Zusammenfassung
Wenn die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein kann, wie es im Einheitsfrontlied so oft gesungen wurde, dann sind wir– Arbeiterinnen eingeschlossen-von diesem Befreiungswerk gegenwärtig weit entfernt. Weiter denn je.
Auf der anderen Seite wächst nicht nur in der Jugend das Gefühl, dass die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden müssen. Und mit ihm wächst die Bereitschaft, sich aufzumachen, sich für eigene Interessen und eine lebenswerte Zukunft politisch zu engagieren und auch »links« zuorganisieren.
Grund genug, diese Artikelsammlung aus Anlass des 100.Geburtstages von Robert Steigerwald herauszugeben.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Unoriginelle Bemerkungen zu einer alten Streitfrage
Marxistische Blätter 1969_6; S. 34 ff.
Das Problem, welcher Stellenwert dem Parlamentarismus im System sozialistischer Politik zukommt, haben wir schon mehrfach in Artikeln dieser Zeitschrift behandelt.1 Dass wir erneut auf diese Frage zurückkommen, hängt mit den Auseinandersetzungen zusammen, die es im Bundestagswahlkampf in den Reihen der Linken gab. Von unseren ultralinken Kritikern wird erklärt, unsere Beteiligung an Parlamentswahlen, die Aufstellung von Kandidaten mit dem Ziel, in das Parlament einzudringen, offenbare den opportunistischen Charakter unserer Politik. Tatsächlich ist die fast ausschließliche Festlegung auf das parlamentarische Kampffeld ein Wesensmerkmal des Opportunismus, und unsere Kritiker hätten mit ihrer Einschätzung recht, wenn auch wir den parlamentarischen Kampf als die Hauptkampfform anerkennen würden. Dem ist allerdings nicht so. Aber die pure Umstülpung des Parlamentarismus zum Antiparlamentarismus, das reine Nein zum Parlamentarismus, macht noch keinen zum Revolutionär, denn in beiden Fällen bleibt der bürgerliche Parlamentarismus das Kriterium zur Beurteilung der Politik! Doch untersuchen wir die Frage etwas eingehender.
Das bürgerlich-parlamentarische Regime heute ist ein Instrument des staatsmonopolistischen Kapitalismus und dolmetscht dessen Interessen als solche des Volkes. Der Scheinpluralismus dieses Systems soll die Grundwidersprüche des monopolistischen Kapitalismus hinter einem Rauchvorhang verbergen. Dieser Parlamentarismus soll den Eindruck erwecken, die wesentlichen Fragen würden im Parlament entschieden. Er soll verschleiern, dass es im Parlament keine grundsätzliche Interessenvertretung des Volkes gibt. Das System soll dazu dienen, dem in Wahrheit entmündigten Volk vorzutäuschen, mittels des Parlaments werde eine Kontrolle über die Macht ausgeübt, diese Macht sei demokratisch legitimiert, obgleich sie doch in Wahrheit nur die Macht der Großkonzerne und nicht die des Volkes ist.
Über das folgende besteht zwischen uns und unseren ultralinken Kritikern schon keine volle Übereinstimmung mehr. Wir sind nämlich der Ansicht, dass der bürgerliche Parlamentarismus gerade wegen dieser Funktionen für das Großkapital ein wichtiges Instrument ist. Die tatsächlichen Inhaber der Macht ziehen die parlamentarischen den offen diktatorischen Methoden vor, vor allem auch darum, weil die überwiegende Mehrheit des Volkes nach wie vor auf das Parlament orientiert ist, über den Parlamentarismus andere – zugegeben: falsche – Auffassungen vertritt als die Revolutionäre. Selbstverständlich wendet das Großkapital vielfältige Methoden an, um jegliche systemfremde Opposition aus dem Parlament auszuschalten: 5-Prozent-Klausel, Geschäftsordnungsmanipulation im Parlament (z. B. über die Fraktionsstärke), Wahlrechtsmanipulationen seien hier genannt. Aber das deutet doch darauf hin, dass das Großkapital durchaus den Einzug grundsätzlich oppositioneller Kräfte verhindern will, dies also nicht als unwesentlich einschätzt. Das Konzernkapital strebt die Formierung der Parteien des »Establishments« an. Die eigentlichen Spitzen der Parteien, auch der Bundestagsfraktionen, sind längst Bestandteil des Machtapparates des Großkapitals geworden. Zwischen diesen Spitzen und dem Gros der Fraktionen besteht ein wesentlicher Unterschied. Denn dieses Gros ist nicht auf gleiche Weise ins System eingegliedert, wird nicht an der Vorbereitung wesentlicher Entscheidungen beteiligt. Dazu wird nur der eigentliche Spitzenapparat der integrierten Parteien herangezogen. Vielmehr erfüllt das Gros der Fraktionen die Rolle, durch eine Art Scheingeschäftigkeit das System gegenüber der Öffentlichkeit zu tarnen.
So wird das bürgerliche Parlament auf verschiedene Weise abgesichert: einerseits fallen die Grundentscheidungen nicht in diesem Parlament. Aber dennoch sind – für alle Fälle – wichtige Vertreter der entscheidenden Konzerngruppen in dieses Parlament eingerückt. Die Masse der Parlamentsabgeordneten hat mit den strategischen Entscheidungen kaum noch etwas zu tun. Aber dennoch wird, gegenüber der demokratischen Öffentlichkeit und der grundsätzlichen Opposition, selbst dieses bereits mehrfach abgesicherte System noch durch die bereits erwähnten manipulativen Maßnahmen abgeriegelt, »geschützt«.
Schon dies zeigt, dass die Losung von der Sinnlosigkeit des Kampfes auf dem parlamentarischen Felde nicht stimmt. Es ist zu einfach, zu sagen, dass das parlamentarische Instrument nur dazu diene, die grundsätzliche Opposition zu integrieren (immerhin sei das Parlament die bevorzugte Bühne des Opportunismus). Es ist zwar ein möglicher, aber nicht der Haupteffekt, dass die Beteiligung von Revolutionären am Parlamentarismus den bürgerlichen Meinungsmachern zu dem Argument verhilft, es gebe im Parlament sogar Revolutionäre, man hätte es also tatsächlich mit einer Volksvertretung zu tun.
Die Argumentation von der prinzipiellen Schädlichkeit des parlamentarischen Kampfes trennt die politischen Instrumente von den sie benutzenden Klassenkräften und ihrer ökonomischen Basis. Sie verselbstständigt das Parlament zum Subjekt, zur prinzipiellen Ursache des Opportunismus. Philosophisch ist das Idealismus. Es wird nicht darüber diskutiert, welche Klasse welches Instrument wozu benutzt, sondern das Instrument »an sich« ist böse. Agnoli meint zwar – und stützt sich dabei auf eine Formulierung von Engels –, dass die demokratische Republik und der bürgerliche Parlamentarismus die geeignetste Form kapitalistischer Machtausübung seien. Folglich dürfe man das Parlament nicht einfach als ein neutrales Instrument einschätzen, das auch von der Arbeiterklasse benutzt werden könne. Vielmehr unterwerfe man sich schon bei dem Versuch dieser Ausnutzung den kapitalistischen Mechanismen.
Dieses Argument verfängt wenigstens aus zwei Gründen nicht. Erstens ist der bürgerliche Parlamentarismus die beste Herrschaftsform für den Kapitalismus der freien Konkurrenz. Unter monopolistischen oder gar staatsmonopolistischen Bedingungen entwickelt jedoch gerade der Kapitalismus antiparlamentarische Tendenzen, woraus sich politische Widersprüche ergeben, die für die Arbeiterbewegung Anknüpfungspunkte zum Kampf darstellen. Zweitens haben Marx und Engels für die Periode der freien Konkurrenz und Lenin erst recht für die des Imperialismus trotz dieser grundsätzlichen Einschätzung der Rolle des bürgerlichen Parlamentarismus der Arbeiterbewegung stets die Ausnutzung dieses Instrumentes empfohlen. Keiner der marxistischen Klassiker war bereit, den bürgerlichen Parlamentarismus – einen Bestandteil des politischen Überbaus – so, wie das unsere ultralinken Kritiker tun, zum Urheber des Opportunismus in der Arbeiterbewegung zu erklären. Sie sahen die entscheidenden Ursachen des Opportunismus stets in materiellen Klassenbeziehungen. Auch die staatsmonopolistische Verschmelzung ökonomischer und politischer Machtfaktoren bedeutet nicht, dass sich das Verhältnis von materieller Basis und ideologischem Überbau dermaßen verändert hätte, dass nunmehr vom Überbau die entscheidenden gesellschaftlichen Prozesse ausgingen.
Wer entscheidet eigentlich darüber, ob Sozialisten integriert werden können oder nicht, das Parlament, eine Kampfform, irgendein Instrument oder die ideologisch-politische Position der Sozialisten? Wenn eine solche ideologische Position so ist, dass Sozialisten korrumpiert, integriert werden können, so bedarf es dazu nicht des Parlaments. Gibt es denn innerhalb des durchorganisierten kapitalistischen Systems ein einziges Instrument, das nicht pervertiert wäre, das nicht korrumpierend wirkte? Wenn wir solcher Gefahr wegen das Parlament meiden müssten, müssten wir dann nicht alle Instrumente und Institutionen meiden wie der Teufel das Weihwasser? Liefe das nicht darauf hinaus, wegen solcher immerwährenden Gefahr, wegen der Gefahr, sich mit Opportunismus zu beschmutzen, alle Institutionen, alle Kampffelder dem Opportunismus allein zu überlassen, zu kapitulieren oder den »Austritt aus dem Kapitalismus« zu erklären? Wäre das nicht eine klassisch opportunistische Position? Übrigens weiß jeder Arbeiter, dass die Losung vom »Austritt aus dem Kapitalismus« nicht zu verwirklichen ist, dass es dazu der Revolution bedarf.
Die Fixierung der ultralinken Kritiker auf den bürgerlichen Parlamentarismus stellt nur die negative Form der opportunistischen Fixierung auf dieses Instrument dar. Es nimmt darum nicht Wunder, dass der Anti-Parlamentarismus, in seinem Kampf gegen das parlamentarische Instrument, recht eigentlich die opportunistischen Benutzer des Parlaments außer acht lässt. Das läuft darauf hinaus, den Opportunismus zu entschuldigen, da dieser ja aus der Benutzung des Instruments entspringt. Statt Aufklärung über die wahren Gründe des Opportunismus wird davon abgelenkt. Statt über die inhaltlichen und ideologischen Probleme des Opportunismus Klarheit zu schaffen, wird eine rein formale Diskussion geführt.
Es ist immerhin auch die Frage angebracht, warum die ultralinken Kleinbürger nur die opportunistische Seite im Parlamentarismus der Arbeiterbewegung sehen, warum für sie Karl Liebknecht oder der revolutionäre Parlamentarismus der Periode der spanischen Volksfront nicht existiert? Unsere Kritiker sehen immer nur eine Seite, und es ist nicht immer die wichtigste. Sie sehen richtig die Grundtendenz des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Faschismus zu erzeugen und dazu auch das Parlament auszunutzen. Aber warum sehen sie nicht, dass aus den objektiven Widersprüchen des Kapitalismus auch entgegengesetzte demokratische, antifaschistische Tendenzen hervorgehen? Warum sehen sie nicht, dass deren soziale Basis größer wird und damit auch die Bündnismöglichkeiten wachsen? Hier wie auch in anderen Zusammenhängen offenbart sich immer wieder das »Gefühl der eigenen Kraftlosigkeit« als Basis ultralinker »Radikalität« und Kraftmeierei. Gewiss verbleiben diese Gegentendenzen demokratischer Art zunächst im bürgerlichen Rahmen. Aber wie soll dieser Rahmen ausgeweitet werden, wenn wir die Verbindung zu diesen Kräften abreißen lassen? Dies hat im Zusammenhang mit der Parlamentarismus-Diskussion insofern eine besondere Bedeutung, als die Manipulierung neben gewissen materiellen Anknüpfungspunkten ebenso demokratischer Rechte und Freiheiten des Volkes bedarf. Andernfalls gelingt solche Manipulierung nicht dauerhaft. Und zu solchen Anknüpfungspunkten für das Großkapital gehört auch die Tatsache, dass im Bewusstsein großer Teile des Volkes der Parlamentarismus nicht die Rolle spielt wie für uns. Wenn das geändert werden soll, müssen wir die Erfahrungen des Volkes mit dem Parlamentarismus organisieren. Man kann solche Erfahrungen aber nicht durch einfache Abstinenz hinsichtlich dessen organisieren, worüber die Massen Erfahrungen sammeln müssen. Diese Auffassung liefe darauf hinaus, es den Monopolen und ihren Kräften allein zu überlassen, wie sie das Parlament benutzen, um den Bewusstseinsbildungsprozess des Volkes negativ zu beeinflussen.
Vergessen wir auch nicht, dass die Rechte und Freiheiten des Volkes, so gering sie auch sein mögen, in der Regel vom Volk, teilweise auch erst durch Revolutionen gegen Monopolkapital und Militarismus (1918–1919) erkämpft wurden. Diese Rechte haben große Bedeutung für die Koalitionsfreiheit und Bewusstseinsbildung der Massen, was wir von 1933–1945 bitter genug erfahren haben. Das Großkapital knüpft in seinem antidemokratischen Kampf demagogisch an diese Erfahrungen an (Mythos vom Totalitarismus, Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus). Sollen wir, gerade angesichts faschistischer Gefahren, kampflos die noch vorhandenen bürgerlichen Rechte – dazu gehört auch die Ausnutzung parlamentarischer Rechte – preisgeben? Bedeutet das nicht eine Kapitulation vor dem Feind namens einer entschiedeneren »Radikalität« des Kampfes? Ist dies nicht eine teilweise freiwillige Entwaffnung?
Warum ignorieren die Antiparlamentarier den Zusammenhang zwischen parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampf? Selbstverständlich muss sich sozialistischer vom bürgerlichen Parlamentarismus unterscheiden. Wahlen haben für uns den Zweck der Bewusstseinsbildung unter den Massen. Wir sind dabei nicht auf Reformen fixiert, sehen aber auch nicht ein, warum der Kampf um Reformen nicht Bestandteil einer revolutionären Politik sein darf und nicht auch auf parlamentarischer Ebene geführt werden soll. Entscheidend für den parlamentarischen Kampf von Sozialisten bleibt dabei die Stärke der außerparlamentarischen Position, die Verbindung des parlamentarischen Kampfes mit dem außerparlamentarischen, die Rechenschaftspflicht sozialistischer Abgeordneter gegenüber ihren Wählern, so dass gar nicht der Eindruck aufkommen kann, sozialistische Abgeordnete seien »Repräsentanten«, an die das Volk seine Interessen delegiere, womit es sich seiner Selbsttätigkeit begebe. Gerade dann, wenn Volksmassen illusionäre Vorstellungen über das Parlament haben, könnte die aufklärende Wirkung sozialistischer Parlamentarier über die wirkliche, manipulative Rolle des Parlaments von großer Bedeutung sein.
Sozialistischer Parlamentarismus kann also nur als Bestandteil eines Gesamtsystems von Politik Bedeutung erlangen, das darauf abzielt, durch verschiedenartige Kampfformen und -mittel die Macht des Großkapitals zu beschränken, einzudämmen und schließlich zu überwinden.
1 Vgl. die Aufsätze von Schleifstein, Hofmann, Abendroth in Nr. 5/1968 und Adamo/Rödl in Nr. 3/1969 der »Marxistischen Blätter«.
Im Lenin-Jahr: verstärkter Kampf um die Verbreitung Leninscher Ideen1
Marxistische Blätter 1970_5, S. 73 ff.
Der Leninismus ist die entscheidende geistige und politische Kraft unserer Zeit. Er leitet die sozialistischen Staaten, verbürgt ihre raschen Fortschritte. Er lenkt ebenso die Vorhut der revolutionären Kräfte in den Ländern der dritten Welt und des entwickelten Kapitalismus. Die wissenschaftlich-technische Revolution verwandelt in zunehmendem Maße Teile der Intelligenz in Angehörige der Arbeiterklasse, steigert allgemein gesehen die Rolle der Intelligenz, während die damit verbundenen Widersprüche einen wachsenden Teil von ihr aufgeschlossener für sozialkritische Ideen und Aktivitäten werden lassen.
Dies alles bewirkte in den letzten Jahren auch in der Bundesrepublik ein wachsendes Interesse am Marxismus. Kein Wunder also, dass Lenins Geburtstag zum Anlass für Lenin- und Leninismus-Beschäftigungen unterschiedlichster Art wurde.
Offen bürgerliche und revisionistische Aktivitäten bestreiten nach wie vor die Allgemeingültigkeit des Leninismus. Um Lenins Einfluss entgegenzuwirken, entfacht das »Establishment« eine Art Trotzki-Renaissance. Es wird ein ganzes Spektrum antimarxistischer, antisowjetischer Argumente entwickelt. Zentrum der Lenin- und Leninismus-Fälschung sind die Arbeiter-und-Bauern-Macht, die Kommunistische Partei, die Revolutionstheorie und die Theorie des revolutionären Potentials.
Zur Leugnung der Allgemeingültigkeit des Leninismus muss, wie stets, die These vom besonderen russischen Charakter der Oktoberrevolution herhalten. Das »Neue« besteht unter bundesdeutschen Verhältnissen darin, die ultralinken Angriffe, die Anfang der zwanziger Jahre gegen Lenin gestartet wurden, sowie die späteren ideologischen Ausläufer dieses Genres der geschichtlichen Vergessenheit zu entreißen. Der ordinäre rechte Opportunismus hat bei den jungen Linksintellektuellen nur wenig Resonanz. Die ultralinken Restbestände des SDS brachten Gorters Polemik gegen Lenins »Linken Radikalismus«, einige Schriften des späten Pannekoek sowie einen eigenen Erguss über die holländische Schule (!) des Marxismus heraus. Gorter kämpfte gegen Lenins Bündnistheorie. Der Ultralinke sah, wie einst Ferdinand Lassalle, als Gegner des Proletariats nur eine einzige reaktionäre Masse. Er propagierte die Taktik »Klasse gegen Klasse« und meinte, sie durchzusetzen verlange, dass jeder Arbeiter ein Held werde. Die vorhandenen Führer, Lenin inbegriffen, lehnte er als opportunistisch ab. Beteiligung am Parlamentarismus und Gewerkschaftsarbeit hielt er für opportunistisch.
Diese ultralinke Politik deckt sich mit dem Streben des imperialistischen Systems, Revolutionären möglichst den Zugang zum Parlament zu versperren, sowie mit den Aktivitäten der rechtssozialdemokratischen Führer, Kommunisten das Wirken in den Gewerkschaften zu erschweren.
Nicht nur Verlage ultralinker Studenten entdecken die ultralinken Ladenhüter. In der Europäischen Verlagsanstalt gab Alfred Schmidt (er bestreitet die Naturdialektik, lehnt die Widerspiegelungstheorie Lenins ab, verbreitet die Schriften solcher Revisionisten wie Garaudy und Lefebvre im deutschen Sprachraum) Pannekoeks späte Schrift »Lenin als Philosoph« heraus. Die Grundtendenz der Schrift ist einfach: da sich Russland Anfang dieses Jahrhunderts am Vorabend einer bürgerlichen Revolution befand und einer solchen Revolution ein mechanistischer bürgerlicher Aufklärungs-Materialismus entsprach, hätte Lenin genau eine solche Philosophie entwickelt.
Sehen wir von der Entstellung des Leninschen dialektischen Materialismus ab, welche dieser Behauptung zugrunde liegt, so fällt allein schon das tatsächlich flach-mechanistische Schema von Ideologie-Analyse auf, das die weltanschauliche Basis der Ultralinken freilich auf treffende Weise entlarvt. Danach hätten Marx und Engels, als sie vor der deutschen bürgerlichen Revolution von 1848 das »Manifest der Kommunistischen Partei« schrieben, in Wahrheit ein bürgerlich-aufklärerisches Manifest verfasst? Diese Theorie des mechanistisch-materialistischen Zusammenhangs von Basis und Ideologie ist dem Kautskyanertum, dem rechten Opportunismus prinzipiell gleich.
Tatsächlich verabsolutieren die Verbreiter der These vom russischen Charakter des Leninismus einige russische Besonderheiten auf Kosten solcher allgemeiner Gesetzmäßigkeiten wie der Notwendigkeit, die sozialistische Umwälzung zu vollziehen, eine Arbeiter-und-Bauern-Macht zum Schutz der Revolution gegen äußere und innere Feinde zu errichten, gestützt auf diese Macht die entscheidenden Produktionsmittel zu vergesellschaften, eine sozialistische Planwirtschaft aufzubauen und dies alles durch eine starke, ideologisch klare und organisatorisch geschlossene revolutionäre Kampfpartei der Arbeiterklasse zu sichern. Die Antileninisten ignorieren den tatsächlichen Stand der Entwicklung des russischen Kapitalismus von 1917, damit der sozialen Klassen und realen Klassenkämpfe. Sie ignorieren auch die internationalen Klassenkämpfe, unter denen sich die Oktoberrevolution entwickelte.
Diese ganze These richtet sich letztlich gegen Marx. Denn sie läuft darauf hinaus, nach der Art des späten, ordinär opportunistischen Kautsky rein mechanistisch-materialistisch den Marxismus nur als Theorie und Taktik für hochentwickelte Industrieländer anzuerkennen.
Die Verfechter dieser Auffassung ignorieren aber auch den tatsächlichen Entwicklungsprozess des Leninschen Werkes, seine faktische und theoretische Basis. Studiert man Lenins »Imperialismus«, so sieht man: er stützt seine Beweisführung auf die Analyse der entwickelten kapitalistischen Länder wie Deutschland, England, die USA, Frankreich und knüpft an die theoretischen Arbeiten an, die es in diesen Ländern gab. Wo ist da »russische Beschränktheit«? Oder nehmen wir den »Empiriokritizismus«. Lenin geht von Berkeley und Fichte aus, führt den deutschen Neukantianismus ins Feld, dann die österreichischen und deutschen Machisten, französische Konventionalisten usw. und behandelt in diesem Zusammenhang die russischen Machisten, die sich ihrerseits durchaus als Teile einer keineswegs spezifisch russischen Strömung verstanden.
Wir könnten diesen Internationalen Charakter des Leninschen Werkes ebenso anhand seiner Analysen des Revisionismus und des Linksradikalismus zeigen: die These von der russischen Beschränktheit des Leninismus hält keiner ernsthaften Prüfung stand.
Nachdem die sogenannte antiautoritäre Form der Studentenrevolte in Agonie geriet, gelangten einige ihrer Anhänger durch einfache Negation der antiautoritären Position zu einem Organisationsverständnis, das trotzkistischen und maoistischen Vorstellungen nahekommt. Unter diesen Bedingungen bot sich den Manipulationsinstrumenten des Systems eine Trotzki-Renaissance als geeignetes Verfahren an, um weiterhin junge, suchende Linke von Lenin abzuhalten.
Die Trotzki-Renaissance dient in doppelter Hinsicht der antileninistischen Kampagne. Einerseits wird versucht, die Oktoberrevolution als das gemeinsame Werk Lenins und Trotzkis auszugeben, überhaupt Trotzki als kongenialen Freund und Kampfgefährten Lenins auszugeben, was von Trotzki selbst erfundene Legenden sind. Gerade rechtzeitig erschien im Verlag »Marxistische Blätter«, Frankfurt am Main, eine von den Kommunisten Josef Schleifstein und Johannes Henrich von Heiseler erarbeitete und mit einem guten Vorwort versehene Schrift »Lenin über Trotzki«, die solchen Legenden den Boden entzieht.
Eine zweite Variante der Trotzki-Renaissance zielt in entgegengesetzte Richtung. Da wird nicht nur die echte Trotzki-Mythe von der bürokratischen Entartung der Sowjetunion neu belebt, sondern Lenin selbst als der »Schuldige« dieser »Entartung« hingestellt. (So auch Günter Hillmann in der Lenin-Monographie des Rowohlt-Verlags.)
Spektrum antimarxistischer Thesen
Wir sprachen oben von einem breiten Spektrum antimarxistischer und antisowjetischer Thesen, das im Zusammenhang mit Lenins Geburtstag von bürgerlicher und revisionistischer Seite erzeugt wird. Hier wäre etwa die Arbeit der österreichischen Revisionisten Ernst Fischer und Franz Marek »Was Lenin wirklich sagte« (im Verlag des Schwiegersohnes von Allan Dulles erschienen, bei Molden), zu nennen. Kennzeichen dieser Arbeit ebenso wie vieler anderer ist es, Lenins Denk- und Argumentationsweise zu verkürzen, unter Missachtung konkreter Zusammenhänge, in täuschender Absicht zu zitieren, Lenin nur als Praktiker, als Agitator und Propagandisten erscheinen zu lassen.
Weit verbreitet ist die Methode, Lenin als Abfall von Marx darzustellen (z. B. bei Th. W. Adorno, A. Schmidt, Oskar Negt). Dem liegt die alte, einst von Arturo Labriola und Georg Lukács erfundene Legende zugrunde, es gebe keine Naturdialektik bei Marx, sondern diese sei eine Erfindung Engels’, dessen Widerspiegelungstheorie ebenfalls nicht marxistisch, sondern mechanistisch sei. In diese Legendenbildung fügt sich die »Pannekoek-Renaissance« ein, von der oben schon die Rede war. Auch Roger Garaudys neueste Interpretation der Philosophie Lenins ist in diesem Zusammenhang zu sehen. In seinem Elaborat »Marxismus des 20. Jahrhunderts« meint er, Lenin gebe im philosophischen Nachlass den Materialismus zugunsten des Idealismus auf und gelange erst dadurch zum Verständnis der Dialektik. Vorher habe sich Lenin nicht über das Niveau Kautskys und Plechanows erhoben. So wäre also das Verständnis der Dialektik auf materialistischer Grundlage nicht möglich, was sich nicht nur gegen Lenin, sondern auch gegen Marx, den gesamten Marxismus richtet. Dabei fällt gerade Garaudy mit seiner Theorie von der wissenschaftlich-technischen Revolution auf das Niveau der Kautskyschen Theorie der Produktivkräfte, einer mechanistischen Theorie, zurück.
Einen breiten Raum nimmt die anthropologische Revision nicht nur des Werkes von Marx, sondern neuerdings auch desjenigen Lenins ein. Auf diesem Gebiet sind die Repräsentanten der Zagreber »Praxis«-Gruppe führend. Das verselbständigte Subjekt und seine Praxis treten in den Mittelpunkt, das Subjekt wird also von der Natur, von der objektiven Realität getrennt. Als »Rest« verbleibt der Geist als eigentliche Substanz dieses Subjekts. So erweist sich »Praxis« als Aktivität des subjektiven Geistes: genau wie einstens bei den Junghegelianern. Bekanntlich ist der Marxismus jedoch auch aus dem Kampf mit dieser Richtung hervorgegangen.
In den Umkreis dieses anthropologischen Revisionismus gehören auch die Versuche, dem Marxismus-Leninismus einen psychoanalytischen Unterbau zu geben. (Marcuse, Sartre, Kaliooda u. a.) Es wird ignoriert, dass der Marxismus primär eine Theorie vom gesellschaftlichen, nicht vom individuellen Bewusstsein ist, dass das individuelle Bewusstsein gesellschaftlich, dieses jedoch nicht individuell bestimmt wird, dass für gesellschaftliche Bewusstseinsprozesse Klassenverhältnisse, nicht individual-psychische Prozesse entscheidend sind. Mit anderen Worten: die Gegenstandsbereiche von Marxismus und Psychoanalyse werden mit dem Ziele konfundiert, die materialistische Grundlage des Marxismus durch den subjektiven Idealismus zu ersetzen.
In jüngster Zeit wird Lenin zusammen mit Rosa Luxemburg (die man ansonsten vornehmlich gegen Lenin ausspielen möchte) und Felix Dsershinsky als humanistischer Kommunist eingeschätzt (Hannah Ahrendt), während die heutigen Kommunisten und der reale Sozialismus, vor allem natürlich die Sowjetunion, den Weg des humanistischen Kommunismus verlassen hätten. Die klerikale Wochenzeitung »Publik« und das ultrakonservative Wochenblatt »Rheinischer Merkur« nannten Lenin einen großen Wissenschaftler, der das Gesicht unseres Jahrhunderts geändert habe, einen großen Revolutionär – dessen Prinzipien jedoch durch seine Nachfolger kanonisiert wurden. Nötig sei also eine Neu-Interpretation des Leninschen Werkes: strömt herbei, denn, ihr neuen Lenin-Interpreten, fälscht Lenin, indem ihr ihn lobt! Bekämpft »namens Lenins« die Leninisten! Wenn Lenins Werk erstarrt, entartet, bürokratisiert ist, so lebe er denn hoch, der »Reformkommunismus«.
Dies wird nicht selten mit konvergenztheoretischen Spekulationen verbunden, die – und das nun mit Recht – im »Reformkommunismus« entdeckt werden. So sprach sich z. B. Ota Šik offen für die Konvergenz beider Systeme aus, wobei er freilich die »Revolutionierung« – nicht des Imperialismus, sondern des Sozialismus für nötig hielt. Immerhin deutet diese Taktik an, dass der Frontalangriff gegen Lenin differenzierteren Kampfmethoden weichen muss.
Hinsichtlich der Staatstheorie argumentieren bürgerliche und revisionistische Antileninisten auf alte Weise: zwischen der Staatstheorie von Marx und Engels einerseits (wobei Engels zum Anhänger der bürgerlichen Demokratie umgefälscht wird) und Lenin andererseits bestehe ein grundsätzlicher Unterschied. Hier erscheint Lenin nach wie vor als Vater einer »Diktatur über das Proletariat«, der gegenüber »pluralistische Sozialismus-Modelle« ausgebrütet werden. Scheinheilig wird vom Boden imperialistischer, aggressiver Staaten der Sozialismus befragt, warum er denn den Staat nicht absterben lasse. Dem realen Sozialismus wird ein auf Basisgruppen und Selbstverwaltung aufbauendes Sozialismusmodell entgegengestellt, wie es im Grunde einst von Bakunin entworfen, von den Bakunisten bis zum Bankrott praktiziert und von Marx und Engels treffend kritisiert worden ist. Solchem Sozialismus stimmt auch die Springer-Journaille zu.
Angriffe gegen Lenins Parteitheorie
In diesem Zusammenhang ist auch auf die Angriffe gegen Lenins Parteitheorie, gegen die existierenden kommunistischen Parteien einzugehen. Die demokratisch-zentralistisch strukturierte marxistisch-leninistische Massenpartei der Arbeiterklasse wird vom Rechtsopportunismus als undemokratisch bezeichnet, in ihren ideologischen Grundlagen als dogmatisch verurteilt, weil sie im dialektischen und historischen Materialismus die Ideologie der Partei anerkennt. (Vergleiche Lombardo Radices neueste Erneuerung der Parteitheorie, die aus Kommunisten perspektivlose Reformierer der staatsmonopolistischen Realität machen würde.) Der Angriff gegen die Leninsche Parteitheorie von ultralinks stellt diese Theorie als historisch überholt hin. Die Grundlage der ultralinken Angriffe sind idealistische Vorstellungen über die Arbeiterklasse. Deren Strukturierung in materieller und ideologischer Hinsicht, bürgerliche ideologische Einflüsse in der Arbeiterklasse, die Notwendigkeit des ideologischen Ringens um das Bewusstsein von Arbeitermassen werden ignoriert, auf ordinär opportunistische Weise die spontanen Bewusstseinsprozesse angebetet – oft gerade von jenen, die noch vor kurzem, voller Recht und eindringlich, auf die Manipulierungsprozesse hinwiesen.
Das war damals eine konkrete Form von bürgerlicher Elitetheorie. Damals argumentierten sie in dieser Weise, um die Arbeiterklasse als »Adressat der Revolution« zu leugnen.
Die heutige Position, durch einfache Negation der früheren entstanden, bedeutet objektiv, die Arbeiterklasse daran zu hindern, zu tieferer Einsicht in ihre Lage und in ihre historische Rolle zu gelangen. Wir haben es also nur mit einer negativ wertenden bürgerlichen Elitetheorie zu tun.
Thematisch drückt sich dieser Linksrevisionismus so aus, daß der unvermeidliche Unterschied zwischen Arbeiterpartei und Arbeiterklasse zu einem mechanistischen Gegensatz weiter umgedeutet und den Kommunisten unterstellt wird, diesen Gegensatz zu fördern und auszunutzen. Diese Position wird dann auch hinsichtlich der Analyse der inneren Struktur der Partei selbst eingenommen. Hier wird ebenfalls die objektiv begründete Strukturiertheit als eine unnötige Autorität – »Kampf gegen die ›Apparatschiks‹« – bekämpft und einer kleinbürgerlich-gleichmacherischen »Demokratie« das Wort geredet.
Insgesamt wird der Zusammenhang der Leninschen Parteitheorie mit derjenigen von Marx und Engels bestritten, wozu die Marx-Engels-Arbeiten zum Parteiprogramm unterschlagen werden. Auch wird die Entwicklung der Parteitheorie im Werk Lenins ignoriert. Luxemburgs Polemik gegen Lenin vom Juli 1902 wird hochgespielt, die praktische Korrektur von 1907, als Rosa Luxemburg Lenins Position einnahm, wird verschwiegen.
Auf dem Gebiet der sozialen Kräfte und überhaupt des Revolutionsproblems wird ein angebliches marxistisches Revolutionsmodell verbreitet, das in Wahrheit ein mechanistisch-materialistisches Kautskyanisches Modell ist. Dem wird ein »russisches«, angeblich Leninsches entgegengestellt, das als putschistisch hingestellt wird. Fischer/Marek verabsolutieren den friedlichen Weg der Revolution. Andere reden von einem chinesischen Revolutionsmodell, wieder andere von einem Modell der Revolution für unterentwickelte Länder. Alles das bedeutet, die Allgemeingültigkeit bestimmter Grundzüge der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie wegen tatsächlicher oder ausgedachter Besonderheiten zu opfern. Zugleich haben antileninistische Kräfte in einem gewissen internationalen Ausmaß einen neuen Linksradikalismus entwickelt.
Von einer gewissen Bedeutung war lange Zeit die im Gefolge Herbert Marcuses geleugnete Rolle der Arbeiterklasse als des Subjekts der Revolution. Dieser Revisionismus entdeckte den revolutionären Beruf von »Randgruppen«, wie Studenten, Ghetto-Bevölkerungen und weißen Ausgestoßenen der USA, die, zusammen mit den Bauernmassen der dritten Welt, die Befreiung vollbrächten. Es erfolgte später – ebenfalls unter Marcuses, aber auch unter trotzkistischem und maoistischem Einfluss – eine Korrektur der Position, die sich wiederum als einfache Negation der vorherigen erweist: die Arbeiterklasse wird idealisiert, ihre Rolle abstrakt bejaht, bei gleichzeitiger Bekämpfung und Verleumdung der realen Arbeiterbewegung, der gewerkschaftlichen ebenso wie der kommunistischen.
Es gibt von diesen Kräften keine wirklich historisch-materialistische Analyse der Klassenkräfte. Das Momentbild des Bewusstseinsstandes von Arbeitermassen in den USA – vor allem dort – wird positivistisch mit dem Wesen der Arbeiterklasse gleichgesetzt oder zwischen beiden unrealistisch jeder Zusammenhang geleugnet. Das Ergebnis ist, dass alle konkreten Probleme der Bewusstseinsbildung, ihrer komplizierten Vermittlung mit dem materiellen Klassenkampf ignoriert werden. Es wird im Stile der mechanistischen Verelendungstheorie – die nur umgestülpt wird – der revolutionäre Beruf der Arbeiterklasse wegen des erreichten Konsumniveaus bestritten, also das Revolutionsproblem von quantitativen Merkmalen des Konsums, statt von den qualitativen einer Gesellschaftsordnung abhängig gemacht. Dabei werden entgegenstehende Fakten einfach ignoriert.
Die Strategie und Taktik dieses Linksradikalismus hat eine revidierte Dialektik und einen revidierten Materialismus als Grundlage. Die negative, revolutionäre Kraft wirkt nicht innerhalb, sondern außerhalb des Systems. Ein Bündnis dieser »neuen« negativen Kräfte mit der realen Arbeiterbewegung ist sinnlos, weil letztere sich im System befindet. Die Taktik des Verbindens von sozialökonomischen Tageskämpfen mit dem Ringen um grundlegende Reformen und für die sozialistische Revolution wird als sozialdemokratisch verleumdet. Stattdessen fordern sie, unmittelbar den Sozialismus an die Stelle des Kapitalismus zu setzen – das forderten 1918/19 Kautsky, 1945/46 Kurt Schumacher, so wenig revolutionär kann das sein! –, dazu Klasse mit Klasse zu konfrontieren und die Revolution als katastrophischen Akt herbeizuführen, wobei sich die Ultralinken als Platzhalter für eine irgendwann und irgendwie wieder revolutionäre Arbeiterklasse empfinden.
Lenin-Aktivitäten marxistischer Kräfte
Selbstverständlich gab und gibt es in der Bundesrepublik nicht nur offen bürgerliche und revisionistische Formen der Lenin-Beschäftigung. Jene, die sich in Theorie und Praxis von den Ideen Marx’, Engels’ und Lenins leiten lassen – Deutsche Kommunistische Partei (DKP), Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), Spartakus, d. h. die Assoziation marxistischer Studenten, dazu einer Reihe weiterer Einrichtungen wie die Marxistische Arbeiter-Bildung (MAB), der Verlag Marxistische Blätter, das Institut für Marxistische Studien und Forschungen, die gewerkschaftspolitische Zeitschrift »Nachrichten« – traten mit Lenin-Aktivitäten prinzipiell anderer Art auf.
Die DKP veranstaltete in München, wo Lenin längere Zeit lebte und wirkte, eine zentrale Lenin-Feier im Stile der AgitProp-Tradition, ganz den Aufgaben des gegenwärtigen antiimperialistischen Kampfes zugewandt. Dieses Programm wurde in allen größeren Städten der Bundesrepublik vor Tausenden, meist jungen Menschen gezeigt. Es gab daneben viele dutzend kleinerer, mehr propagandistisch gehaltener Lenin-Veranstaltungen, organisiert durch DKP, MAB, SDAJ, Spartakus, in denen Referenten aus Westdeutschland, der DDR und der Sowjetunion über Probleme wie »Lenin über den Kampf um Demokratie und Sozialismus«, »Lenins Weiterentwicklung des Marxismus«, »Lenin über die Probleme der friedlichen Koexistenz« sprachen. Dutzende von Filmveranstaltungen dienten dazu, breitere Kreise mit Lenins Werk, mit der Oktoberrevolution, mit dem antifaschistischen Kampf der UdSSR besser vertraut zu machen. »Spartakus« und SDAJ veranstalteten Lenin-Kongresse. Das Institut für Marxistische Studien und Forschungen, Frankfurt am Main, führte eine große, selbst von der großbürgerlichen Presse aufmerksam beachtete wissenschaftliche Konferenz durch, die der gründlichen Kritik einer recht wirksamen antimarxistischen Schule der Gesellschaftstheorie (der »Kritischen Theorie« von Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas) diente.
Die marxistischen Kräfte bemühten sich gerade im Lenin-Jahr, Lenin-Werke in der Bundesrepublik zu verbreiten. Der Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt am Main, begann mit der Herausgabe einer sechsbändigen Auswahl von Lenin-Werken. An einzelnen Lenin-Schriften gab der Verlag heraus: die klassische Imperialismus-Arbeit, den »Linken Radikalismus«, die »Zwei Taktiken«, »Was tun?«, »Staat und Revolution« u. a. Es wurden die große sowjetische Lenin-Biographie, daneben die Kurzbiographie, in großer Zahl ein Lehrbrief über »Die Weiterentwicklung des Marxismus durch Lenin« veröffentlicht. Er diente in der DKP als Grundlage der Schulung in den Grundeinheiten. Außerdem erschien in diesem Verlag ein Taschenbuch »Lenin und die Arbeiterbewegung heute« mit Beiträgen von Autoren aus der Sowjetunion, der DDR, der Bundesrepublik und aus Frankreich. Auch der schon genannte Sammelband »Lenin über Trotzki« wäre hier zu nennen.
Die Marxistische Arbeiter-Bildung gab mehrere Rededispositionen, Seminare und Studienpläne zu Werken Lenins heraus, zum Beispiel zu »Was tun?«, »Der linke Radikalismus«, »Staat und Revolution«.
Die Studenten-Vereinigung »Spartakus« brachte eine eigene Lenin-Ausgabe ihres Organs »Facit« heraus und widmete dem Lenin-Geburtstag einige weitere Arbeiten.
Die oben genannten Lenin-Veranstaltungen zeichneten sich durch die überwiegend jungen Besucher und das erforderliche recht hohe Niveau aus, das den Referenten abverlangt wurde. Am erfolgreichsten hinsichtlich des notwendigen Masseneinflusses sind die AgitProp-Veranstaltungen. Zwar zeigte das Programm noch einige Mängel, es war teilweise zu intellektuell; manches war noch zu sehr nur dialogisierter Leitartikel, noch nicht genug in Handlungsabläufe gesetzt; es gab auch ein paar politische Einseitigkeiten – aber unsere AgitProp-Gruppen sind noch sehr jung, recht talentiert, was zu großen Hoffnungen berechtigt. Wenn wir diese Aktivitäten vergleichen mit dem, was lautschreierische »Antirevisionisten« aufzubieten hatten, um den größten Revolutionär der Weltgeschichte aktuell zu würdigen, so stellt man eine reine Fehlanzeige fest: von dieser Seite gab es antileninistische, revisionistische Veröffentlichungen (Gorter u. a.).
Die Aktivitäten verschiedenster Art, die es bei uns im Lenin-Jahr gab, lassen einige Schlussfolgerungen zu: Wir brauchen mehr theoretische Arbeiten, in welchen die Einheit sowohl des Werkes von Marx, Engels und Lenin als auch dieser Klassiker des Marxismus mit dem Kampf der heutigen Kommunisten überzeugend gezeigt wird. Das gilt besonders für solche Probleme wie die Staatsfrage, die Organisationsfrage, Widerlegung der Fälschungen der Werke von Marx und Lenin auf diesem Gebiet. Wir müssen die Auseinandersetzung mit dem Trotzkismus vertiefen, weil junge Menschen den Trotzki-Legenden nicht mit eigener Erfahrung begegnen können. Es ist ein vertieftes Studium der Parteiproblematik nötig, wobei mehr unternommen werden müßte, um den riesigen Erfahrungsschatz der Komintern in der Organisationsfrage und hinsichtlich der Strategie und Taktik einer neuen Generation von Sozialisten und Kommunisten zugänglich zu machen.
Weiterhin sind neue Arbeiten gegen den Revisionismus nötig, die dem heutigen Niveau des ideologischen Klassenkampfes entsprechen. Der innere Zusammenhang – die »Konvergenz« – von rechtem und linkem Revisionismus sowie ihre historischen Zusammenhänge müssen deutlich gemacht werden.
Selbstverständlich sind das nur einige kursorische Bemerkungen, die aus dem unmittelbaren Kampf und Erleben der Bundesrepublik gewonnen worden sind.
1 Bei Teilen dieses Aufsatzes verwandte ich Materialien aus einer umfangreichen Arbeit von Hans Adamo, Hanau.
Anmerkungen zum »Organisationsproblem«1
Marxistische Blätter 1971_4, S. 43 ff.
Als sich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre eine links- und ultralinks orientierte Studentenbewegung herausbildete, trat das »Organisationsproblem« rasch in das Zentrum der Diskussionen. Das hatte viele Gründe. Was sich in der linken Studentenbewegung damals zusammenfand, war ohne Zweifel der beste Teil der heranwachsenden Intelligenz unseres Landes. Aber selbstverständlich war er, wie die anderen Teile unseres Volkes auch, dem pausenlosen und hemmungslosen Druck des Antikommunismus ausgesetzt. Wen also sollte es wundern, dass für diese neuen Rebellen gegen das imperialistische System die kommunistische Bewegung nur der Kritik »würdig« war? Mit dem Kampf gegen die bürgerliche Ordnung der Dinge und mit dem Kampf gegen die reale (damals übrigens nur illegal existierende) kommunistische Bewegung kam der Kampf gegen den »Traditionalismus« auf, die Ablehnung aller herkömmlichen Ideen, Taktiken, Organisationsprinzipien im allgemeinen, der revolutionären Arbeiterbewegung im besonderen. Alles sollte mit einem Male neu gemacht werden. An die Stelle des Marxismus trat Marcuses eklektische, aus Bestandteilen von Heidegger, Sartre, Hegel, Marx, Freud und anderen bunt zusammengewürfelte Theorie. An die Stelle der »traditionellen« Taktik der revolutionären Bewegung trat die »völlig neue« Taktik der Provokation, des totalen Widerrufs des Alten, des großspurig »erklärten Austritts« aus dieser Gesellschaftsordnung. An die Stelle der Leninschen Organisationsprinzipien traten »völlig neue«, solche des Zirkelwesens ohne feste Form, von Zirkeln, die in endlosen und strukturlosen Debatten ihre Dutzende revolutionären Konzepte erörterten, verwarfen, erneut erörterten, erneut verwarfen und in den meisten Fällen eine allgemeine »Frustration« vorbereiteten. An die Stelle der Erkenntnis, dass die Arbeiterklasse das Subjekt der Revolution sei, trat die Auffassung, dass sie nicht mehr »Adressat revolutionärer Theorie«, nicht mehr Subjekt der Revolution, weil voll in das System »integriert« sei. An die Stelle des realen Sozialismus, der dem seltsamen Gemisch von kleinbürgerlicher Genussfreiheit im sexuellen Bereich und Asketentum in anderen Konsumbereichen, dem Vorbild anarchischer Föderationsdemokratie so gar nicht entsprach, traten zahlreiche neu ausgeheckte Modelle eines irgendwie »menschlichen«, »neuen Sozialismus«. So suchte die »neue Linke« nach Ersatzzielen, Ersatzkampffeldern und Ersatzsubjekten einer »völlig neuen Revolution«.
In jüngster Zeit ist auf diese Periode eine andere gefolgt. An jeder größeren Universität gibt es mindestens einen Zirkel von Intellektuellen, der irgendeine Form von »Aufbau«-Organisation der »marxistisch-Ieninistischen«-Partei geschaffen, ein eigenes »theoretisches Organ« ins Leben gerufen und den Kampf gegen die »DKP-Revisionisten« aufgenommen hat. Die Zahl selbsternannter Führer, Zentralkomitees (oder analoger Gremien), Zentralorgane sowie die Fülle der »grundsätzlichen« Artikel ist kaum noch zu übersehen.
Auf der anderen Seite ist die Diskussion über die Kommunistische Partei jedoch auch von rechtsopportunistischen und rechtsrevisionistischen Kräften verstärkt entfacht worden. Die Wortführer der Zagreber Praxisgruppe, ihre Anhänger in der Tschechoslowakei zur Zeit Dubčeks, Überläufer aus dem Lager des Kommunismus in das der Bourgeoisie wie Ernst Fischer und Roger Garaudy entwarfen »neue« Vorstellungen vom Charakter der Kommunistischen Partei.
Jede Idee bedarf zu ihrer Verwirklichung der Organisation, meinte Ernst Fischer noch richtig, aber diese Organisation beschmutze die Idee, sinnierte er im Stile der Spießer aus »Auerbachs Keller«. Um diesem enttäuschenden Ergebnis entgegenzuwirken, müsse die in dieses Geheimnis eingeweihte Intelligenz die führende Rolle im politischen Leben und auch in der Partei übernehmen. Aus der Partei der Arbeiterklasse sollte also der Zirkel von Intellektuellen werden.
Die ideologische Einheit der Partei führe zu ihrer Verknöcherung und Bürokratisierung, weshalb der Pluralismus von Ideen und die Bildung von Fraktionen erforderlich seien, predigten die Revisionisten aus Zagreb. Garaudy hängte sich den Mantel der Modernität um, als er meinte, das Leninsche Parteimodell sei mechanistisch. Im Zeitalter der Kybernetik bedürfe es auch eines kybernetischen Organisationsmodells, das sich der »Rückkopplung« bediene: »In der Komplexität der modernen, automatisierten Produktionsweise von heute sind jedoch mechanistische Führungsmethoden überholt. Sie sind ein Hindernis für jede Weiterentwicklung. Für die Politik ist es verderblich, wenn sie heute diese überholten und lähmenden Methoden kopiert, anstatt Organisationsprinzipien anzuwenden, die der neuen Situation und dem neuen Stand der Produktivkräfte entsprechen.«2
Garaudys Organisationsvorstellungen der Rückkopplung zwischen Basis und Leitung, der Anpassung jener Entscheidungen, welche die Führungsspitze fällt, an die neuen Kampfbedingungen durch dieses System von Rückkopplungen ignoriert freilich, dass das Erheben der »Rückkopplung« zum Kriterium der »modernen« Organisation, um beim kybernetischen Modell zu bleiben, darauf hinausläuft, ein System an verselbstständigter Rückkopplung zugrunde gehen zu lassen, da es dadurch in unkontrollierbare Prozesse gerät und aufhört, ein kybernetisches System zu sein. Auf das Parteiproblem angewandt bedeutet Garaudys »Modell«, eine »Organisation« zu entwickeln, die ein ständiger Debattierklub ohne zentrale Instanz und ohne einheitlich verbindliche Beschlüsse ist, unfähig zur einheitlichen Aktion, sehr ähnlich dem SDS während seiner sogenannten antiautoritären Entwicklungsphase.
Auch die Bourgeoisie »kümmert« sich um das »Organisationsproblem« der Arbeiterklasse. Sie versucht, zu ihren Gunsten auf die Organisation des Proletariats insofern einzuwirken, als sie zunächst einmal allen diesen »modernen« Erörterungen den Zugang in die Verlage des kapitalistischen Establishments, in die Rundfunk- und Fernsehanstalten gewährt. Die entschiedensten Feinde des Sozialismus geben sich großzügig gegenüber jenen, die sich lauthals als die »Erneuerer des erstarrten Sozialismus« preisen. Fürwahr, das ist ein schöner Antikapitalismus.
Damit nicht genug. In der Bundesrepublik verstärkte sich in jüngster Zeit die antikommunistische Propaganda, die Aktivität gegen die DKP. Erinnert sei an den Beschluss der sozialdemokratischen Führer, der die Zusammenarbeit von Sozialdemokraten mit Genossen der DKP verurteilt. Erinnert sei an die Erklärung der Bundesregierung vor dem Parlament, ein Antrag auf ein Verbot der DKP sei eine Frage der Opportunität. Erinnert sei daran, dass aus dem Bundesinnenministerium ein Geheimdokument bekannt wurde, wobei man annehmen muss, dass dieses Dokument gezielt in die Presse gelangte. Nach diesem »Geheimdokument« setze die DKP die Tätigkeit der verbotenen KPD fort und könne zu einer Gefahr für das System werden. Erinnert sei an verschiedene Auslassungen, insbesondere des CDU-Generalsekretärs Bruno Heck. So kämpfen sie alle, die »ultralinken Antirevisionisten«, die rechtssozialdemokratischen und CDU/CSU-Hüter der »Freiheit«, bei Verharmlosung der faschistischen Gefahr, gemeinsam gegen die DKP, gegen die Kommunisten. Aber erinnert sei auch an die zahlreichen gesetzlichen Maßnahmen zur Integrierung der Parteien, angefangen von der staatlichen Finanzierung der Tätigkeit von Parteien bis hin zum Parteiengesetz.
Das alles ist kein Zufall. Die Partei der Arbeiterklasse stellt die lebendige Verkörperung der Einheit von marxistischer Theorie und revolutionär-sozialistischer Praxis dar. Folglich ist die Auseinandersetzung über das »Organisationsproblem« ein Teil des ideologischen Klassenkampfes. Ihr tiefster Sinn besteht darin, diese Einheit von Theorie und Praxis zu zerstören, die Umsetzung revolutionärer Theorie in konkrete Praxis zu behindern. Damit unterbindet sie die Einigung des revolutionären Potentials der Arbeiterklasse und der jungen Intelligenz um die Partei der Arbeiterklasse. Die scheinbar besonders radikale Aktivität ultralinker Kräfte erweist sich, indem sie von der marxistischen Kampfpartei der Arbeiterklasse wegorientiert – ob das gewollt geschieht oder nicht, ist hinsichtlich der objektiven Wirkung nebensächlich – als gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet. Aus alledem folgt, dass die Parteidiskussion in unseren Reihen ein Stück des Klassenkampfes darstellt, des Kampfes gegen die bürgerliche Ideologie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, gegen ihre Tendenz, entwaffnend auf die Arbeiterklasse einzuwirken.
I.
Tatsächlich spielt die Organisation in allem, was wir Menschen tun und folglich auch im Klassenkampf, eine entscheidende Rolle. Ohne organisiertes, d. h. koordiniertes, planmäßiges Vorgehen ist es unmöglich, irgendwelche Ziele zu verwirklichen. Damit erweist sich Organisation, Organisiertheit als ein unverzichtbares Element von Durchsetzbarkeit, von Macht.
Allerdings stellt sich das Organisationsproblem für die verschiedenen Klassen nicht auf gleiche Weise. Die Bourgeoisie besitzt beispielsweise zahlreiche Formen von Organisation: Parteien, Landsmannschaftsverbände, Unternehmerverbände, die Organe des militärisch-industriellen Komplexes, vor allem den Staat mit seiner Armee, Polizei, Justiz, Bürokratie usw. Die Arbeiterklasse besitzt davon fast gar nichts. Die Faktoren ihrer Stärke und Macht sind zunächst von völlig anderer Art.
Im gesellschaftlichen, im historischen Sinne beruht die Stärke und Macht der Arbeiterklasse auf ihrer geschichtlichen Rolle, die kapitalistische Gesellschaft in die sozialistische umzuwandeln. Die Arbeiterklasse ist aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess, ihrer ungeheuren Zahl, dann, wenn Kombination sie vereint und Bewusstheit der Arbeitermasse Klarheit über ihr Ziel und den Weg zum Ziel verleiht, die entscheidende Kraft, die die alte Gesellschaftsordnung überwinden, die neue, sozialistische Gesellschaftsordnung errichten wird.
Dies folgt daraus, dass die Arbeiterklasse die entscheidende Kraft im Produktionsprozess, der Hauptproduzent des gesellschaftlichen Reichtums, die Hauptproduktivkraft darstellt. Sie ist mit der modernsten Form der Produktion, der industriellen Großproduktion, verbunden, wächst als einzige Klasse der Gesellschaft. Sie wirkt im Zentrum des Profit- und Machtmechanismus, kann am ehesten durch ihre kombinierten Massenaktionen auf diesen Profit- und Machtmechanismus einwirken. Durch den Produktionsprozess selbst ist sie organisiert und diszipliniert. Sie ist darum am meisten fähig, andere Kräfte zu organisieren. In den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ist die grundlegende Existenzweise des Kapitalismus, nämlich das Privateigentum an den Produktionsmitteln, bereits überwunden. Gerade darum können vom Boden der Arbeiterklasse aus die Umrisse der neuen Gesellschaftsordnung, die den Kapitalismus ablöst, erkannt werden. Es handelt sich um die Gesellschaftsordnung des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln, der zwischenmenschlichen Solidarität, der Freiheit von Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg, kurz: um den Sozialismus. Erst vom Standpunkt der Arbeiterklasse wird es also möglich, den Kampf für die Gesellschaftsordnung der Zukunft aufzunehmen, auf der Grundlage der Erkenntnis dieser gesellschaftlichen Perspektive, der Perspektive einer befreiten Menschheit, Bündnisse gegen das Monopolkapital und seinen Staat zu organisieren. Die Arbeiterklasse besitzt mit ihrer marxistisch-leninistischen Theorie, in der sich alle diese realen Verhältnisse, Prozesse und Perspektiven spiegeln, das wissenschaftliche Instrument, um die Entwicklungsprozesse der Gesellschaft, ihrer Klassen, die Gegenwart und Zukunft des gesellschaftlichen Lebens der Menschen in ihren Grundzügen richtig zu erkennen und darum im Kampf um die Zukunft die Führung zu übernehmen.
II.
Auf der Grundlage dieser objektiven und subjektiven Faktoren der Stärke der Arbeiterklasse entwickelt sie ihre eigenen Formen von Organisation und Organisiertheit. Die beiden wichtigsten, deren Verhältnis hier zu beleuchten ist, sind die Gewerkschaft und die Partei. Die Arbeiterklasse ist keine in sich völlig einheitliche Klasse. Zwar ist es richtig, daß alle Arbeiter gegenüber dem Kapital sich in einer grundsätzlich gleichen Lage befinden und ihm gegenüber grundsätzlich gleiche Klasseninteressen haben. Dennoch ergeben sich im einzelnen recht unterschiedliche Gruppen in der Arbeiterklasse. Zwischen den Arbeitern, die in Großbetrieben arbeiten, und jenen in patriarchalischen Kleinbetrieben gibt es hinsichtlich ihrer Stellung zum Kapitalisten durchaus Unterschiede. Arbeiter der ersten Generation haben ein weniger tief eingewurzeltes Arbeiterbewusstsein und Verhältnis zur Organisiertheit als solche Arbeiter, die bereits in der zweiten oder dritten Generation in der Stadt leben und in der kapitalistischen Industrie arbeiten. Es entstehen also durchaus ideologische und sonstige Differenzen innerhalb der Klasse. Das macht es notwendig, verschiedenartige Formen ideologischer Aufklärungsarbeit und verschiedene Organisations- und Kampfformen zu entwickeln. Alle diese verschiedenartigen Organisationen vertreten bestimmte Teilinteressen von Schichten der Arbeiterklasse, etwa der Jugend, der Frauen. Oder es sind solche Organisationen, denen die Entfaltung des Klassenkampfes auf einem besonderen Gebiet, etwa dem der ökonomischen Verhältnisse, obliegt. Letzteres gilt vor allem für die Gewerkschaft, die im Rahmen der Klasse die größte und wichtigste Organisation zur Führung des ökonomischen Klassenkampfes darstellt.
Der ökonomische Klassenkampf hat großen Einfluss auf die Bedingungen, unter denen die Arbeiterklasse ihre Arbeitskraft an das Kapital verkauft. Dieser ökonomische Klassenkampf beseitigt jedoch nicht die Bedingungen, unter denen die Arbeiter gezwungen sind, ihre Arbeitskraft an die Kapitalistenklasse als Ware verkaufen zu müssen. Wenn diese Bedingungen verändert, wenn sie aufgehoben werden sollen, ist die Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel erforderlich. Damit verschwindet die Kapitalistenklasse und ändern sich die ökonomischen Existenzbedingungen der Arbeiterklasse grundlegend. Um die Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel durchsetzen zu können, braucht die Arbeiterklasse jedoch die politische Macht. Darum ist es notwendig, dass die Arbeiterklasse über den ökonomischen Klassenkampf hinaus den politischen Klassenkampf führt. Doch ist auch dieser Kampf um die politische Macht nur dann von Erfolg gekrönt, wenn die Masse der Arbeiter ein möglichst klares Bewusstsein über den unversöhnlichen Gegensatz der Arbeiterklasse zur Kapitalistenklasse und ihrem Staat besitzt. Darum ist der ständige und unversöhnliche ideologische Klassenkampf notwendig.
Die Organisation der Arbeiterklasse, die ihren Kampf auf allen drei Gebieten führt, auf dem ökonomischen, politischen und ideologischen, ist die marxistische Partei. Sie kombiniert diese Kampfformen, führt die innere Übereinstimmung derselben unter dem Gesichtspunkt des Ringens um die schließliche Überwindung des kapitalistischen Systems herbei, ringt darum, dass die Arbeiterklasse alle Kampf- und Organisationsformen meistert. Aus alledem folgt, dass die höchste Form der Organisation der Arbeiterklasse, ihre wichtigste Form, die politische Kampfpartei darstellt.
III.
Es wurde betont, dass Organisation eine notwendige Bedingung für die Erreichung eines jeglichen Zieles darstellt. Aber Organisation »an sich« ist noch keine hinreichende Bedingung für den erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse. Es gibt unterschiedliche Ziele, reale, utopische, verrückte. Die letztlich entscheidende Bedingung für den erfolgreichen Kampf des Proletariats ist die Meisterung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Dies ergibt sich daraus, dass die Theorie von Marx, Engels und Lenin die grundlegenden gesellschaftlichen Prozesse richtig erfasst und uns darum in den Stand setzt, die künftige Entwicklung in ihren Grundzügen zu erkennen. Nur aus der Verbindung von marxistischer Theorie und Organisiertheit ergibt sich die proletarische Partei, der Keim der proletarischen Gegenmacht zum kapitalistischen System. Erst die marxistische Kampfpartei der Arbeiterklasse stellt die Lösung des »Organisationsproblems« vom proletarischen Standpunkt aus dar.
Der beste, entschiedenste, kämpferischste, bewussteste Teil der Arbeiterklasse schließt sich auf der Grundlage der Ideen von Marx, Engels und Lenin zur Partei der Arbeiterklasse zusammen. Diese Partei ist nur so stark, wie die marxistische Bewusstheit ihrer Mitglieder, ihrer Gruppen, ihrer Leitungen. Darum ist es erforderlich, zur Stärkung der Partei ständig an der Aufgabe zu arbeiten, das ideologisch-politische Niveau aller Genossen und Leitungen zu heben. Je tiefer die Einsicht der Genossen in die gesellschaftlichen Grundprozesse ist, in die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse, je klarer es gelingt, in der Partei die Erkenntnis von der Gemeinsamkeit der allgemeinen Grundinteressen des gesamten Proletariats durchzusetzen und das Wissen vom Zusammenhang zwischen dem Kampf für die Tagesinteressen mit demjenigen gegen die Monopole und für das sozialistische Ziel zu verankern, je gründlicher und sich in praktischer Solidarität äußernd die internationalistische Orientierung der Genossen, der Gruppen, der Leitungen ist, je stärker wir den Kampf um die Einheit der Klasse und für ihre klassenbewusste Organisiertheit führen, je entschiedener wir uns mit dem rechten und linken Opportunismus und Revisionismus auseinandersetzen, desto stärker ist die Partei. Das bedeutet nicht, dass wir uns mit einer mechanischen Aneignung des Ideenschatzes von Marx, Engels und Lenin begnügen dürfen. Die Stärke der Partei ergibt sich daraus, wie sie imstande ist, diese Ideen auf die konkreten Probleme der Gegenwart anzuwenden, sie bei der Anwendung auf diese Probleme schöpferisch weiterzuentwickeln. Das bloße Wiederholen auswendig gelernter Formeln, die damit zum Schema erstarren, macht uns unfähig, neu herangereifte Fragen zu lösen, was dem Revisionismus Möglichkeiten gibt, Verwirrung in unsere Reihen zu tragen. Wir eignen uns den Marxismus also nur dann richtig an, wenn wir das Engelssche Wort beherzigen, dass der Marxismus kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln ist.
IV.
Die Partei ist nicht einfach eine Vereinigung von Theorie und Organisiertheit. Es geht um die Verwirklichung ganz bestimmter Organisationsprinzipien. Die bei den grundlegenden dieser Organisationsprinzipien sind der Demokratismus und der Zentralismus. Um ihr Verhältnis zueinander zu klären, wollen wir uns kurz an die Entwicklung des SDS erinnern. In der ersten Phase seiner »Linksentwicklung« orientierten sich die führenden Kräfte des SDS an sogenannten antiautoritären Organisationsvorstellungen. Das war die Periode der ewigen, ellenlangen Diskussionen, die zur Beschlussunfähigkeit, zum Zerfall der Einheit des Verbandes führte, zum Verlust seiner Kampffähigkeit. Es war die Periode, an deren Ende zuerst der Verzicht darauf stand, einen Vorstand zu wählen, eine zentrale Führung und schließlich der Beschluss, den Verband selbst aufzulösen. Auf diesen bis zum Exzess getriebenen »Demokratismus« folgte und folgt eine Periode des einfachen Umschlags in das Gegenteil. Es entstanden und entstehen Gruppen, die militärische Formen der Organisation auf die Arbeiterbewegung anwenden wollen. Die Verabsolutierung des Prinzips des Zentralismus führt dazu, dass die Mitglieder von der Beschlussfassung über die Politik ausgeschaltet werden, führt zur Entfernung der Organisationen von den Massen, als notwendige Folge dessen zu administrativen und bürokratischen Leitungsmethoden, was insgesamt zur Schwächung der Organisation führt.
Es ist also erforderlich, nach einer innerlichen Vereinigung beider Elemente zu suchen. Die Partei der Arbeiterklasse zeichnet sich doch dadurch aus, dass sie – auf der Grundlage der gleichen Klassenlage, der gemeinsamen marxistisch-leninistischen Weltanschauung, der Lehren von Marx, Engels und Lenin – eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten darstellt. Diese Gemeinsamkeit führt zur Herausbildung einer Einheit des Willens in der Partei, welche die Grundlage für die Einheit, für die Koordiniertheit des Handelns darstellt.
Diese einheitliche, koordinierte Aktivität der Partei ist auch darum notwendig, weil der kapitalistische Feind hochorganisiert und zentralisiert ist. Gegen diese Macht mit kleinen, dezentralisiert kämpfenden, spontan handelnden Gruppen kämpfen zu wollen, wäre eine Donquichotterie. Mehr noch: die allgemeinen, von den einzelnen Gruppeninteressen der Teile der Arbeiterklasse, von den lokalen Besonderheiten solcher Teile der Arbeiterklasse usw. unabhängigen Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Klasse, ihre Interessen im Gegensatz zur kapitalistischen Klasse können nur ermittelt werden, wenn man von der Arbeitermasse, von der Klasse im gesamtstaatlichen Rahmen, von ihrer gesamtstaatlichen Konfrontation gegenüber der Bourgeoisie und ihrer Macht ausgeht. Dies zeigt schon die große Bedeutung des Elements des Zentralismus in den Organisationsprinzipien der marxistischen Partei.
Die Kampfkraft und Kampffähigkeit der Partei beruht auf der dialektischen Verknüpfung des demokratischen und zentralen Prinzips. In ihrer konkreten Anwendung bedeuten diese Organisationsprinzipien zunächst die Verwirklichung des Grundsatzes: Es gibt in der Partei nur eine Disziplin für alle, wobei dies bedeutet, dass die Beschlüsse für jedes Mitglied, ungeachtet seiner Stellung, verbindlich sind und dass die oberen Parteiorgane sich durch ein Beispiel der Disziplin auszeichnen müssen. Aus diesen Bemerkungen folgt bereits, dass es auch bei uns nur die DKP als legale kommunistische Partei gibt. Die zahlreichen »ML-Parteien« stellen keine kommunistischen Organisationen dar, sondern linksopportunistische Grüppchen, die den Namen der kommunistischen Partei missbrauchen. Die Organisationsprinzipien der marxistischen Partei der Arbeiterklasse schließen ferner ein die Wählbarkeit aller leitenden Organe, die periodische Rechenschaftslegung dieser Parteiorgane vor der Parteiorganisation, die Verwirklichung des Prinzips der Kollektivität der Beschlussfassung, der Verbindlichkeit der Beschlüsse der Mehrheit für die Minderheit und derjenigen der übergeordneten Organe für die nachgeordneten, wobei das höchste, das oberste Organ der Partei der Parteitag ist, der sich aus den demokratisch gewählten Delegierten der Organisation und Mitglieder zusammensetzt.
Die Organisationsprinzipien der marxistischen Kampfpartei der Arbeiterklasse schließen auch die Ablehnung von Fraktionen innerhalb der Partei ein. Eine Fraktion ist eine geschlossene Gruppe, die mit einer politischen Plattform hervortritt, mit der sie sich abgrenzt oder unterscheidet von der Politik, wie sie der Parteitag und andere Parteiorgane beschlossen haben. An die Stelle der Disziplin gegenüber den gewählten Organen der Partei setzt die Fraktion ihre eigene Fraktionsdisziplin. Würden wir die Herausbildung von Fraktionen zulassen, so liefe dies zwangsläufig auf die Zerstörung der Einheit der Partei hinaus, auf ihre Spaltung. Wir haben es mit der Partei der Arbeiterklasse zu tun, deren Grundlage die wissenschaftliche Ideologie und Politik des Marxismus ist. Fraktionen, ideologischer und politischer »Pluralismus« – den übrigens keine Partei des kapitalistischen Systems zulässt; sie alle lassen in ihren Reihen nur den »Pluralismus« bürgerlicher Ideen zu, nicht jedoch einen Pluralismus bürgerlicher und proletarischer Ideologie in den Reihen einer bürgerlichen Partei – kann nur bedeuten, dass in die Reihen der Partei der Arbeiterklasse die bürgerliche Ideologie und Politik eindringen soll. Der Kampf um die Einheit der Partei, gegen Fraktionsbildungen ist darum ein Kampf um die Einheit auf der Grundlage der proletarischen Ideologie und Politik, gegen das Eindringen bürgerlicher Ideologie und Politik in die Reihen der Partei der Arbeiterklasse. Es ist ein Kampf um die Sicherung der Existenz und Stärke dieser Partei, worauf Lenin bereits in seinen Ausführungen vor dem 10. Parteitag der KPdSU gegen die trotzkistischen Versuche zur Spaltung und Zerstörung der Partei hinwies.
Zusammenfassung der besten revolutionären Kräfte der Arbeiterklasse und der Jugend unseres Landes in und um die DKP als marxistische Kampfpartei der Arbeiterklasse, die den Kampf der Klasse auf ökonomischem, politischem und ideologischem Gebiet kombiniert und leitet, Organisierung auf der Grundlage der Theorie von Marx, Engels und Lenin, der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus, ständiges Studium dieser Ideen und ihrer schöpferischen Anwendung in unserer gesamten gesellschaftlichen Praxis, strengste Einhaltung der organisationspolitischen Grundbedingungen, wie sie in der dialektischen Lösung des Verhältnisses von Demokratismus und Zentralismus zum Ausdruck kommen, sind Grundbedingungen der richtigen, proletarischen Lösung des »Organisationsproblems«.
Fragen der Bündnispolitik im Werke von Marx, Engels und Lenin
Marxistische Blätter 1972_5, S. 11.ff.
Die marxistische Theorie ist das Erkenntnismittel der revolutionären Arbeiterbewegung. Aber Marxisten begnügten sich nie mit der »reinen Erkenntnis«, sondern sahen es stets als ihre Hauptaufgabe an, die Welt zu verändern. Darum ist – von Anfang an – mit der Herausarbeitung der Theorie auch die Entwicklung der Strategie und Taktik der Arbeiterklasse verbunden. Marx und Engels voIlzogen den Eintritt in den Bund der Kommunisten erst auf der Grundlage einer umfassenden Verständigung über Programm und Taktik des Bundes. So finden wir schon im Entwurf von Engels für das »Manifest der kommunistischen Partei« zahlreiche taktische Festlegungen.
Natürlich hat sich das, was heute als ein relativ geschlossenes System der Taktik der marxistischen Arbeiterbewegung vorliegt, in den konkreten Klassenkämpfen erst herausgebildet. Aber gerade das Studium dieses Entwicklungsprozesses vermittelt zahlreiche Lehren für das Herangehen an taktische Probleme.
Von Anfang an taucht in den taktischen Erörterungen bei Marx und Engels das Bündnisproblem auf. Als »Vollblutpolitiker« wussten sie, dass die Arbeiterklasse, um siegen zu können, Bündnisse abschließen muss.
Bündnisfragen in der Zeit der Revolution 1848/49
Während der Zeit der Vorbereitung auf die Revolution von 1848/49 gingen Marx und Engels von folgender Erkenntnis aus: Eine bürgerliche Revolution steht bevor, auf die eine sozialistische folgen wird. Unter diesen Bedingungen ist die Bourgeoisie gegenüber der feudalen Klasse revolutionär. Andererseits ist die Arbeiterklasse gegenüber dieser Bourgeoisie revolutionär, weil sie jene gesellschaftlichen Zustände bekämpfen wird, um deren Errichtung die Bourgeoisie kämpft. Die mittelständischen Schichten können im Hinblick auf ihren bevorstehenden Übergang ins Proletariat revolutionär werden.
Folglich sei es falsch, Bourgeoisie und mittelständische Schichten, zusammen mit den Feudalen, als eine einzige reaktionäre Masse einzuschätzen. Insbesondere sei dies falsch gegenüber Bauern, Handwerkern und kleinen Industriellen.1
Diesen Erwägungen entsprachen bereits die von Engels in den »Grundsätzen des Kommunismus« gegebenen Hinweise zur Bündnispolitik: Engels unterschied zunächst Parteien und Kräfte, die sich Sozialisten nennen, und sodann die anderen oppositionellen Parteien. Er schlug vor, gegen die feudalen und bürgerlichen »Sozialisten« zu kämpfen, aber mit einer dritten Richtung, den »demokratischen Sozialisten«, ein Bündnis einzugehen. Diese demokratischen Sozialisten seien entweder Arbeiter, »die über die Bedingungen der Befreiung ihrer Klasse noch nicht hinreichend aufgeklärt sind, oder sie sind Repräsentanten der Kleinbürger, einer Klasse, welche bis zur Erringung der Demokratie und der aus ihr hervorgehenden sozialistischen Maßregeln in vieler Beziehung dasselbe Interesse haben wie die Proletarier«.2 Mit diesen Kräften im Bündnis müssten die Kommunisten eine für den Augenblick möglichst gemeinsame Politik befolgen, sofern diese Leute nicht mit der Bourgeoisie gegen die Kommunisten kämpften. »Daß diese gemeinsame Handlungsweise die Diskussion der Differenzen mit ihnen nicht ausschließt, ist klar.«3
Gegenüber den anderen oppositionellen Parteien schlug Engels folgendes Vorgehen vor: Wo die Bourgeoisie herrsche, also in England, Frankreich und Belgien, hätten die Kommunisten zunächst noch ein gemeinsames Interesse mit den verschiedenen demokratischen Parteien. Dieses Interesse sei um so größer, je mehr sich eine solche demokratische Partei – wie etwa die englischen Chartisten – den zu verfolgenden sozialistischen Zielen annähere. In den USA müssten sich die Kommunisten mit den Agrarreformern verbünden, weil diese die Verfassung gegen die Bourgeoisie wenden und im Interesse des Proletariats benutzen wollten. In Deutschland stehe der entscheidende Kampf zwischen Proletariern und Kapitalisten bevor. Aber er könne erst geführt werden, wenn die Bourgeoisie die Macht innehabe. Darum »ist das Interesse der Kommunisten, die Bourgeoisie so bald als möglich an die Herrschaft bringen zu helfen, um sie so bald wie möglich wieder zu stürzen. Die Kommunisten müssen also gegenüber den Regierungen stets für die liberalen Bourgeois Partei ergreifen und sich nur davor hüten, die Selbsttäuschungen der Bourgeois zu teilen oder ihren verführerischen Versicherungen von den heilsamen Folgen des Siegs der Bourgeoisie für das Proletariat Glauben zu schenken«.4
Im »Manifest der kommunistischen Partei« finden wir diese taktischen Hinweise wieder, wo sie jedoch noch durch weitere wichtige Regeln ergänzt werden. Die Kommunisten kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, vertreten darin aber zugleich die Zukunft der Bewegung. Keinen Augenblick unterlassen sie es, »bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten«. Überall unterstützen sie jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden Zustände. Aber in all diesen Bewegungen »heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor«.5
Welche allgemeingültigen Lehren vermitteln uns die Bündnishinweise von Marx und Engels aus dieser Periode?
- Die Bündnisfrage ist unter dem Gesichtspunkt des Hauptfeindes zu klären. Dabei muss berücksichtigt werden, in welchem Ausmaße noch andere Klassen oder Schichten revolutionäre oder oppositionelle Potenzen entfalten können.
- Es ist unzulässig, die nichtproletarischen Klassen und Schichten von vornherein und undifferenziert als reaktionäre Masse abzutun.
- In der Bündnispolitik gibt es eine Rangordnung entsprechend der Annäherung, die der Bündnispartner in sozialer oder politischer Hinsicht an Positionen der Arbeiterklasse vollzieht.
- Im Bündnis müssen die Kommunisten ihre ideologische und politische Selbständigkeit wahren. Sie dürfen keine bürgerlichen Illusionen zulassen, müssen vielmehr stets die Unversöhnlichkeit des Klassengegensatzes zur Bourgeoisie herausarbeiten. In allen Kämpfen ist Klarheit über die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln als der entscheidenden Frage zu sichern.
Bündnisfragen in der Zeit zwischen der Niederlage der Revolution von 1848/49 und der Pariser Kommune
Die Niederlage der Revolution schuf neue Bedingungen für die Strategie und Taktik. In Frankreich hatte sich die Macht der Bourgeoisie gefestigt, aber in Deutschland schloss die gleiche Bourgeoisie – aus Angst vor der Massenbewegung – mit der feudalen Reaktion einen Kompromiss: Die feudale Reaktion blieb unter der Bedingung an der Macht, dass sie die Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse zuließ. So zeigte sich, dass die revolutionäre Energie des Bürgertums, aus Angst vor dem Volk, zu erlahmen begann.
Es waren also die Aufgaben der bürgerlichen Revolution nicht erfüllt, das Bürgertum nicht an die Macht gebracht, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht zu den dominierenden und die nationale Einheit Deutschlands nicht hergestellt worden. Unter diesen Umständen konnte – einerseits – nicht unmittelbar die sozialistische Revolution gefordert werden. Andererseits mussten – wie Marx und Engels in der »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850« herausarbeiteten – an die Spitze selbst bürgerlich-demokratischer Bewegungen immer mehr die Arbeiter treten. Siege der Arbeiter waren zuvor Momente im Dienst der bürgerlichen Umwälzung. Jetzt aber mussten bürgerlich-demokratische Umgestaltungen in den Dienst der proletarischen Revolution treten: Von einem bürgerlich-demokratischen Ausgangspunkt her musste die Arbeiterbewegung nun die sozialistische Umwälzung anstreben und dabei versuchen, die entschlossensten nicht-proletarischen Kräfte mitzureißen.
Marx und Engels arbeiteten die neuen Fragen der Strategie und Taktik in einer ganzen Reihe von Werken heraus. Dabei ist zu beachten, dass die ganze Periode in zwei Abschnitte zerfällt: Während des ersten haben wir es noch mit dem Triumph der Reaktion zu tun. Dieser Abschnitt endet in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Nunmehr verstärken sich wieder oppositionelle Tendenzen. Die Internationale entsteht im Zusammenhang mit internationalen Krisen und erwachender Opposition von Arbeitern und kleinbürgerlichen Demokraten. Die deutsche Sozialdemokratie wird gegründet. Es kommt zur ersten Arbeitermacht der Geschichte, der Pariser Kommune.
In Deutschland ging es also nicht unmittelbar um die sozialistische Revolution. Marx und Engels orientierten sich vielmehr zunächst darauf, in der Revolution mit dem radikalen Kleinbürgertum zusammenzugehen, ihm zunächst zur Macht zu helfen und es dabei im Kampf gegen jene Fraktion zu unterstützen, deren Sturz es anstrebe. Zugleich aber müsse die Arbeiterbewegung allem entgegentreten, was die verschiedenen Fraktionen des Bürgertums in der Revolution für sich selbst festsetzen wollten.6
Marx und Engels waren also nicht unter allen Umständen Feinde der kleinbürgerlichen Demokratie, sahen – im Gegenteil – in ihr einen potentiellen Bundesgenossen. Wenn allerdings, nachdem die kleinbürgerlichen Radikalen an der Regierung seien, sie sich weitergehenden sozialistischen Maßregeln widersetzten, gar als letztes Bollwerk der bürgerlichen Ordnung aufträten, würden sie der nächste Feind der Arbeiterklasse. Dabei sei der Kampf nicht gegen sie als soziale Schicht zu führen, sondern gegen ihre politische Oberschicht. Die Regierung der kleinbürgerlichen Demokratie müsse durch den Druck der Arbeiter veranlasst werden, Eingriffe in die bestehende Gesellschaftsordnung vorzunehmen, ihr Programm auf die Spitze zu treiben. (Dieser taktische Hinweis in unseren heutigen politischen Kämpfen, in der Programmatik der DKP analog angewandt, findet die härteste Kritik der ultralinken Sektierer; das sei geeignet, Illusionen zu wecken!) Zugleich müsse die Arbeiterklasse eigene Organe der Regierung schaffen, so dass das Bürgertum seinen Rückhalt in der Arbeiterklasse verliere und sich zugleich den Machtbehörden der Arbeiter konfrontiert sähe. Das meiste für ihren Sieg müssten die Arbeiter jedoch dadurch selbst tun, dass sie in ihren eigenen Reihen bewusstseinsbildend und organisierend wirkten.
Wir wollen hier darauf verweisen, dass – auf einer weit höheren Entwicklungsstufe des Kapitalismus, seiner kämpfenden Grundklassen, der Revolution – in der Periode zwischen Februar und Oktober 1917 einige jener von Marx und Engels 1850 in der »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850« vorausgesehene Entwicklungsprozesse und dargelegte Gedankengänge zum Zuge kamen und von Lenin insbesondere in seiner sechs Wochen vor der Oktoberrevolution geschriebenen Arbeit »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll« berücksichtigt wurden.
Im zweiten Entwicklungsabschnitt dieser Periode entwickelten Marx und Engels ihre Gedanken vor allem unter dem Gesichtspunkt des Bündnisses mit den Bauern weiter. Mit der sich wieder verstärkenden oppositionellen Bewegung wurden diese Probleme aktueller. Bereits 1856 finden wir in einem Briefe von Marx an Engels die bekannte und bemerkenswerte Stelle: »The whole thing in Germany (Die ganze Sache in Deutschland) wird abhängen von der Möglichkeit, to back the Proletarian revolution by some second edition of the Peasents’ war (die proletarische Revolution durch eine zweite Auflage des Bauernkrieges zu unterstützen).«7
Solange die bürgerliche Revolution noch nicht vollendet sei, müsse die Arbeiterpartei ihre ganze Energie auf die Entfaltung auch der revolutionären Potenzen der Bauern und darauf richten, die revolutionäre Bewegung beider Klassen miteinander zu verbinden.
Marx und Engels, die – wie bereits erwähnt – nicht mehr viel revolutionäre Energie des Bürgertums erwarteten, sahen dennoch, dass unter den Bedingungen einer sich verstärkenden Opposition das Bürgertum die Arbeiter möglichst an seiner Seite gegen die feudale Reaktion mobilisieren und zu diesem Zweck solche Rechte wie das der Presse- und Koalitionsfreiheit auch für die Arbeiter fordern musste. Andererseits sahen Marx und Engels aber auch voraus, dass die feudale Reaktion bestrebt sein konnte, mit Zugeständnissen an die Arbeiter diese gegen die oppositionelle Bourgeoisie auszunutzen. Lassalle ging, in seinem unbezweifelbaren Hass gegen die Bourgeoisie, entsprechenden Angeboten Bismarcks auf den Leim und bemäntelte diese Taktik durch die Phrase von der »einen reaktionären Masse«, die der Arbeiterklasse gegenüberstünde.
Unter diesen Umständen verurteilten Marx und Engels Lassalles Verhalten als objektiven Verrat der ganzen Arbeiterbewegung an die preußische Feudalaristokratie. In einem vorwiegenden Agrarland sei es »eine Gemeinheit …, im Namen des industriellen Proletariats über die Bourgeoisie ausschließlich herzufallen, daneben aber der patriarchalischen ›Prügelexploitation‹ des Landproletariats durch den großen Feudaladel mit keinem Wort zu gedenken«.8
Selbst unter Bedingungen, da sie von der Bourgeoisie keine revolutionäre Energie mehr erwarteten, waren Marx und Engels nicht bereit, sich den Blick für die Tatsache trüben zu lassen, dass der soziale und politische Hauptfeind damals die feudale Reaktion war, mit dem ein Bündnis gegen die Bourgeoisie – den für die Zukunft hauptsächlichen Feind der Arbeiterklasse – einzugehen, Verrat an der Arbeiterbewegung sei.
Welche allgemeingültigen Lehren vermitteln uns diese Hinweise von Marx und Engels aus der damaligen Periode?
- Es muss stets Klarheit über den sozialen und politischen Hauptfeind herrschen. Bündnisfragen müssen von daher entschieden werden.
- Die Arbeiterbewegung muss im Kampf um bürgerlich-demokratische Rechte führen und versuchen, die entschlossensten nicht-proletarischen demokratischen Kräfte mitzureißen.
- Der Kampf um bürgerlich-demokratische Rechte wird ein Moment der sozialistischen Umwälzung. Vom bürgerlich-demokratischen Ausgangspunkt aus ist für die sozialistische Umwälzung zu kämpfen.
- Das Programm der nicht-proletarischen Bündnispartner muss auf die Spitze des Demokratismus getrieben werden, bis an jenen Punkt, wo sie vor der Entscheidung stehen, auf die Seite der Reaktion oder auf die der Arbeiterbewegung überzugehen. Erweist sich die kleinbürgerliche Demokratie dann als letzte Stütze des gefährdeten kapitalistischen Systems, wird sie der nächste Feind der Arbeiterbewegung. (Historisch war dies während der Vorbereitung auf die Oktoberrevolution der Fall. Die damals ausgearbeitete Taktik war die Grundlage für Stalins Unterscheidung von Hauptfeind und Hauptstoß des Kampfes. Die mechanistische Verallgemeinerung dieser einer konkreten Kampfsituation angepassten Taktik ist Grundlage mancher ultralinker Fehler im gegenwärtigen Klassenkampf.)
- Hauptverbündeter im revolutionär-demokratischen Kampf der Arbeiterklasse ist die Bauernschaft.
- Die Arbeiterklasse muss unter allen Umständen am Aus- und Aufbau ihrer eigenen Organe als der Keimformen künftiger Macht sowie an der Bewusstseinsbildung in den eigenen Reihen arbeiten.
Bündnisfragen nach der Pariser Kommune, in der Zeit des Übergangs in das imperialistische Stadium des Kapitalismus
Lenin nennt die Jahre von 1864–1870 die der Beendigung der Epoche, in der die bürgerlich-demokratische Revolution Deutschlands, wenn auch von oben her, abgeschlossen wurde. Der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat rückte immer mehr ins Zentrum der Auseinandersetzungen und damit auch der Bündnisfrage.
Schon die Niederlage der Pariser Kommune wird von Marx unter anderem damit erklärt, dass die Kommune das Bündnis mit den Bauern nicht herstellen konnte. Dabei war diese Kommune selbst keinesfalls Arbeitermacht in chemisch reiner Form, sondern die Herrschaft des »Volkes von Paris«, das sich um die Pariser Arbeiter zusammenschloss »als die einzige Klasse, die noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig war«. Auch »die große Mehrheit der Pariser Mittelklasse – Kleinhändler, Handwerker, Kaufleute –, die reichen Kapitalisten allein ausgenommen«, waren mit der machtausübenden Arbeiterklasse verbündet.9 Dies folgt aus dem wachsenden Gewicht der Arbeiterklasse im revolutionär-demokratischen Prozess. Doch hätte die Kommune, um siegreich sein zu können, berücksichtigen müssen, dass der Bauer berechnend ist, dass folglich die Arbeiterklasse ein Programm hätte ausarbeiten müssen, das auch die Lebensfragen der Bauern lösen kann. Es wäre notwendig gewesen, dass die Kommune »soviel mutatis mutandis für die Bauern« tat, »als die Französische Revolution (von 1789) für die damaligen Bauern tat«.10
Die Bündnisfrage, das Ziel, die zu bekämpfende Bourgeoisie im Interesse der Arbeiterklasse möglichst zu isolieren, spielte im weiteren politischen Werk von Marx und Engels eine zunehmende Rolle.
Im Jahre 1875 vereinigten sich die beiden Richtungen der deutschen Arbeiterbewegung: die Eisenacher, die in wesentlichen Fragen marxistisch orientiert waren, und die Lassalleaner, in deren Politik und Programm es noch viele rechts- und linksopportunistische Tendenzen gab. Als sich in das Programm der vereinigten Partei diese opportunistischen Tendenzen einschlichen, übten Marx und Engels daran harte Kritik.
Auch die Bündnisfrage sollte hierbei eine zentrale Rolle spielen. Unter lassalleanischem Einfluss war in das Programm die linksopportunistische These aufgenommen worden, dass der Arbeiterklasse nur eine einzige reaktionäre Masse gegenüberstünde.
Marx wies diese Auffassung entschieden zurück: »Hat man bei den letzten Wahlen Handwerkern, kleinen Industriellen etc. und Bauern zugerufen: Uns gegenüber bildet ihr mit den Bourgeois und Feudalen nur eine reaktionäre Masse?« Lassalle habe diese Verfälschung des »Kommunistischen Manifests« vorgenommen, »um seine Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie zu beschönigen«.11
Engels ging in einem Brief an Bebel ebenfalls auf diese Frage ein und fragte ihn: »Wenn zum Beispiel in Deutschland das demokratische Kleinbürgertum zu dieser reaktionären Masse gehörte, wie konnte da die Sozialdemokratische Arbeiterpartei jahrelang mit ihm, mit der Volkspartei, Hand in Hand gehen? Wie kann der ›Volksstaat‹ fast seinen ganzen politischen Inhalt aus der kleinbürgerlich-demokratischen ›Frankfurter Zeitung‹ nehmen? Und wie kann man nicht weniger als sieben Forderungen in diesselbe Programm aufnehmen, die direkt und wörtlich übereinstimmen mit dem Programm der Volkspartei und kleinbürgerlichen Demokratie?« und »von denen keine einzige, die nicht bürgerlich-demokratisch«.12
Vor allem rückte jedoch die Frage des Bündnisses mit den Bauern immer mehr ins Zentrum der von Marx und Engels zur Strategie und Taktik entwickelten Hinweise.
Welche waren die Hauptgesichtspunkte der Argumentation?
Die Bauern seien ein wesentlicher Faktor der Bevölkerung, der Produktion und der politischen Macht. Zwar seien sie in politischer Hinsicht weitgehend apathisch gewesen, doch die Herausbildung einer starken Arbeiterbewegung ändere dies. Entscheidend ist sodann der Hinweis: »Die Eroberung der politischen Macht durch die sozialistische Partei ist in absehbare Nähe gerückt. Um aber die politische Macht zu erobern, muß diese Partei vorher von der Stadt aufs Land gehen, muß eine Macht werden auf dem Land.«13
Welche allgemeingültigen Lehren vermitteln uns nun die Bündnishinweise, die Marx und Engels in dieser Entwicklungsperiode der Arbeiterbewegung gaben?
- Die politische Macht der Arbeiterklasse fußt auf einem Bündnis mit zahlreichen mittelständischen Gruppen und Schichten in Stadt und Land. Sie bedarf dieses Bündnisses, um siegen bzw. sich an der Macht halten zu können.
- Neben der Arbeiterklasse ist die Bauernschaft wegen ihrer sozialen, ökonomischen und politischen Bedeutung die Hauptkraft im Kampfe um die Macht und der wichtigste Bundesgenosse der revolutionären Arbeiterbewegung. Die in diesem Zusammenhang entwickelten sozialen, ökonomischen und politischen Kriterien für die Bestimmung des wichtigsten Bündnispartners sind auch für unsere heutigen Diskussionen von wesentlicher Bedeutung. Dabei sollte aber beachtet werden, dass die Grundzüge der Politik der Arbeiterklasse – vor allem angesichts der verstärkten Internationalisierung des Klassenkampfes in der Gegenwart – nicht nur von nationalen Analysen her bestimmt werden können. Im internationalen Maßstab ist und bleibt die Bauernschaft der Hauptverbündete des Proletariats.
- Gerade unter dem Gesichtspunkt der Annäherung an die Entscheidung der Machtfrage ist die Zurückweisung aller Versuche nötig, die Arbeiterklasse zu isolieren, das ultralinke Konzept der Politik »Klasse gegen Klasse« wiederzubeleben, alle nichtproletarischen Klassen und Schichten als eine »einzige reaktionäre Masse« einzuschätzen. Dieses linke Sektierertum nützt objektiv dem Feinde.
Probleme der Bündnispolitik in der Leninschen Etappe
der Entwicklung der Arbeiterbewegung
Lenin ging schon 1902 davon aus, dass sich das revolutionäre Zentrum immer mehr nach Russland verlagert: »Die Geschichte hat uns jetzt die nächste Aufgabe gestellt, welche die revolutionärste von allen nächsten Aufgaben des Proletariats irgendeines anderen Landes ist. Die Verwirklichung dieser Aufgabe, die Zerstörung des mächtigsten Bollwerks nicht nur der europäischen, sondern (wir können jetzt sagen) auch der asiatischen Reaktion, würde das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats machen.«14
Zugleich ging Lenin davon aus, dass unter den neuen Kampfbedingungen die Bourgeoisie selbst im reaktionären zaristischen Russland nicht mehr jene revolutionäre Energie aufbringen würde, die erforderlich sei, um die Revolution zu führen. Die Arbeiterklasse sei zur Führung berufen, und zwar sowohl in der bürgerlich-demokratischen, als auch in der folgenden sozialistischen Revolution. Führen kann nur eine Klasse, die Bündnispartner gewinnt, und von Anfang an orientiert Lenin die revolutionären Arbeiter Russlands auf die Notwendigkeit der Bündnispolitik: »Nur wer zu sich selbst kein Vertrauen hat, kann sich vor vorübergehenden Bündnissen, und sei es auch mit unzuverlässigen Leuten, fürchten, aber keine einzige politische Partei könnte ohne solche Bündnisse existieren.«15
Den Bündnisgedanken kämpfte Lenin durch gegen die Menschewiki. Diese meinten, die russische Bourgeoisie sei zur Führung der Revolution darum berufen, weil Russland mit einer bürgerlichen Revolution schwanger gehe. Lenin entgegnete ihnen, dass dies Verrat an der Revolution bedeute: die Bourgeoisie werde, aus Angst vor dem Volk, die Revolution nicht führen, sondern verraten. Führen müsse von Anfang an die Arbeiterklasse, und ihr Bündnispartner müsse die gesamte Bauernschaft sein. Aber Lenin kämpfte den Bündnisgedanken auch gegen Trotzki durch. Während Lenin mit den revolutionären Potenzen der Bauernschaft rechnete, warf Trotzki den Bolschewiki vor: ihre Konzeption einer von Arbeitern und Bauern zu bildenden »demokratischen, nicht sozialistischen Diktatur« gehe von einer unfruchtbaren Abstraktion aus. Sie bedeute eine bürgerlich-demokratische Selbstbeschränkung des Proletariats.
Lenins strategische Konzeption und deren Bündnispolitik lassen sich für die Periode der Februarrevolution von 1917 knapp wie folgt skizzieren: Russland geht der bürgerlich-demokratischen Revolution entgegen. In dieser Revolution muss die Arbeiterklasse führen und sich mit der Masse der Bauern verbinden. Sie muss um die Errichtung der revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern kämpfen. Vom Boden dieser Macht aus muss die Arbeiterklasse, verbündet mit den halbproletarischen Kräften in Stadt und Land, für den Übergang zur sozialistischen Revolution kämpfen.
Die russische Revolution von 1905 war eine bürgerlich-demokratische. Sie war – wie Lenin später sagte – die Generalprobe für 1917. Sie endete noch mit einer Niederlage. Aber das Jahr 1917 führte zunächst zum Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution. Damit war eine in der bis dahin unter Marxisten geführten strategischen Diskussion nicht vorhergesehene Lage eingetreten: »Nach der alten Weise ergibt sich: nach der Herrschaft der Bourgeoisie kann und muss die Herrschaft des Proletariats und der Bauernschaft, ihre Diktatur folgen. Im lebendigen Leben aber ist es bereits anders gekommen: Entstanden ist eine höchst originelle, neue, noch nie dagewesene Verbindung des einen mit dem anderen. Es besteht nebeneinander, zusammen, zu ein und derselben Zeit sowohl die Herrschaft der Bourgeoisie … als auch die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, die die Macht freiwillig an die Bourgeoisie abtritt, freiwillig zu ihrem Anhängsel wird.«16
Unter diesen Bedingungen war eine neue Strategie nötig. Hinsichtlich der Bündnisfrage war ihr Kern die genaue Beachtung des Verhaltens der kleinbürgerlichen Demokratie: Würde sie auf einen Bruch mit der Bourgeoisie oder auf ein Übereinkommen mit ihr hinarbeiten? Unter den damaligen Umständen in Russland wurde die zweite Variante dominierend, was die besondere Taktik der Bolschewiki gegenüber der kleinbürgerlichen Demokratie als dem nächsten Gegner erklärt, den es zu isolieren galt. Ins Zentrum rückte der Kampf gegen die kleinbürgerlichen Kompromissler, die die Interessen der kleinbürgerlichen Werktätigen nicht vertraten, sondern an die Bourgeoisie verrieten. Es kam also darauf an, diese kleinbürgerliche politische Oberschicht von den Massen zu isolieren, die Arbeiterklasse, im Bündnis mit den ihnen am nächsten stehenden Massen der ärmsten Bauern zum revolutionären Sturz der Macht der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer zu befähigen.
Diese Taktik führte im Oktober 1917 zum Sieg.
In West- und Mitteleuropa kam es, unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, bekanntlich im Jahre 1918/19 zu Revolutionen, die mit der Niederlage der Arbeiterbewegung endeten. Lenin hat eine riesige Arbeit zur Analyse dieser Revolutionen und ihrer Niederlagen geleistet. Es ist bis auf den heutigen Tag von größter Wichtigkeit, die in diesem Zusammenhang entwickelten strategischen und taktischen Lehren, die Lenin den Kommunisten der entwickelten kapitalistischen Länder gab, zu studieren. Dies um so mehr, als eine breitere, wenn auch zersplitterte kleinbürgerlich-intellektuelle, linksopportunistische Richtung die kommunistische Bewegung gerade von diesen Positionen abzubringen versucht.
Ich möchte abschließend nur noch auf eine Seite der Leninschen Hinweise zur Bündnispolitik eingehen, die besonders originell ist und in Fleisch und Blut eines jeden Kommunisten eingehen sollte. Lenin gab den Kommunisten nämlich konkrete Hinweise für ihr Verhalten in der Bündnispolitik:
Kommunisten müssen im Bündnis eintreten für die Forderungen der Bündnispartner. Je grundsatzfester und konsequenter Kommunisten für ihre revolutionäre Aufgabe eintreten, desto mehr können und müssen sie die Forderungen ihrer Bündnispartner in einer taktisch beweglichen Politik berücksichtigen.
Kommunisten müssen bestrebt sein, ohne auf die eigene Position zu verzichten, für das Bündnis eine möglichst gemeinsame Plattform zu finden. Gegebenenfalls müssen sie die Bündnispartner schrittweise an diese gemeinsame Plattform heranführen, indem sie mit Teilfragen beginnen, den Verbündeten Zeit lassen, ihnen die Möglichkeit gewähren, sich erst von der Aufrichtigkeit der Kommunisten zu überzeugen.
Für das Bündnis ist es notwendig, zu Zugeständnissen und Kompromissen bereit zu sein. Wenn dies die Kommunisten schon im Bestreben tun müssen, mit anderen Arbeitern zur Aktionseinheit zu kommen, so ist dies für die Bündnispolitik noch wichtiger, weil es im Bündnis um die Zusammenarbeit verschiedener Klassenkräfte geht und dabei Partner auftreten, die zu Schwankungen und Inkonsequenzen neigen. Freilich muss gerade die Bereitschaft zum Kompromiss gepaart sein mit Grundsatzfestigkeit. Es muss also einerseits größtes Verständnis für die Interessen der Partner entwickelt, andererseits der unverzichtbare Kern der eigenen Forderungen beibehalten werden.
Im Bündnis kommt es sehr darauf an, geeignete Formen, Organe für die organisatorische Festigung der Bündnisfront zu schaffen, Organe, wie sie heute etwa in Gestalt von Ausschüssen der Volks- oder Nationalen Front in verschiedenen Ländern existieren.
Lenin wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass für eine erfolgreiche Bündnispolitik die wichtigste Garantie der kompromisslose Kampf der Partei gegen alle rechts- und linksopportunistische Tendenzen und Erscheinungen sei. Nur eine Partei, die ideologisch-politisch geschlossen ist, die keinerlei Opportunismus in den eigenen Reihen duldet, ist zu größter Beweglichkeit und Geschlossenheit im Eingehen und Durchhalten von Bündnissen fähig.
1 Vgl. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt a. M., S. 82 und S. 54, dazu: Marx, Kritik des Gothaer Programms, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt a. M., S. 26 f.
2 Engels, Grundsätze des Kommunismus, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt a. M., S. 31 f.
3 Ebenda, S. 32.
4 Ebenda, S. 33 f.
5 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, a. a. O., S. 81 ff.
6 Marx/Engels, Werke, Band 7, Berlin 1960, S. 249 f.
7 Marx/EngeIs, Werke, Band 29, S. 47.
8 Marx/Engels, Werke, Band 31, S. 46 und S. 55.
9 Marx/Engels, Werke, Band 17, S. 344.
10 Ebenda, Band 18, S. 633.
11 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt am Main, S. 26/27.
12 Ebenda, S. 42.
13 Engels, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, in: Marx/Engels, Werke, Band 22, S. 486.
14 W. I. Lenin, Was tun?, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt a. M., S. 59.
15 Ebenda, S. 46.
16 Lenin, Briefe über die Taktik, Werke, Band 24, S. 28.
Bürgerliche Freiheitsauffassungen. Phrasen und Wirklichkeit
Marxistische Blätter 1975_5, S. 19 ff.
Jedermann kann es täglich mehrere Male im Radio, im Fernsehen, in der Zeitung hören und lesen, dass wir in der freien Welt leben. Und was uns Kommunisten betrifft, so sind wir, nach den Verlautbarungen der gleichen »Informations«-Quellen Feinde der Freiheit oder nehmen wir es mit ihr nicht so genau.
Dass diejenigen, die so etwas behaupten, heute bestenfalls in unserem Lande offene Nazipropagandisten sein könnten, wenn nicht die Sowjetunion, geführt von ihrer kommunistischen Partei und mit dem Opfer von 27 Millionen Menschenleben dem Hitler-Faschismus das Genick gebrochen hätte, ist ein Widerspruch, der die Bänkelsänger westlicher Freiheit ebensowenig stört, wie solche »Kleinigkeiten«: an der Spitze des führenden Staates dieser freien Welt stehen die Verantwortlichen für den Völkermord in Indochina, für den blutigen Militärputsch in Chile, für die Rechtlosigkeit von 20 Millionen Negern in den Vereinigten Staaten, stehen die Organisatoren des nach Staatsstreichen und massenhaften politischen Morden stinkenden CIA.
Diese seltsame freie Welt ist verantwortlich für den Hunger in der dritten Welt, für blutige Kriege, unter anderem für die beiden Weltkriege. In ihrem Namen handelten einst oder handeln noch die Thieu-Clique Saigons, das Bordaberry-Regime Uruguays, das Strößner-Regime Paraguays, die faschistischen Herren Brasiliens, die faschistischen Leiter Spaniens, die gestürzten faschistischen Kräfte Portugals und Griechenlands usw. usf. Wir leben im sogenannten freien Teil Deutschlands. Aber hier konnten aktive und alte Nazis Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Verfassungsschutzchefs werden, neofaschistische Organisationen existieren, Judenmörder vor Gericht freigesprochen werden und NS-Richter Berufsverbotsurteile sprechen.
Angesichts eines solchen beispiellosen Missbrauchs mit dem Wort Freiheit ist die Frage sicher berechtigt, was ihn so leicht ermöglicht.
Es gibt eine ganze Reihe solcher politischer Reizworte. Wir wollen nur einige nennen: Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie. Wer wollte nicht für Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie sein?
Begriffe dieser Art lösen in uns positive Gefühle aus. Ist das nicht verständlich angesichts der Tatsache, dass die unteren Millionen in den Ausbeutergesellschaften seit Jahrtausenden immer wieder unterdrückt, gegängelt wurden, dass sie nichts anderes wünschen, als von dieser Gängelei, von dieser Unterdrückung frei zu sein? Und wenn wir an unser Land denken: Ist es wirklich schwer zu verstehen, wenn das arbeitende Volk in unserem Lande, nach den schrecklichen Erfahrungen mit dem Verlust selbst der formalsten bürgerlichen Freiheiten unter der faschistischen Hitlerdiktatur nichts sehnlicher wünscht als dies: Freiheit?
Selbstverständlich ist damit, dass so gut klingende Begriffe, die in uns alle positiven Gefühle auslösen, verwandt werden, noch nichts wirklich geklärt. Diese Worte sind zugleich sehr allgemein und unklar. Jeder kann sich unter ihnen vorstellen, was er möchte.
»Wir haben uns alle für die Freiheit erklärt, doch, indem wir dasselbe Wort zwar gebrauchen, hat jeder von ihm eine andere Vorstellung«, so Abraham Lincoln (in einer Rede in Baltimore am 18. April 1864). Gerade das ermöglicht es, dass solche Begriffe sehr leicht zum Zwecke demagogischer Manöver verwandt werden können. Sie sind zugleich gutklingend und sinnverwirrend, begeisternd und vage.
Dennoch, und das wollen wir nicht vergessen: immer wieder haben Menschen ihr Leben im Kampf um die Freiheit gewagt und geopfert. Erinnern wir uns der großen Kämpfe der Sklaven unter solchen Führern wie Spartacus, der Bauern unter Thomas Münzer, der tapfer kämpfenden bürgerlichen Revolutionäre, die 1789 in Frankreich unter der Losung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« auf die Barrikaden gingen. Wir erinnern uns erst recht der heroischen Kämpfe der roten Matrosen im damaligen Petersburg, der Matrosen in Kiel während der Novemberrevolution von 1918, vor allem des opferreichen Widerstandes, allen voran der Kommunisten, im Kampf gegen den Faschismus.
Freiheit ist also nicht nur ein Wort, mit dem Demagogie betrieben wird. Freiheit ist und war immer auch eine Losung großer, heldenhafter Freiheitskämpfe der Massen. Und wir sind nicht bereit, trotz aller Probleme und Widersprüche, die es in den vergangenen Kämpfen gegeben hat, das preiszugeben, was in diesen Kämpfen zugunsten des arbeitenden Volkes an Freiheiten errungen wurde.
Wie stellt das Bürgertum die Freiheitsfrage?
Noch vor wenigen Jahrzehnten äußerten sich bürgerliche Philosophen sehr offen und selbstentlarvend über die Freiheit. So schrieb Friedrich Nietzsche in seinem »Willen zur Macht«: »Freiheit bedeutet, dass die männlichen, die kriegs- und siegesfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andere Instinkte, z. B. über die des Glücks. Der freigewordene Mensch, um wieviel mehr der freigewordene Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von denen Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andere Demokraten träumen. Der freie Mensch ist Krieger …« (aus dem Aphorismus »Mein Begriff von Freiheit«).
Heute haben die bürgerlichen Philosophen solche offen antihumanen Positionen zugunsten schwammig-unklarer aufgegeben. So schrieb Karl Jaspers: »Anfang und Ende der Freiheitserhellung bleibt aber, dass Freiheit nicht erkannt, auf keine Weise objektiv gedacht werden kann. Ich bin ihrer für mich gewiss, nicht im Denken, sondern im Existieren …«1 Also Freiheit als Rätsel, das sich für den einzelnen zwar »löst«, aber außerhalb seines Denkens. Ob wohl jemand mit solchem Unsinn etwas anfangen kann?
Der bedeutendste gegenwärtige bürgerliche Philosoph, Martin Heidegger, meint, Freiheit sei das Streben nach dem Tod, nach dem Nichts.2 Es fällt auf, dass das repräsentativste Wörterbuch der Philosophie des deutschen Bürgertums, es erscheint erst seit wenigen Jahren und es sind erst drei der vorgesehenen acht Bände erschienen – im Grunde genommen mit dieser Konzeption Heideggers endet, in der Freiheit mit dem Tod, mit dem Nichts gleichgesetzt wird.
Neben dieser philosophischen gibt es die vulgäre Ebene der Behandlung des Freiheitsproblems durch die bürgerlichen Politiker, ihre Parteien, ihre Massenmedien. Das ist für die massenhafte geistige Auseinandersetzung bedeutender als die Philosophie. Jene, die bis jetzt das Grundgesetz mehr als zwei Dutzend mal änderten und es dabei etwa einhundert mal verschlechterten, Notstandsgesetze einführten, das Widerstandsrecht des Volkes beseitigten, die KPD verbieten ließen und das Recht auf Volksbefragung ebenso; jene, die die Legitimität spontaner Streiks bestreiten, aber die Aussperrung zulassen, die uns die »Freiheit« der Arbeitslosigkeit, des Lehrstellenmangels, des Numerus clausus, des Berufsverbotes einbrockten; jene, die das Recht auf Verteidigung im Strafprozess rapide abbauten, den Todesschuss freigeben wollen, Millionen ausländischer Arbeiter unseres Landes mit Sondergesetzen belegen, einem Arbeiter das Recht verweigern, außerhalb der Arbeitszeit und des Betriebes Flugblätter zu verteilen, in denen Vorgänge in seinem Betrieb kritisiert werden: Jene werden nicht müde, gerade diese Welt mit heuchlerischem Augenaufschlag freiheitlich zu nennen.
Ihre Massenmedien gaukeln uns ein Land vor, worin Freiheit das Freisein von Zwang bedeutet und darin besteht, alles werden, alles sagen, lesen und hören, überallhin verreisen, über die Regierung, Gott und die Welt schimpfen zu können, kurzum: alles mögliche tun und lassen zu können.
Uns läge nichts ferner, als etwa den Wegfall bürokratischer Gängeleien gering zu schätzen. Dennoch fragen wir im Namen jener Zehntausender Hauptschüler, die eine Lehrstelle haben möchten und keine bekommen: Können sie alles werden, was sie wollen? Wir fragen im Namen der mehr als 600 Jugendvertreter, die gefeuert wurden, weil sie die Interessen ihrer jungen Arbeitskollegen vertreten: Können sie alles sagen, was sie wollen? Wir fragen im Namen der Millionen Leser der Lügen- und Hetzprodukte Axel Cäsar Springers, ob sie wirklich alles lesen können, was sie eigentlich zu lesen bekommen müssten, um darüber informiert zu sein, von wem die Arbeitslosigkeit ausgeht, von wem die Bedrohung ihrer Existenz? Wir möchten auch an das erinnern, was der große russische Dichter Dostojewski gegen diese vulgäre Auffassung von Freiheit eingewandt hat: »Was ist Liberté? Freiheit – welche Freiheit? Die gleiche Freiheit für alle, das zu tun, was ihnen beliebt, im Rahmen des Gesetzes. Wann kann man alles, was einem beliebt, tun? Wenn man eine Million besitzt? Gibt die Freiheit jedem eine Million? Nein! Was ist ein Mensch ohne eine Million? Ein Mensch ohne eine Million ist nicht einer, der alles, was ihm beliebt, tut, sondern einer, mit dem alle alles Beliebige tun.«
Damit ist schon angedeutet, dass Freiheit ökonomische Voraussetzungen hat: Das Vorhandensein von Vermögen. Wir kommen auf den tieferen Sinn dessen noch zu sprechen. Bleiben wir zunächst noch bei der politischen Propaganda. Sie beschränkt das Problem auf die politischen Freiheitsrechte, wobei diese von ihrer ökonomischen Grundlage abgelöst werden. Es kommt so heraus, als erschöpfe sich Freiheit in Meinungs- und Pressefreiheit. Dabei wird aber selbst diese einengende Problemstellung noch mehr verfälscht, wenn sie mit der bloß verfassungsmäßigen Proklamierung solcher Rechte gleichgesetzt wird. Deren Außerkraftsetzung durch solche meinungsbildenden Monopole wie Springer und Bertelsmann wird nicht beachtet.
Gerade aus diesem Grunde hat die Fraktion der Kommunistischen Partei im Parlamentarischen Rat, als das Grundgesetz beraten wurde, eingewandt: »Es gibt zwei Arten von Grundrechten, einmal die Rechte auf Sicherung der Lebenssphäre, also die persönlichen Freiheitsrechte. Sie gehören seit der großen französischen Revolution zu den selbstverständlichen Grundlagen jeder Demokratie. Aber es wäre ein verhängnisvoller Fehler, bei diesen persönlichen Grundrechten stehen zu bleiben. Die Gesamtheit der staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse wird durch die bloße Garantie-Erklärung solcher persönlichen Rechte nicht im mindesten verändert. Die Wurzel allen Übels, die Quelle der Unfreiheit und jene dunklen Mächte, die die Menschenwürde und die menschliche Persönlichkeit heute knebeln und erniedrigen, liegt eben in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen. Soll also die Frage nach den Grundrechten beantwortet werden, so muss sie von vornherein gestellt werden als Recht des Volkes auf die Umgestaltung dieser Verhältnisse. Das ist der eigentliche und historische echte Begriff der Menschenrechte. Das ist das Recht des Volkes auf Gestaltung seines gesellschaftlichen Lebens.«3 Geleitet von diesen Überlegungen hat die Vertretung der Kommunistischen Partei im Parlamentarischen Rat zu den Grundrechten zahlreiche konkrete Vorschläge eingebracht.
Wir sprachen von der bürgerlichen Reduktion der Freiheit auf die lediglich proklamierten politischen Freiheitsrechte der Meinungs-, Pressefreiheit usw. Das Problem wird abermals verkürzt, wenn die Auffassung vertreten wird, Freiheit erschöpfe sich in der Möglichkeit, einmal alle vier Jahre zwischen verschiedenen Parteien grundsätzlich gleicher Politik wählen zu können, also in den USA etwa zwischen »Demokraten« und »Republikanern« und bei uns zwischen CDU/CSU, FDP und SPD.
Natürlich wollen wir in der kapitalistischen Klassengesellschaft auf keinen Fall selbst auf das nur formale Wahlrecht verzichten. Aber wählt derjenige frei, der über solche geschichtlich erhärtete Grundwahrheiten wie den Zusammenhang von Kapitalismus, Faschismus und Krieg nicht informiert, dessen Denken aber tagtäglich durch Springers Lügen- und Hetzorgane verunstaltet wird? Solange die Freiheitsrechte des Bürgers nur formal bleiben, solange sie nicht in dem erwähnten Sinne gesellschaftlich abgesichert werden, können Wahlen nicht wirklich das Problem der Freiheit des Volkes klären und werden gerade die ökonomischen und politischen Grundlagen des Wirkens von Parteien, Meinungsbildungsorganen, folglich auch die Problematik der Wahlen ihrer konkret-gesellschaftlichen Inhalte entleert.
Rechtssozialdemokratische Freiheitsvorstellungen
Soweit es sich um philosophische Äußerungen rechtssozialdemokratischer Ideologen zum Problem der Freiheit handelt, wird im wesentlichen eine neukantianische Position bezogen. Neuerdings wird sie mit Freudianismus »angereichert«. Danach wird die Existenz von Gesetzen in der Natur anerkannt, aber für die Gesellschaft deren Existenz bestritten. Es wird ein Gegensatz zwischen Freiheit und Ordnung postuliert: der Mensch hat sich im Naturbereich der Ordnung, der Gesetzmäßigkeit zu fügen, aber in seinem geistigen Leben ist er frei. Freiheit ist hier also Unberechenbarkeit, Unvorhergesehenheit, etwas Irrationales. In diesem Sinne äußert sich der rechte sozialdemokratische Ideologe und evangelische Sozialtheoretiker Eduard Heimann. Für ihn ist Freiheit etwas, das »auf einer Ebene jenseits des wissenschaftlichen Zugriffs«, »jenseits der wissenschaftlichen Methoden« liegt.4
Details
- Seiten
- 232
- Erscheinungsjahr
- 2025
- ISBN (ePUB)
- 9783961703821
- ISBN (PDF)
- 9783961706822
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2025 (März)
- Schlagworte
- über lenin marxismus parteifrage