werden.2 Und Deutschland rüstet auf wie seit langem nicht mehr – die Bevölkerung, wir sollen wieder kriegstüchtig werden.
Die Demokratie ist in Gefahr – keine Frage. Und das gilt auch und gerade in den Unternehmen, in der Wirtschaft. Mein Thema lautet deshalb: »Demokratie in der Arbeitswelt unter Druck – Herausforderungen für gewerkschaftliche Politik«. Ich will in aller Kürze fünf Punkte ansprechen und ende mit der Frage: »Was tun?«
Die erste Herausforderung für gewerkschaftliche Politik besteht schlicht darin, dass in der Arbeitswelt zwei Prinzipien aufeinandertreffen, die nicht zueinander passen: Kapitalismus und Demokratie. Die Wirtschaft funktioniert nach der Logik des Kapitalismus. Der bezieht seine Dynamik in allererster Linie aus Unterschiedlichkeit und Konkurrenz: Unternehmen suchen nach »Alleinstellungsmerkmalen« und konkurrieren miteinander – um Innovationen, um Ressourcen, um Köpfe, um Marktanteile. Demokratie spielt hier erst einmal keine Rolle – sie herrscht (im Idealfall) im politischen Raum. Demokratie heißt »Herrschaft des Volkes«, und damit das Volk herrschen kann, müssen die Bürger und Bürgerinnen zumindest in Hinblick auf ihre politischen Rechte möglichst gleich sein. Diese Rechte müssen für alle gelten, müssen möglichst universal sein.
Wenn wir nun über Demokratie in der Arbeitswelt sprechen, haben wir also ein grundsätzliches Problem: Unternehmen sind nämlich keine demokratischen, sondern kapitalistische Einrichtungen, hier entscheidet nicht die große Zahl, was produziert oder welche Dienstleistungen erbracht werden oder wie das passieren soll. Nein, diese Entscheidungen trifft das Unternehmen, es gilt das Direktionsrecht des Managements. Menschen im Unternehmen gelten gerade nicht als Gleiche, Unternehmensleitung und Belegschaft haben nicht dieselben Rechte. Und trotzdem – oder gerade deshalb gehört der Kampf um die Erweiterung demokratischer Spielräume zu den größten Herausforderungen für gewerkschaftliche Politik.
Tatsächlich ist es ja gelungen, betriebliche Mitbestimmung durchzusetzen und schrittweise zu erweitern. Und in langen Auseinandersetzungen wurden kollektive Rechte erkämpft – Arbeitsrechte und Rechte auf soziale Absicherung, die tatsächlich universell für alle gelten oder zumindest gelten sollen. »Mehr Demokratie wagen!« Diese Forderung galt nicht zuletzt für Unternehmen, und viele Beschäftigte haben sich das getraut. Sie haben den Unternehmen, die vor allem auf Unterschiedlichkeit und Konkurrenz setzen, demokratische Standards abgetrotzt – Standards, die heute massiv unter Druck sind.
Das zeigt sich (so mein zweiter Punkt) zum Beispiel daran, dass der Teil der Arbeitswelt, in dem Gewerkschaften und Betriebsräte überhaupt eine Rolle spielen, immer kleiner wird. Die DGB-Gewerkschaften hatten zusammen im Jahr 2001 etwa 8 Mio. Mitglieder – im Jahr 2022 waren es noch 5,6 Mio. Schauen wir auf die betriebliche Interessenvertretung, so ist die Zahl der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat in Westdeutschland allein von 1996 bis 2018 massiv zurückgegangen: Von 51 auf 42 Prozent. In Ostdeutschland sieht es noch düsterer aus: Dort sank der Anteil derjenigen, die einen Betriebsrat haben, von 43 auf 35 Prozent. Kolleginnen und Kollegen, das heißt: Betriebsrätlich vertreten werden nicht mal mehr die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland. Und noch eine letzte Zahl: Was viele von uns früher mal für normal gehalten hätten, dass nämlich ein Branchentarifvertrag gilt und ein Betriebsrat die Beschäftigten gegenüber der Unternehmensleitung vertritt, gilt in Westdeutschland nur noch für ein knappes Viertel der Beschäftigten, in Ostdeutschland für weniger als 15 Prozent. Dazu kommt noch, dass Tarifverträge und Betriebsräte sich auf einen kleinen Ausschnitt der Arbeitswelt konzentrieren: Vor allem auf große Unternehmen, oft in der Industrie. Im Einzelhandel zum Beispiel können Beschäftigte davon nur träumen. Hier finden gewerkschaftliche Häuserkämpfe statt, um Beschäftigte überhaupt zu erreichen. Und selbst da, wo Gewerkschaften immer noch stark, Betriebsräte mächtig sind, werden Vereinbarungen teilweise von heute auf morgen in Frage gestellt. Wer hätte sich bis vor kurzem vorstellen können, dass das Management von Volkswagen fünf Tarifverträge einfach so kündigt? Man lernt immer noch dazu.
Soweit – so schlecht
Aber was hat das mit Demokratie zu tun?! Sehr viel. Denn Betriebsräte sorgen dafür, dass Beschäftigte ihren Vorgesetzten nicht einzeln gegenübertreten müssen. Und das ist ungeheuer wichtig, weil ja auch Beschäftigte im Kapitalismus ständig miteinander konkurrieren: um einen sicheren Arbeitsplatz, um die Beförderung, um das nächste interessante Projekt usw. Wenn Beschäftigte trotz aller Konkurrenz zusammen für ihre gemeinsamen Interessen eintreten sollen, dann geht das nur, wenn sie sich organisieren. Dazu kommt, dass Beschäftigte sich in eins-zu-eins-Verhandlungen mit ihren Vorgesetzten kaum durchsetzen könnten, weil sie strukturell in einer sehr viel schwächeren Verhandlungsposition sind.
Deshalb braucht es kollektive Standards, wie sie in Tarifverträgen gesetzt werden, um das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit wenigstens ein bisschen auszugleichen. Sogar wenn gleiche Rechte für alle gelten, werden Unterschiedlichkeit und Konkurrenz natürlich nicht abgeschafft, aber sie werden abgemildert. Und damit entstehen Spielräume für Demokratie in der Arbeitswelt.
Wenn nun aber Tarifverträge und Betriebsräte an Bedeutung verlieren und teilweise ja auch aktiv von Unternehmen bekämpft werden, dann gilt das Gegenteil: »Weniger Demokratie wagen«, lautet die Devise in vielen Unternehmen. Doch selbst wo es noch Betriebsräte und kollektive Rechte gibt, ist es immer schwerer geworden, ihre Einhaltung durchzusetzen.
Damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Es findet eine »Entdemokratisierung durch neue Formen der Steuerung und Kontrolle von Arbeit« statt. Was heißt das? Nehmen wir etwa die Regulierung von Arbeitszeiten. Da gibt es das Arbeitszeitgesetz und jede Menge tarifliche Vereinbarungen – alles okay, sollte man meinen. Leider stimmt das nicht. Im Jahr 2016 zum Bespiel lag die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten laut Vertrag bei 38,6 Stunden – die tatsächliche Arbeitszeit hingegen lag bei 43,5 Stunden. Wie kann das sein, dass Leute im Schnitt pro Woche fünf Stunden länger arbeiten als im Vertrag steht? Wie kann es sein, dass über 40 Prozent laut DGB-Index gute Arbeit sagen, sie hätten wegen der Arbeit kaum oder gar keine Zeit, sich um private Belange zu kümmern? Die Antwort auf diese Fragen finden wir, wenn wir in so ein Unternehmen hineinschauen. Wo es überhaupt Betriebsräte und Gewerkschaften gibt, berichten sie von drei Problemen. Erstes Problem: Es gibt für die Regulierung von Arbeitszeit selbst in einem einzigen Unternehmen oft nicht mehr unbedingt einen einzigen Standard: Manche Beschäftigten arbeiten Schicht, andere arbeiten Gleitzeit. Manche buchen auf Lebensarbeitszeitkonten, andere arbeiten auf Abruf und bekommen diese Flexibilität nicht vergütet. Wieder andere haben Vertrauensarbeitszeit – sie schreiben ihre Arbeitsstunden überhaupt nicht auf. Kurz: viele Betriebsräte sind überfordert, diese unterschiedlichen Arbeitszeitregelungen unter einen Hut zu bringen. Zweites Problem: Wie mobilisiert man als Gewerkschaft eigentlich Beschäftigte, die ganz unterschiedliche Arbeitszeitstandards haben, von denen viele nun auch noch im Homeoffice arbeiten und die sich vielleicht deshalb auch gar nicht mehr regelmäßig im Betrieb treffen, für eine arbeitszeitpolitische Forderung? Tut man das aber nicht, setzt man keine Arbeitszeitstandards durch, dann werden die Arbeitsbedingungen immer ungleicher – und Standards von demokratischer Teilhabe stehen in Frage.
Dazu kommt als drittes Problem, dass viele Betriebsräte die Einhaltung von Arbeitszeiten absurderweise gegen Beschäftigte durchsetzen müssen. Dann nämlich, wenn Projektarbeit und Zielvereinbarungen gelten. Vorgesetzte geben dann die Losung aus: Das ist das Projektziel, es muss bis zu diesem Termin erreicht sein. Wann und wie lang ihr arbeitet, ist euch überlassen. Viele Beschäftigte finden das gut: weniger direkte Kontrolle, arbeiten können, wann und wie man will. Das Ding hat aber einen Haken: Projektziel, Personalausstattung und Deadline werden weiterhin vom Unternehmen bestimmt – da spielt demokratische Mitsprache keine Rolle. Was passiert also? Beschäftigte fangen an, sich nach der Decke zu strecken. Sie geben alles, um die (meist sehr knappen) Vorgaben zu erfüllen – immerhin sagt der Vorgesetzte ja, dass da nichts zu verhandeln ist, der Markt oder der Kunde lässt da keinen Spielraum. Man setzt die anderen Projektmitglieder unter Druck – das Problem scheint der Kollege zu sein, der immer so penibel ist, oder die Kollegin, deren Kind dauernd krank wird, nicht die Unternehmensleitung, die zu wenig Zeit und Ressourcen einplant. Betriebsräte stehen dann regelmäßig vor dem Problem, dass sie Beschäftigten, die eine dringende Deadline haben, am Abend das Licht ausschalten müssten, um Arbeitszeitregelungen durchzusetzen. Das tun sie oft nicht – und damit kommt es zu dem berühmten »Arbeiten ohne Ende«. Wenn der Arbeitstag aber keine festen, kollektiv vereinbarten Grenzen mehr hat, dann wird der Zugriff des Unternehmens auf meine Arbeitskraft grenzenlos. Was letztlich die »Freiheit« von Lohnarbeit ausmacht, was sie von Sklaverei unterscheidet – nämlich die Möglichkeit, sich ab einem bestimmten Punkt zu verweigern, nein zu sagen – wird in Frage gestellt. Es gibt keinen verbindlichen Feierabend, kein verlässliches Wochenende mehr, auf dem man bestehen kann – und damit werden Beschäftigte »unfreier«. Arbeit wird immer länger und intensiver, und es bleiben immer weniger zeitliche Spielräume, um sich mit Kollegen auszutauschen und sich mit Kolleginnen zu organisieren. Demokratische Teilhabe wird zurückgedrängt.
Vierter Punkt: »Prekarisierung frisst Demokratie auf«. Das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit ist in den letzten 150 Jahren nicht zuletzt dadurch kleiner geworden, dass es der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung gelungen ist, abhängige Beschäftigung immer stärker mit sozialer Sicherung zu verknüpfen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war Mitte der 1980er Jahre mit dem »Normalarbeitsverhältnis« erreicht. Warum? Nun, wenn Menschen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft ohne jede Unterbrechung und zu allen Bedingungen zu verkaufen, um ihre Existenz zu sichern, dann konkurrieren sie notgedrungen bis aufs Messer miteinander. Wenn man aber die Möglichkeit hat, unter bestimmten Bedingungen zeitweise auf den Verkauf der eigenen Arbeitskraft zu verzichten, weil es zum Beispiel eine Arbeitslosenversicherung gibt; wenn man nicht krank zur Arbeit gehen muss, weil es eine Krankenversicherung gibt, und wenn man nicht bis zum Tot-Umfallen arbeiten muss, weil es eine Rentenversicherung gibt, dann verbessert das die Verhandlungsbedingungen aller Arbeitenden maßgeblich. Seit den 1980er Jahren schlägt das Pendel aber leider in die andere Richtung: Eine staatliche Politik der Prekarisierung hat es Unternehmen möglich gemacht, immer mehr befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Minijobs und Werkverträge zu nutzen. Durch die Hartz- Reformen wurde der Druck auf Arbeitslose immer größer, notfalls jeden Job anzunehmen, auch wenn er unter dem bisherigen Einkommens- oder Qualifikationsniveau liegt. Denn wer will schon von der Arbeitsagentur mit Sanktionen überzogen werden? Unter diesen Bedingungen nimmt die Konkurrenz um Arbeit zu, wie Pierre Bourdieu schreibt – und mit der Konkurrenz um Arbeitsplätze steigt auch die Konkurrenz in der Arbeit. Ja, es stimmt – trotz aller Prekarisierung gibt es ja noch diese stabilen Stammbelegschaften, etwa in der Industrie. Aber auch die können sich mit sehr viel weniger Nachdruck für gute Arbeitsbedingungen einsetzen, wenn direkt nebenan, teilweise in derselben Halle, Leiharbeiter und Werkvertragsnehmerinnen stehen, die deutlich mehr Leistung für deutlich weniger Geld bringen müssen. Und es wird sehr viel schwieriger, eine Belegschaft für ihre gemeinsamen Interessen zu mobilisieren, wenn zum Beispiel in einem Krankenhaus ein großer Teil derer, die dort jeden Tag zusammen arbeiten, gar nicht mehr zur Belegschaft gehört, weil die Reinigung, der Bettentransport, die Kantine oder die Wäscherei ausgelagert worden sind. Kurz: Durch Prekarisierung werden Belegschaften gespalten, werden Beschäftigte immer stärker zueinander in Konkurrenz gesetzt. Damit gibt es immer weniger Standards, die tatsächlich für alle gelten. Immer weniger Möglichkeit, sie gemeinsam zu verteidigen. Immer weniger Möglichkeit für Beschäftigte, nein zu sagen. Wenn Demokratie auf Gleichheit und universellen Rechten beruht, ist das keine gute Nachricht. Prekäre Arbeit fördern heißt: Demokratie zurückdrängen!
Fünfter Punkt: Die Demokratisierung der Arbeitswelt, für die Beschäftigte seit dem 19. Jahrhundert gekämpft haben, war eng verbunden mit dem Auf- und Ausbau von Sozialeigentum. Was ist das? Sozialeigentum ist ein kollektives Vermögen, das dadurch entsteht, dass die stetig wachsende Gruppe der abhängig Beschäftigten aus ihren Löhnen und Gehältern Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlt. Es begegnet uns zum Beispiel in Form von sozialen Sicherungsmechanismen oder des öffentlichen Dienstes. Weil es das Sozialeigentum der großen Zahl ist, ist hier auch demokratische Kontrolle am stärksten ausgeprägt. Und auch hier gilt: Seit Jahrzehnten wird zum Sturm auf dieses Sozialeigentum geblasen: Öffentliche Dienste werden privatisiert. Selbst Einrichtungen, die öffentlich bleiben, werden immer stärker künstlichem Marktdruck ausgesetzt – man denke etwa an die Fallpauschalenregelungen und Profitvorgaben im öffentlichen Gesundheitssystem. In der Corona-Pandemie kam diese Logik unter Druck: gerade dort, wo das Sozialeigentum von Beschäftigten besonders konsequent enteignet worden ist, wie in den USA, waren die Todeszahlen besonders hoch. Gesundheit ist keine Ware, hieß es zurecht. Arbeit muss aufgewertet werden – in der Pflege, in der Erziehung, im Einzelhandel – kurz: überall dort, wo es um die grundlegenden Strukturen von menschlichem Zusammenleben und menschlichem Überleben geht. Und wo stehen wir heute? Es geht nicht mehr um Aufwertung – es geht um Aufrüstung! Die Schuldenbremse bleibt – während die Infrastruktur weiter zerfällt. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, die Reichen beteiligen sich immer weniger an den öffentlichen Aufgaben (Stichwort: Erbschafts- und Vermögenssteuer) – aber fast alle Parteien schieben die Schuld an fast allen Problemen dieses Landes den Menschen zu, die vor Krieg und Armut zu uns fliehen. Es wird zur Hatz auf diejenigen geblasen, die Bürgergeld beziehen – als Skandal gilt, dass das Bürgergeld nicht deutlich geringer ist als die Einkommen im Niedriglohnsektor. Kollegen und Kolleginnen: Der eigentliche Skandal besteht darin, dass die Bundesregierungen, egal wer sie angeführt hat, seit Jahrzehnten den Niedriglohnsektor ausgebaut haben. Der Skandal ist, dass immer mehr Menschen von ihrer Arbeit nicht mehr leben können. Der Skandal besteht darin, dass das Sozialeigentum, das den Beschäftigten in diesem Land gehört, das uns gehört, immer konsequenter enteignet wird. Und auch damit wird die Konkurrenz zwischen Arbeitenden weiter verschärft. Wenn medizinische Versorgung oder Transportbedürfnisse privat bezahlt werden müssen, steigt der Druck, notfalls mit den Ellenbogen durchzusetzen, dass man mehr verdient. Wenn man nicht Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen selbst zum Problem erklärt, ihre Leistungen kürzt, ihre Rücklagen einfordert, ihnen Vorgaben macht, wie sie zu wohnen haben, oder sie nun sogar zwingen will, unbezahlte Arbeit im Park oder auf dem Bahnhof zu leisten, dann tun Menschen natürlich alles, um nicht in diese Lage zu kommen. Wenn immer mehr Menschen arm sind, aber eine Regierung es nicht einmal schafft, eine Kindergrundsicherung auf den Weg zu bringen, dann nimmt man eben noch einen prekären Job an, um über die Runden zu kommen. Demokratische Teilhabe, Entscheidungsgewalt über das eigene Leben geht anders, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aber wie geht es anders?
Ich habe eingangs gesagt, dass wir es in der Arbeitswelt immer mit einem Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus zu tun haben. Die letzten Jahrzehnte waren leider vor allem durch den Abbau demokratischer Rechte, durch das Schüren von Ungleichheit geprägt. Doch es gab immer wieder auch Erfolge im Kampf um mehr Gleichheit, mehr Gleichberechtigung, mehr Demokratie in der Arbeitswelt. Dafür müssen wir streiten – heute und auch in Zukunft! Denken wir noch einmal an die Punkte, die ich genannt habe.
Betriebsräte und Gewerkschaften verlieren an Bedeutung. Was kann man dagegen tun? Die rechtliche Ahndung von Betriebsrat-Mobbing und Union Busting wäre ein erster Schritt. Wir müssen allerdings auch darüber reden, warum Tarifverträge nicht konsequenter für allgemeinverbindlich erklärt werden. Warum selbst bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen an private Unternehmen die Einhaltung von Tarifverträgen, die Existenz eines Betriebsrats nicht zur Voraussetzung erklärt und eingefordert wird. Oder warum nach der Rettung von Unternehmen durch öffentliche Gelder der Staat nicht mitentscheidet, ob Arbeitsplätze abgebaut und Gelder an Aktionäre ausgeschüttet werden. Wenn Unternehmen so scheue Rehe sind, die aus Unternehmerverband und Tarifvertrag fliehen – dann müssen wir Zäune ziehen!
Arbeitszeiten werden immer länger, Arbeit wird intensiver, und Arbeitszeitregelungen werden immer vielfältiger. Was kann man dagegen tun, dass das auf Kosten demokratischer Mitsprache geht? Drei Antworten fallen mir ein: Erstens brauchen wir endlich wieder eine wirkungsvolle gewerkschaftliche Leistungspolitik. Früher hieß das, dass man in einem Tarifvertrag eine »Normalleistung« definiert hat – eine Leistungsvorgabe also, die über ein ganzes Leben durchzuhalten war, ohne dass Beschäftigte krank werden. Wer redet heute noch über sowas? Niemand, denn heutzutage legen Unternehmen fest, wie viel Gewinn sie machen wollen, und Beschäftigte müssen dann eben genug Leistung bringen, um diese Gewinnerwartungen zu erfüllen. Welchen Preis sie in Sachen Stress und Gesundheit dafür zahlen, spielt keine Rolle. In Krankenhäusern ist hier mit Hilfe von vielen Streiks ein Durchbruch gelungen: Klare tarifliche Vorschriften für Personalbemessung – das muss doch in anderen Branchen auch möglich sein.
Zweitens müssen Arbeitszeiten stärker reguliert werden, durch Gesetz und Tarifvertrag. Ja, es stimmt, viele Beschäftigte finden es gut, dass Arbeitszeiten flexibler werden. Aber warum sollte man diese Flexibilität nicht kollektiv regulieren? Denken wir an die Tarifabschlüsse, die um 2018 erstritten worden sind: Bestimmte Beschäftigtengruppen haben seitdem die Wahl zwischen mehr freier Zeit und mehr Geld – individuelle Flexibilität also, aber auf Grundlage eines Tarifvertrags, der verhindert, dass Beschäftigte mit ihren direkten Vorgesetzten über Arbeitszeit verhandeln müssen und dabei regelmäßig den Kürzeren ziehen. Flexibilität, individuelle Wahl und kollektive Rechte – offensichtlich geht das doch zusammen! Und dann wäre da drittens das Projekt »kurze Vollzeit für alle«: Aktuell arbeiten die meisten Männer deutlich länger als sie wollen – sehr viele Frauen stecken in Teilzeit oder Minijob fest. Fragt man sie, was eine ideale Wochenarbeitszeit wäre, sagen beide Gruppen: ungefähr 25–30 Stunden pro Woche. Wie wäre es mit einem gewerkschaftsübergreifenden Kampf für so eine »kurze Vollzeit«? Für Vollzeitbeschäftigte hieße das: Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohn- und Personalausgleich – für Teilzeitbeschäftigte hieße es: Arbeitszeitverlängerung, damit ein existenzsicherndes Einkommen möglich wird und Altersarmut bekämpft wird.
Auch mit der Prekarisierung von Arbeit muss und darf es so nicht weitergehen. Wenn Lohnarbeit und soziale Sicherung endlich wieder stärker verknüpft werden sollen, dann brauchen wir eine Bürgerversicherung. Konkret hieße das: Abschaffung von Minijobs, Beamte und Beamtinnen, Alleinselbstständige – alle hinein in die Sozialversicherung! Und diese Sozialversicherung müssen wir verteidigen. Ein aktuelles Beispiel: Weil so viele Beschäftigte sich krankmelden, brauchen wir einen Karenztag, heißt es: Der erste Tag der Krankmeldung soll nicht mehr bezahlt werden. Was soll das? Muss man uns durch Lohnentzug davon abhalten, allzu leichtfertig krank zu feiern? Sind also wir, die arbeitsscheuen »Kleinbetrüger« das Problem hinter den hohen Krankenständen – oder Arbeitsbedingungen, die Menschen zunehmend ihre Gesundheit kosten? Wir zahlen Beiträge zur Krankenversicherung, damit wir unterstützt werden, sobald wir krank werden – nicht irgendwann! Und mit diesen Beiträgen erwerben wir Rechtsansprüche auf Unterstützung – deshalb kann man Leistungen nicht einfach so streichen, kann nicht einfach immer neue Sanktionen verhängen. Wir haben diese Sicherungssysteme aufgebaut: wer sie angreift, greift uns alle an. Und noch etwas: Wir feiern in diesen Tagen »10 Jahre gesetzlicher Mindestlohn« – ein großer Fortschritt, liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber der deutsche Mindestlohn liegt weiterhin unter der Schwelle, die von der OECD als »existenzsicherndes Einkommen« bezeichnet wird. Und immer noch arbeiten 15 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Ändern wir das endlich – weil Armut trotz Arbeit in einem der reichsten Länder der Welt nicht hinnehmbar ist.
Letzter Punkt: Auch der Abbau von Sozialeigentum muss aufhören. Ein Rückbau des Staates, wie er seit der neoliberalen Wende quer über den Globus betrieben worden ist, heißt: ein Rückbau demokratischer Einflussnahme. Schuldenabbau höher zu gewichten als die Sicherung würdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen, heißt: der Ungleichheit, die unter kapitalistischen Bedingungen das herrschende Prinzip ist, immer weniger entgegensetzen. Die Konkurrenz unter Beschäftigten immer weiter anstacheln und ihnen die Hoffnung nehmen, dass eine andere Politik möglich wäre – in der Arbeitswelt und darüber hinaus. Und dafür zahlen wir einen hohen Preis. Aktuelle Umfragen zeigen: Wer den Eindruck hat, für die eigene Leistung nicht angemessen entlohnt zu werden, kaum Mitsprache bei strategischen Entscheidungen am Arbeitsplatz zu haben, und nicht mehr stolz sein kann auf die eigene Tätigkeit, macht mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit das Kreuz bei der AfD. Und damit schließt sich der Kreis: NIE WIEDER FASCHISMUS – NIE WIEDER KRIEG! Das heißt auch: Schluss mit der Entdemokratisierung von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft! NEIN sagen! NIE WIEDER IST JETZT!
Arbeiterbewegung gegen Faschismus und Krieg, für demokratischen Fortschritt
Erfahrungen aus der Nachkriegszeit
Ulrich Schneider
Wer sich heute mit den Kämpfen der Arbeiterbewegung gegen Rechtsentwicklung und für die Verteidigung der sozialen Rechte der Beschäftigten – trotz »Zeitenwende« und Umverteilung von unten nach oben – auseinandersetzt, tut gut daran, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Nicht um nostalgisch an vergangene Erfolge zu erinnern, sondern um realistisch einzuschätzen, mit welcher Programmatik, aber auch gegen welche Widerstände die Arbeiterbewegung in unserem Land das bisher Erreichte erkämpft hat. Wenn heute populistisch Regeln der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall versucht werden auszuhebeln, dann ist ein Blick auf den wochenlangen Arbeitskampf Ende der 1950er Jahre sinnvoll, um zu verstehen, dass diese Regelungen keine »Wohltaten der Herrschenden« waren, sondern ihnen unter großen Anstrengungen abgerungen werden mussten. Und tatsächlich harren viele Forderungen der Arbeiterbewegung, die teils in gesetzliche Form gegossen werden konnten, bis heute der Umsetzung. Daran erinnert der nachfolgende Beitrag.
Nach der militärischen Zerschlagung der Nazi-Herrschaft durch die Kräfte der Anti-Hitler-Koalition war es für alle Teile der Arbeiterbewegung, die unterschiedlichen Parteien, die Gewerkschaften und die kulturellen Massenorganisationen, soweit sie sich nach 1945 wieder konstituieren konnten, unstrittig, dass politische Konsequenzen aus der schweren Niederlage der Arbeiterbewegung 1933 gezogen werden müssen, um eine Wiederholung in jedem Fall zu verhindern. »Nie wieder Faschismus!« war das Leitmotiv. Und tatsächlich konnte man sich schnell als politische Leitlinie auf die Botschaft des »Schwurs von Buchenwald« »Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln, Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit« als gemeinsame Überzeugung verständigen, selbst dort, wo der Schwur noch nicht bekannt war.
Noch wirkten bis hinein in die Arbeiterorganisationen die Gemeinsamkeiten der Anti-Hitler-Koalition, die in den Konferenzen von Jalta und im Juli/August 1945 auf der Potsdamer Konferenz Grundlinien für eine Neuordnung Europas definierte. Auf internationaler Ebene schufen die Alliierten als Grundlage für eine stabile und friedliche Nachkriegsordnung die Vereinten Nationen, die die Rolle eines nichtmilitärischen Konfliktvermittlers übernehmen sollten. Krieg sollte zukünftig kein Mittel der Politik mehr sein. Die europäischen Nachkriegsgrenzen wurden neu fixiert und Maßnahmen zur Umsiedlung ergriffen bzw. bestätigt, die das Aufkommen und Schüren von Konflikten um nationale Minderheiten (Irredenta-Gruppen) und ihre Ausnutzung zu Aggressionszwecken zukünftig verhindern sollten.
Neben der territorialen Neuordnung wurden Grundsätze über die Behandlung Deutschlands konkretisiert. Selbst vor dem Hintergrund des sich ankündigenden »Kalten Krieges« wollten die Alliierten in allen deutschen Besatzungszonen vergleichbare politische und soziale Bedingungen herstellen. Die Entscheidungen zur politischen Neuordnung orientierten sich an den »großen Ds« (Demilitarisierung, Denazifizierung, Demonopolisierung, Demokratisierung, Dezentralisierung), wie sie in den Grundsätzen zur Behandlung Deutschlands auf der Potsdamer Konferenz beschlossen wurden.1
In diesen Punkten spiegelten sich die politischen Überzeugungen der Frauen und Männer aus dem Arbeiterwiderstand, die Perspektive der wiedergegründeten Arbeiterparteien mit dem Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 und der Programmatik des Zentralausschusses der SPD vom 15. Juni 1945 ebenso wider wie die damaligen Haltungen der Alliierten.
- Demilitarisierung bedeutete nicht allein die Auflösung der Wehrmacht sowie die juristische Verfolgung der verantwortlichen Generäle, sondern auch die Überwindung der Militarisierung der Gesellschaft, der Arbeitswelt und der Erziehung.
- Denazifizierung bedeutete nicht nur die Auflösung der NSDAP und aller faschistischen Massenorganisationen, sondern vor allem die Ausschaltung ehemaliger Nazis aus allen gesellschaftlichen Bereichen und die politisch Verantwortlichen vor ein Gericht der Völker zu stellen. Die Alliierten schufen dafür das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal, das vom November 1945 bis Oktober 1946 für die Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher zuständig war, sowie die Militärgerichte für die Nachfolgeprozesse in der Verantwortung der jeweiligen Alliierten.
- Demonopolisierung war mit der Erkenntnis verbunden, dass wirtschaftliche Macht zur Durchsetzung undemokratischer Ziele genutzt worden war. Gleichzeitig traten auch die westlichen Alliierten für die Entflechtung von marktbeherrschenden Unternehmen wie z. B. des IG Farben-Konzerns ein. Weitergehende Forderungen nach Überführung der Schlüsselindustrie und Banken in Gemeineigentum sowie die Auflösung von Großgrundbesitz stießen schon bald auf den Widerstand der Westalliierten.
- Demokratisierung war ein Kerngedanke aller politischen Maßnahmen. Gegenüber der Willkürherrschaft der Nazis sollte nunmehr eine Gesellschaft errichtet werden, die jedem Einzelnen unveräußerliche Menschenrechte, Rechtssicherheit und Schutz der Persönlichkeit garantiert. Eine umfassende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sollte nicht nur durch die Zulassung demokratischer Parteien und Gewerkschaften erreicht werden, sondern durch eine umfassende Mitsprache der Bevölkerung in allen gesellschaftlich relevanten Fragen.
- Dezentralisierung beinhaltete die Beseitigung des faschistischen Führerprinzips und die Wiederherstellung föderaler staatlicher Strukturen. Viele Bereiche der gesellschaftlichen Vorsorge, innere Sicherheit und Justiz, aber auch Erziehung, Kultur und Bildungswesen wurden wieder als Aufgaben der Länder definiert.
Neben diesen fünf Aspekten, die sich in den Regelungen der Potsdamer Konferenz niederschlugen, traten Antifaschisten aus den Arbeiterorganisationen für weitere Grundsätze ein: - Sozialstaatsprinzip ging davon aus, dass zu einer gerechten und demokratischen Gesellschaft auch soziale Gerechtigkeit gehöre. Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Not und soziale Ungerechtigkeit galten aus der Erfahrung der Weimarer Zeit als Nährboden für die Anfälligkeit von Teilen der Bevölkerung für die faschistische Demagogie. Zum Sozialstaatsprinzip gehörte deshalb auch die Forderung nach Recht auf Arbeit und Recht auf Wohnung.
- Völkerverständigung war eine gemeinsame antifaschistische Vision. Wie im »Schwur von Buchenwald« ging es um die Schaffung einer Welt des Friedens und der Freiheit. Krieg müsse aus dem Leben der Völker verbannt werden. In der Hessischen Landesverfassung von 1946 heißt es deshalb in Artikel 69: »Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung. Der Krieg ist geächtet.«
- Antifaschistische Einheit sah man als Voraussetzung für die Durchsetzung dieser Ziele gegenüber allen politischen Widerständen, aber auch als Motor für die Gewinnung der orientierungslosen Teile der deutschen Bevölkerung, die sich bis zum bitteren Ende mit dem NS-Regime identifiziert hatten oder durch Faschismus und Krieg demoralisiert und entmutigt waren.
Um diese Einheit zu realisieren, entstanden zumeist auf Initiative der Antifaschisten aus der Arbeiterbewegung in allen Besatzungszonen überparteiliche antifaschistische Komitees, teilweise antifaschistisch-demokratische Allparteien-Koalitionen. Doch solche Strukturen durften auf Anweisung der Alliierten nur auf lokaler oder regionaler Ebene arbeiten.
In diesem Sinne wurde die erste antifaschistische Gewerkschaft bereits am 18. März 1945 in Aachen gegründet, der deutschen Stadt, die Wochen zuvor von den Westalliierten befreit worden war. Gegründet wurde ein »Freier Deutscher Gewerkschaftsbund« (FDGB). Die westlichen Besatzungsoffiziere beobachteten die Gründung von Einheitsgewerkschaften mit Argwohn. Als sich Mitte April 1945 in Kassel etwa 40 ehemalige Gewerkschafter im Rathaus versammelten, um hier einen Freien Gewerkschaftsbund zu gründen, wurde die Versammlung von der amerikanischen Militärpolizei aufgelöst, weil die Antifaschisten nicht auf eine Genehmigung der Besatzungsoffiziere gewartet hatten.
Auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurden Gewerkschaften am 10. Juni 1945 durch Befehl Nr. 2 der sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) zugelassen. Schon am 2. Juni waren Vertreter der früheren Gewerkschaften mit der Bildung einer Einheitsgewerkschaft beauftragt worden. Am 13. Juni konstituierte sich der Vorbereitende Gewerkschaftsausschuss für Groß-Berlin, der wegen des Viermächte-Status Berlins eine eigenständige Organisation bilden musste, und der FDGB und seine Bezirksverbände in der SBZ.
Vor welchen Herausforderungen man sich sah, formulierte Hans Böckler im August 1945 auf einer Gewerkschaftssitzung: »Bist du nicht mitverantwortlich an dem, was geschah? Diese Frage gilt auch in dem Sinne, dass man nicht das Äußerste, das Letzte getan hat zur Verhinderung der nazistischen Verbrechen. … unser Vorsatz (kann) nicht anders sein, als dass wir uns entschließen, an der Verantwortung teilzunehmen. Geist und Hände müssen so kräftig wie nur immer möglich geregt werden, um die Schuld zu tilgen, die auch unsere Schuld sein mag.«2
In diesem Sinne konstituierte sich ab Ende 1945 in allen Besatzungszonen ein »Freier Gewerkschaftsbund«, der bewusst auf überparteilicher Basis gegründet wurde. Bei dem Gründungskongress in Hessen hielt der ehemalige Buchenwald-Häftling und damalige hessische Innenminister Hermann Brill die Grußansprache für die Landesregierung.
Anders als bei der Wiedergründung der Gewerkschaften torpedierten insbesondere die Westalliierten die Gründung einer einheitlichen Arbeiterpartei, wie sie sich aus dem Prager Manifest der SoPaDe von 1934 oder den verschiedenen programmatischen Erklärungen aus dem antifaschistischen Widerstand ableitete. Auch im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945 und dem Aufruf des Zentralausschusses der SPD war die organisatorische Einheit der Arbeiterparteien als Ziel klar formuliert worden. Jegliche Versuche jedoch, in Hessen eine sozialistische Einheitspartei aus den beiden Arbeiterparteien zu gründen, wurden seitens der amerikanischen Besatzungsmacht untersagt.3 Selbst politische Gespräche und Vereinbarungen für die spätere Schaffung einer Einheitspartei der Arbeiterklasse wurden von den Besatzungsoffizieren hintertrieben.
Ungeachtet dessen begann der Aufbau demokratischer Organisationen und Parteien, auch der antifaschistischen Verbände. Selbst deren Aufbau musste von unten nach oben erfolgen. Erst wurden Kreisorganisationen zugelassen. Länder- oder Zonenvorstände bzw. interzonale Zusammenschlüsse bedurften der Genehmigung der jeweiligen Besatzungsmacht. Als zivilgesellschaftliche Organisationen, in denen die Frauen und Männer aus dem Arbeiterwiderstand einen bedeutenden Anteil hatten, entstanden seit Sommer 1945 in allen Besatzungszonen Überlebendenverbände. In Stuttgart die »Vereinigung der politischen Gefangenen und Verfolgten des Nazi-Systems«, in Hamburg das »Komitee ehemaliger politischer Gefangener« oder in Kassel der »Bund ehemaliger politischer Gefangener«. Erst ab 1946 konnten sie sich auf Zonenbasis zusammenschließen und einen gemeinsamen Rahmen schaffen. So trafen sich im August 1946 angesichts der sich bereits abzeichnenden Ost-West-Konfrontation und des beginnenden Kalten Kriegs in Hanau Vertreter der Verfolgtenverbände aus verschiedenen Besatzungszonen. Als programmatische Grundsätze formulierten sie: »Über alle Schichten, Konfessionen und Rassen und Parteien hinweg schließen sich die Kämpfer gegen den Nazismus und die vom Nazi-Regime Verfolgten zu einer überparteilichen Organisation zur Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) zusammen«4. Man sah es als Aufgabe an, nicht nur den antifaschistisch-demokratischen Neubeginn zu unterstützen und die sozialpolitischen Interessen der Verfolgten und ihrer Angehörigen zu vertreten, sondern »den tapferen offenen Kampf der deutschen Widerstandsbewegung aufzuzeigen und zu würdigen«, wie es in Hanau formuliert wurde.
Die Hessische Verfassung von 1946
Alle diese Hinweise sind nicht nur historische Reminiszenzen, sondern mündeten in Ergebnissen, die bis heute bedeutsam sind. Das langfristig wirksame Ergebnis der politischen Gemeinsamkeiten der Arbeiterparteien sind Festlegungen in der Formulierung z. B. der hessischen Landesverfassung, die – wenn sie denn Wirklichkeit wären – die Handlungsfähigkeit der Arbeiterbewegung deutlich verbessern würde.
Dem damaligen hessischen Arbeitsminister, Oskar Müller, Kommunist und ehemaliger Häftling des KZ Dachau, gelang es, in die verfassungsberatende Versammlung zahlreiche Vorschläge für Regelungen des Arbeits- und Sozialrechts einzubringen, die später Verfassungsrang bekamen. Dazu gehört das kollektive Streikrecht zur Durchsetzung von Interessen der abhängig Beschäftigten bei gleichzeitigem Verbot der Aussperrung im Arbeitskampf. Zwar gibt es aus späteren Jahren Arbeitsrechtsurteile mit Hinweis auf den Grundsatz »Bundesrecht bricht Landesrecht«, die diese Regelung als nicht mehr gültig bezeichnen. Dieser Verfassungsgrundsatz zeigt aber einmal mehr, für welche politischen Vorstellungen die Arbeiterparteien und Gewerkschaften in einem antifaschistisch-demokratischen Neubeginn eingetreten sind.
Details
- Seiten
- 164
- Erscheinungsjahr
- 2025
- ISBN (ePUB)
- 9783961703920
- ISBN (PDF)
- 9783961706921
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2025 (März)
- Schlagworte
- technik klima chancen risiken illusionen marxistische blätter